Feuerlabyrinth - Saga K. Rosenthal - E-Book

Feuerlabyrinth E-Book

Saga K. Rosenthal

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Beschreibung

Einen Ausflug mit der ganzen Familie auf den Mittelaltermarkt? Die 15-jährige Skuld kann sich wirklich Schöneres vorstellen an einem heißen Sommertag - noch dazu, wenn ihre Mutter ordentlich sauer auf sie ist. Aber dann findet sich Skuld plötzlich zusammen mit einem feuerspuckenden Drachenbaby in einer fremden Welt wieder. Einer Welt, in der Tag und Nacht durch eine schwankende Brücke verbunden sind und ein gebrochenes Versprechen die Träume und Hoffnung aller Menschen bedroht. Verfolgt von Krähen begibt sie sich auf eine abenteuerliche Suche nach der Wahrheit und einem Weg zurück nach Hause. Aber sie ist nicht alleine, denn da ist Adrian - vielleicht sind Mittelaltermärkte doch nicht so schlecht?

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Seitenzahl: 350

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Saga K. Rosenthal Feuerlabyrinth

Zu diesem Buch

Einen Ausflug mit der ganzen Familie auf den Mittelaltermarkt? Die 15-jährige Skuld kann sich wirklich Schöneres vorstellen an einem heißen Sommertag – noch dazu, wenn ihre Mutter ordentlich sauer auf sie ist,. Aber dann findet sich Skuld plötzlich zusammen mit einem feuerspuckenden Drachenbaby in einer fremden Welt wieder. Einer Welt, in der Tag und Nacht durch eine schwankende Brücke verbunden sind und ein gebrochenes Versprechen die Träume und Hoffnung aller Menschen bedroht. Verfolgt von Krähen begibt sie sich auf eine abenteuerliche Suche nach der Wahrheit und einem Weg zurück nach Hause. Aber sie ist nicht alleine, denn da ist Adrian - vielleicht sind Mittelaltermärkte doch nicht so schlecht?

Saga K. Rosenthal wurde 1986 in Lohr am Main geboren. Nach dem Chemiestudium in Mainz und Marburg ging sie für die Doktorarbeit in den Neurowissenschaften nach Bologna, Italien. Heute arbeitet sie dort im Management eines internationalen Lackherstellers.

Wenn sie nicht gerade schreibt oder zeichnet, reist oder verrückte Kochexperimente wagt, borgt sie sich die Hunde ihrer Freunde aus um lange Spaziergänge in der Natur zu machen.

SAGA K. ROSENTHAL

ROMAN

© 2022 Saga K. Rosenthal

3. Auflage, Vorgängerausgabe 2018

ISBN Softcover: 978-3-347-77340-0

ISBN E-Book: 978-3-347-77341-7

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Umschlaggestaltung: Saga K. Rosenthal

Bildnachweise: shutterstock.com (Helena2000, yulianas)

0.

BEGEGNUNG

«Eine Esche weiß ich, heißt Yggdrasil, den hohen Baum netzt weißer Nebel; davon kommt der Tau, der in die Täler fällt. Immergrün steht er über Urds Brunnen. Davon kommen Frauen, vielwissende, drei aus dem See dort unterm Wipfel. Urd heißt die eine, die andre Verdandi: Sie schnitten Stäbe; Skuld hieß die Dritte. Sie legten Lose, das Leben bestimmten sie, den Geschlechtern der Menschen das Schicksal verkündend»

Leise um das Mädchen, das vor ihm im Gras lag nicht zu wecken sang Nekya die Kantilene der weisen Frauen vor sich hin, während er sich abmühte, den schweren Stein zu bewegen. Er blickte auf seine Hände. Wie winzig sie geworden waren. Es mussten Jahrhunderte vergangen sein, seit er sie zuletzt so klein gesehen hatte. Er seufzte. Kinderhände oder nicht, er musste jetzt diesen Stein hier wegschaffen oder alles war verloren. Er blickte sich suchend um. Nein, hier gab es nichts, das ihm helfen würde, diesen Stein zu bewegen.

Ein Rascheln ließ ihn herum fahren. »Das Mädchen ist aufgewacht!«, dachte er für eine Sekunde. Aber das war es nicht. Sie lag immer noch auf dem Bauch, ein Büschel Gras und ihren Zopf im Mund und schnarchte leise. Da! Es raschelte erneut. Und dann sah er sie, die beiden großen Vögel, die im Baum über ihm saßen und ihn beobachten. Ob sie schon lange dort saßen? Voller Demut verneigte er sich vor ihnen. »Ich komme in Frieden, Wächter von Solgard.«

Die Vögel schienen einen Blick zu tauschen, schwangen sich in die Luft und landeten schließlich vor ihm.

Aber als sie den Boden berühren, knien dort zwei Menschen. »Nekya von Nóttskógur, wir erkennen an, dass du in Frieden kommst. Dennoch, was tust du? In welcher Absicht stiehlst du den Schlüssel, der das Tor zwischen den Welten offen hält?«

Mit zitternden Fingern zeigt Nekya auf das schlafende Mädchen. »Um ihretwillen. Und für das Gleichgewicht zwischen den Welten. Ich bitte Euch, Wächter von Solgard. Helft mir! Ich bin nur noch ein Schatten meiner selbst, schwach wie das Kind, das Ihr vor Euch seht. Leiht mir Eure Kraft.«

1.

SKULDS BAUM

Genervt pflücke ich mir nun schon zum gefühlt hundertsten Mal ein Stück vertrocknete Ringelblume aus dem Kragen. Warum konnten mich meine Eltern nicht einfach zu Hause lassen?

Jedes Jahr dasselbe. Mama wünscht sich, dass wir mehr Zeit miteinander verbringen. Deswegen hat sie zu ihrem Geburtstag diese Tradition eingeführt: den Familientag. Seitdem machen wir immer am 16. August irgendeinen verrückten Ausflug und es endet jedes Mal in einem kompletten Desaster. Vor drei Jahren war es ein Tag auf dem Bauernhof, wo mir den ganzen Tag ein verliebter Ziegenbock nachlief. Das Jahr danach waren wir Tretboot fahren, Mama, Papa, mein kleiner Bruder Moritz, unser Golden Retriever Max und ich. Moritz wäre fast ertrunken, als er Max ins Wasser nachgehopst ist. Ohne Schwimmflügel natürlich. Letztes Jahr waren wir tagsüber auf einem Ponyhof und abends in der Notaufnahme, weil ich kopfüber vom Pferd abgestiegen bin.

Und jetzt sitze ich hier auf diesem Mittelaltermarkt fest. Hoffentlich haben drei Katastrophenjahre in Folge das Schicksal zumindest dieses Mal gnädig gestimmt und die Hitze heute bleibt das Schlimmste was passieren wird.

Weil auf so einem Markt ja alles ganz authentisch sein muss, hat Mama sogar mein Handy einkassiert, mich in dieses Kleid mit den riesigen Ärmeln gesteckt und meine Haare mit den vermaledeiten Ringelblumen dekoriert, die mir jetzt dauernd in den Nacken bröseln. Wir sind noch keine zwei Stunden hier und ich habe jetzt schon die Nase gestrichen voll.

»Skuuuuld!«, reißt mich Moritz’ Stimme aus meinen trüben Gedanken, »Papa hat gesagt, ich soll dir das hier geben. Damit du endlich aufhörst so eine Schnute zu ziehen!« Halb erwarte ich, dass Moritz mir eine Tasse Kamillentee bringt, unser Allheilhausmittel, aber er wedelt stattdessen mit einem 50-Euro-Schein vor meiner Nase. Dafür verzeihe ich Papa sogar das mit der Schnute.

»Guck mal, Skuld, ich bin jetzt ein Ritter!«, stolz dreht sich Moritz im Kreis um mir seinen Harnisch und seinen neuen Umhang zu zeigen. Ein Holzschwert hat er auch im Gürtel stecken.

»Toll Moritz. Wirklich, wie ein echter Ritter«, sage ich in gespielter Anerkennung, nicke und verbeiße mir ein Grinsen.

»Komm Max, wir gehen jetzt Drachen jagen!«

Und schon sind die beiden um die nächste Ecke verschwunden, wo sie von lautem Kindergelächter empfangen werden. Sieht tatsächlich so aus als hätte außer mir meine ganze Familie richtig Spaß. Papa hat sich aus einem Ballen Leinen vom Dachboden und ein paar Stangen eine Art Tipi gebaut und mimt in einem weißen Gewand den Medikus. Er verkauft den ganzen getrockneten Tee, der in seiner Apotheke weg muss, und Unkraut aus unserem Garten in Tüten. Mama sitzt verkleidet als Edelfräulein daneben und verarbeitet mit dem Spinnrad eine ganze Schafherde zu Wolle.

»Danke Papa!«, rufe ich meinem Vater grinsend zu und werfe ein Kusshändchen zu Mama. »Ich gehe mich mal ein wenig umsehen!«

Ich glaube, ich kann ihre Erleichterung bis zu mir spüren, als sie mir zurück winken.

Es gibt wirklich viel zu sehen, der Markt ist einfach riesig. Unzählige Buden, in denen historische Kleider feil geboten werden. Ein Stand verkauft geflochtenen Kopfschmuck aus bunten Bändern mit Blumen, um einen anderen mit Ringen und Edelsteinen drängen sich die Menschen wie an einem Wühltisch. Im Zelt gleich daneben sitzt eine Wahrsagerin, die sich mit ihren Tarotkarten müde Luft zufächelt. An vielen Ständen werden Met und andere Spirituosen verkauft. In geflochtenen Weidenkörben liegen dort, auf Stroh gebettet, tönerne Amphoren oder Glaskolben mit Flüssigkeiten in allen möglichen Rot- und Gelbtönen.

Besonders angetan hat es mir das Zelt mit den Alchemisten. Zwei junge Männer haben vor sich allerlei Kuriositäten in Gläsern und Flaschen aufgebaut. Gifte, Schönheitspülverchen oder Medizin steht darauf. In einem Glas schwimmt sogar eine Schlange. Die beiden necken gerade ein kleines Mädchen, das sich nicht entscheiden kann, ob die Schlange echt ist oder nicht: »Holde Maid, natürlich schläft die Schlange nur. Nach Sonnenuntergang wird sie munter, dann lassen wir sie heraus.«

»Igitt, das Vieh ist also noch lebendig?«, wirft eine ältere Dame ungläubig ein. Ich grinse und einer der Alchemisten zwinkert mir verschwörerisch zu, bevor er antwortet: »Nein, wie Sie hier sehen edle Dame, ist die Schlange in Teilen künstlich«. Dann hält er ihr das Glas direkt unter die Nase, und die Frau fährt mit einem Schrei zurück. Ich beiße mir auf die Zunge um nicht laut loszulachen.

Ich biege in »Handwerkergasse« ab - hier bin ich richtig um mein Geld auszugeben!

Am Stand eines Buchbinders finde ich ein kleines in rotes Leder gebundenes Buch mit dicken Seiten aus handgeschöpftem Papier. Auf dem Einband ist die Weltenesche eingeprägt. Das Leder riecht so gut und ist ganz besonders weich, sodass ich mich sofort in dieses Buch verliebe. Als Zugabe schenkt mir der Verkäufer noch einen Bleistift mit keltischem Muster.

An einem anderen Stand mit Messern, Schwertern und anderen Waffen finde ich ein kleines Sichelmesser an einer Kette. Was ich damit anfangen werde, weiß ich noch nicht, aber es ist ziemlich scharf. Ich hänge es erst einmal an meinen Gürtel, der dieses Ungetüm von Gewand zusammenhält. Daran baumeln schon neben einer kleinen ledernen Tasche ein paar dekorative alte Schlüssel vom Dachboden und ein gewaltiges Methorn.

Apropos Methorn. Ich habe Durst. Kurz überlege ich, mir das Horn tatsächlich mit Met füllen zu lassen. Aber das fände Papa bestimmt nicht witzig. Hoffentlich gibt es irgendwo Cola, das wäre bei dieser Hitze genau das Richtige. Vielleicht haben sie hier ja auch einen authentischen Kühlwagen aus dem Jahre 1467.

Ich treibe mit den Menschenmassen am Zaun des Turnierplatzes entlang, bis ich endlich finde was ich suche, nämlich den unverwechselbaren Schriftzug in Weiß auf Rot! Gut, dass ich das Methorn am Gürtel habe. Damit habe ich mir zumindest das Pfand gespart, denn von den fünfzig Euro sind gerade noch die drei ‘Silbertaler’ übrig geblieben, die der als Druide verkleidete Verkäufer von mir verlangt. Mit einem fröhlichen Liedchen auf den Lippen kippt er mir meine Cola ins Horn. Blöderweise muss ich das Horn nun festhalten, es hat ja keinen Schraubverschluss wie die Flasche. Heute ist echt nicht mein Tag, also erstmal einen großen Schluck trinken, bevor es wieder aufs Kleid schwappt.

Ich versuche mich gegen den Strom zurück zu unserem Tipi zu quetschen, aber es ist einfach kein Durchkommen. Also biege ich ab, ignoriere das Betreten verboten-Schild und gehe in das Zeltlager der Aussteller.

Der Zeltplatz ist eine Welt für sich. Weiße und bunt gestreifte Zelte stehen durcheinander. Vor Einigen stehen selbst gebaute Holzstühle um heruntergebrannte Feuerstellen, über denen verkohlte Kessel hängen. Auf einer Holzbank liegt ein Schrank von einem Mann und schnarcht beim Schlafen wie ein Bär. Auf der anderen Seite des Lagers fließt der Fluss, vielleicht gibt es dort ja ein schattiges Plätzchen, an dem man seine Füße ins Wasser hängen kann. Die Cola wird langsam warm, also trinke ich sie in einem Zug aus und hänge das leere, pappige Horn zurück an den Gürtel.

Etwas weiter vorne, unter den Bäumen, bricht eine Gruppe junger Kerle mit nackten Oberkörpern, die ich bis dahin nicht bemerkt hatte, in lautes Gejohle aus. Einer mit langen braunen Dreadlocks reißt die Arme hoch und lässt sich von den Anderen feiern und auf die Schultern klopfen, als hätte er gerade einen Ringkampf gewonnen. Seine Brust ist schwarz beschmiert. Ich trete neugierig näher - ich muss sowieso an ihnen vorbei. Sie befinden sich genau zwischen mir und dem Fluss.

Als ich die Gruppe schon fast erreicht habe bemerkt der Typ mit der beschmierten Brust, dass er Publikum hat. Er rennt mit einem Schrei, der Tarzan zur Ehre gereicht hätte, auf mich zu, und beginnt mich herumzuwirbeln, sodass die Cola in meinem Magen ordentlich zu schäumen beginnt. Er lässt sich von meinem entsetzten Gequieke und Gezappel keineswegs beirren, sondern zwingt mich zu guter Letzt auch noch in diese Tanzfigur, bei der die Frau mit dem Kopf hinten über dem Arm des Partners hängt. Soweit der Plan.

Und genau jetzt beschließt die gut geschüttelte Kohlensäure in meinem Magen, dass es Zeit ist, Selbigen zu verlassen und »börps« entweicht sie in einem nicht allzu leisen Rülpser in das Gesicht meines »Tanzpartners«.

Wie gut, dass auf dem Flammkuchen, den ich zum Mittagessen hatte, auch noch ordentlich Knoblauch lag. Sein Blick ist einfach unbezahlbar. Die ganze Situation ist so absurd, aber nach einer Schrecksekunde schlage ich die Hände vor den Mund, während ich immer noch in seinem Arm hänge, und fange schallend an zu lachen.

Ich muss so sehr lachen, dass mich der Typ auf den Boden sinken lässt und mich fassungslos anstarrt, während seine Freunde es mir gleichtun. Ich sitze auf den Knien im Gras, und die anderen drei wälzen sich um mich herum im Gras und halten sich die Bäuche. Nur mein Opfer starrt immer noch leicht belämmert zu mir herunter.

Nachdem ich wieder halbwegs atmen kann, strecke ich meine Hand nach oben und der Typ zieht mich wieder auf die Füße. Eigentlich sieht er gar nicht schlecht aus, jetzt wo dieser seltsame Blick langsam nachlässt. Um ehrlich zu sein, ist er sogar ziemlich süß. Er hält meine Hand immer noch fest und starrt mich an, also schaue ich ihm tief in die Augen und sage: »Hi, ich bin Skuld.«

»Und vor dir steht Adrian der Tapfere«, brüllt einer seiner Freunde. Adrian der Tapfere läuft knallrot an.

Raphael, Tristan und Jonas heißen die anderen Drei. Ich kenne ich sie alle vom Sehen, und Raphael mit den Locken war neulich sogar in Papas Apotheke.

Grund für die ausgelassene Stimmung ist das Tattoo, das Adrian sich mitten auf die Brust hat stechen lassen. Von Tristan, ganz traditionell mit der Hand, wie sie mir erklären.

Jonas schmeißt ihm einen nassen Lappen ins Gesicht und Adrian tupft sich vorsichtig die verschmierte Farbe ab. Darunter kommen drei verschlungene Dreiecke zum Vorschein, ein Valknut oder Wotansknoten. Wer Skuld heißt, kennt sich schließlich mit der Edda aus und in der nordischen Symbolik sowieso. Ehrensache!

Ich beuge mich nach vorne und nehme das Kunstwerk etwas genauer in Augenschein. Es besteht nur aus kleinen und größeren Punkten, die zusammen das Motiv ergeben. Ich bin beeindruckt.

»Das muss echt wehgetan haben«, meine ich, weil mir in diesem Moment vor Staunen nichts anderes einfällt.

»Ach, so schlimm fand ich es gar nicht.«

»Wie schaut’s aus, willst du auch eins? Ich bin grade in kreativer Stimmung!«, Tristan sieht richtig aufgeregt aus.

Was, ein Tattoo, ich? Von jemandem, den ich seit nicht mal zehn Minuten kenne?

Vielleicht ist mir die Sonne nicht bekommen, aber ich möchte wirklich ein Tattoo und so höre ich mich zu meinem eigenen Erstaunen in voller Überzeugung sagen: »Klar, gerne!«

»Und was soll es sein?«, fragt Tristan.

Ich zucke ratlos mit den Schultern. Dann fällt mir das kleine Buch in meiner Tasche wieder ein. Ich ziehe es heraus und halte es Tristan vor die Nase: »Kannst du so was auch?«

»Yggdrasil!«, ruft Adrian, »Das passt sogar voll gut zu deinem Namen.«, und die anderen drei nicken zustimmend. Tristan besieht sich das Buch nachdenklich.

»Aber nicht auf die Brust«, brummele ich und die Jungs johlen. »Lieber aufs rechte Schulterblatt.«

Schließlich nickt Tristan: »Daraus kann ich was machen, ich habe schon eine Idee.«

Dann verschwindet er im Zelt und schleppt das Zeug an, was er benötigt. Alles ist steril abgepackt, wie im Krankenhaus. Ich zwirbele meine geflochtenen Haare nach oben und wurstele das Haargummi hinein. Hauptsache es hält. Dann drehe ich mich mit dem Rücken zu Adrian und schiebe ein paar Strähnen, die sich vorwitzig aus meinem improvisierten Dutt gelöst haben mit beiden Händen aus dem Nacken: »Du, schnür’ das doch bitte mal auf.«

Adrian beißt sich auf die Lippe und macht sich dann doch an dem Band zu schaffen, das mein Kleid hinten zusammenhält. Ich grinse ihn an: »Danke, Adrian«, und die anderen feixen hinter seinem Rücken.

»Hier, setz dich einfach da drauf«, sagt Tristan, während er eine karierte Picknickdecke auf dem Gras im Schatten der Bäume ausbreitet. Raphael bringt einen hölzernen Hocker aus dem Zelt, auf den ich mich aufstützen kann.

»Hilfst du mir wieder?« Tristan muss Raphael angesprochen haben, denn kurz darauf trägt der violette Handschuhe und sprüht mir das Schulterblatt mit Desinfektionslösung ein, während es sich Jonas und Adrian am Baumstamm gegenüber bequem machen und Adrian liebevoll auf seine Brust schielt.

»Ich rasiere da jetzt mal drüber, okay?«, fragt Tristan und wedelt mit einem gelben Einwegrasierer vor meiner Nase herum.

»Okay.«

Was soll ich auch anderes antworten? Immerhin will ich jetzt nicht kneifen, fange aber in Gedanken an, mich selbst zu verfluchen. Tristan malt eine Weile auf meinem Rücken herum, er und Raphael beraten sich. Dann hält mir Tristan sein Handy vor die Nase.

»Na was meinst du? Soll ich das so stechen?«

Mein Schulterblatt ziert die Skizze eines stilisierten Baums in einem Kreis, der an einer Stelle zu einem zunehmenden Mond verbreitert ist und die mächtigen Äste und Wurzeln schließen den Kreis auf der anderen Seite, auf der sich Sonnenstrahlen befinden. Schlicht und wirklich schön. Wo hat er die Idee nur so schnell hervorgezaubert? Mir gefällt es jedenfalls sehr.

»Das wird dann jetzt ein bisschen unangenehm«, warnt mich Tristan und ich gebe mir Mühe, nicht allzu verängstigt dreinzublicken.

»Leg los«, sage ich und streiche mir die Strähnen aus dem Nacken und beuge mich nach vorne… und beiße mir auf die Zunge, um nicht loszuschreien. Das tut ja so was von verdammt weh! Auf was habe ich mich da eigentlich gerade eingelassen? Immer wieder tupft Tristan vorsichtig mit einem Tuch die überschüssige Tinte weg, trägt frische auf, um dann erneut zu stechen. Die Minuten verstreichen, aber jede zieht sich wie Kaugummi.

Dass die Zeit vergeht, merke ich nur daran, dass Jonas einschläft und in unregelmäßigen Abständen laut schnarcht und dann grunzend mit dem Kopf wieder auffährt. Solange der Kopf nach unten hängt, sabbert er sogar ein bisschen.

Eigentlich würde ich das ziemlich witzig finden. Wenn ich nicht das Gefühl hätte, dass man mich gerade durch das rechte Schulterblatt pfählt. Aber je länger es dauert, desto weniger schlimm ist es. Schließlich muss ich sogar eingenickt sein, kein Wunder bei der Hitze, denn die Sonne steht schon tief.

Als ich die Augen aufschlage, ist auch Adrian eingeschlafen. Bei Jonas liegt jetzt ein Mädchen mit langen weißblonden Haaren mit dem Kopf auf seinem Schoß.

»So, fertig!«, verkündet Tristan und strahlt, während er wieder mit Desinfektionslösung meinen Rücken einsprüht und mich ein letztes Mal abtupft. Raphael steht vor mir und schaut über meinen Kopf hinweg zu.

»Ist echt gut geworden«, sagt er mit anerkennendem Nicken, nur um sich dann umzudrehen und der verpennten Meute unter dem Baum Beine zu machen. Jonas zieht das Mädchen auf die Füße während Adrian seine langen Beine sortiert und sich schwerfällig erhebt.

Schließlich stehen sie alle um mich herum und bewundern lautstark das offensichtliche Meisterwerk auf meinem Rücken. Raphael erbarmt sich und macht ein Foto für mich und noch eines in Nahaufnahme für die Details, dann hält es mir das Handy hin. Es sieht genauso aus, wie Tristan es skizziert hatte. Die zarten Linien bestehen aus lauter kleinen und großen Punkten.

Wow, Tristan ist wirklich ein Künstler. Ich bin fasziniert, wie sich das Schwarz auf meiner gebräunten Haut abhebt. Aber Tristan packt bereits ein großes Pflaster aus und klebt es drüber.

»Aber Adrian hat doch auch keines«, beschwere ich mich, denn am liebsten möchte ich es sofort jedem zeigen.

»Mein Bruder ist aber auch blöd wie die Nacht«, wirft Jonas ein, »Der hätte sein Pflaster sowieso gleich wieder abgemacht und behauptet, ihm wäre so heiß drunter. Dabei wäre es gerade heute besser, es einfach drauf zu lassen, wegen der Sonne. Dabei hat Tristan extra diese Spezialdinger besorgt, weil sie für den Markt so praktisch sind.«

»Oh, dann gib mir halt eines deiner blöden Pflas- ter.«

Und Jonas wirft Adrian ein Pflasterpäckchen an den Kopf.

»Wie im Kindergarten. Werdet ihr Sandbergs denn nie erwachsen?«, bemerkt das blonde Mädchen. Sie ist wenigstens passend angezogen. Zum Mittelaltermarkt und zum Wetter. Sie trägt ziemlich dünne Pluderhosen, eine Art Lendenschurz und ein bauchfreies Top. Geschmückt ist sie mit einer ganzen Armada an Armreifen, Fußkettchen, und Ketten um den Hals, dass es für eine ganze Christbaumplantage reichen würde. Barfuß ist sie auch. Aber meiner Mutter wäre das sicher nicht authentisch genug gewesen. Um ehrlich zu sein frage ich mich, ob ich eigentlich schon vermisst werde.

Ich bin gerade im Begriff aufzustehen, da fällt mir ein, dass Tristan mir das Tattoo sicher nicht gratis gestochen hat und ich bereits mein ganzes Geld ausgegeben habe. Da werden meine Eltern mich wohl auslösen müssen und mir gleich danach das Fell über die Ohren ziehen.

Das Mädchen schüttelt ihre langen Haare in den Nacken und verkündet im Befehlston, dass sie jetzt noch über den Markt bummeln will. Gut, dann kommen wir hoffentlich an unserem Tipi vorbei und ich kann die Ebbe in meiner Börse füllen. Bleibt da nur ein kleines Problem: mein Kleid. Es rutscht. Wo ist eigentlich das Band, das Adrian vorhin heraus gezogen hat? Auf der Wiese liegt es nicht mehr.

»Ähm… Leute, wartet mal kurz«, sie drehen sich zu mir um und sehen mich an, »Ich verliere gleich mein Kleid, hat einer von euch das Band gesehen?«

Von dem Mädchen trifft mich ein schuldbewusster Blick: »War es zufälligerweise lila?«

»Ja?«

»Oh, das habe ich vorhin im Gras gefunden und damit unser Zelt stabilisiert. Es war so schön lang und stabil und hat ganz hervorragend gepasst. Wenn ich es jetzt wieder abmache, dann fällt unser Zelt zusammen. Und falls heute Nacht doch noch ein Gewitter kommt, dann werden wir ganz schön nass. Geht es nicht auch ohne?«

»Mensch, Eltje, sie verliert ihr Kleid, siehst du das nicht?« Eltje zieht verächtlich eine Augenbraue hoch und Adrian schrumpft unter ihrem Blick zusammen.

»Kannst du ihr nicht einfach was von dir leihen, schließlich kann sie ja schlecht so über den Markt laufen« Raphael hat das aufgelegt, was man wohl unter einem gewinnenden Lächeln versteht. Jedenfalls wirkt es. Eltje packt mich am Ärmel und zieht mich hinter sich ins Zelt. In in einer Ecke liegt ein ganzer Kleiderstapel.

»Also, was willst du anziehen? Kleid? Hose?«

»Irgendwas, das nicht so warm ist?«

»Dann Hose und Tunika.«

Sie wirft mir eine dunkelblaue Leinenhose zu, gefolgt von einer Tunika und einer Art Mieder. Ich schlüpfe in die Hose, sie ist weit und luftig. Die Tunika hat zwar lange Ärmel, aber auch sie ist weit geschnitten und aus einem dünnen Stoff. Und sie verdeckt immerhin das Pflaster. Eltje schnürt das Mieder auf meinem Rücken und ich lege trotzdem den Gürtel wieder an. Schließlich baumeln da alle meine Utensilien dran. Meine Schuhe lasse ich neben meinem Kleid im Zelt am Boden liegen.

Eltje malt mir mit einem Kajal noch verschlungene Muster auf Schläfe und Hals und schubst mich dann aus dem Zelt. Die anderen stehen immer noch genau da, wo wir sie zurückgelassen haben, als hätten sie es nicht gewagt, sich zu bewegen. Nur Jonas, der Größte der Gruppe, stützt sich mit dem Ellenbogen auf Adrians Schulter ab.

Endlich können wir los, ich setze mich mit Adrian an die Spitze und versuche sie unauffällig zu unserem Tipi zu lotsen. Und das dauert. Denn Eltje und Raphael bleiben an jedem Stand stehen. An wirklich jedem. Völlig egal, ob es sich dabei um einen für Edelsteine handelt. Oder für Messer. Oder Kleider. Ich seufze, denn langsam werde ich nervös.

Aber Raphael grinst nur, während Adrian neben mir »Zwillinge« murmelt. Ich bin wirklich überrascht! Dabei sehen sich die beiden auf den ersten Blick gar nicht ähnlich. Eltje hat glatte weißblonde Haare und blaue Augen, während die Locken von Raphael schon fast braun sind. Und Raphael ist auch beinahe einen ganzen Kopf größer als Eltje. Wobei, sie haben beide die gleiche Stupsnase und die gleiche Art die Stirn zu runzeln, als sie sich zu Adrian umdrehen und dann wie auf Kommando anfangen zu lachen.

Das Tipi sieht immer noch genauso aus, wie vor ein paar Stunden. Nur der Wollberg ist weg und Mama und Papa sitzen mittlerweile mit ein paar anderen Leuten davor und trinken aus Hörnern, während sich der Markt langsam leert.

»Skuuuuuld!«, dieser Kampfschrei kann nur von Moritz kommen, und der rennt mich auch gerade von hinten halb um, während Max bellend und schwanzwedelnd um uns herum jagt.

»Skuld, da bist du ja!« Papa hat leichte Schlagseite, als er auf mich zukommt. Damit wäre mein Verdacht bestätigt, was den Inhalt der Methörner betrifft.

»Skuld, komm’ mit, du kennst bestimmt noch nicht die Sandbergs und Bergmanns, oder? Wir haben uns durch Zufall da drüben am Metstand getroffen und sind ins Gespräch gekommen.« Er packt mich am Handgelenk und zieht mich in Richtung Tipi: »Und stell dir vor, Sandberg beherrscht sogar das traditionelle Tätowieren. Meinst du, ich sollte mir auch was stechen lassen?«

Na herzlichen Glückwunsch, da sind wir ja sofort beim Thema, ganz ohne lästige Umwege, Small Talk und so weiter. Als wir näher kommen, richtet sich einer der Männer, die im Gras herum lümmeln, auf und ruft »Tristan«. Das wäre dann also Herr Sandberg, Tristans Vater. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden erkennt man schon von weitem, beide haben die langen dunklen Haare zu einem Zopf gebunden, und der durchtrainierte Oberkörper von Tristans Vater ist über und über mit Tattoos bedeckt. Nun weiß ich zumindest, woher Tristan seine Skills hat.

Und wenn ich mir den Alkoholpegel der Erwachsenen so ansehe, ist mir auch gleich klar, dass der Abend hier auf dem Zeltplatz noch lang wird. Immerhin, wenn ich meinem begeisterten Vater hier vor allen vorführe, dass auch Sandberg Junior sein Handwerk beherrscht, dann kann es ja nicht allzu schlimm für mich ausgehen und sie können meine Schulden begleichen. Also gebe ich meinen Widerstand auf und lasse mich von meinem Bruder zum Tipi schieben, während mein Vater es übernimmt, sie mir alle vorzustellen. Die vier Jungs und Eltje lassen sich neben mich ins Gras sinken. Damit sind dann auch die Verwandtschaftsverhältnisse klar. Tristan ist natürlich der Sohn von Sandberg und der Cousin von Jonas und Adrian, die Brüder sind. Raphael und Eltje Bergmann sind Zwillinge und kennen Adrian schon aus dem Kindergarten.

Mein Vater schwärmt weiterhin Met-selig von der hohen Kunst des traditionellen Tätowierens, und als Tristans Vater dann verkündet, dass er seinen Sohn bereits in dieses Handwerk eingeführt hat, sehe ich das als mein Stichwort und rufe: »Stimmt er ist verdammt gut! Wollt ihr mal sehen?« Ich ziehe die Tunika zur Seite und drehe mich zu dem entsetzten Adrian um, der ja heute bereits genug Erfahrungen im Skuld-Entblättern gesammelt hat: »Mach doch mal bitte das Pflaster ab.«

Ich atme tief durch, denn jetzt ist der Moment der Wahrheit gekommen. Schicksalsergeben schließe ich die Augen und warte auf den Sturm der Entrüstung der jetzt auch diesen Familientag zur Katastrophe machen wird.

»Wow, Skuld hat einen Baum auf dem Rücken!«, kräht Moritz.

»Wow, Skuld hat einen Baum auf dem Rücken!«, echot mein Vater. »Cool!«

»Skuld?! Du bist noch nicht einmal 16. Was fällt dir eigentlich ein?«, faucht meine Mutter.

Halt. Stopp. Irgendwas stimmt hier ganz und gar nicht. Hat mein Vater auf die treffende Zusammenfassung von Moritz gerade wirklich ein »Cool« von sich gegeben? Ich fasse es nicht. Naja, dafür hat meine Mutter, die sich gerne beklagt, ich sei der Prototyp einer spießigen älteren Schwester, mich gerade angefaucht wie ein wütender Biber mit Zahnschmerzen. Und jetzt holt sie schon wieder Luft.

Aber bevor sie auch nur ein weiteres Wort sagen kann, fällt ihr Tristans Vater ins Wort: »Sag mal spinnst du? Hast du sie überhaupt gefragt, wie alt sie ist? Du kannst doch nicht einfach… Also wirklich… Ich hoffe sehr für dich, dass du das Mädchen nicht auch noch abkassiert hast!«

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Tristan schuldbewusst den Kopf senkt. Ups. Aber hey, scheint, als bliebe der Baum ein Gefälligkeitsdienst.

»Ach macht euch keinen Kopf. Wir können es jetzt auch nicht ändern. Stoßen wir lieber darauf an, dass Skuld einen Baum…«

»Yggdrasil! Das ist Yggdrasil!«, zischt meine Mutter.

»… einen Baum auf dem Rücken hat! Sieht doch gut aus!«, und mit diesen Worten hebt Papa sein Methorn und stößt mit allen auf »Skulds Baum« an.

Ich würde sagen, ich bin gerade noch mal so davon gekommen. Zumindest für heute. Mama wird sich wieder einkriegen - in den nächsten zehn Jahren. Und Papa kann ich immer noch daran erinnern, dass er den Baum heute so toll fand, dass er sogar mit allen darauf angestoßen hat.

2.

DASFEUERLABYRINTH

Eltje hat in der Zwischenzeit mit dem matschig weichen Kajal, den sie aus ihrem Dekolleté hervorgezaubert hat, Moritz einen Drachen auf den Rücken gemalt, nachdem er lautstark von Tristan gefordert hat, er wolle ebenfalls ein »Bild«. Weil sein Vater ihm einen eindeutigen »Denk nicht mal im Traum dran«-Blick zugeworfen und Mama einen »Halt den Mund Mikael« - Mörderblick in Richtung Papa abgeschossen hat, hat sich Eltje erbarmt. Also ist mein Bruder jetzt der stolze Drachenritter Moritz von Camelot und es ist wieder Ruhe eingekehrt.

Ach ja, Mama und Papa hatten bereits im Voraus beschlossen, dass wir nicht nur einen Tag auf dem Markt verbringen werden, sondern gleich das verlängerte Wochenende. Immerhin sind Schulferien und sie haben Urlaub und es ist hier ja so nett. Mich hätten sie bewusst nicht vorher gefragt, denn dann hätten mich mit Sicherheit keine zehn Pferde hierher gebracht. Wie gut mich meine Familie doch kennt…

Jedenfalls werden wir heute Nacht alle vier hier im Tipi schlafen, auf Schaffellen auf dem Boden. Aber vorher, wenn es etwas dunkler ist, gibt es noch eine Überraschung. Na da bin ich mal gespannt. Die Augen der Anderen leuchten. Scheinbar wissen sie alle, was diese Überraschung sein wird. Und wenn die schon so begeistert sind, dann kann es nicht noch schlimmer kommen. Dachte ich zumindest.

Aber zuerst gibt es ein echt mittelalterliches Abendessen. Die neuen Freunde meiner Eltern laden uns zu ihrem Zelt ein, dort wird Eintopf im Kessel über dem Feuer zubereitet. Zu meiner unendlichen Erleichterung stammt das Fleisch aus einem der Kühlwagen hinter der Fressmeile. Auf sonnengereiftes Fleisch hätte ich nun wahrlich keinen Appetit gehabt. Ich glaube, Mama ist ebenso erleichtert, dass man es mit der Authentizität nun doch nicht völlig übertreibt.

Also schnippeln wir jetzt fleißig Zwiebeln, schälen Kartoffeln und würfeln Paprika. Moritz zerquetscht die Tomaten mit einer Gabel, wobei ich mir beinahe sicher bin, dass das so nicht im Rezept steht. Aber der Ritter von Camelot hat Hunger und packt deswegen ganz ritterlich mit an.

Eltje verhackstückt die Gurken und das meiste der Karotten wandert, anstatt in den Kessel, in ihren Mund. Die Jungs und unsere angesäuselten Väter wurden dagegen in geheimer Mission abkommandiert. Wobei die wahrscheinlich darin besteht, Getränkenachschub zu organisieren.

Adrians Mutter schürt in der Zwischenzeit das Feuer unter dem Kessel und nach nicht allzu langer Zeit zieht der Duft von Gulasch durch das Lager. Nach und nach trudeln auch die Frauen von den umliegenden Zelten ein und jede hat etwas mitgebracht.

Langsam stapeln sich die Leckereien auf dem Brett, das irgendwer als Tischersatz über zwei Holzklötze gelegt hat. Moritz sitzt bereits darunter und kaut glückselig an einem Stück Brot mit einer dicken Scheibe Schinken, während Max einen großen Knochen abnagt. Den Ritter und sein Pferd hat die Geduld verlassen.

Meine Mutter rührt Salatdressing an und unterhält sich angeregt mit einer Frau in einem bäuerlichen Gewand. Hat sich das Gefauche also doch nicht als neue Kommunikationsform durchgesetzt.

Verstohlen betaste ich so gut es geht das Pflaster auf meinem Rücken. Es juckt ein bisschen und brennt. Aber weh tut es nicht mehr. Tristan hat mich und Adrian schließlich mit neuen Pflastern und einer Salbe versorgt. Ich glaube, sein Vater hat ihm die Ohren noch ganz schön lang gezogen.

Mein Magen knurrt schon gewaltig, als die anderen wieder kommen. Scheinbar ist die geheime Mission zufriedenstellend ausgeführt worden, denn selbst Tristan lässt den Kopf nicht mehr hängen und auch sein Vater strahlt.

Aber dann schallt es »Essen fassen!« in die Runde und wir drängeln uns alle um den großen Gulaschkessel, um einen Schlag in unsere Holznäpfe füllen zu lassen. Dazu gibt es warmes frisches Brot, Kartoffeln aus der Glut, Salate, und irgendjemand hat auch noch Würstchen aufgetrieben, die jetzt auf Stöcken über dem Feuer vor sich hin brutzeln. Lagerleben ist doch nicht so schlecht, wie ich gedacht habe. Zumindest schmeckt es richtig gut.

Es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Viele kehren zurück zu den Ständen und lösen diejenigen ab, die dort die Stellung gehalten haben. Dafür bringen die Neuankömmlinge lustige Geschichten und viel Gelächter mit. Zwischendurch werden die Schalen mit Wasser aus dem Tank abgewaschen und neu befüllt und mir kommt der Gedanke, dass es schön wäre, wenn der Abwasch zu Hause auch so schnell und unkompliziert ginge.

Tristan und Raphael verkünden, dass sie jetzt schwimmen gehen werden. Jonas, Eltje und ein paar andere stimmen jubelnd zu. Die Klamotten fliegen mit Schwung ins Gebüsch, als alle mehr oder weniger nackt, aber dafür mit umso mehr Schwung und Geschrei vom Steg ins Wasser springen. Adrian und ich haben Pech gehabt, wir müssen uns damit begnügen, mit den Füßen im Wasser herumzuplanschen. Strafe muss schließlich sein, zumindest für mich.

Da Adrian schweigt, versuche ich jetzt ein Gespräch in Gang zu bringen. »Wie alt bist du eigentlich?«

»Fast 18.«

Wow, also schon fast volljährig, wäre ich auch gerne. Aber damit versickert das Gespräch schon wieder wie Wasser im Gras. Schließlich hat meine Mutter vorhin ja lautstark verkündet, dass ich noch nicht mal 16 bin. Ist ja egal, dass es in einem Monat soweit ist.

»Gehst du noch zur Schule?« Man, ich höre mich ja schon fast an wie eine dieser alten Tanten, die einen in der Apotheke anquatschen und fragen, ob man gerne in die Grundschule geht und was das Lieblingsfach ist.

»Mhh…«, brummt er. Wirklich sehr gesprächig der Junge. Dafür hat er jetzt einen netten Hauch von Granatapfelrot auf den Wangen. Ob er in seinem früheren Leben eine Verkehrsampel war? Nein, das zu fragen wäre jetzt total gemein.

»Kommst du eigentlich hier aus der Stadt?«

»Nein, aus einem Dorf etwas außerhalb. Ich geh’ nur hier aufs Lindgren-Gymnasium.« Schweigen. Was hat er denn auf einmal? Vorhin war er noch viel lockerer drauf.

Ich starte einen neuen Versuch: »Und was machst du so in deiner Freizeit?« Alte Tanten Modus volle Fahrt voraus.

»Nichts Besonderes.«

Keine besonders ergiebige Antwort, aber Gott sei Dank kommt Moritz zu meiner Rettung angerannt und unterbricht meinen Beinahe-Monolog.

Er hat Max, eine Schale, frische Klamotten und drei Lappen dabei und einen Auftrag. Ich soll ihm dabei helfen, sich mit Wasser abzuspülen und aufzupassen, dass er nicht im Fluss ertrinkt. Max hat scheinbar keine Bedenken, denn er stürzt sich ins Wasser und paddelt herum.

»Aber nicht den Drachen abwaschen!«, verlangt Moritz, als ich ihm eine Schale Wasser über den Kopf kippe. Viel ist von dem Drachen sowieso nicht mehr zu sehen, also nicke ich zustimmend und entferne den Rest auch noch. Ich begieße ihn von oben bis unten und muss mit einem Lappen ordentlich rubbeln, damit auch die Grasflecken von Knien und Ellenbogen abgehen. Habe ich mich, als ich so alt war wie er, eigentlich auch im Gras gewälzt?

»Du hast ihn abgewaschen!«

Jetzt hat er es doch gemerkt, verdammt. Anklagend blickt er zu mir hoch, die Unterlippe fängt an zu beben, und wenn jetzt nicht gleich ein Wunder geschieht, fängt er an zu heulen. Heute ist wirklich mein Pechtag. Denn wenn der Kleine jetzt heult, fängt Mama garantiert wieder an zu fauchen.

»Ich mal ihn dir wieder auf, ich brauch nur von Eltje den Stift«, versuche ich ihn zu beschwichtigen.

»Du kannst doch überhaupt nicht malen!«, hält er vorwurfsvoll dagegen. Ich seufze. Wo er recht hat, hat er recht. Ich kann noch nicht mal ein Strichmännchen malen, das nicht krumm und schief ist, geschweige denn einen ganzen Drachen.

Zornestränen steigen ihm in die Augen, und auch mein kleiner Bruder beherrscht den Farbwechsel in Richtung Rot ganz hervorragend. Nur sah das bei Adrian vorhin total süß aus unter seinen langen Dreadlocks. Bei Moritz ist das ganz eindeutig ein Warnsignal dafür, dass ich gleich ein gewaltiges Problem haben dürfte.

»Du bist so gemein! Das sag ich Mama!«

Oh, oh. Genau der Ansprechpartner, den ich jetzt besonders gut gebrauchen kann. Da hat er sich auch schon umgedreht und ist geradewegs in Tristan rein gerannt.

»Aber ich kann malen! Ich hab auch den Baum auf Skulds Rücken gemacht! Was meinst du, soll ich mal versuchen?« Scheinbar hat Tristan auch keine Lust auf noch einen Anschiss. Dankbar sehe ich ihn an und nicke.

»Wie wäre es dieses Mal mit einem kleineren Drachen? So auf die Schulter, wie bei Skuld?« Grinsend reicht ihm ein triefend nasser Raphael einen Edding und das Entzücken mit dem Moritz die beiden ansieht, ist nicht zu übersehen. Da hat jemand gerade seine Helden gefunden.

»Dann setz dich mal hin und beug dich vor.«

Und in nicht mal fünf Minuten hat Tristan Moritz ein herzallerliebstes Drachenbaby mit Fledermausflügeln aufs Schulterblatt gemalt. Ich passe auf, dass Moritz sich noch richtig abtrocknet und seine Klamotten wieder anzieht. Unter der Tunika sieht man immerhin den Drachen nicht.

Jetzt wo sein Herrchen endlich sauber ist, klettert Max aus dem Fluss und ich kann Moritz gerade noch in Sicherheit bringen, bevor sich Max das Flusswasser aus dem Fell schüttelt, dass es nur so spritzt. Lachend jage ich die beiden davon und Tristan und Raphael stürzen sich wieder ins Wasser.

Adrian ist ein Stück weiter flussabwärts gewatet, und da alle mit Planschen und Schreien beschäftigt sind, nutze ich die Gelegenheit, mich mit dem letzten sauberen Lappen und der Wasserschale ebenfalls vom gröbsten Dreck zu befreien. Was auch wirklich nötig ist. Vielleicht sollte ich Papa noch mal anschnorren, dass ich mir ein neues Kleid kaufen darf. Was Klamotten angeht, bin ich momentan denkbar schlecht ausgerüstet. Dann könnte ich auch gleich Eltjes Sachen hier am Fluss waschen und das andere Kleid auch, und dann über Nacht trocknen lassen. Zumindest würde ich morgen nicht mittelalterlich riechen. Natürlich haben meine Eltern mit ihrer Überrumpelungstaktik nicht daran gedacht, dass ich vielleicht gerne mal die Kleidung wechseln würde.

Also ziehe ich die Hose von Eltje wieder an, gürte die Tunika und mache mich auf die Suche nach Papa. Der hat es sich mit den anderen mittlerweile auf den Holzstühlen gemütlich gemacht. Er muss auf Wasser umgestiegen sein, denn sein Methorn liegt vor ihm auf dem Boden und er hat eine Mineralwasserflasche in der Hand. Ich pirsche mich ungesehen von Mama von hinten an ihn heran und lege meinen extralieben Blick auf: »Papaaaaa…?«

»Jaaaaa…?« Papa kramt in der Tasche an seinem Gürtel nach der Geldbörse, ohne dass ich überhaupt gefragt habe. Scheinbar hat er die Kunst des Gedankenlesens erlernt oder ich war mal wieder so subtil wie eine Giraffe am Nordpol.

»Was willst du dir denn kaufen?«

»Ein sauberes Kleid…«

Er rollt die Augen und murmelt etwas, das stark nach »eitles Weibsvolk« klingt, aber er drückt mir tatsächlich gleich drei Scheine in die Hand.

»Du bist wirklich der Beste, Papa!« Ich drücke ihn in einem Anfall von Übermut und verschwinde, bevor ihn noch die Reue packt.

Wenn ich mich richtig erinnere, hatte ich vorhin an einem der Stände ein wunderschönes Kleid in Dunkelrot gesehen. Ich quetsche mich zwischen den Zelten durch. Es war irgendwo in der Nähe des Tipis und tatsächlich finde ich den Stand wieder. Es ist mittlerweile schon fast dunkel geworden und die Händlerin hat bereits mit dem Aufräumen begonnen.

Aber sie unterbricht ihre Arbeit gerne für mich, als ich ihr erkläre, welches Kleid ich haben möchte. Und es ist tatsächlich noch schöner, als ich es in Erinnerung habe. Es hat sogar eine Kapuze, die man abknöpfen kann und es ist im Rücken genau wie das andere geschnürt. Dann schlabbert es wenigstens nicht an meinem Körper herum. Oma sagt immer, ich sei dünn wie ein Weidenzweig und müsse noch viel mehr essen.

Vorne am Ausschnitt ist eine kleine goldgewebte Borte mit einem Rankenmuster aufgenäht, und in den Falten der Ärmel sind kleine Schnüre versteckt, mit denen man die Ärmel sogar schließen kann, falls es mal kälter wird. Es ist wirklich ein Traum von einem Kleid. Hoffentlich reicht das Geld, das mein Vater mir zugesteckt hat.

Ich verschwinde zwischen den Kleiderstangen in der improvisierten Umkleidekabine, die aus bedruckten Tüchern mit Ethnomuster besteht, die vom Zeltdach herunter hängen.

Das Kleid passt wie angegossen. Es ist nicht zu weit, die Farbe lässt meine Haut in einem warmen Honigton leuchten und passe wunderbar zu meinen dunklen Haaren. Sagt zumindest die Händlerin, ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, das Krähennest auf meinem Kopf im Spiegel zu betrachten. Das Kleid ist noch nicht mal besonders teuer, denn ich bekomme sogar noch einen Rabatt. Sie wäre es nicht losgeworden, erklärt mir die Händlerin, es wäre den meisten schlicht und ergreifend zu eng, trotz der Schnürung am Rücken.

Damit reicht das Geld sogar noch für einen kleinen geschnitzten Kamm, und vor dem Spiegel entwirre ich so gut es geht meine Haare, zupfe die restlichen Ringelblumen heraus und flechte mir einen neuen Zopf.

Im Gehen stopfe ich Eltjes Klamotten in die Papiertüte, die mir die Verkäuferin gegeben hat und werfe sie ins Tipi. Der Kamm kommt zu Buch und Bleistift in die Gürteltasche und ich beeile mich, dass ich wieder zurückkomme, denn es wird mittlerweile dunkel. Und wenn es dunkel ist, soll ja die Überraschung steigen. Ich frage mich, ob es ein Feuerwerk geben wird, oder sowas schon zu modern ist.

Auf halbem Weg kommt mir Adrian entgegen, der geschickt wurde, um mich zu suchen. Denn die Überraschung befindet sich etwas außerhalb des Lagers. Mittlerweile sind auch kaum noch Leute unterwegs.

Um mich nicht wieder mit dämlichen Fragen zu blamieren, halte ich meinen Mund und wir legen den Weg schweigend zurück. Als wir schließlich unser Ziel erreichen, höre ich Musik und sehe Leute die sich um ein mächtiges Feuer bewegen. Aber das ist noch nicht alles. Auf dem Boden befinden sich viele kleine und größere Steine, auf die jemand Runen gemalt hat und die geheimnisvoll in den Flammen leuchten, die dazwischen lodern.

Und alle tanzen durch dieses Labyrinth in die Dunkelheit hinein, um dann wieder zum Feuer zurück zulaufen und erneut zu beginnen. Ich bleibe am Rand stehen und sehe zu. Es ist ein wunderschöner Anblick, der Moment ist irgendwie magisch und ich bemerke, dass auch Adrian nicht weiter gegangen ist, sondern immer noch hinter mir steht und genauso ergriffen ist, wie ich.

Ich weiß nicht, wie lange wir schon da stehen, als Moritz mit Max an der Leine angerannt kommt und verlangt, dass wir gemeinsam um das Feuer tanzen. Also nehme ich ihn an eine Hand, Adrian bei der anderen und wir laufen los. Die Musik hat gewechselt und nun spielen sie etwas, das beinahe sphärisch klingt, und ein leichter Wind kommt auf.