Feuermal - Wolfgang Ram - E-Book

Feuermal E-Book

Wolfgang Ram

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Beschreibung

Lönnes Familie lebt seit Generationen in einem Haus am Hamburger Dammtorbahnhof. 70 Jahre nach Ende des ‚Dritten Reichs‘ und kurz nach seinem 16. Geburtstag entdeckt Lönne in einem Kellerversteck Kurts Koffer mit rätselhaftem Inhalt. Lönne findet nicht nur die unheimliche Geschichte des Hauses heraus, sondern erfährt vom Schicksal seiner Familie, die der Gewaltherrschaft im letzten Jahrhundert zum Opfer gefallen ist. „Das Böse schläft nie – es lauert in der Nähe!“ hat Kurt gewarnt. Und so ist es: Mit seinen aus Persien und Togo stammenden Freunden verfolgt Lönne die Spur des Bösen bis in die Gegenwart – und bis in seine Nachbarschaft… Die Clique enttarnt auf unkonventionelle Weise eine bundesweit operierende rechtsextreme Geheimorganisation, die kein geringeres Ziel als einen Staatsstreich anstrebt! In diesem Polit-Krimi für junge Leserinnen und Leser geht es um alte und neue Nazis, Täter und Opfer, um Rassismus, Flucht und Asyl - und nicht zuletzt um Raubkunst. Der Autor Wolfgang Ram ist 1952 in Hamburg geboren. Der Kinderkardiologe und Sportmediziner verarbeitet in seinem zweiten Roman das Schicksal der eigenen Familie. Am Beispiel der Geschwister Lissy und Kurt Asser erzählt er albtraumartig eine wahre Begebenheit aus der Zeit des Nationalsozialismus, eingebettet in eine spannende Fiktion der Gegenwart. Weitere Informationen unter www.wolfgang-ram.de Bisher erschienen: „KielOben in der Klemme“ ISBN 3-83110097-7

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Seitenzahl: 209

Veröffentlichungsjahr: 2015

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für meine Enkel

in Erinnerung

an Kurt und Lissy,

die Eltern Julius und Jenny Asser, geb. Fernich,

die Großeltern Cäsar und Fanny Asser,

die Großmutter Bertha Fernich

und alle anderen spurlos

Verschwundenen

Inhalt

Prolog – Rückblende Kriegsende

Der Fälscher

Scheißmontag

Das Spiel

Die Rätsel der Moorweide

Das Pfingst-Treffen

Die Audienz in der Residenz

Tulpen aus Amsterdam

Epilog

Danksagung

Erklärungen und weiterführende Literatur

Prolog – Rückblende Kriegsende

Ach, der Mai 1945 sollte alles entscheiden, aber dieser Wonnemonat ist eine einzige Katastrophe. Und dann der Galgenhumor seiner Untergebenen!

Sein Stellvertreter, SS-Untersturmführer Rudolf Sengmeier, erzählt den Witz von dem Schwaben, der eine Fliege in seinem Wein findet: „Der Schwabe fischt se raus und klopft ihr mit’m Zeijefinger auf’n Rücken:

‚Spuck’s aus, spuck’s aus!‘“

Wagner steht rauchend am zerborstenen Fenster und sieht auf die menschenleere Moorweide hinaus. Über dem Skelett des alten Dammtorbahnhofs steht die Sonne schon hoch, und die Vögel zwitschern. Man hört keine Schüsse, keine Detonationen mehr.

Der Obersturmführer der SS-Einheit RVE Hamburg, der abgebrochene Kunststudent und Hitler-Verehrer Hans Wagner, hält noch immer mit seinen Leuten die Stellung im Magazin.

Das Kriegsglück hat sich gewendet. Der Russlandfeldzug ist fehlgeschlagen, die gesamte 6. Armee ist vor zwei Jahren eingekesselt und vernichtet worden. Seither folgt Niederlage auf Niederlage und nun die schlimmste Katastrophe – der Tod des Führers Adolf Hitler!

Hätte das Großdeutsche Reich doch nur einen Feldherrn wie die alten Germanen. So ein Hermann der Cherusker fehlt uns heute: Ein aufrechter Arier, der die Übermacht feindlicher Heere durch List besiegt. Jemand, der die Alliierten in die Sümpfe führt, um sie dort abzuschlachten!

Die meisten Männer aus Wagners Schar sind von Hitlers Nachfolger Dönitz vor fünf Tagen als letztes Aufgebot an die Front befohlen worden. Nun haben er und Sengmeier nur noch eine Rotte aus sechs Soldaten: Die drei Schwaben, den jungen Lützen und die beiden Gefreiten, die unten am Eingang Wache schieben.

Wagner blickt in das große Zimmer, das seinem Kommando jetzt als Kantine und Aufenthaltsraum dient. In den anderen Räumen der Wohnung schlafen seine Leute. In der zweiten Wohnung auf der ersten Etage ist die Kleiderkammer untergebracht, im Erdgeschoss und in den Kellerräumen stapeln sich die anderen Habseligkeiten und Elektrogeräte der evakuierten Juden. Zugegeben, verglichen mit dem Schicksal der frierenden Kämpfer an den eingekesselten Fronten sitzt seine Einheit in dieser Villa in einem recht komfortablen Gefängnis…

Dabei hatte er Elsa versprochen, dass sie ganz schnell heiraten würden, bevor ihre Schwangerschaft bekannt würde. Noch in diesem Mai sollte in engstem Kreis die Kriegsehe geschlossen werden und später, wenn der Endsieg errungen wäre, würden sie im wiedererstandenen blühenden Großreich ein rauschendes Fest feiern. Wagners Sohn soll wie der Führer Adolf heißen, wenn auch Elsa mehr für Hermann plädiert. Notfalls würde Hermann auch gehen – Hermann der Cherusker...

Unwillkürlich ballt Hans Wagner die hagere Faust: Adolf oder Hermann – für die Zukunft seines Sohnes will er kämpfen!

Rudolfs Gegenüber Gerhard walkt seine Lippen und sieht den Berliner bedeutungsvoll durch seine Brille an:

„S’isch net so wia ihr denkat! Mir Schwoaba sen net geizig, mir sen bloß sparsam! Mir sen sogar sehr gastfreindlich, ond des koa älle Welt bestätiga!“

Unaufhaltsam scheint dieser ruhmlose, ja ruchlose Niedergang:

Der Führer starb am 30. April im unermüdlichen Kampf für unser Vaterland. Vor fünf Tagen ist die Festung Hamburg bedingungslos den Briten übergeben worden, der vorher so kampfeswütige Gauleiter Kaufmann hat feige kapituliert!

Gerhard lamentiert mit einem Daumen hinter sich weisend: „Es isch scho a Deng, mit denne boide zu spiala – die sen sich immer einig. Do i’schs ganz natierlich, dass i andauernd valiera muss!“

Wagner hatte so eine steile Karriere hingelegt, dass sein Kommilitonen vor Neid erblasst waren. Wagner hatte sich schon 1937 in Goebbels’ Spezialistenstab „Entartete Kunst“ als besonders rigider Akquisiteur hervorgetan und viele Gemälde aus Museen und Privatbesitz konfisziert. Die Bilder wurden heimlich im Ausland verkauft, um Hitlers bevorstehenden Krieg mitzufinanzieren.

Wagner wird nie den Moment vergessen, als er dem großen Führer anlässlich der Ausstellungseröffnung persönlich vorgestellt wurde und der Reichskanzler ihm, dem jungen Kunstexperten, leibhaftig die Hand reichte!

Gerhards beiden Mitspieler, Willi und dessen Stubenkamerad Jürgen, feixen über den Ältesten. Vor ihnen liegen große Haufen Groschen. Willi hebt abwehrend beide Hände und ruft in Richtung des mageren Gefreiten: „Wart no a Weile, mir bschtellat erst später, der Gerhard muass erst no amal valiera!“ Gerhard unterbricht seinen Vortrag und sieht den jüngeren Kameraden strafend an: „Du wart a no a Weile – du kannst gern scho bschtella, üabers Zahla schwätza mir späta!“

Rudolf erklärt sich einverstanden, mit den dreien Skat zu spielen, und Gerhard schöpft neue Hoffnung.

Das Schlimmste in Wagners Augen ist: Niemand weiß, wie es mit Großdeutschland weitergehen soll. Wagner blickt auf den völlig abgeholzten, vom langen Regen der letzten Tage aufgeweichten Park, der so lange Versammlungsplatz gewesen ist. Er wandert durch den großen Raum zur Rückseite des Hauses und sieht in den weitläufigen Garten der Villa hinunter. Aber weit und breit ist keine feindliche Einheit zu sehen, die ihn und seine Männer verhaften und das Magazin übernehmen wollte.

Wagner dreht sich um und betrachtet gedankenverloren seine Leute. Die in den letzten Monaten immer wieder neu zusammengewürfelte Mannschaft übt sich seit Tagen im Nichtstun, die Männer rauchen, fressen und saufen, was das Zeug hält. Wagner sieht ihnen schweigend zu, ohne ihnen Einhalt zu gebieten.

Damit sie sich nicht sinnlos volllaufen lassen können, hat er durchgesetzt, dass die Soldaten für ihre Getränke bei der Ordonnanz bezahlen müssen.

Wagner sinnt auf einen Ausweg, sich – und wenn möglich, auch seine Männer – aus der Falle zu befreien, in der sie sitzen.

„Da hab i neie Karta – halt, oine fehlt!“ Eilfertig schüttelt Jürgen die fehlende Karte aus der Pappschachtel. Das Deckblatt wirbt für das Deutsche Winterhilfswerk. Die beiden jungen Schwaben wechseln einen Blick, als Gerhard beginnt, die Karten zu mischen, wachsam beobachtet Rudolf die drei. Mit drei Fingern der rechten Hand wirft Gerhard die Karten den Fingern der Linken zu, die sie wie eine Schnappfalle sammeln. „Mecht äbber abheba?“ Rudolf winkt ab, und Gerhard teilt aus.

Wagners Blick streift den blassen Gefreiten, der leicht gekrümmt wie ein Fragezeichen an der großen Anrichte mit Wein- und Schnapsflaschen, Konserven und Dauerbrot lehnt. Auf der Anrichte häufen sich die Türme mit Münzen – Karls Kantinen-Einnahmen. Der arme Kerl hat offenbar immer noch Schmerzen: Kaum an der Front, hatte der Gymnasiast Karl Lützen gleich einen Hüftschuss erlitten. Wie durch ein Wunder hatte er die Operation im Kriegslazarett trotz großen Blutverlusts überlebt und ist nun „zur weiteren Verwendung“ als Ordonnanz dem Kommando RVE überstellt worden.

„Mach ma’ den Rundfunk an, vielleicht jibt’s ja ma’ wat Neues von der Front!“ ruft Rudolf der Ordonnanz zu. Gehorsam dreht Karl das Radiogerät an. Als die Röhren sich erwärmt haben, krächzt aber nur Marschmusik aus dem Lautsprecher.

Willi, Rudolf und Jürgen wischen die zugeteilten Karten über den Tischrand und nehmen sie auf. Keiner verzieht eine Miene. Willi reizt, Rudolf zieht mit, Jürgen passt. Auch Willi gibt auf, und Rudolf nimmt die beiden Karten des Skat auf. Nun fliegen die Karten reihum mit einem Klatschen auf den Tisch, fast jeden Stich zieht Rudolf an Land. Gerhard lauert schadenfroh.

Willi fängt an, mit dem Kopf zu zucken und stottert plötzlich. Rudolf fixiert ihn, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Gerhard fährt den Jüngeren an:

„Lass den Blödsinn, des bringt de bloß en‘d Klapsmühl!“

Willi blickt ganz unschuldig drein und antwortet: „Vielleicht ben i da scho?“ Er mischt die Karten, indem er den Haufen teilt und beide Stapel mit den Daumen anhebt, sodass sich die Partien verzahnen. Er schiebt alle Karten zusammen und teilt aus. Gerhard macht auch in diesem Spiel keine Punkte und kneift die Lippen zusammen. Willi türmt seine Groschen demonstrativ zu einer Palisade vor sich auf, er legt die Hände vor dem Mund zusammen und bläst ein Halali, dann winkt er dem Gefreiten: „Also, dia Runde zahlt der Gerhard – i hätt gern a Viertele Kalterer See!“

Den vorläufigen Höhepunkt seiner Karriere hatte Wagner eher zufällig erreicht. Als die Deportationen in Hamburg begannen, erhielt Wagner als inzwischen anerkannter Kunstexperte an der Moorweide eine eigene SS-Schar, das Kommando an der Heimatfront zur ‚Rückführung des Volkseigentums‘ (RVE) Hamburg. Denn eine neue Einnahmequelle hatte sich ganz von selbst aufgetan: Die jüdischen Einwohner Hamburgs wurden zu jeweils etwa tausend Menschen zur Moorweide bestellt, um von hier zu dem wartenden Zug in die Konzentrationslager zu marschieren. Das war ein ordentliches Stück, bis zum Hannoverschen Bahnhof im Hafen zu laufen! Es war Wagners Idee gewesen, den abgelegenen Güterbahnhof als Abfahrtsort zu wählen: So störte man weder den normalen Personenverkehr noch die vielen Truppentransporte am Dammtorbahnhof und vermied unnötiges Aufsehen beim Verladen des Gesindels.

Das Nachbargebäude des Sammelpunktes Moorweide, eine jüdische Jugendstilvilla, wurde geräumt und ihre Bewohner wurden gleich mit dem ersten Zug am 25. Oktober 1941 deportiert. Der SS-Obersturmführer Wagner hat sich von Anfang an hier wohlgefühlt. Ganz oben im zweiten Stock war ein Musikverlag gewesen, dessen Räumlichkeiten er seit gut drei Jahren praktisch privat nutzen kann.

Von hier aus organisierte er mit seinen beiden Rotten von jeweils sechs Soldaten die Sicherung des Volkseigentums, das die Juden nach dem gesunden Volksempfinden widerrechtlich zusammengerafft hatten: Wer mehr als das eine erlaubte Gepäckstück zum Sammelplatz mitbrachte, musste es im RVE-Magazin abgeben. Dabei war es immer wieder zu unangenehmen Szenen gekommen, wenn jemand sein überzähliges Gepäck nicht freiwillig hergeben wollte. So manches Mal mussten Wagners Leute nach längerem Streit mehrfach zuschlagen, bis sie die Koffer übernehmen konnten. Das gab immer Unruhe bei den Wartenden, vor allem, wenn Rabbiner ihre Tora-Rollen und Gebetsbücher verteidigen wollten. Den hebräischen Kram konnte eh keiner lesen, also wanderte er gleich in den Heizungskeller. Aber bei den anderen Juden fand sich dann in den meisten Fällen doch etwas besonders Wertvolles im Koffer…

Wagner war überzeugt, dass nach bewährter Salamitaktik des Führers am Zielort ein ähnliches Kommando das Restgepäck entgegennehmen würde – warum also stellten sich die Juden überhaupt so an?

Während die erste Rotte mit den jüngeren Soldaten in Zusammenarbeit mit der Gestapo unten vor dem Haus die Juden registrierte und das überzählige Gepäck übernahm, öffneten die Männer der zweiten Rotte im Magazin die Koffer und sortierten die Dinge nach Lebensmitteln, Wäsche, Wertsachen, Geld und Kunstschätzen in unterschiedliche Räume der Villa.

Hinzu kamen Elektrogeräte, Musikinstrumente und Wertgegenstände aus den zwangsgeräumten Judenwohnungen, die die Gestapo dort sicherstellte.

Vor allem auf Bilder hatte Wagner es abgesehen. Vor seiner Mannschaft grummelte er immer über all den Kitsch und die entartete Kunst, die aus den Judenhäusern angeschleppt wurde: „Wie besoffen muss man eigentlich sein, um eine Herde blauer Pferde zu malen?“ hatte er in die Runde gefragt. Rudolf hatte entgegnet: „Und wat muss man jenommen ha‘m, um ’ne Herde blauer Pferde über’m Sofa auszuhalten?“ Die ganze Schar hatte gewiehert.

Wagner ließ konsequent sämtliche Gemälde ins Obergeschoss des Magazins bringen und schnitt sie dort säuberlich mit Rasierklingen aus den Rahmen. Dann verstaute er die Leinwände persönlich in den Partitur-Regalen des ehemaligen Musikverlags. Gerade die Bilder aus den Elbvororten boten einige Überraschungen. Er hatte so manches Gemälde von Emil Nolde, Franz Marc und von verfemten Malern der ‚Brücke‘ erkannt und in einer eigenen Schublade abgelegt. Die leeren Bilderrahmen ließ er zum Heizen des großen Hauses in das Kellergewölbe schaffen.

Die Wertsachen, Gold und Schmuck wurden in ausgediente Munitionskisten verpackt und die stabilen Kisten plombiert. Wenige Tage später kamen Lastwagen und transportierten das angesammelte Material zur Weiterverwertung in verschiedene Zentrallager.

So war der Plan. Aber nach den massiven Luftangriffen der Alliierten auf Hamburg im Sommer 1942 kam es zu Engpässen beim Abtransport des Materials. Geeignete Fahrzeuge waren kaum noch verfügbar, weil sie entweder zerstört oder an die Front verlegt worden waren. Mit der Evakuierung der empfindlichen Gemälde wollte Wagner sich ohnehin Zeit nehmen: Er fürchtete, dass sie auf den Ladeflächen der Pritschenwagen und durch die vielen Schlaglöcher der zerbombten Straßen zu sehr ramponiert würden. Außerdem war ihr Verkauf im Chaos der letzten Kriegsjahre weitgehend aussichtslos.

In den letzten vier Kriegswochen ist gar kein Material mehr abgeholt worden, weil nun sämtliche Verkehrswege lahmgelegt sind: Weder auf der Schiene noch auf der Straße rollen noch Räder. Die Hälfte der Hamburger Wohnungen ist zerbombt, ihr Schutt versperrt meterhoch die Straßen, die Räumkommandos kommen trotz der stark angestiegenen Zahl von Zwangsarbeitern nicht mehr nach. Selbst den Hannoverschen Bahnhof im Hafen haben die feindlichen Bomber inzwischen pulverisiert…

Das Magazin ist hoffnungslos überfüllt. Nur die Lebensmittel sind entweder von der eigenen Mannschaft aufgegessen oder an befreundete Dienststellen verteilt worden. Allerdings gibt es noch immer Alkohol und Tabak in rauen Mengen.

Jetzt ist der charismatische Führer tot, sein Nachfolger Dönitz ein Schlappschwanz und der smarte englische Feldmarschall Montgomery mit seinen Wüstenratten mir nichts dir nichts in Hamburg einmarschiert – das bittere Ende ist greifbar nah!

Während seine Leute den Tag mit Kartenspielen totschlagen, überlegt Wagner, welche Optionen noch bestehen: Sie könnten warten, bis sie entdeckt werden, auf die sich nähernden feindlichen Soldaten feuern und den Heldentod sterben. Sie könnten den Briten das Magazin kampflos übergeben und die nächsten Jahre in einem Kriegsgefangenenlager, vielleicht im kalten Schottland, verbringen – oder sogar als Kriegsverbrecher angeklagt und für immer in Stalins berüchtigte Lager nach Sibirien verbannt werden.

Oder sie könnten die olle Judenbude einfach abfackeln und heimlich verschwinden.

Aber in diesem Fall sollten sie wenigstens so viele Wertsachen mitnehmen, wie sie tragen können. Da dämmert ihm eine geniale Idee, vielleicht zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.

Plötzlich plärrt in der Dämmerung eine Sondermeldung aus dem Rundfunkempfänger: Der Sprecher des Reichssenders Hamburg verkündet nach einigem Räuspern mit belegter Stimme, dass die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches für alle Fronten am 8. Mai um 23:01 Uhr inkrafttreten werde.

Die Männer wirken wie versteinert, keiner wagt, die anderen anzusehen. Nach einigen Schrecksekunden kippt die Stimmung und unbändige Wut kommt auf. Unvermittelt brüllt Rudolf den sich am Tisch abstützenden, leise schluchzenden Gefreiten an: „He, Karl, du verdammter Krüppel, was fällt dir ein? Ein deutscher Soldat flennt nich’ wie’n Waschweib! Haste in die Hosen jeschissen oder ha‘m se dir die Eier gleich mit wechjeschossen? Nimm jefällichst Haltung an und räum hier endlich ab!“

Der SS-Obersturmführer sieht seine Autorität in Gefahr. Er darf jetzt keine Panik aufkommen lassen, wenn sein Plan aufgehen soll. Wagner befiehlt Karl, die beiden Wachen hochzuholen. Er baut sich vor seiner versammelten Mannschaft auf und beginnt seine Ansprache ganz ruhig:

„Männer, unser einzigartiger Führer ist gefallen, aber er hätte nie kapituliert. Wir dürfen seine Ziele nicht verraten. Mag kapitulieren, wer will – wir nicht! Wir werden kämpfen, bis sein Wille erfüllt ist. Ihm haben wir Treue geschworen über den Tod hinaus, und darum werden wir für den Endsieg bis zum letzten Blutstropfen kämpfen, wie es unsere Kameraden im Felde getan haben: Heil Hitler!“

Er streckt den rechten Arm zum Gruß, seine Mannschaft springt auf, steht stramm und schreit wie aus einer Kehle „Heil Hitler!“

Wagner sieht nacheinander jedem seiner Untergebenen beschwörend in die Augen und entwickelt seinen Plan:

„Wir werden siegen, und wenn es noch so lange dauert. Das Tausendjährige Reich wird aus den Trümmern wiederauferstehen, und wenn wir Generationen dafür brauchen werden. Wir werden die Fackel des Führers weiterreichen an unsere Kinder und Kindeskinder: Wir sind der Anfang der Wiederkehr, die Keimzelle des Erfolgs, der unserem geliebten Deutschen Volk eines fernen Tages den verdienten Endsieg bringen wird!

Wagner macht eine bedeutungsvolle Pause und beginnt, im Raum auf und ab zu wandern:

„Wir gründen – hier und jetzt – eine nationalsozialistische Bruderschaft, einen Geheimbund. Wir nennen ihn RDB: Reichsdeutscher Bund. Und wir werden ein konspiratives Netzwerk autonom arbeitender Zellen bilden. Jeder einzelne aus unserem Kreis wird für unsere Überzeugung leben und neue Mitstreiter gewinnen. Wir müssen alle Fantasie entwickeln, um unseren Kampf für die Überlegenheit der deutschen Rasse fortzuführen.“

Rudolf wird unruhig: „Wat schlächst du denn nu jenau vor?“

Wagner fixiert Rudolf kalt und antwortet leise, aber jede Silbe betonend:

„Wir tauchen unter. Jeder fährt dorthin zurück, woher er gekommen ist. Wir werden sehen, ob der Tommy uns in sein Königreich eingliedern oder Stalin uns zu einer russischen Kolonie erklären wird.

Auch wenn sie uns unterjochen, werden sie nicht um eine neue Verwaltungsstruktur im Deutschen Reichsgebiet herumkommen. Und da müssen wir rein: Wir eröffnen eine neue Heimatfront! Hitler hat Jahre gebraucht, seine Leute in die Medien, die Ämter und Kirchen, die Schulen, und Universitäten, die Krankenhäuser und selbst in das Deutsche Rote Kreuz einzuschleusen. Da waren Polizei, Politik, Geheimdienst und Wehrmacht nachher Selbstgänger. Wir werden bei Null anfangen müssen, aber wir werden als nationale Kraft von Anfang an dabei sein!“

Wagner sieht an den skeptischen Gesichtern seiner Untergebenen, dass er noch Überzeugungsarbeit leisten muss. Er erklärt jedem Einzelnen, wie er sich zuhause mit seinen Fähigkeiten und Beziehungen für den Bund einsetzen könnte. Endlich sehen die Männer ein, dass sie kaum eine andere Chance haben, als Wagners verrückten Auftrag zu akzeptieren. Sie schwören ihm und dem frisch geschlossenen Reichsdeutschen Bund Treue bis zum Tod.

Danach schickt Wagner sie in die Kleiderkammer. In zivilen Klamotten lässt er sie nachts in der feuchten Gartenerde die Munitionskisten mit den wertvollsten Schmuckstücken vergraben. Außerdem wird ein unterirdisches Waffendepot in einem alten Kanalisationsschacht angelegt, den sie bei den Erdarbeiten entdeckt haben. Dann werden sämtliche Uniformen und verräterischen Papiere der Mannschaft und die Aktenordner mit den Inventarlisten des Magazins in der Heizung verbrannt, die schon so vieles geschluckt hat.

Schließlich füllen sich alle Soldaten ihre Taschen mit Dollarnoten, Goldstücken und Tabak.

Wagner entlässt seine Leute mit der nochmaligen Verpflichtung zur absoluten Verschwiegenheit. Ihre Aufgabe muss es sein, für fünf Jahre unterzutauchen und wo möglich die sich bildenden Organisationen im Reich mitzugestalten oder zumindest zu infiltrieren.

Es darf keinerlei Kontakt untereinander aufgenommen werden, bis sie sich alle am Pfingstsonntag in fünf Jahren, also am 28. Mai 1950, wieder um 12 Uhr in der Wandelhalle des Dammtorbahnhofs treffen. Dann soll jeder berichten, welche soziale Position er erreicht hat und welche Verbündeten er gewinnen konnte.

Wer nicht da sein wird, gilt als Verräter an der gemeinsamen Sache und wird für immer aus dem RDB ausgeschlossen. Wenn jemand vom Bund ihn ausfindig macht, muss der Verräter liquidiert werden.

Dann werden sie den gemeinsamen Kampf koordinieren und auf alle Ebenen ausweiten – infiltrativ, subversiv, aber auch politisch offensiv. Wenn sich die West-Alliierten durchsetzen und tatsächlich eine Demokratie in Deutschland gründen sollten, wird der Geheimbund mit seinem politischen Arm einer nationalen Partei zur Wahl antreten und gleichzeitig mit dem militärischen Arm aus dem Untergrund heraus den Umsturz und die Befreiung des geknechteten Volkes vorbereiten.

Was immer geschehen wird: Alle fünf Jahre am Pfingstsonntag um 12 Uhr wird die Führungsriege des RDB sich am Dammtorbahnhof treffen – automatisch und ohne schriftliche Einladung, damit der nationalsozialistische Gedanke unabhängig von der jeweiligen Politik langfristig erhalten bleibt – bis das Endziel erreicht ist.

Als er Rudolf als Letzten in der Dunkelheit verschwinden sieht – wann hatte er eigentlich Karl verabschiedet und wollte der nach Lüneburg oder Lübeck? – seufzt Wagner: „Das war die erste Fliege!“

Die zweite Fliege soll seiner ganz persönlichen Rettung dienen:

So viele Menschen sind spurlos verschwunden, vermisst, totgesagt. Millionen von Juden sind beseitigt worden. In vielen Konzentrationslagern haben es unsere Kameraden geschafft, sämtliche Unterlagen über die Internierten zu vernichten, bevor die Alliierten die Lager befreien konnten.

Wenn man sich nun in Zivil und abgerissen bei einem Meldeamt einfindet und eine neue Identität annimmt – wer außer einem selbst würde das bezeugen oder widerlegen können?

Endlich allein im Haus zieht sich Wagner in die Räume des Musikverlags zurück.

Soweit er sich erinnert, waren Herzberg und Fink die aktiven Musikverleger gewesen, während Rosenstein mehr als Kapitalgeber im Stillen gewirkt hatte – ihn kannte kein Kunde! Alle drei waren sicher schon durch den Schornstein eines KZs verraucht. Sollte einer doch überlebt haben, käme es schlimmstenfalls bei einer Gegenüberstellung zur Aussage gegen Aussage.

Der SS-Obersturmführer blättert in den Deportationslisten. Von den über 17000 Vorkriegsjuden in Hamburg waren nur noch 647 übrig geblieben. Schade, dass wir nicht mehr ganz fertig geworden sind und die Festung Hamburg judenfrei melden konnten! Die Staffel wäre sicher vom Gauleiter ausgezeichnet worden, Wagner hätte Sonderurlaub erhalten und Elsa heiraten können. Für die letzten Juden wäre doch nur noch ein halber Transportzug notwendig gewesen!

Ganz vorn, unter Nummer 513 fand er endlich, was er suchte: „Rosenstein, Samuel, geb. am 15.2.1902, wohnhaft Moorweide 18“ – also gut 5 Jahre älter als Wagner selbst. Das lässt sich hinkriegen.

Wagner braucht noch etwa eine Stunde, um auch die Deportationslisten in den gefräßigen Ofen der Heizung zu schieben. Dann schnitzt er sich mit einer Schere den kleinen Oberlippenbart ab, den Elsa immer als „Rotzbremse“ verspottet hat, schneidet seine Haare so kurz wie möglich und massiert ein wenig Asche in die verbliebenen Haar- und Bartstoppel. Er zerreißt seine während der Gartenarbeit zerschlissene Hose und die alte Jacke, zieht die Socken aus, entfernt die Schnürbänder und trennt die Sohlen von seinen lehmigen Schuhen.

Er wälzt sich nochmals mit Händen, Gesicht und der gesamten Bekleidung in Erde, Sand und Lehm des aufgewühlten Gartens und klopft den Schmutz oberflächlich wieder ab. Schließlich häuft er alte Zeitungen und Partituren auf die Gemälde in den Regalen.

Auf seine Lieblingsbilder legt er die Partitur des Hochzeitsmarsches aus dem dritten Akt des ‚Lohengrin‘. Aus der Leibstandarte SS war einmal durchgesickert, dass Hitler bei der letzten Aufführung in Bayreuth an dieser Stelle die Tränen gekommen sein sollen. Er war eben nicht nur ein grandioser Führer und Kämpfer, sondern auch ein gefühlvoller Mensch und großer Kunstkenner gewesen! Jetzt verbarrikadiert der Obersturmführer den Zugang zu seiner Schatzkammer mit herumstehenden Büromöbeln, schließt den Musikverlag ab und deponiert den Schlüssel im Garten unter einem Stein.

Wagner macht sich im Morgengrauen auf den Weg zur Wache des provisorischen britischen Standortkommandos am Grindel und bittet die noch verschlafen wirkenden Tommys um ein Stück Brot. Gierig schlingt er das gereichte Toastbrot hinunter und schüttet mit zittrigen Händen den heißen Tee hinterher, den der mitleidige Sergeant ihm einschenkt.

Dann bittet die abgerissene Gestalt die Tommys um die vorläufige Personenfeststellung als der aus dem Konzentrationslagers Bergen-Belsen befreite Samuel Rosenstein, geboren am 15.2.1902, wohnhaft Moorweide 18, ganz in der Nähe des Dammtorbahnhofs.

Bergen-Belsen? Sergeant Freeman hatte von seinen Kameraden gehört, dass sie auf dem Vormarsch durch die Heide ein riesiges Gefangenenlager entdeckt und befreit haben, aber auch nach der Befreiung noch Dutzende ausgemergelte Gefangene nicht mehr transportfähig waren und noch im Lager an Typhus verstorben sind. Ähnliches hatten die Amerikaner aus Thüringen gefunkt, es hat sogar erste Fotos in den englischen Zeitungen gegeben. Dieses verfluchte Land muss voller Vernichtungslager sein!

Der neue Rosenstein erhält wenig später in der Kommandantur ein englisches Zertifikat mit einigen dicken Stempeln und Unterschriften, aus dem sein Geburtsdatum, 15.2.1902, seine Heimatadresse, Moorweide 18 in Hamburg, und seine mehrjährige Lagerhaft, zuletzt in Bergen-Belsen, hervorgeht.

Damit macht er sich auf den Weg zum Wohnungsamt Hamburg-Innenstadt und verlangt die Wiedereinweisung in seine alte Wohnung. Am Nachmittag ist Rosenstein wieder zuhause.

Erst einmal wäscht und rasiert er sich gründlich, sucht sich in der Kleiderkammer einen ordentlichen Anzug, Hemd, Krawatte und passende Schuhe heraus. Der frischgebackene Samuel Rosenstein betrachtet sich im Spiegel, faltet seinen englischen Behelfsausweis sorgfältig zusammen und schiebt ihn in die Brusttasche. Wenn Elsa einen mittellosen abgebrochenen Kunststudenten und glücklosen Soldaten Wagner geheiratet hätte, wird sie seine Legende des überlebenden jüdischen Villenbesitzers Rosenstein auch nicht von der Hochzeit abschrecken, da ist er sich sicher!

Dann genehmigt er sich eine dicke Zigarre und einen doppelten Cognac aus den verbliebenen Vorräten. Rosenstein ist recht zufrieden mit sich und seiner Umgebung. Er hat eine neue Identität sowie ein ansehnliches Startkapital für seine zukünftige Familie und die politische Arbeit im Bund zur Verfügung. Der Anfang ist gemacht – nun gilt es, die Zukunft selbst anzupacken!

Der Fälscher

Was guckst du so? Siehst selber komisch aus! Warum hast du einen Knopf im Ohr? Hörst du schlecht oder was? Und deine bunten Klamotten: Biste im Zoo von der Papageien-Stange gehüpft? Erst deine Haare! Ist dein Frisör da unten ausgerastet, weil du kein Geld dabei hattest oder hat deine Mutter beim Haareschneiden das Licht ausgemacht? Kein Wunder, dass dein Käppi auf der Frisur nicht hält…

Aber dein Rollbrett: das würde ich gern mal probieren. Geht das nur bergab?

Du brauchst mich gar nicht so anzustarren, ich bin schließlich verschwunden. Also, schon länger – ein Menschenalter bald. Als ich so alt war wie du, tobte der Zweite Weltkrieg in Europa, den Adolf Hitler angezettelt hatte.

Hier um dich herum prasselten Bomben vom Himmel, die Hamburger saßen in den Luftschutzbunkern oder in betonverstärkten Kellern wie bei euch hier unten im Haus. Und die Schulkinder wurden ‚aufs Land verschickt‘ – jedenfalls die arischen Kinder.

Und auch ich war auf einmal weg, und zwar spurlos. Das sagen jedenfalls die Nachbarn. Und weil unsere Familie immer wieder umziehen musste, hatten wir ziemlich viele Nachbarn, die das bezeugen können.

Deshalb bin ich auch gar nicht hier. Wahrscheinlich träumst du nur, dass ich da bin, mit meinem Elbsegler und dem abgewetzten Flanellhemd. Es ist zu kalt für die Jahreszeit, aber außer der kurzen grauen Filzhose und meiner zweireihigen Jacke habe ich nichts anzuziehen. Na gut, meine etwas zu kleinen Lederstiefel und die Wollstrümpfe, an der Oma Flunki in jedem Herbst die Spitzen länger strickt, trage ich im Winter auch.