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Bei "Feuerkinder" handelt es sich um einen Fantasy- und Abenteuerroman für Jugendliche, junge Erwachsene und jene, die sich, ungeachtet ihres Alters, gerne in fremde Welten entführen lassen. Von Neugierde geleitet, begibt sich Romny auf eine eigentlich als harmlos und ungefährlich eingeschätzte Reise. Er muss, an seinem vorläufigen Zielort angekommen, jedoch feststellen, dass die Geheimnisse, die er dort zu erfahren gehofft hatte, besser gehütet werden, als erwartet. Daraufhin macht er sich auf in unbekannte und kaum erforschte Gebiete seiner bislang kleinen Welt und geht über deren und seine eigenen Grenzen. Schließlich wird er in Ereignisse hinein gerissen, von denen er nie hätte erfahren sollen.
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Seitenzahl: 475
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Figuren, Orte und Handlungen sind von der Autorin frei erfunden.
Dieses Buch widme ich:
Mam
Erklingt leis,
Tanzt zwischen Fackeln.
Lichter in Bäumen, wie
Sterne.
Prolog: Tief im Wald
Teil 1: Durch den Wald
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Teil 2: Über dem Wald
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Teil 3: Unter dem Wald
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Ein kleiner Junge saß auf einem Balkon und sah hinab, den Tanzenden zu. Unter ihm tobte ein ausgelassenes Fest, es erklangen Laute der verschiedensten Flöten und Trommeln, sowie herrlicher Gesang. Die Musik schallte von Baum zu Baum durch den gesamten Wald. Trotz des Durcheinanders schienen alle Lieder, so unterschiedlich sie auch waren, zu einer einzigen, sanft schwebenden Melodie zu verschmelzen. Man konnte sie nicht nur hören, sondern auch spüren. Sie durchdrang den Körper und hallte in ihm nach, als sei er selbst ein einziges Instrument, all der Klänge mächtig. Während sie spielten, tanzten die Musiker ebenfalls durch die Menge, bewegten sich in wilder Verzückung zu ihren eigenen Rhythmen. Auch die Tänzer blieben ganz bei sich. Zwar waren manche zu zweit oder gar in größeren Gruppen, doch blieben die meisten allein und taumelten mit geschlossenen Augen in ihrer eigenen Geschwindigkeit.
Der ganze Wald war hell erleuchtet mit Fackeln, die im Boden steckten und Laternen, die in den Wipfeln hingen. Zu dem Licht des Feuers gesellte sich das von durch die Luft schwebenden Geschöpfen, Glühwürmchen ähnlich und in den verschiedensten Farben funkelnd.
Der Junge traute sich nicht hinaus. Denn hier war alles fremd: die Leute, der Wald, ja gar die Häuser, in denen sie hier wohnten. Wohnungen innerhalb toter Bäume. Das Einzige, was er daran mochte, war der Balkon. Dort fühlte er sich sicher vor allem Fremden.
Er hieß Romny, war gerade acht Jahre alt und mit seinem Vater zu Besuch an diesem Ort. Der liebte es zu reisen und seit seinem dritten Lebensjahr durfte Romny ihn begleiten. So blickte er nun auf das bunte Treiben, wünschte sich ein Teil des Ganzen zu sein, und doch wagte er sich nicht hinunter. Denn mit wem hätte er auch tanzen sollen? Etwa mit diesen fliegenden Wesen oder diesen unheimlichen weißen Gestalten? Oder gar allein? Lieber blieb er hier oben und beobachtete, während er seine Füße zwischen den Sprossen des Geländers herunterbaumeln ließ. Sie schwangen in irgendeinem Takt irgendeines Liedes, das zu ihm hinauf wehte und sein Blick huschte mal hier- mal dorthin. Alle lachten, sangen und tanzten vergnügt.
„An einem solchen Tag sollte man nicht einsam sein“, sprach da plötzlich eine Stimme. Romny riss erschrocken den Kopf hoch. Aber wer hatte gesprochen? Außer ihm war niemand hier. Sein Vater war längst in dem Getümmel verschwunden. Er dachte schon, er habe sich die Stimme bloß eingebildet, doch da erblickte er über sich ein in der Luft schwebendes Licht. Zwischen all den anderen Lichtern hatte er es glatt übersehen. Es war von blass blauer Farbe und flackerte wie ein weit entfernter Stern. Romny kniff die Augen zusammen, um es besser erkennen zu können, allerdings verschwamm nun Alles vor ihm zu einem hellen Flickenteppich und er war sich nicht mehr sicher, was er sah. Vielleicht doch nur eine Laterne, oder tatsächlich einen Stern. Aber dann bewegte sich das Licht und flog über Romnys Kopf hinweg hinein in die Wohnung und die Treppe hinunter. Kaum war es außerhalb seines Sichtfeldes, sprang der Junge auf. Kurz dachte er an seinen sicheren Aussichtspunkt, doch seine Beine bewegten sich wie von selbst auf die Treppe zu und die Stufen hinunter.
Aber hier: keine Spur mehr von dem Licht. Zögernd trat Romny zur Tür und legte die Hand auf den Knauf. Schnell, bevor ihn der Mut verließ, riss er sie auf und trat hinaus.
Er blieb wie angewurzelt auf der Türschwelle stehen und ihm stockte der Atem, geblendet von all den Lichtern. Sein Herz raste und er blickte sich nervös zu allen Seiten um. Doch sein Irrlicht konnte er nirgends mehr entdecken, zu viele Punkte waren es, die ihm entgegen strahlten. Die Tanzenden waren nichts als graue Schemen, die sich vor die verschiedenen Lichtquellen schoben und malten verzerrte Schatten auf den Boden. Schon bekam Romny wieder Angst.
Da! War das dort hinten nicht das blaue Licht? Seine Füße lösten sich ohne sein bewusstes Zutun vom Boden und er rannte los. Nach wenigen Schritten war er sich schon nicht mehr sicher, ob das Licht, das er verfolgte, tatsächlich das richtige war. Es war verschmolzen mit all den anderen und Romny blieb stehen, um nach ihm zu suchen. Er stand nun neben einem Baum, dessen gewaltiger Stamm über und über bedeckt war mit Lampions. Die schönsten Lampions, die der Junge je gesehen hatte. Fantasievoll bemalt und aus feinstem Papier. Staunend blickte er nach oben, eine lange Kette von Lichtern entlang, unter deren Gewicht sich ein riesiger Ast bog. Eine leichte Brise fuhr durch die Kronen und die Lichter begannen zu tanzen. Funken stoben und drehten wilde Kreise. Er sah einem von ihnen nach, der zwischen die Bäume, hinein in das Dorf flog.
Dort entdeckte er ein bläuliches Funkeln und nahm seine Jagd wieder auf. Er lief nun hinein in das Zentrum der Siedlung, wo die meisten Häuser aus Stein errichtet worden waren, wie die in seiner Heimat. Hier befanden sich besonders viele Leute und er hatte Schwierigkeiten sich zwischen ihnen hindurch zu manövrieren. Lachen und Gesang überall. Jemand ergriff seine Hände und versuchte ihn zum Tanzen zu überreden, doch er entschuldigte sich knapp und wand sie heraus aus den fremden Fingern.
Er war fest entschlossen, das Licht einzuholen. Aber die Spur des Scheins, den er verfolgt hatte, verlor er, als er die Mitte des Dorfes erreichte. Hier stand ein riesiger Brunnen, aus dem er gestern noch Wasser getrunken hatte. Heute jedoch erkannte er ihn kaum wieder.
Nicht nur, dass er behangen war mit bunten Lichtern, nein. Schimmernde Laternen schwebten auf dem Wasser, welches sich in glitzernden Strömen aus den Mäulern der großen Steindrachen in das Becken ergoss, die auf einem Sockel in der Mitte standen. Das Bassin war herrlich verziert, mit detaillierten Motiven, die kunstvoll in den Stein gearbeitet worden waren und Szenen der Ernte oder Blumen und Früchte zeigten. Gestern hatte Romny nur Augen für sie gehabt und jedes Bild genau studiert, doch heute waren sie völlig nebensächlich.
Fasziniert hielt er die Hände unter einen Strahl und fing das Wasser auf. Nun sah er, dass es mehr war, als bloßes Wasser. Denn darin schwammen winzige Lichtkugeln, deren Glanz hundertfach reflektiert wurde und das Wasser zum Leuchten und Funkeln brachte, als bestünde es aus zerstoßenen Diamanten.
Romny konnte gar nicht mehr aufhören zu staunen und als die Flüssigkeit aus seinen Händen geronnen war, nahm er neue, wurde nicht müde sie zu betrachten.
Irgendwann sah er wieder auf und blickte in die Straßen und Wege, die vom Brunnen fortführten. Dann lief er los, einen von ihnen zu erforschen.
Sein Irrlicht hatte er längst vergessen.
Mit weit aufgerissenen Augen ging er die Straßen entlang. Er sah Lichter an allen Fenstern und als er näher herantrat, erkannte er, dass Blumen in ihren Töpfen, Kästen und Vasen auf den Fensterbänken leuchteten. Manche glühten aus ihrem Innern heraus, andere sahen aus wie von glitzerndem Staub bedeckt. Ihnen allen gemein war ein frischer, leichter Duft. Romny atmete tief ein und fast war ihm, als ließe der Duft ihn schweben. Er wog seine Arme in der Luft und sie zogen eine leuchtende Spur hinter sich, einem kleinen Kometenschweif ähnlich. Wie aufgewirbelter Staub in einem Sonnenstrahl. Wie Luftbläschen, die sich bilden, wenn man sich unter Wasser schnell bewegt.
Noch nie hatte Romny so etwas gesehen. Seine Augen schmerzten von all dem Licht und der Anstrengung, sie so selten wie möglich schließen zu müssen.
Und so Vieles wartete darauf, von ihm entdeckt zu werden: eine Straße war überdacht von einem Baldachin aus bunten Fahnen, die leuchteten, als seien sie die Sonne selbst. Weitere der fliegenden Wesen, in allen erdenklichen Farben, die um die Köpfe der Feiernden schwirrten. Und Kinder, die durch die Straßen tollten, jedes mit einer opulenten Laterne in der Hand.
Ohnehin kannte er sich hier nicht gut aus. Schließlich waren er und sein Vater erst gestern eingetroffen. Doch nun schien ihm der Ort nicht nur fremd, sondern als stamme er aus einer anderen Welt. Er hatte gänzlich die Orientierung verloren und ließ sich nur noch treiben.
Jeder, der ihm begegnete, lachte und tanzte. Mal nahmen Hände ihn mit in einen Kreis, mal drehten sie ihn einfach nur um sich selbst, oder winkten ihm freudig zu.
Da erschallte ein lauter Trommelschlag, wie gewaltiger Donner. Nur einer. Und ließ den Boden und die Luft erzittern. Die Musik hatte nicht einen Moment ausgesetzt, doch fand sich jede Melodie nun zu dem gleichen Lied. Von überall her erschallte es und alle Tanzenden begannen sich in eine gemeinsame Richtung zu bewegen, als würden sie an unsichtbaren Fäden gezogen.
Romny schloss sich ihnen an, ließ sich durch die Straßen leiten, auch wenn er nicht wusste, wohin ihr Weg sie führte.
Wenig später erkannte er den Ort. Sie gingen aus dem Dorf hinaus, an dessen Rand ein besonders großer Baum stand. Zwanzig Mann hätten seinen Stamm nicht umfassen können. Bei ihrer Ankunft war er Romny sofort aufgefallen. Wie ein gewaltiger Wächter thronte er hoch über der Siedlung.
Dieser Baum jedoch lag in vollkommener Dunkelheit, nicht ein Licht brannte in ihm. Man konnte ihn nur erahnen, schwärzer, als der Himmel hinter ihm. Es war Romny, als sei er, von einem Moment auf den anderen, vom hellsten Tag in die tiefste Nacht getreten. Er sah die Hand vor Augen kaum, nur hier und da standen diese weißen Fremden in der Menge und hoben sich ein wenig ab. Noch immer wurde getanzt, gleichzeitig schienen alle Versammelten auf etwas zu warten. Auch Romny blickte sich um, ob irgendetwas geschah. Es musste schließlich einen Grund dafür geben, warum sie hierher gekommen waren. Ungeduldig warf er seinen Kopf hin und her, bis ein erneuter Trommelschlag erklang und alle Musik erstarb. Vollkommene Stille umfing die Menge, die unversehens zu tanzen aufhörte. Romny fasste sich vor Schreck an die Ohren, schon befürchtend plötzlich taub geworden zu sein, als jemand begann, leise auf einer Flöte zu spielen. Obwohl es nur zarte Klänge waren, erreichten sie jeden der Umstehenden mühelos.
Er ließ die Hände sinken und versuchte hektisch zu erspähen, wer da spielte. Doch war er zu klein. Und auch wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, machte es keinen großen Unterschied. Zu viele Erwachsene standen um ihn herum und nahmen ihm die Sicht. Er bemerkte, wie Bewegung in die Leute kam, als sie für denjenigen, der spielte, einen Gang zu bilden schienen. Romny drängte an ihnen vorbei, hin zu dem Flötenspieler. Und tatsächlich gelangte er an den Rand der Gasse und sah eine Person hindurch schreiten, auf den Hügel zu, auf dem der Baum stand.
Es war ein Mädchen. Ganz in weiß und mit leuchtenden Bändern im Haar. Sie war eine der weißen Leute, hatte weiße Haut, weißes Haar und trug ein weißes Kleid. Während sie den Hügel hinaufstieg, spielte sie weiter und drehte sich schließlich zu der Menge um, als sie unter dem Baum angekommen war.
Romny sah ganz vorne mehrere dieser Leute stehen, manche allerdings mit Taschentüchern vor den Mund gepresst und leise weinend, andere mit einer eher freudigen, fast stolzen Miene. Darauf konnte er sich keinen Reim machen, sah wieder zu dem Mädchen und hörte aufmerksam ihrem Spiel zu.
Auf einmal erglomm eine riesige Laterne direkt über ihr am Stamm des Baumes, die alle bisher Dagewesenen mühelos überstrahlte. Darauf fielen andere Flötenspieler in das Lied des Mädchens ein, die, für Romny unsichtbar, irgendwo zwischen den Versammelten stehen mussten. Nacheinander entzündeten sich weitere Laternen am Baum, für jeden Spieler eine. Bis schließlich der ganze Stamm von ihnen erleuchtet war und zwischen den Ästen und Blättern hunderte zu hängen schienen, heller, als all die Lichter, die Romny vorher gesehen hatte.
Nun begannen auch die übrigen Musiker, Trommler, Geiger, das Lied zu erwidern. Die Melodie wurde schneller und immer schneller, bis alle Umstehenden wieder zu tanzen begannen. Auch Romny konnte sich dem nicht erwehren und bewegte sich zum Rhythmus.
Dann, am Höhepunkt des Liedes, hörte das Mädchen zu spielen auf, breitete die Arme aus und zerbarst in tausende Funken, die langsam zum Himmel aufstiegen und sich zwischen den Sternen verloren.
Romny blieb erschrocken, mitten in der Bewegung stehen, als sei er plötzlich zu Eis erstarrt. Alle Anderen jedoch jubelten und klatschten, reckten die Arme gen Himmel, als wollten sie die Sterne fangen.
Romny aber regte sich nicht. Fassungslos sah er den Funken nach und konnte nicht begreifen, was er gesehen hatte.
Schließlich senkte der Junge den Blick. Viele um ihn herum versuchten ihn zum Tanzen zu bewegen, doch er wandte sich ab und rannte davon. Die Gasse war verschwunden, daher musste er sich durch die Menge drängen, die er kaum noch wahrnahm. Die Bilder des eben Erlebten schoben sich vor sein Blickfeld und überdeckten alles andere.
Wieder auf den Straßen, rannte er weiter, vorbei an den erleuchteten Häusern, vorbei auch an dem Brunnen und zurück zu dem Baum mit seinem Balkon.
Er riss die Tür auf, stürzte die Treppe hinauf und verkroch sich unter seiner Bettdecke. Durch das Fenster drangen von draußen Musik und Gesang hinein, die für ihn nun nicht mehr schön und melodisch klangen, sondern verstörend und unheimlich.
Noch immer war es wie taghell, doch die Decke schirmte immerhin das meiste Licht ab.
Romny rollte sich zusammen, versuchte sich so klein wie möglich zu machen und sah vor sich immer und immer wieder das Mädchen, wie es lächelte und zersprang.
Orangene und goldene Punkte wechselten sich mit dunklen Flecken vor seinen Augen ab, als Romny sich mit geschlossenen Lidern von Pora durch den Wald tragen ließ, den Kopf zum Himmel gereckt. Ihm war, als würde er zurückversetzt an jenen Tag vor über fünfundzwanzig Jahren: Als stünde er erneut unschlüssig in der geöffneten Tür, all die Lichter bestaunend.
Er schlug die Augen wieder auf und sah direkt der Sonne entgegen, weshalb er sie einige Male hastig schließen musste und den Blick wieder nach vorn richtete. Er konzentrierte sich auf eines der Hörner seines Muma und versuchte so, die grellen Punkte, die vor seinen Augen explodierten, loszuwerden. Muma waren im südlichen Teil des Waldes weit verbreitet und gehörten zu der Familie der Wildschweine. Allerdings behielten sie zeitlebens das Aussehen von Frischlingen, auch wenn sie um einiges größer wurden und sich dadurch hervorragend als Last- oder Reittiere eigneten. Sie hatten längeres Fell, kürzere Schnauzen und dazu kleine, in sich gedrehte Hörner, die sie von gewöhnlichen Wildschweinen unterschieden. Die dunkelbraune Musterung auf hellbraunem Fell war ähnlich der von Frischlingen, jedoch mit einer Besonderheit: Zusätzlich verfügte jeder Muma über eine individuelle Markierung in einer ihm eigenen Farbe. In Poras Fall war dies eine hellblaue Linie, die über seine Seite verlief und in einer unregelmäßigen Spirale auf seinem Schenkel endete.
Er stapfte zügig durch das Unterholz, auf das die hohen Bäume lange Schatten warfen. Ihre Stämme wurden im Schnitt gut fünfzig Meter hoch, knapp zehn Meter im Durchmesser und ragten um die Reisenden herum in die Luft, wie gewaltige Türme. Für Romny war das nichts Außergewöhnliches. Schließlich war er in diesem Wald aufgewachsen. Als Mitglied eines kleinen, menschenähnlichen Volkes. In seiner Familie dominierte die menschliche Linie, daher wies er keine tierischen Merkmale auf, hatte aber die typischen dunklen Haare und Augen.
Hier und da drückten sich Sonnenstrahlen durch das Blätterdach und fielen auf den moosigen Waldboden, der die Schritte Poras dämpfte. Hohes Gras wuchs ihnen entgegen, während sie mächtige Wurzeln umrundeten.
Romny grub in der Innentasche seiner Jacke nach seinem Kompass, einer einfachen Vorrichtung aus einer Nadel, die auf einem Stift angebracht war und sich in einem Holzkistchen befand, und nach einer Karte. Beides hatte er von seinem Vater geerbt, der im letzten Jahr verstorben war, nachdem schon Romnys Mutter drei Jahre zuvor hatte gehen müssen. Diese Gegenstände hütete er wie einen Schatz, doch auf einer Reise durften sie natürlich nicht fehlen. Umständlich breitete er das alte Stück Papier vor sich auf Poras Widerrist aus, strich es so gut wie möglich glatt und hielt es dann mit einer Hand vor sich, während er in der anderen den Kompass balancierte und die Nadel mit halb zugekniffenen Augen fixierte. Sie zeigte fast exakt geradeaus, daher gab Romny Pora mit dem rechten Schenkel das Signal, sich weiter links zu halten.
Ihr Ziel lag im Nord-Westen und war dasselbe Dorf, welches Romny mit seinem Vater schon einmal besucht hatte. Selbst nach all den Jahren, er war inzwischen dreiunddreißig, blieb ihm das Mädchen stets im Gedächtnis. Vor seinen Augen erhoben sich, wie damals, Funken gen Himmel und feierten Dorfbewohner ihren Tod. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, so viel wie möglich über die Albunae, auf den Begriff war er in einer der Reiseaufzeichnungen seines Vaters gestoßen, herauszufinden, die Jahr für Jahr das Ritual in der kleinen Siedlung austrugen. Sie waren die unheimlichen, weißen Leute, vor denen er sich als Kind so gefürchtet hatte, doch woher sie kamen, oder wozu ihr Fest diente, hatte er nicht in Erfahrung bringen können. Er erinnerte sich daran, seinen Vater dazu befragt zu haben, der jedoch mehr über dieses Volk nicht gewusst hatte und seine Mutter hatte sein reges Interesse an dieser fremdartigen Kultur derart geängstigt, dass er ihr zuliebe so getan hatte, als würde er das Gesehene verdrängen.
Doch niemals hatte er es vergessen. Nie.
Somit trieb ihn nun die Neugierde hinaus in die Welt und zum ersten Mal begab Romny sich allein auf eine Reise. Zu seinem persönlichen Interesse war ein zweiter Anlass hinzugekommen: Sein Dorf und jenes an den Ufern des Waldsees, waren die einzig bekannten Siedlungen der Satylmae im südlichen Teil des Waldes. Reger Kontakt hatte zwischen ihnen nie geherrscht, dafür lagen die beiden Niederlassungen zu weit voneinander entfernt, doch einmal im Jahr waren üblicherweise Händler aus dem Norden gekommen, um ihre Ware gegen die der Dorfbewohner aus dem Süden zu tauschen. Dieser Handel aber war vor etwa fünf Jahren zum Erliegen gekommen, was man zuerst der furchtbaren Dürre zugesprochen hatte, die den Wald heimgesucht hatte, doch erholten sich die Felder zusehends davon und das Fortbleiben der Händler beunruhigte die Leute. Manche von ihnen hatten, wenn auch entfernte, Verwandte in der anderen Siedlung und die Sorge machte sich breit, ihnen könne etwas zugestoßen sein, daher hatte Romny sich angeboten, in dieser Angelegenheit als Kurier zu fungieren.
Während die Bäume nun an ihm vorüberzogen, dachte er viel an die weißen Gestalten, die ihm so viele Rätsel aufgaben. Er sah sie noch immer deutlich vor seinem inneren Auge, als stünden sie zwischen den Bäumen in seiner unmittelbaren Nähe. Tatsächlich schrak er auf, als er glaubte einen von ihnen aus einem Lichtkegel auftauchen zu sehen, doch war es lediglich ein Ast, dessen helle Borke von der Sonne angestrahlt wurde.
Etwa zehn Tage würde die Reise bis zu der Siedlung dauern. Nicht allzu lang und doch hatte er eine der beiden Packtaschen, die er über Poras Schultern gelegt und am Sattel festgebunden hatte, fast bis zum Rand mit Proviant beladen. Darunter ein prall gefüllter Wasserschlauch, den er vermutlich nicht einmal brauchen würde, da der Wald hier überall von Bächen durchädert war. In die andere hatte er zwei Decken gestopft, denn des Nächtens wurde es im Wald noch recht kühl. Zusätzlich hatte er seinen Rucksack mitgenommen. Darin befanden sich zwei Messer, ein Seil, ein Fernglas, Verbände für den Notfall, Feuerstein und Stahl, ein kleiner Lederbeutel gefüllt mit Zunder, sowie Karten und Aufzeichnungen seines Vaters, die ihn weiter führen könnten, als nur bis zu dem Dorf. Ferner hatte er Tinte, Schreibfedern und ein noch völlig leeres Buch eingepackt, denn er wollte alles, was er herausfand, genauestens protokollieren.
Ewigkeiten schienen zu vergehen, während Bäume, Sträucher und Farne an ihnen vorbeizogen, als würden sie weggespült. Romny genoss das Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit, beobachtete die Vögel, die über sie hinweg flogen und die Füchse und Rehe, die ab und an ihren Weg kreuzten. Zudem behielt er aufmerksam den Kompass im Auge. Nun auf sich allein gestellt, war er genauestens darauf bedacht keine Fehler zu machen. Eine leichte Brise wog durch den Wald, ließ die Wipfel rauschen und fuhr ihm durchs Haar. Um ihn herum roch es angenehm, nach feuchtem Erdboden, Harz und Tannennadeln. Dazu lag der Duft des Frühlings in der Luft und man spürte das junge Leben, das überall erwacht war. Zwar lebte Romny in einem Dorf mitten im Wald, doch war das Gefühl ein ganz anderes, wenn man hier zwischen den Bäumen wanderte.
Je weiter sie sich von ihrer Heimat entfernten, desto wilder wurde Romnys und Poras Umgebung. Für die Kinder der Dorfbewohner war es immer eine Mutprobe gewesen, wer sich am weitesten in den Forst wagte. Romny musste grinsen, als er sich daran erinnerte, dass er dank seiner Reisen und den daraus resultierenden Erfahrungen immer schändlich im Vorteil gewesen war. Um zu gewinnen, hatte er einmal einen ganzen Tag in einer natürlichen Höhle unter den Wurzeln eines umgestürzten Baumes verbracht und sich dort mit den kleinen Waldgeistern unterhalten, die in Bäumen und Gewässern lebten. Gut getarnt, verwechselten ungeübte Augen sie oft mit Mustern in der Rinde oder der Strömung. Doch brachte man die Geduld auf, dass sie sich an einen gewöhnen konnten, erzählten sie einem Geschichten über den Wald oder von ihren eigenen kleinen Schicksalen, die untrennbar mit dem ihres pflanzlichen oder fließenden Partners verbunden waren. Wenn man genau hinhorchte, so konnte man sie zwischen all dem Rascheln wispern hören, doch wurden diese Stimmen weniger und weniger, je weiter Romny und Pora in unbekannte Gebiete vordrangen.
Als sie an einen Bach gelangten, legten sie eine Pause ein, tranken von dem Wasser und aßen ein wenig. Romny setzte sich ins Gras, an einem Stück Brot kauend. Mit geschlossenen Augen lehnte er sich an einen Baum und genoss die Stille. Nicht ein Ruf oder gellendes Geräusch unterbrach die Laute der Natur. Wieder fuhr Wind über die Bäume hinweg und es klang wie das Atmen eines riesigen Tieres im Schlaf. Als flöhe er vor eben jenem Tier, flog ein ganzer Schwarm Vögel aus einem Gebüsch auf und tauchte, hastig mit den Flügeln schlagend, hinein in die Schatten.
Pora hob den Kopf und blickte ihnen nach. Dann stapfte er zu seinem Herrn und schnüffelte an dessen Hosenbein, weil er wohl dachte, der sei eingeschlafen.
Romny blinzelt und streichelte dem Tier über die Stirn.
„Genug Pause gehabt?“ fragte er ihn und stand wieder auf, klopfte sich Erde von den Kleidern und prüfte den Gurt des Sattels. Inzwischen war er froh, dass sein Vater ihm damals, als er alt genug gewesen war selbst zu reiten und ihm daher Pora geschenkt hatte, auch einen Sattel hatte anfertigen lassen. Zwar bestand der lediglich aus ein wenig gepolstertem Leder mit Gurt und Steigbügeln daran, doch war es bei längeren Strecken um einiges bequemer, als ohne reiten zu müssen.
Er saß auf, korrigierte anhand des Kompasses noch einmal ihre Marschrichtung und bedeutete Pora schließlich weiterzugehen.
So verstrich der erste Tag ihrer Reise. Gemütlich ritten sie auf verschlungenen Pfaden, mal auf denen der Waldbewohner, mal auf eigens durchs Unterholz gebahnten, die ab und zu von großen Ästen oder Felsen versperrt wurden. Sie trafen auf weitere Bäche, die sie durchwateten, rutschten kleinere Abhänge in Waldtäler hinab und mussten an der anderen Seite wieder hinauf steigen. Tiefhängende Zweige und wucherndes Gestrüpp zerkratzten Romny Hände und Gesicht. Kletten und Schlingpflanzen wanden sich um Poras Beine oder verfingen sich in seinem Fell. Ragte ihm ein Strauch mit schmackhaften Blättern entgegen, wie etwa ein Brombeerbusch, schnappte er danach und kaute zufrieden. Sie ließen Kilometer für Kilometer hinter sich zurück. Die Sonne sank immer tiefer in den Wald herab und färbte ihn in tiefes Orange.
Eichhörnchen und Vögel verschwanden in ihren Nestern, das Wild wurde aktiver und die ersten Fledermäuse begaben sich auf Beuteflüge.
Romny ließ Pora an einem Baum halten, an dessen Wurzeln weiches Moos wuchs, um sich dort sein Lager für die Nacht einzurichten. Er nahm ihm Taschen und Sattel ab und legte sie neben den Stamm. Die letzten Tage hatte es nicht geregnet, daher musste er nicht lange suchen, um geeignetes Holz für ein Feuer zu finden. Kaum war es entzündet, breitete sich wohlige Wärme in ihrem kleinen Lager aus. Pora suchte sich unterdessen eine günstige Stelle zum Schlafen, in Reichweite von etwas Essbarem, und machte es sich dort bequem. Das Holz in den Flammen knackte leise und hin und wieder tanzte ein Funke zu den Sternen empor. Im Wald war es nun ganz still. Die größeren Tiere waren vor dem Licht geflohen und nur vorsichtiges Rascheln war zu vernehmen, wenn sich eine Maus ihren Weg durch das Laub auf dem Boden bahnte. Romny lehnte sich an den Baum, genoss das Feuer und kramte sein Abendessen hervor. Dazu nahm er feierlich Tinte, Feder und Buch aus seinem Rucksack und schlug die erste Seite auf. Der Buchdeckel knackte, als würde er ihn begrüßen. Mit kratzendem Kiel schrieb er unter die Überschrift „Erster Tag des fünften Monats im Frühling des Jahres II 127“ die kleinen Ereignisse des Tages. Das Jahr teilte man in siebenundzwanzig Monate, mit je zwanzig Tagen. Der Frühling bestand aus sieben Monaten, der Sommer aus drei, der Herbst wieder aus sieben und der Winter schließlich aus zehn. Als Beginn der Zeitrechnung hatte man die Gründung der Siedlung am See gewählt, der ersten Niederlassung der Satylmae und mittlerweile befand man sich im einhundertsiebenundzwanzigsten Jahr des zweiten Jahrtausends.
Er wartete, bis die Tinte trocknete und schlug das Buch wieder zu. Sonderlich wissenschaftlich war es noch nicht, was er geschrieben hatte, und doch war es der Anfang. Er verstaute seine Schreibutensilien wieder im Rucksack, nahm sich ein weiteres Stück Brot mit Käse, schob beides auf einen dünnen Ast und hielt diesen dann über das Feuer, damit der Käse ein wenig schmolz.
Er schob sich den Bissen in den Mund, beendete damit sein Mahl und machte es sich in den Decken gemütlich. Die Sonne war jetzt fast vollkommen verschwunden und im Wald wurde es stockdunkel. Romny konnte kaum einen Baum vom anderen unterscheiden, zumal die Flammen seinen Augen nicht die Möglichkeit boten, sich an die Finsternis zu gewöhnen. Er hörte leise Käuzchenrufe und immer wieder flogen kleine Schatten über ihr Lager, die versuchten die von dem Licht angezogenen Motten zu fangen, bevor diese im Feuer verglühten. Die Wärme streichelte zart Romnys Gesicht, als er sich, den Flammen zugewandt, auf die Seite legte. Weit über ihnen konnte er ein kleines Fleckchen Himmel zwischen den Baumkronen ausmachen, an dem schon die ersten Sterne funkelten. Sein Blick wanderte hinab und hinüber zu Pora, der zufrieden döste, und freute sich darüber, nicht alleine zu sein.
Zu schnell jedoch war die Nacht vorbei und der frühe Morgen begrüßte sie mit dem lauten Gekreisch zankender Vögel, dem Hämmern von Spechten und dem Knacken von Ästen und Zweigen, wenn sich doch ein größeres Tier ihrem Lager näherte. Obwohl gestern nicht viel passiert war und er sich nicht sonderlich verausgabt hatte, meinte Romny, dass er noch ewig hätte weiterschlafen können.Viel Licht erreichte sie auf dem Waldboden noch nicht und ein leichter Dunst lag über dem Lager.
Das Feuer war natürlich längst erloschen und doch wühlte Romny mit einem Stecken in der Asche, um sich dessen zu vergewissern. Nach einem schnellen Frühstück, bestehend aus einer kleinen Scheibe Brot, wusch er sich mit einer Hand voll Wasser aus dem Schlauch das Gesicht und verstaute seine Habseligkeiten wieder in den Taschen und im Rucksack. Pora fraß schon genüsslich an einem Strauch und ließ sich auch dann nicht beim Essen stören, als Romny ihm wieder Sattel und Taschen auf den Rücken legte.
Dann setzten sie ihren Weg fort, Romny für ein Stück zu Fuß, um sich auf Poras Rücken nicht gleich wieder in den Schlaf schaukeln zu lassen.
Mit jedem Zentimeter, den die Sonne höher an den Himmel stieg, wurde das Leben im Wald reger. Zwar benetzte der morgendliche Tau noch Romnys Kleider, doch verschwanden nach und nach die dünnen Nebelschwaden.
Sie gingen weiter nach Nord-Westen. Bald saß Romny auf, denn sie würden viel schneller sein, wenn Pora ihn wieder trug. Immerhin war der um einiges wendiger und lief behände um die breiten Stämme herum.
Irgendwann ging es bergab, wie hinab in ein Tal, in dem die Bäume enger standen und ihre Stämme schmaler waren. Großen Schlammlöchern mussten sie ausweichen, um nicht im Schlick stecken zu bleiben oder gar darin zu versinken. Diese waren nur schwer auszumachen, da das Gras sehr hoch stand und auch aus der feuchten Erde herauswuchs. Romny hielt angestrengt Ausschau, um Pora nicht versehentlich in einen der Tümpel zu lenken, doch so sehr er auch Acht gab, konnte er nicht verhindern, dass das Tier hier und da mit einem Bein im Morast versank. In diesen Momenten durchfuhr ihn ein unverhoffter Ruck in die Tiefe und er hatte Schwierigkeiten, sich im Sattel zuhalten. Um sich zu befreien, musste Pora sich mit aller Kraft auf seine Hinterläufe stützen, doch die Wucht des Absprungs ließ ihn nur noch tiefer einsinken. Er brauchte mehrere kraftvolle Sprünge, um freizukommen und Romny sah schon vor sich, wie er neben dem Muma stand und verzweifelt an dessen Trense zerrte, während das Tier, mit Schaum vor dem Maul strampelnd, dem Schlick nicht mehr entkam. Zum Glück aber schaffte Pora es jedes Mal und bald war der Schlamm verschwunden und wurde zu gut sichtbaren Pfützen. Hier und da stand vom letzten Regen noch eine Menge Wasser in ihnen und bildete flache Weiher.
Über diesen schwirrten für die Jahreszeit schon sehr viele Mücken und andere Insekten umher. Pora schüttelte unentwegt den Kopf, um die Plagegeister loszuwerden, und auch Romny schlug wild um sich, damit sie ihn nicht allzu oft stachen. Er wünschte wirklich, sie hätten einen Umweg gemacht und müssten sich nun nicht hier hindurch kämpfen.
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis ihr Weg sie endlich wieder bergauf führte und sie den Blutsaugern entkamen.
Auf einer Hügelkuppe begegneten sie sogar einer kleinen Mumafamilie, die ein zwischen den Bäumen seltenes, sonnenbeschienenes Plätzchen gefunden hatte und dort ruhte. Als die Tiere sie bemerkten, stutzen sie kurz, sowie sie Pora sahen, nahmen dann aber offenbar Romnys Geruch wahr, rappelten sich auf und liefen schnell davon. Pora blickte ihnen nach, als überlege er, ihnen zu folgen. Bei der kleinen Gruppe, die gerade im Dickicht verschwand, musste es sich um eine Mutter mit ihren zwei Jungen handeln. Die Sau verfügte über einen roten Aalstrich, das eine Ferkel über einen orangenen, der wellenförmig verlief, und das andere über einen in Zickzackform, der bordeauxrot war.
Romny konnte Pora gerade noch bremsen und davon überzeugen, ihren Weg fortzusetzen.
So gut sie gestern auch voran gekommen waren, heute war es schon um einiges anstrengender und, als sich der Tag zum Ende neigte, war Romny froh, sich auf die Decken fallen lassen zu können.
Als wolle sie der nächste Tag entlohnen, begrüßte er sie am Morgen mit fantastischen Bildern, die die ersten Sonnenstrahlen zwischen den Bäumen in die Luft malten, in Gelb, Rosa und Orange. Am Nachmittag begann es leicht zu regnen, was sie kaum störte und nur durch das stete Prasseln auf den Blättern der Bäume mitbekamen. Der Wald war hier so dicht, dass nur vereinzelte Regentropfen den Weg bis zu ihnen hinunter fanden. Am Abend ließen sie sich neben einer besonders alten Eiche nieder. Sie hatte einen gewaltigen Umfang und knorrige Äste, die sich in der Luft zu verknoten schienen. In einer der Wurzeln hatte sich eine Mulde gebildet, die einen gemütlichen Schlafplatz abgeben würde.
Es kostete Romny große Überwindung, sich nicht einfach hinzulegen und stattdessen Feuerholz sammeln zu gehen, doch die schon langsam heran kriechende Kälte überzeugte ihn. Als er zurück kam, lag Pora schon da, als würde er schlafen. Der Marsch war anstrengend für ihn, doch meinte Romny, dass der Muma die Zeit im Freien genoss.
Er rollte sich unter seinen Decken zusammen und versuchte die Gedanken zu vertreiben, die ihn vom Schlafen abhielten. Gedanken an zu Hause, an ihren Weg und ihr Ziel.
Dünne Stimmen wisperten um ihn herum, aber er konnte schon nicht mehr unterscheiden, ob sie zu einem nahenden Traum gehörten, oder zwischen den Blättern des Baumes saßen und ihm leise zuraunten.
Die darauf folgenden Tage verliefen ebenso ereignislos. Pora schritt zügig und immer trittsicherer durchs Unterholz, wand sich zwischen den Baumriesen hindurch durch das Labyrinth aus Büschen, Ästen und Schlingpflanzen. Bis auf kleineren Waldbewohnern und einigen umherspringenden Rehen begegneten sie keinem Lebewesen und die Umgebung schien ihnen dabei helfen zu wollen, schnell voran zu kommen, denn der Untergrund blieb eben und gut begehbar.
Schon ab dem Morgen des neunten Tages wurde Romny immer ungeduldiger. Da sie die letzten Tage kaum Zeit verloren hatten, erwartete er das Dorf hinter jeder Biegung, die sie nahmen, auftauchen zu sehen. Weit konnte es nicht mehr sein. Vorfreude und Aufregung mischten sich. Kerzengerade saß er auf Poras Rücken und reckte den Hals.
Dann endlich. Am Nachmittag schien der Wald lichter zu werden. Erst hielt Romny es für erneutes Wunschdenken, doch hier waren eindeutig größere Abstände zwischen den einzelnen Bäumen und man konnte den Himmel viel besser durch all die Blätter hindurch ausmachen. Nicht mehr lang, nur noch wenige Augenblicke und er würde die ersten Behausungen sehen, oder sogar den großen Baum. Etwas aber zog seine Aufmerksamkeit auf sich: Die Bäume wurden weniger, doch waren sie noch recht jung und es ragten überall gewaltige Büsche in die Luft, die von dicht stehenden Dornen bewachsen waren. Das Gestrüpp wurde immer wilder, versperrte ihnen den Weg, sodass fast kein Durchkommen mehr möglich war. Romny wurde unruhig, denn er kannte diese Pflanzen. Aschdorn. Und wie ihr Name schon sagte, wuchsen sie bevorzugt auf ehemaligen Feuerstellen. Romnys Herz klopfte immer schneller, als sich vor ihnen der Wald öffnete und das Licht sie blendete. Die ungute Vorahnung wuchs in seiner Kehle zu einem Kloß, als sie um den letzten Strauch bogen und vor einer riesigen Lichtung standen.
Dort, wo die Siedlung hätte stehen sollen, war nichts.
Lediglich ein Durcheinander aus trockenem Gras und wucherndem Aschdorn erstreckte sich vor ihren Augen. Es war unverkennbar, dass hier ein gewaltiges Feuer getobt hatte und die Natur sich mühte, das Areal zurück zu gewinnen. Die Bäume am Rand der Lichtung waren Richtung Nord-Osten schwarz gefärbt. Hier und da standen verkohlte Stümpfe, übrig geblieben von den einstigen Häusern, doch nichts erinnerte mehr daran, dass es hier mal ein ganzes Dorf gegeben hatte.
Fassungslos ließ sich Romny von Pora herunter fallen und auf die Knie sinken. Tatsächlich war er zwar nur ein einziges Mal hier gewesen, doch hatte er den Ort in seinen Träumen so oft besucht, dass der ihm beinahe so vertraut war, wie seine Heimat. Wieder und wieder war er durch die Straßen gewandelt, wieder und wieder hatte er sich ausgemalt, wie es wohl sein würde, nach so vielen Jahren erneut hierher zu kommen. Doch nie hatte er damit gerechnet, dass ihn etwas Derartiges erwarten würde. Ihm kam es vor, wie ein vertrautes Kinderlied, das verzerrt worden war, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Romny schloss die Augen, kniff sie zu, als wolle er sie zwingen, ihm etwas Anderes zu zeigen, als das, was die Wirklichkeit ihm offerierte. Als er jedoch wagte wieder hinzusehen, war alles wie noch vor wenigen Augenblicken: verbrannt und leer.
Ein tiefer Riss tat sich in ihm auf und einen zusätzlichen Stich versetzte es ihm, als er auf einem Hügel zu seiner Rechten die Überreste des großen Baumes entdeckte. Von dem einst stolzen Giganten war nur ein Teil des Stammes übrig geblieben. Dessen Rückseite ragte noch einige Meter dem Himmel entgegen, die vordere gerademal ein paar Hand breit. Zwischen ihnen gähnte ein gewaltiges Loch, wie das aufgesperrte Maul eines Raubtiers. Es schien in die Unterwelt selbst hinab zu führen, tief hinein ins Innere der Erde, aus dem es kein Entrinnen gab. Erst wunderte es Romny, dass auch der Baum verbrannt war, hatte er doch außerhalb der Siedlung gestanden. Aber dann erinnerte er sich, dass das Astwerk von solch großem Ausmaß gewesen war, dass es sich über die bewohnten Bäume und Häuser erstreckt hatte und von deren empor steigenden Flammen erfasst worden sein musste. Zudem zeigten ihm die geschwärzten Bäume, dass der Wind aus süd-westlicher Richtung gekommen war und so dem Baum entgegen geweht hatte. Romny konnte sich das wütende Inferno so lebhaft vorstellen, als sei er selbst dabei gewesen.
Vor seinem inneren Auge verzogen sich die schillernden Erinnerungen zu grotesken Bildern und Szenen: Schreiende Bewohner vor ihren Häusern und in den Straßen, die verzweifelt versuchten, sich und ihre Liebsten zu retten. Flammen, die die Wege entlang rasten, und alles fraßen, was sie fanden, einer Flutwelle gleich, die alles mit sich reißt oder einer Lawine, die alles unter sich begräbt. Und hoch über allem, der große Baum, der herabblickte auf dieses Bild des Horrors und selbst gefangen war in einem brennenden Käfig.
Sofort wanderten seine Gedanken wieder zu dem Mädchen und diesmal sah er es, sich inmitten von Flammen in Funken verwandeln, die mit denen des Feuers um die Wette tanzten. Die Szenerie wurde begleitet von wilder Musik, die in Romnys Innern zu einer erdrückenden Kakophonie anschwoll, bis sich alles vor seinen Augen in Funken auflöste.
Er keuchte, als sei das Vorgestellte real. Die tanzenden Funken hatten sich auf seine Netzhaut gebrannt und überlagerten die eigentlich vor ihm liegende Lichtung.
Wankend stand er auf und nahm den Wasserschlauch aus Poras Packtasche. Er reckte das Kinn nach oben und ließ das kühle Wasser über sein Gesicht laufen. Dann schüttelte er den Kopf, um ihn wieder frei zu bekommen, noch immer erschüttert von den imaginären Bildern.
Langsam setzte er sich in Bewegung, Pora hinter sich her führend, in die ehemalige Siedlung hinein.
Hier und da war noch zu erkennen, wo der gepflasterte Pfad gelegen hatte. Viele Steine lagen lose und zerbröckelt im staubigen Boden. Zwischen ihnen wucherte Unkraut.
Wie in Trance bahnte Romny sich einen Weg. Es war ausgeschlossen, dass er noch etwas wiedererkannte, doch suchte er, wie unter Zwang, nach Details, an die er sich erinnerte. Der Brand musste schon vor einigen Jahren ausgebrochen sein, dafür sprach die Größe, die der Aschdorn bereits erreicht hatte. Überall standen diese riesigen Dornenbüsche und machten das Areal in vielen Bereichen unbegehbar. Romny manövrierte Pora um sie herum, um ins Zentrum zu gelangen und klammerte sich krampfhaft an die Hoffnung, dass vielleicht doch irgendetwas den Flammen getrotzt hatte.
Sie wanderten eine ganze Weile umher, ohne auf Etwas anderes zu stoßen, als trockene Vegetation. Bedauern für diesen Ort und seine Bewohner lösten sich in Romny ab mit Wut darüber, hier nunmehr keine Antworten finden zu können. Ein leiser Wind fuhr über die Lichtung und wirbelte den Staub von der trockenen Erde auf, der ihnen nun entgegen blies, als wolle er sie wieder vertreiben, um mit seiner Trauer um diesen Ort allein sein zu können. Keine Tiere hatten versucht hierher zurück zu kommen, bis auf ein paar Mäuse, die sich im Schutz der Sträucher ihre Löcher gegraben hatten.
Hinter einer besonders hohen Gruppierung des dornigen Gestrüpps hatten Romny und Pora freie Sicht einen Hügel hinunter auf den ehemaligen Dorfplatz und den See ein Stück dahinter. Die allmählich untergehende Sonne glitzerte auf dessen Oberfläche und der Wind kräuselte sie zu kleinen Wellen, die ans Ufer schwappten.
Romnys Blick wurde gefangen genommen von einem, in dieser Trostlosigkeit, schier unglaublichen Anblick: Der Brunnen, der sich auf dem Platz befunden und den er vor so vielen Jahren bewundert hatte, stand noch immer dort. Er war schwarz vom Ruß, aber ansonsten schien er unversehrt. Er spie noch immer Wasser aus den vier Mäulern in das Becken und stand solide auf der Ebene, nicht weit entfernt von dem See. Es konnten damals nur wenige Straßenzüge gewesen sein, die ihn von dessen Wasser getrennt hatten.
Das wirklich Faszinierende an dem Anblick aber, war nicht der Brunnen selbst. Sondern, dass er umringt war von in der Luft tanzenden Lichtern, ähnlich dem, welches Romny damals hinaus auf die Straßen gelockt hatte.
Er überlegte gar nicht, sondern hastete direkt den Abhang hinab und auf den Brunnen zu. Erleichterung und Hoffnung flammten ihn ihm auf, dass es doch noch Leben auf der Lichtung gab und er wider Erwarten in der Lage sein würde, die Rätsel zu lösen, die dieser Ort ihm aufgegeben hatte. Als er sich näherte, kam hektische Bewegung in den Kreis der Lichter und sie flogen enger zusammen. Er öffnete schon den Mund und wollte ihnen zurufen, da erkannte er, je näher er kam, dass es sich gar nicht um bloße Irrlichter handelte. Es waren kleine Geschöpfe in menschlicher Gestalt, etwa Daumen groß und sie erstrahlten jedes in einer anderen Farbe. Diese passte zur jeweiligen Färbung ihrer Haut, die bei manchen zusätzlich schwarze Punkte aufwies, wie die eines Käfers. Zudem hatten sie die Flügel von Insekten, die es ihnen erlaubten in der Luft zu stehen.
Es waren Lumlae. Anders als die Waldgeister gehörten sie nicht fest zu einem Baum oder Gewässer, sondern konnten ganze Gebiete bewohnen. Diese waren normalerweise beschränkt auf eine Schlucht oder eine Höhle. Oder wie in diesem Fall eine Lichtung. Sie wachten über ihren Ort, dem für gewöhnlich eine besondere, spirituelle Macht innewohnte, und verließen ihn nur äußerst selten.
Romny kam sich albern vor, dass er nie darüber nachgedacht hatte, dass sein Irrlicht von damals ebenso gut eine von ihnen hatte sein können. Genau genommen, hatte er diese Begegnung fast vergessen gehabt, doch nun, da er die Lichter vor sich sah, war er sich beinahe sicher, dass es eine Lumlaea gewesen war und er sie einfach nicht als solche erkannt hatte. Schließlich war er noch sehr jung gewesen und hatte noch nie zuvor eine von ihnen getroffen.
Doch nun stand er vor ihnen und war zu verdutzt, auch nur ein Wort hervor zu bringen. Die Lumlae blickten ihn überrascht und ein wenig misstrauisch an.
„Einen wie dich haben wir lange nicht gesehen“, sagte eine von ihnen, die gelblich erstrahlte und große Punkte auf Schultern und Oberschenkeln trug. „Kommst du aus dem Süden?“
Romny starrte sie an, wie eine Erscheinung, dann holte er eilig Luft, um zu antworten: „Ja, ich komme aus der anderen Siedlung. Mein Name ist Romny und ich wünsche einen guten Tag.“ Nur stockend fanden sich die Worte.
„Guten Tag“, grüßte die Wortführerin schon freundlicher. „Wir dachten schon, im Süden hätten sie uns vergessen.“
Romny meinte einen kleinen Vorwurf herauszuhören.
„Nein, haben wir nicht“, sagte er entschuldigend. „Aber die letzten Jahre waren die Leute vollauf damit beschäftigt, sich selbst am Leben zu halten.“ Er brach ab und sah sich auf der Lichtung um.
„Wie konnte das geschehen?“ fragte er leise.
„Das wissen wir auch nicht“, sagte das kleine Wesen ernst.
„Im Herbst ist es schon fünf Jahre her.“
„Fünf Jahre?“ Dann war das Unglück in dem Jahr vor der Dürre eingetreten, rechnete er zurück.
„Ja“, seufzte die Lumlaea. „Es passierte an unserem Festtag in der Mitte des Herbstes. Von einem Moment auf den anderen stand alles in Flammen und kaum jemand konnte sich vor ihnen retten. Mit Ausnahme von uns und vielen der Albunae, welche jedoch flohen und uns im Stich ließen.“
„Die Albunae?“ fragte Romny aufgeregt. „Dann war es ihr Fest, das gefeiert wurde? Mit all den Lichtern und Fackeln?“
Die Lumlaea stutzte. „Ich wusste nicht, dass Fremde Kenntnis haben über dieses Fest. Es fiel mit jenem zusammen, welches die Satylmae hier Jahr für Jahr gefeiert haben, nachdem die Ernte eingebracht worden war.“
„Vor vielen Jahren war ich mit meinem Vater zu Gast hier und habe das Fest miterlebt“, erklärte er. „Und habe die Albunae gesehen.“
Das Wesen schnaubte verärgert. „Sie behaupteten, unsere Freunde zu sein. Doch nicht für einen Moment haben sie versucht zu helfen, sondern sich in ihre Kutschen geflüchtet. Ich erinnere mich noch an eine Familie mit einer Mutter und einer kleinen Tochter, die beide entsetzlich schrien, als andere sie mit sich zerrten.“
Eine ihrer Schwestern klammerte sich mit beiden Händen an ihren Arm und dem türkis schimmernden Geschöpf schienen kleine Tränen in die Augen zu steigen. Eine dritte legte ihr die Hand auf die Schulter und wisperte ihr etwas zu, das Romny nicht verstand.
„Es tut mir unendlich leid“, sagte er tonlos und senkte den Blick zum Boden.
Die Lumlaea nickte nur kurz, ebenfalls ergriffen von ihren Erinnerungen.
„Es freut uns, dass uns endlich nochmal ein sprechendes Wesen besucht. Darf ich denn fragen, was dich hierher geführt hat?“ fragte sie.
„Ich hatte gehofft, dass mir hier jemand erklären kann, was es mit diesem Fest der Albunae auf sich hat“, erklärte er.
„Denn damals habe ich es nicht verstanden und habe seither niemanden getroffen, der es mir sagen konnte.“
Schweigen umfing sie, als die Lumlaea nicht recht zu wissen schien, wie sie am besten antworten solle.
„Ich fürchte, dass das auch niemand kann, außer natürlich die Albunae selbst. Zwar kamen sie Jahr für Jahr hierher und wir alle durften an dem Fest teilnehmen, doch wusste keiner, wozu es gefeiert wurde. Oder wozu es den Tod eines Kindes erforderte.“
Sie sah Romny entschuldigend an.
„Es tut mir Leid, dir nicht helfen zu können“, sagte sie und lächelte traurig.
Romny stand fassungslos vor ihr und wusste nicht, was er sagen sollte. Seit er die Lichtung betreten hatte, hatte ein Teil von ihm gewusst, dass er die Suche nach einer Erklärung aufgeben sollte. Der Rest von ihm aber hatte sich krampfhaft an die Hoffnung geklammert, doch noch irgendeinen Hinweis zu finden.
„Und auch sie kommen nicht mehr hierher?“ fragte er zögerlich, obwohl er sich sicher war, die Antwort bereits zu kennen.
„Nein.“ Ihre Stimme war belegt. „Wir haben niemals wieder jemanden von ihnen gesehen. Dabei mochten sie diesen Ort und kamen schon zu ihm, bevor es die Satylmae taten.“ Sie machte eine kurze Pause, dann fuhr sie fort: „Die einzige Möglichkeit für dich wäre wohl, die Albunae zu suchen, doch das würde ich dir nicht raten. Selbst uns und den Satylmae haben sie nie anvertraut, wo genau sie leben, nur, dass es zwei Orte im nördlichen Teil des Waldes sind.“
Romny wusste nicht viel über den Norden. Lediglich, dass er wild und gefährlich war. Niemand, der bei Verstand war, würde sich dorthin vorwagen, denn außer den Tod würde einen dort nicht viel erwarten.
„Hmm“, machte Romny, um irgendetwas zu erwidern.
„Es tut mir wirklich leid“, sagte die Lumlaea wieder.
„Schon in Ordnung. Ich danke euch für eure Hilfe“, antwortete er tonlos. Doch in ihm brach eine kleine Welt zusammen. Voller Hoffnung war er an diesen Ort gekommen, aber dass sie so brutal zerschmettert werden würde, hätte er sich nicht träumen lassen. Ein kurz entflammender Drang wollte, dass er loszog, um die Albunae zu suchen, doch die Vernunft holte ihn schnell wieder ein. Er wusste genau, wie aussichtslos solch eine Unternehmung war.
Eine Schwere ergriff von seinen Gliedern Besitz und zwang ihn zur Untätigkeit. Es wurde zudem immer dunkler auf der Lichtung, denn die Sonne war schon hinter den Bäumen am fernen Ufer des Sees verschwunden und Romny merkte, wie müde er wurde.
Er sah zum See und dann erneut zu den Lumlae: „Ich danke euch wirklich sehr. Erlaubt ihr mir, die Nacht hier auf der Lichtung zu bleiben?“
Die Wortführerin der kleinen Wesen lächelte und sagte: „Gern kannst du hier bleiben. Es tut uns Leid, dir deine Fragen nicht beantworten zu können.“
Romny nickte. „Danke.“
Er ging zu Pora hinüber, der ihn fragend ansah und band Taschen und Sattel von ihm los. Er bereitete unweit des Brunnens sein Nachtlager vor, doch machte er auf Wunsch der Lumlae kein Feuer, da sie sich noch immer vor Flammen fürchteten. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als sich dicht an Pora zu schmiegen, um nicht allzu sehr zu frieren. Denn hier auf der Lichtung wehte ein kühler Wind, der sie zwischen den Bäumen nie erreicht hatte.
Die Lumlae befragten Romny viel zu seinem Dorf und den Satylmae, die dort lebten. Er erzählte ihnen, dass sie in ganz ähnlichen Häusern wohnten, wie sie damals im Zentrum dieser Siedlung gestanden hatten, beschrieb seinen Garten, um den sich nun hoffentlich seine Nachbarn kümmerten, und die Reisen, die er mit seinem Vater unternommen hatte.
Es wurde ein geselliger Abend und Romnys Wut und Enttäuschung ebbten zusehends ab. Viele der Lumlae machten es sich in Poras Fell gemütlich, legten sich zwischen seine Ohren, an seinen Hals oder auf seinen Rücken.
Je dunkler es wurde, desto heller leuchteten sie mit den Sternen um die Wette. Bald schon sahen sie wieder aus, wie kleine Irrlichter und das Auge nahm die winzigen Gestalten in den Lichtsphären gar nicht mehr war.
Eine nach der anderen schliefen sie ein. Nur Romny lag noch eine Weile wach. Zwar hatte sein Körper keine Energie mehr, doch fiel es seinem Geist schwer, zur Ruhe zu kommen.
Irgendwann aber fiel er in einen unruhigen Schlaf.
Der Morgen begrüßte ihn gleich mit zwei Sonnen. Der einen, die tatsächlich durch die Wipfel schien und einer weiteren, die aussah wie im See versunken.
Romny wachte viel früher, als an den letzten Tagen, auf, da ihn das Licht hier eher erreichte und ihn nicht mehr schlafen lies. Daher bereitete er sich ein frühes Mahl und machte sich anschließend in seinem Buch Notizen über all die Dinge, die er gestern in Erfahrung gebracht hatte.
Er vertrieb sich die Zeit, in der er darauf wartete, dass Pora und die Lumlae erwachten, indem er die Bücher seines Vaters durchblätterte. Darin waren Karten enthalten, die Teile des Nordwaldes zeigten und er besah sie sich eine ganze Weile, bis ihm ein phänomenaler Gedanke kam.
Vom Geistesblitz getroffen, setzte er sich kerzengerade auf und starrte zum See, den er überhaupt nicht mehr wahrnahm.
Dann drehte er sich zu Pora, um zu sehen, ob eine der Lumlae wach wurde, musste sich aber in Geduld üben, da sie alle noch fest schlummerten.
Mit pochendem Herzen saß er da und breitete seine Landkarte auf dem Boden aus.
Es dauerte noch eine Weile, bis sich ein paar der kleinen Wesen regten und ungeduldig sprach er gleich die erste von ihnen an: „Guten Morgen. Ich hätte da noch eine Frage zu den Albunae. Kannst du mir vielleicht helfen?“
Die Lumlaea rieb sich verschlafen die Augen und sah ihn mit trübem Blick an. Sie schien noch sehr jung zu sein, hatte eine blass rosa Färbung und die Nacht an Poras Ohr gelehnt verbracht.
„Ich kann es zumindest versuchen“, sagte sie und gähnte herzhaft.
Er bot ihr seine Hand und sie kletterte dankbar darauf, um sich zu der Karte tragen zu lassen.
„Da die Albunae Jahr für Jahr hierher kamen, müssen sie doch einen sicheren Weg durch den Wald gekannt haben, oder? Haben sie euch vielleicht je gesagt, wo sich dieser befindet?“ Er setzte sie auf dem Papier ab, etwa an der Stelle, an der sich der Waldsee befand.
„Sie haben nie von einem Weg gesprochen“, meinte sie und schaute sich auf der Karte um. „Nur von der Klippe, an der sie entlang reisen mussten.“ Sie sah Romny an, als erwarte sie Verständnis, doch der blickte nur ratlos zurück. „Die Klippe im Wald“, sagte sie eindringlich, als sei er ein wenig begriffsstutzig und die Bemerkung als Erklärung völlig ausreichend.
Doch Romny zuckte mit den Schultern. „Was denn für eine Klippe?“
Nun sah die Lumlaea sich auf der Karte um. Ihr Blick wanderte zum oberen Rand, Norden, dann lief sie darauf zu. „Man kann auf dieser Karte nicht die ganze Klippe sehen, doch hier ist ihr Anfang.“ Sie deutete auf eine Stelle, an der ein fast vertikaler Strich verlief und aus der Darstellung hinaus führte. „Hast du vielleicht eine Karte, die auch den nördlichen Wald zeigt?“
„Einen Augenblick“, antwortete Romny schnell und wühlte in seinem Rucksack nach dem Geschichtsbuch seines Vaters. Darin befand sich eine sehr alte Karte, die schon vor Generationen angefertigt worden war. Zwar war sie sehr grob gezeichnet, doch sie umfasste den gesamten Wald: Von der südlichen Siedlung bis hin zum Mittleren Gebirge. Er zog den Band heraus und blätterte so hastig, das einige Seiten kleinere Risse und Knicke davontrugen. Dann endlich fand er die Abbildung.
„Hier“, sagte er atemlos und hielt der Lumlaea das aufgeschlagene Buch hin. Sie orientierte sich kurz und wies dann mit der Hand auf eine Linie, die sich durch den östlichen Teil des Nordwaldes zog und fast parallel zum Waldrand verlief. Romny hatte ihr keine große Beachtung geschenkt, da er die Karte nie genau studiert hatte. Immerhin war es ausgeschlossen gewesen, den Norden je zu betreten.
„Diese Klippe zieht sich durch den Wald“, sagte die Lumlaea und fuhr mit dem Finger an ihr entlang. „Die Albunae folgten ihr auf ihrem Weg in den Süden. So habe ich es jedenfalls verstanden.“
„Also gibt es einen sicheren Weg durch den Norden. Und er führt entlang dieser Klippe!“, rief Romny freudig. Er konnte nicht fassen, was für eine Entdeckung er da gerade gemacht hatte.
„Das vielleicht schon. Aber ich halte es für ausgesprochen schwierig, überhaupt erst einmal dorthin zu gelangen. Und es ist auch kein Garant dafür, auf eine Siedlung der Albunae zu stoßen.“
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Na und wenn schon. Irgendwie würde man sie dann schon finden, wenn man es einmal bis zu der Klippe geschafft hat.“ Er wurde ganz aufgeregt und folgte der Linie mit dem Zeigefinger.
„Denn es wäre logisch“, fuhr er fort, „wenn sie sich irgendwo in der Nähe der Klippe aufhielten, um den Weg jederzeit einschlagen zu können.“
„Ich denke, sie halten sich ganz in der Nähe der Spitze auf“, sagte eine Stimme hinter ihnen und eine andere Lumlaea kam dazu. Sie war von grüner Färbung mit vielen kleinen Punkten und zeigte mit dem Finger auf die Stelle, an der die Klippe eine scharfe Linkskurve beschrieb. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich eine ihrer Stätten dort befindet, da ich sie einmal von einem großen See sprechen hörte. Dabei muss es sich um diesen hier, außerhalb des Waldes, handeln.“
Auf der anderen Seite des Waldes, im Reich der Menschen, lag ein riesiger See. Er war von solch gewaltigem Ausmaß, dass sich sogar größere Inseln in ihm befanden, eine davon beinahe so groß wie der See hier im Wald.
„Wirklich?“ fragte Romny schnell.
Sie nickte. „Richtige Seen gibt es sonst keine im Wald, also bleibt nur dieser übrig.“
Romny starrte auf die Karte, als sei der Ort plötzlich verzeichnet. Er hatte sie gefunden.
„Dann willst du sie dort suchen gehen?“, fragte die erste Lumlaea ehrfürchtig.
Romny sah sie verdutzt an. Darüber hatte er noch gar nicht richtig nachgedacht. Und nun, wo sie ihn fragte, fühlte er sich plötzlich gebremst.
Es war keinesfalls sicher, dass er es überhaupt bis zu der Klippe schaffte. Und wenn doch, würde die Reise bis zu deren Spitze bestimmt Monate dauern und er hatte so viel Zeit nicht eingeplant. Die Vernunft schien ihm zu diktieren, umzukehren und an sein Überleben im nächsten Jahr zu denken, für das er schließlich selbst verantwortlich war. Zwar würde man ihn im Dorf nicht verhungern lassen, doch sorgte nun einmal jeder Bürger dort in erster Linie für sich selbst. Sein Ziel schien außerhalb seiner Reichweite und vermutlich täte er besser daran, es aufzugeben und in einen geregelten Alltag zurückzukehren.
„Ich weiß nicht recht“, sagte er langsam. Er war hin und her gerissen, denn schon sah er sich erneut losziehen und an der Klippe entlang reisen, um endlich hinter das Geheimnis zu kommen, das er nun schon so lange mit sich herumschleppte. Neugier und Tatendrang zogen ihn fast mit sich in den Wald hinein und gen Norden.
Er sah zu den beiden Lumlae, dann zu Pora und schließlich zum Wald.
Einer plötzlichen Eingebung folgend, entschied er, was zu tun sei. Und noch während er es aussprach, merkte er, dass es das Richtige war:
„Doch, ich werde es versuchen. Ich weiß genau, ich würde es bereuen, wenn ich jetzt nicht ginge.“
Ihm war nicht klar, ob er es zu den Lumlae sagte, oder doch eher zu sich selbst. Doch er fühlte, wie eine schwere Last von ihm abfiel, nun wo eine Entscheidung gefallen war.
Er beugte sich wieder über die Karte.
„Dann gehe ich von hier aus Richtung Nord-Osten. Wisst ihr, wie lange es dauert, um zur Klippe zu kommen?“
„Schwer zu sagen“, antwortete die grüne Lumlaea und auch sie besah sich wieder die Zeichnung. „Wie lange hast du für den Weg hierher gebraucht?“
„Etwa neun Tage.“
„Dann sollte es vielleicht zwölf bis fünfzehn Tage dauern, denke ich“, sagte sie und schritt die Strecke ab. „Es ist eine sehr ungenaue Karte und der Wald wird tückischer werden, als bisher.“
Romny verglich den Weg durch den Wald mit der Länge der Klippe. „Dann werde ich vermutlich in weniger als drei Monaten dort sein“, meinte er und atmete kurz erleichtert auf, weil das bedeuten würde, dass er immerhin noch rechtzeitig zur Ernte wieder zu Hause sein würde.
Die rosa Lumlaea klatschte in die Hände. „Wenn du die Albunae dann tatsächlich findest, kannst du vielleicht sogar bleiben und der Auswahl des diesjährigen Jungen oder Mädchens beiwohnen.“ Als Romny sie wieder verständnislos ansah, fuhr sie fort: „Die findet immer in der Mittsommernacht satt und das Fest dann in der Mitte des Herbstes.“
„In der Mittsommernacht?“ Romny rechnete. „Das würde bedeuten, ich bliebe etwa zwei Monate dort und wäre dann, äh, im zweiten Monat des Herbstes wieder zu Hause.“ Auch das sollte noch reichen, entschied er.