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BRD, 1972. In den Wirren des Kalten Krieges soll Fritz Lange, Kurier des BND und Kind der 68er, geheime Unterlagen von München nach Hamburg bringen. Das macht er nicht allein. Begleitet wird er von Ulli, einer pubertierenden Gymnasiastin, die nichts von seinem Auftrag weiss. Schon bald wird ihre Reise zur Flucht. Denn sie werden von zwei Männern der Staatssicherheit verfolgt. Doch nicht nur Ulli und Fritz sind auf der Flucht. Auch Christa Maria Kleberts und Dieter Lorenz müssen untertauchen. Sie sind die Köpfe der Organisation, einer terroristischen Vereinigung, die es auf NS-Verbrecher abgesehen hat. Einer dieser NS-Verbrecher arbeitet nun für den BND, und trifft in einem Hamburger Hotel auf seine ehemalige Geliebte, eine berühmte Pianistin und Top-Agentin der Sowjetunion. Inmitten all dieser Verwicklungen schreibt Ulli einen Roman. Einen Roman über eine sowjetische Spionin. Einen Roman über einen Nazi. Einen Roman, der die Wirklichkeit ins Wanken bringt und Fiktion und Realität vermischt.
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Seitenzahl: 270
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Für meinen Grossvater
Sigurd Heubach
Bar
Zwei junge Menschen
Der Onkel Fritz
Zigaretten wie Goethe und Schiller
Chef
Ein armer Mensch
Und Dummheit, Petrus, macht zufrieden
Flucht Teil 1
Ein Kamerad
Ein braunes Päckchen
Flucht durch den Wald
Bombenanschlag
Kekse für Karl Marx
Aus dem Buch ‚Die Radikalen‘ von Heinz Reders
Flucht Teil 2
Verschwendete Krähenfüsse
Der Amerikaner
Menschenmassen
Wolff
Ein Gespräch unter vier Augen
Gereon Schnuck Teil 1
Eine neue Identität
Ein Mann, ein Opel und eine Kamera
Gereon Schnuck Teil 2
Eine russische Deutsche
Manfred Ziegler
Gereon Schnuck Teil 3
Eine ultimative Idee
Beobachtet
Kontakt
Schmerling
Hänsel und Gretel
Gereon Schnuck Teil 4
Eine Botschaft
Ludwig
Heer, Stahl und Sturm
Aus dem Buch ‚Die Radikalen‘ von Heinz Reders
Grünau
Fotolabor Teil 1
Eine Pistole im Nacken
Küchengespräche
Katzen auf der Fahrbahn
Die Liste
Fotolabor Teil 2
Eine nette Gesellschaft
Autoverleih
Fotolabor Teil 3
Ein weiteres Gespräch
Überlebensdrang und Wut
Ein Antrag
Friedhofshecken
Flucht aus Ägypten
Fotolabor Teil 4
Homo homini lupus
Radikalisierung
Eine Kampfansage
Ein Toter auf der Toilette
Abschied
In Hannover
Gereon Schnuck Teil 5
Brückensprengkommando
Ein Zimmer für zwei
Spitzendeckchen
Meinungen
Schummel
Im Keller Teil 1
Die Organisation
Vor Leopolds Wohnung
Zu den Umständen des Todes von General Andrej Andrejewitsch Bobrow
Leopolds Wohnung Teil 1
Ein Toter im Aufzug
Im Keller Teil 2
Allein in Hamburg
Misserfolg trotz Erfolgen
Gesprengte Brücken
Noch mehr Tote
Leopolds Wohnung Teil 2
Eine Spionin
Abgehört
Ankunft im Hotel
Der Freiherr von der Grünau (Juni)
Im Keller Teil 3
Eine leere Gedenktafel (April)
Ein Name mehr
Auszüge aus der Reflexion von Dieter Lorenz, verfasst 1989
Leopolds Wohnung Teil 3
Liebe
Im Keller Teil 4
Rohrspatz (August)
Leopolds Wohnung Teil 4
Kein Kind mehr
Verwechslungen
Ratckes Wohnung
Vollzeit- und Teilzeitspione
Der Steinmetz
Nazis sind Schweine
Auf der Polizeiwache
Schiesserei im Kaufhaus
Auf den Strassen Hamburgs
Rote Rosen für die Pianistin
Noch ein Gespräch oder
Nachwort
Danksagung
Über die Autorin
Hey Fritz, ist das deine Braut? Ist die nicht noch ‘n bisschen zu jung für dich?
Hm?
Na, die Kleine in der Jeans und der roten Bluse!
Das ist nicht meine Braut, sondern Ulli, die Tochter einer Freundin.
Ist aber ‘n scharfes Schnittchen.
Fritz Lange geht zu Ulli, die gerade Billard spielt. Er schaut ihr kurz zu, beugt sich dann zu ihr runter und sagt leise:
Überleg dir vorher, wo die Kugel hingehen soll. Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel.
Ich weiss.
Er sieht sich nochmals um und flüstert ihr ins Ohr:
Pass auf, hier sind ‘n paar miese Kerle. Lass dich von keinem ansprechen, und lass sie nicht grabschen. Ich bin an der Bar, falls du mich brauchst.
Er geht wieder an die Bar. Sein Gesprächspartner von vorhin beugt sich zu ihm vor:
Hey Fritz, wenn sie nicht dir gehört, wem gehört sie dann?
Sie gehört niemandem.
Sie ist also noch zu haben?
Er deutet auf den Betrunkenen neben sich.
Mein Freund hier sucht nämlich nach ‘ner Neuen. Seine Alte ist ihm weggerannt.
Mit Blick auf den an der Bar zusammengesunkenen, heruntergekommenen, verlassenen Freund murmelt Fritz:
Wundert mich nicht…
Hä?
Mann Nummer 1 an der Bar beugt sich zu seinem Kollegen rüber und sagt:
Willste mal rüber zu der Kleinen gehn? Hat ‘nen flotten Hintern.
Fritz beugt sich zu seinem Gesprächspartner und sagt leise, aber bedrohlich:
Hör mal zu, Freundchen. Ich habe den Auftrag bekommen, auf sie aufzupassen. Und den führe ich auch aus. Also wenn sich irgendeiner von euch der Kleinen auch nur auf zehn Schritte nähert, kriegt er‘s mit mir zu tun. Ist das klar?
Dann erhebt er sich langsam von seinem Barhocker, ruft Ulli, ohne die Männer an der Bar aus den Augen zu lassen:
Ulli!
Ulli kommt leicht verwundert vom Billardspiel zu Fritz. Dieser meint, noch immer die Männer im Blick behaltend, zu Ulli:
Wir gehen.
Sie verlassen die dunkle, von Rauchschwaden durchzogene Bar.
Zwei junge Menschen liegen nebeneinander in einem Bett mit roter Bettwäsche und starren die Zimmerdecke an. Beide rauchen, die schlanke blonde Frau drückt ihre Zigarette in einem Aschenbecher auf dem Nachttisch aus. Der dunkelhaarige Mann mit den gepflegten Koteletten nimmt einen Zug. Blaugraue Rauchschwaden wabern durch die Luft über dem Bett. „Irgendwas müsste man mal tun“, meint die Frau. In ihrer Stimme schwingt latente Aggressivität mit. Der Mann nickt: „Irgendwas Grosses.“ Langsam führt er die Zigarette wieder zum Mund und bläst den Rauch Richtung Decke.
Der Mann, der gerade um die Ecke bog und sich nach einem Strassennamen oder einer Hausnummer umsah, musste Fritz sein. Er drehte sich erst nach links, dann nach rechts, kratzte sich am Kopf und stieg nach einer weiteren Drehung die Steintreppe empor. Wir wohnten in einer der vielen Stuttgarter Staffeln, weshalb man immer erst ein paar Treppen hinaufsteigen musste, bevor man zu unserem Haus kam. Zum Glück wohnten wir relativ weit unten. Wieder drehte sich Fritz um, schaute diesmal aber die Strasse hinab, und sah deshalb nicht die blonde Frau, die gerade durch die kleine Gartentür gerannt kam. Das war Christa. Und wie es schien, bemerkte auch sie Fritz nicht. Und als sie ihn dann endlich doch bemerkte, war es schon zu spät. Sie versuchte zwar noch auszuweichen, blieb aber mit dem Koffer am Gartenzaun hängen, stolperte und stiess mit Fritz zusammen. Sie hob ihren Koffer auf, es sah aus, als murmelte sie noch eine Entschuldigung und rannte dann weiter. Ich wusste, dass Dieter unten an der Strasse auf sie wartete. Sie war heute Morgen aufgeregt zu Irene, meiner Mutter, gerannt, hatte die Küchentür hinter sich zugezogen, und die beiden hatten zusammen irgendetwas diskutiert. Ich wusste, dass es keinen Zweck hatte, an der Tür zu lauschen. In der Tür war nämlich eine grosse Milchglasscheibe, was bedeutete, dass man zumindest meine Umrisse erkennen konnte. Ich war darum ins angrenzende Badezimmer gegangen und hatte dort an der Wand gelauscht, aber nichts verstanden. Manchmal klappte es, wenn sie besonders laut redeten. Aber an diesem Morgen hatten sie nur leise und undeutlich getuschelt. Nach zehn Minuten war Christa aus der Küche und in ihr Zimmer gerannt. Durch die halb offene Tür hatte ich sehen können, wie sie eilig ein paar Klamotten in ihren Koffer stopfte. Als ich Irene gefragt hatte, was denn los sei, hatte sie gemeint, Christa müsste verreisen, vielleicht für länger, so genau wüsste sie das auch nicht. Ja, Dieter würde sie abholen, und nein, ich dürfe nicht noch eine Runde mit ihm im Auto fahren. Dieter fuhr einen schicken BMW. Einen BMW 2000 tii in schwarz. Und immer wenn er Christa besuchte, fuhr er mit mir ein paar Runden durch den Stuttgarter Westen.
Jetzt war Christa gegangen, aber dafür kam Fritz. Ich kannte Fritz nicht, hatte aber ein paar Sachen über ihn gehört. Nicht viel, aber wenigstens ein bisschen. Irene hatte ihn vor ein paar Tagen gefragt, ob er mich mit nach Hamburg nehmen könnte. Ich weiss nicht, wie sie ihn dazu gebracht hatte, aber nach langem Hin und Her hatte er schlussendlich zugesagt. Jetzt klingelte es. Ich verliess meinen Platz am Fenster und rannte zur Tür. Irene war allerdings schneller. Sie rannte aus der Wohnungstür, durch den Flur und riss die Haustür auf. „Friiiiiitz!“ Ich konnte sehen, wie sie den Mann an sich drückte, ihn fast zerquetschte und erst losliess, als er ihr mehrmals auf die Schulter getippt hatte und hervorpresste: „Ist ja gut, Irene, lass mal. Ist ja gut.“ Sie hielt ihn auf Armeslänge von sich weg und meinte, während sie ihn musterte: „Ach Mensch, Fritz, schön dich zu sehen! Ist ja ‘ne Ewigkeit, seit du das letzte Mal hier warst!“ Fritz runzelte die Stirn: „Ich war doch noch nie hier.“ Irene fing an zu lachen und schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn: „Ach, wie konnte ich das denn vergessen? Stimmt!“ Fritz lächelte gequält. Plötzlich drehte sich Irene zu mir um und winkte mich heran. Zu Fritz gewandt meinte sie: „Hier, dass ist Ulrike, meine Tochter.“ „Ulli“, verbesserte ich. Ich mochte es nicht, wenn man mich Ulrike nannte. Wieder lachte Irene: „Stimmt. Ulli. Wie vergesslich ich heute bin. Sie mag das nicht, wegen der Meinhof.“ Fritz musterte mich. Ich tat es ihm gleich. Er war mittelgross, eigentlich durchschnittlich, hatte dunkle Haare, einen schmalen Mund und seine Augen… Ich überlegte, was das für eine Farbe war. Das Licht in Hausfluren ist ja bekanntlich schlecht, weshalb ich beschloss, diese Entscheidung auf einen Zeitpunkt zu verschieben, an dem bessere Lichtverhältnisse herrschten. „Hallo… Ulli“, meinte Fritz in dem Moment und streckte mir seine Hand hin. Ich schüttelte sie. “Oh, kräftiger Händedruck“, meinte Fritz und liess meine Hand wieder los. „Ja, sonst ist das ja nur so ’n halbes Ding. Nicht das eine und nicht das andere. Total lasch. Wie sieht das denn aus, wenn man gerade zum Beispiel einen Vertrag unterschrieben hat und dann schüttelt man die Hand, aber die fühlt sich an wie eine Leichenhand. Das ist doch ekelhaft, da würde man den Vertrag doch gleich am liebsten verbrennen. Das fühlt sich doch an wie ein rohes Kotelett. Und dann sind die meisten laschen Hände auch noch kalt…“ Irene hielt mir den Mund zu. „Sie redet viel, dir wird nicht langweilig werden.“ „Mhm“, machte Fritz und kratzte sich wieder am Kopf. Ich machte mich von Irene los und sagte: „Ach, der Onkel Fritz wird das schon aushalten.“ „Onkel Fritz?“, fragte Fritz erstaunt. „Was soll denn das heissen?“ „Na, du bisch doch der Onkel Fritz, der uf ’m Häfele sitzt und spritzt!“, rief ich begeistert auf schwäbisch. Ich hatte es mir nicht verkneifen können. Fritz sah Irene böse an: „Hast du ihr das beigebracht?“ Irene lachte nervös und spielte mit einer Haarsträhne. Manchmal kam sie mir jünger vor als ich. Schliesslich fragte sie unschuldig: „Willst du Kuchen essen?“ Fritz runzelte die Stirn: „Nein, eigentlich gerade nicht.“ „Ach so. Willst du was trinken? Ich hab Kaffee da, Tee, Bier, Wodka…“ Fritz schüttelte den Kopf: „Nein, danke. Ich wollte eigentlich nur… Ulrike abholen und dann weiterfahren.“ Er warf mir einen kurzen Blick zu. Ich hatte verstanden. Keine weiteren Witze über den Onkel Fritz.
Er führte uns zu seinem Wagen, den er zwei Strassen weiter geparkt hatte. Es war ein dunkelblauer Opel Admiral A. Ein verbeulter, dunkelblauer Opel Admiral A. An einigen Stellen blätterte schon der Lack ab. Fritz schnappte meinen Koffer und hievte ihn in den Kofferraum. Ich verabschiedete mich von Irene, nahm meine Umhängetasche, die bis jetzt sie in der Hand gehalten hatte, und setzte mich auf den Beifahrersitz. Gerade als Fritz die Fahrertür hinter sich zuzog, kam Irene zum Wagen gelaufen und klopfte an die Scheibe. Fritz kurbelte das Fenster herunter, und Irene streckte ihren Kopf ins Wageninnere. „Ulli, mach keinen Mist.“ Dann wandte sie sich an Fritz und gab ihm einen Umschlag. „Geld. Falls du welches brauchst. Für sie.“ Sie deutete auf mich. „Sollte reichen, um eure Unterkünfte zu bezahlen. Hast du schon reserviert?“ Fritz nickte. Irene zog ihren Kopf aus dem Auto und rief: „Heute Abend in Fulda. Ich ruf euch an.“ Ich nickte, winkte, Fritz gab Gas, parkte aus, parkte schlecht aus, streifte einen anderen Wagen, fluchte, ich winkte weiter und unterdrückte ein Lachen, der Wagen schoss mit zu hoher Geschwindigkeit die Strasse entlang, ich winkte immer noch, so lang, bis Irene nicht mehr zu sehen war, und lehnte mich dann zurück. Ich blickte kurz zu Fritz rüber. Auch er hatte sich zurückgelehnt, nur noch eine Hand am Lenkrad, und rauchte eine Zigarette. Ich überlegte, ob ich ihn auch um eine bitten sollte, liess es dann aber lieber bleiben. Ich wollte nicht zu aufdringlich wirken. Oder gar wie eine Schmarotzerin. Obwohl ich ja eine war. Ich wusste gar nicht, ob Irene überhaupt Geld in den Umschlag gesteckt hatte. Ich hatte das dunkle Gefühl, dass sie das vergessen hatte.
Du rauchst?
Klar, alle grossen Schriftsteller rauchen.
Du bist eine grosse Schriftstellerin? Das wusste ich gar nicht.
Klar. Also noch nicht jetzt, aber später.
Was willst du denn schreiben?
Ach, so dies und das. Das weiss ich jetzt noch nicht so genau.
Na, das sind ja gute Voraussetzungen.
Mir schweben aufklärerische Werke vor. Oder Sturm und Drang.
Diese Epochen sind aber beide schon relativ lang passé.
Dann werden sie eben eine Renaissance erleben.
Du stellst dir das ja ziemlich einfach vor.
Ist es ja auch.
Ach ja?
Ja. Wenn man das Talent dazu hat.
Und du denkst, du hättest dieses Talent?
Ja.
So à la Goethe oder Schiller?
Du machst dich über mich lustig!
Nein, wie käme ich dazu.
Aber du wirst schon sehen, ich werd’s noch zu was bringen!
Das bestreite ich nicht. Aber so ganz ohne Ideen?
Wart’s nur ab, mir kommt noch die ultimative Idee!
Fritz trifft sich vor der Laeiszhalle mit seinem Chef, Walther Brockendubbs. Dieser hat bereits auf ihn gewartet und kommt nun ungeduldig auf ihn zu.
Na endlich, wo haben Sie denn so lang gesteckt?
Fritz zündet sich erstmal eine Zigarette an. Brockendubbs wedelt hektisch den Rauch vor seiner Nase weg und ruft empört:
Ach, können Sie nicht wenigstens einmal Ihren Glimmstängel auslassen? Furchtbar, das ist ja wirklich furchtbar!
Dann fummelt er nervös an seinen Manschettenknöpfen und streicht immer wieder über seinen schwarzen Anzug. Dabei mustert er Fritz von Kopf bis Fuss und schüttelt leicht den Kopf.
Vor dem Eingang drückt Fritz den abgebrannten Stummel mit der Schuhspitze aus und folgt seinem Chef ins Gebäude.
Das Foyer ist voll. Fritz blickt leicht verwirrt um sich. Die Umgebung wirkt, allein durch die anwesenden Gäste, prunkvoll. Fritz rempelt aus Versehen eine Dame in schwarzer, glitzernder Abendgarderobe an und murmelt eine Entschuldigung. Man merkt, dass er sich in seiner, von der Reise leicht schmutzig gewordenen, Kleidung nicht wohl fühlt: Er kommt sich fehl am Platze vor. Brockendubbs dreht sich zu ihm um:
Ja, da staunen Sie, was? Die sind alle wegen dieser Pianistin gekommen. Konnte vorhin schon einen Blick draufwerfen. Ich sage Ihnen: 1A, das Mädel.
Dazu führt er Daumen und Zeigefinger in einem Kreis an den Mund und deutet einen Kuss an. Fritz nickt nur und besieht sich die vielen Menschen. Sein Chef arbeitet sich indes zur Garderobe vor und gibt seinen Mantel ab, den er bis dahin über dem Arm getragen hat. In Richtung der jungen Frau, die seinen Mantel aufhängt, sagt er:
Vielen Dank.
Dann dreht er sich zu Fritz um, sieht, dass dieser keine Anstalten macht, sich seiner Jacke zu entledigen, und fragt erstaunt:
Wollen Sie nicht auch ihre Jacke abgeben?
Fritz schüttelt den Kopf und meint:
Ich bleibe nicht lange.
Die Augenbrauen von Fritz‘ Chef ziehen sich erstaunt in die Höhe:
Nicht?
Nein, ich werde nur noch schnell einen Blick hinter die Kulissen werfen, und dann bin ich auch schon wieder weg.
Na sowas. Ich habe damit gerechnet, dass Sie den ganzen Abend bleiben.
Tut mir leid. Konzerte sind nicht so meins.
Fritz beobachtet den Rücken der Garderobenfrau und fügt dann, ohne den Blick abzuwenden, etwas undeutlicher hinzu:
Und ausserdem hab ich noch was im Auto, das kann da nicht so lange alleine bleiben.
Sein Chef daraufhin erstaunt:
Sie haben ein Tier im Auto?
Fritz nickt, wendet den Blick immer noch nicht ab und murmelt ausweichend:
Hm, sowas Ähnliches.
Sein Chef kratzt sich nachdenklich an der Platte.
Aha. Was ist es denn? Ich meine, die Art.
Fritz wendet nun endlich den Blick vom Rücken der Garderobenfrau ab und lässt ihn über die Menge schweifen:
Ein grössenwahnsinniger Backfisch, der wahrscheinlich gerade meinen Zigarettenvorrat plündert.
Fritz‘ Chef sieht ihn erstaunt an. Dann wird sein Gesichtsausdruck schlagartig ernst.
Apropos Auto: Haben Sie den Briefumschlag dabei?
Ja, hier…
Fritz will bereits in die Jackentasche greifen, als sein Chef nervös mit den Händen wedelt und ihn so daran hindert.
Aber doch nicht hier! Herrgott, hat man Ihnen denn gar nichts beigebracht?!
Fritz steckt das kleine Päckchen wieder ganz in die innere Jackentasche zurück und sieht sich um.
Wo beliebt es Ihnen?
Fritz‘ Chef verdreht die Augen und sieht sich ebenfalls um:
Hier sind zu viele Leute. Warten Sie nach dem Konzert hinter dem Künstlereingang.
Ist gut.
Beide nicken. Brockendubbs will sich gerade umdrehen, als Fritz ihn zurückhält.
Ach übrigens, da ist eine Sache, die ich Ihnen erzählen muss.
Er schaut sich beunruhigt um. Dann beugt er sich zu seinem Chef und sagt leise, fast flüsternd:
Wir wurden auf dem gesamten Weg verfolgt. Bereits von München aus.
Brockendubbs zieht die Augenbrauen hoch und sieht Fritz erstaunt an.
Tatsächlich? Das kann nicht sein. Wahrscheinlich haben Sie sich das nur eingebildet.
Fritz sieht ihn eindringlich an.
Zwei Typen sind uns gefolgt. Ein Verbindungsmann wurde erschossen, und die Kugeln hätten ebenso gut mich treffen können. Das bilde ich mir nicht ein!
Sein Chef schüttelt den Kopf. Fritz beugt sich noch etwas weiter zu ihm und sagt eindringlich:
Hören Sie, wenn da irgendwas Wichtiges in den Unterlagen drinsteht, dann sagen Sie es mir bitte! Ich habe mit dem Auftrag nicht nur mein, sondern auch das Leben einer anderen Person aufs Spiel gesetzt. Und ein Mensch ist bereits umgekommen!
Brockendubbs nickt langsam.
Also gut. Aber nicht hier. Kommen Sie.
Sie gehen beide in eine ruhigere Ecke des Foyers.
Die Unterlagen enthalten streng vertrauliche Informationen über einen Maulwurf im BND. Wenn die in die falschen Hände geraten, werden sie vernichtet und der Maulwurf wird nie geschnappt. Es war schon ganz richtig, dass ich Ihnen diesen Auftrag gegeben habe. Sie sind der richtige Mann dafür.
Er klopft Fritz anerkennend auf die Schulter.
Aber jetzt geben Sie sie lieber mir. Ich will Sie vorerst aus der Gefahrenzone raushaben.
Fritz nimmt den braunen Papierumschlag und reicht ihn seinem Chef. Dieser steckt ihn ein, ohne ihn sich genauer anzusehen.
Sehr gut. Und jetzt verschwinden Sie. Das Konzert fängt in fünf Minuten an.
Fritz ist schon halb gegangen, als Brockendubbs ihn nochmals zurückruft.
Ach, und Fritz…
Fritz dreht sich zu ihm um.
Hm?
Passen Sie auf sich auf. Es wäre schade um Sie.
Irgendwie tat mir Fritz leid. Wir waren schon eine halbe Stunde gefahren und er hatte immer noch kein Wort zu mir gesagt. Ich versuchte, ihn etwas aufzuheitern und begann eine Konversation: „Wo wohnst du eigentlich?“ „Karlsruhe.“ „Oh, dann hast du aber ’nen ziemlichen Umweg gemacht, um mich abzuholen.“ „Es geht. Musste sowieso hier vorbei.“ „Wieso? Hamburg ist doch in die andere Richtung.“ „Ja, aber ich fahre vorher noch in München vorbei.“ „München?“ Davon hatte mir Irene nichts erzählt. „Hab dort noch was zu tun.“ Er war sehr einsilbig. Ich fragte mich, ob er immer so war. Ich besah ihn mir etwas genauer. Hier im Auto herrschte ein besseres Licht als im Hausflur. Das freute mich. Seine Augenfarbe konnte ich allerdings immer noch nicht erkennen, er schaute ja auf die Strasse. Dafür nahm ich nun den Rest von ihm in Augenschein. Seine Kleidung wirkte abgetragen aber nicht schmutzig. Er trug eine Lederjacke und darunter ein weisses Hemd. Es war nicht ganz weiss. Irgendwie beige. Oder grau. Eigentlich war diese Farbe undefinierbar. Vielleicht musste ich da auch noch auf besseres Licht warten. Seine Jeans sah schon etwas abgetragen aus. Seine Schuhe… Ich beugte mich leicht zur Seite, um seine Schuhe im Fussraum des Wagens erkennen zu können. Er warf mir einen seltsamen Blick zu. Ich setzte mich wieder gerade hin und lächelte ihn freundlich an. Eigentlich war es eher ein Grinsen. Er richtete seine Augen wieder auf die Strasse. Seine Hände wirkten einigermassen gepflegt. Er trug keinen Ring. Hatte er eine Familie? Eine Freundin? War er verlobt? „Hast du Kinder?“ „Nein.“ „Bist du verlobt?“ „Nein.“ „Hast du eine Freundin?“ „Nein.“ „Bist du…“ Ich überlegte, was ich jetzt fragen könnte. „Nein.“ „Was nein?“, fragte ich verwirrt. „Ich liebe keine Männer“, sagte er. „Das hatte ich gar nicht fragen wollen.“ „Was denn dann?“ „Das weiss ich nicht. Ich hab noch überlegt.“ „Ach so.“ Schweigend fuhren wir weiter. „Bist du öfters in Hamburg?“, versuchte ich das Gespräch wieder in Gang zu bringen. „Ab und zu.“ „Kennst du die Stadt gut?“ „Ja.“ „Warum?“ „Wie, warum?“ „Warum du die Stadt gut kennst.“ „Ich habe mal dort gewohnt.“ „Oh. Warum?“ „Meine Freundin hat dort studiert.“ „Also hast du doch eine Freundin.“ „Nicht mehr.“ „Oh. Das tut mir leid.“ „Mir nicht.“ Ich lachte. Er lachte nicht. „Was hat sie denn studiert?“ „Bildende Kunst.“ „Mochtest du keine Kunst?“ Er zuckte mit den Schultern. „Warum hast du dich denn von ihr getrennt?“ Wieder zuckte er mit den Schultern. „Oder hat sie sich von dir getrennt?“ Er sagte nichts, sondern blickte aus dem Fenster. Ich beschloss, dieses Thema erstmal nicht mehr anzuschneiden. „Was hast du denn in Hamburg studiert?“ „Ich hab nicht studiert. Also nicht in Hamburg.“ „Was hast du denn dann dort gemacht?“ Er kratzte sich am Kopf. Das machte er wohl immer, wenn er unsicher oder unentschlossen war. „Erstmal war ich Kellner.“ „Oh, das klingt ja lustig“, rief ich. Ich konnte ihn mir partout nicht als Kellner vorstellen. „War es aber nicht.“ „Hat es keinen Spass gemacht?“ „Nein.“ Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Ich konnte sehen, wie ein paar Muskeln in seinem Gesicht zuckten. Für einen Moment überlegte ich, ob er mir immer noch leidtun sollte. Schliesslich war er sehr einsilbig. Vielleicht sogar unhöflich. Ich beschloss, ihn auf nette Weise darauf aufmerksam zu machen. „Warst du zu den Gästen auch so unhöflich?“ Er wandte sich mir zu und runzelte die Stirn. „Bin ich unhöflich?“ Ich schüttelte den Kopf und meinte leutselig: „Nein.“ Er starrte mich noch einen Augenblick an, dann galt seine Konzentration wieder der Strasse. Er betätigte die Gangschaltung, das Auto wurde schneller und er lehnte sich zurück. „Der Besitzer des Restaurants hat mich irgendwann rausgeschmissen, weil ich zu ein paar Gästen zu ruppig war.“ Ich sah ihn gespannt an: „Und dann?“ „Dann habe ich einem Bäcker geholfen, aber mit dem hab ich mich auch nicht verstanden, und schlussendlich bin ich Zeitungsausträger geworden.“ „Weil du so gerne Fahrrad fährst?“ „Weil ich so früh noch keine Leute zu Gesicht bekomme.“
Wolltest du nicht was mit deinen Freunden unternehmen?
Ich habe keine Freunde.
Oh. Also echt? So gar keine?
Na ja, ich habe natürlich Jesus und Karl May und Erich Kästner…
Nein, nein! So richtige Leute aus Fleisch und Blut! Also Leute in deinem Alter, mit denen du was trinken gehst oder tanzt, oder was man in deinem Alter halt so macht.
Ach so, solche Freunde. Nein, solche hab ich keine.
Oh. Auch nicht in der Schule? Oder in deiner Klasse?
Nein.
Oh. Warum denn nicht?
Weil ich nicht so bin wie sie.
Wie sind sie denn?
Sie denken nicht.
Aber nur weil sie nicht denken, heisst das doch noch nicht, dass du sie nicht mögen darfst.
Ich mag sie ja. Manchmal jedenfalls. Und manchmal mögen sie mich auch. Glaube ich jedenfalls. Aber wir sind einander äusserst suspekt…
Sie tun, als ob sie alles wüssten,
Obwohl sie noch viel wissen müssten,
Bevor man nur ein Zehntel weiss.
Das klingt gut.
Sankt Petrus übertreibt entschieden.
Sie sind noch nicht mal wissbegierig.
Den meisten wär das eh zu schwierig.
Das kommt mir bekannt vor, ist das von dir?
Frei nach Erich Kästner.
Ach so, daher. Die Szene im Himmel.
Und Dummheit, Petrus, macht zufrieden.
Nachdem sich Fritz von seinem Chef verabschiedet hat, geht er auf die Toilette. Als er fertig ist, hat das Konzert bereits begonnen. Fritz stellt sich ans Waschbecken und wäscht seine Hände. Ein Mann kommt hinter ihm aus einer der Toilettenkabinen und stellt sich neben ihn. In diesem Moment sieht er im Spiegel, wie Robert von draussen hereinkommt. Jetzt erkennt er den Mann, der sich neben ihm die Hände gewaschen hat. Es ist Sebastian. Alle drei greifen zu ihren Waffen. In dem Moment öffnet sich eine der Toilettentüren und ein alter Mann mit Buckel kommt heraus. Er geht sehr langsam mit sehr vielen winzigen Schritten zum Waschbecken und wäscht sich sehr langsam die Hände. Die drei Kontrahenten verharren nervös an ihrem jeweiligen Platz und widmen sich unauffälligen Tätigkeiten wie Händewaschen oder Sich-im-Spiegel-betrachten. Als sich der kleine Mann endlich sehr langsam die Hände abgetrocknet hat, geht er sehr langsam zur Tür. Fritz erkennt seine Chance, rennt an ihm vorbei und schiebt sich, kurz vor dem kleinen Mann, nach draussen. Der kleine Mann schimpft und bleibt in der Türöffnung stehen. Robert und Sebastian kommen nicht mehr durch.
Fritz rennt durchs Foyer. Er reisst die grosse Tür, die nach draussen führt, auf, springt die Stufen hinunter und bleibt für einen kurzen Moment stehen. Er sieht sich hastig um und rennt dann zum roten Mercedes. Vor dem Wagen steht Ulli und raucht.
Hallo, Fritz. Ich musste mir mal die Beine vertreten…
Rein!
Fritz reisst hektisch am Griff der Fahrertür. Sie klemmt. Ulli hat verwirrt ihre Zigarette weggeschmissen und ist auf die Beifahrerseite gehetzt. Als sie den Kopf hebt, sieht sie, wie Robert und Sebastian gerade aus dem Eingang gestürzt kommen.
Fritz, da!
Fritz dreht sich um. Sieht die Männer, die suchend über den Platz blicken. Noch haben sie die beiden nicht entdeckt, denn der rote Mercedes steht etwas abseits und im Schatten.
Da, ins Gebüsch!
Sie rennen in geduckter Haltung zu einem Gebüsch. Ulli ist zuerst da und wartet auf Fritz. Dieser kniet sich, als er ankommt, hinter sie, legt ihr die Hand auf die Schulter und flüstert ihr ins Ohr:
Egal was passiert, du darfst jetzt keinen Mucks von dir geben.
In diesem Moment ist von hinten ein lautes Schnarchen zu hören. Ulli erschrickt, Fritz hält ihr sofort die Hand auf den Mund. Ein Obdachloser liegt auf einer Bank und schläft.
Der Mann stupste ihn unauffällig an: „Du musst unbedingt zu einem mit Rang. Sag dem, dass du bei den Heeren warst.“ „Warum?“, flüsterte er. „Die nehmen Leute wie uns.“ „Leute wie uns?“, fragte er. „Sie suchen Gute. Wir sind gut.“
Er verstand nicht. „Wer sucht Gute?“ „Na, die Amis. Gehlen hat die Erlaubnis bekommen.“ „Welche Erlaubnis?“ Der Kamerad verdrehte die Augen. „Die Erlaubnis, sich welche auszusuchen. Mehr oder weniger.“ „Was heisst ‚aussuchen‘?“ Der Mann sah sich nervös um, deutete erst auf ihn, dann auf sich und meinte: „Du Nazi, ich Nazi. Wir beide…“ Er fuhr sich mit dem Daumen über die Kehle. „Ich weiss“, sagte er und schluckte. Der Mann nickte. Dann kniff er die Augen zusammen: „Ausser wenn du dicke mit den Amis bist. Oder mit Gehlen. Du kennst den, du warst damals bei ihm.“ Er nickte. Dann fragte er: „Warum erzählst du mir das?“ Die Augen des Kameraden blitzten: „Reicht doch, wenn einer gerettet ist. Und wenn’s der Richtige ist, bin ich auch raus.“ Er grinste und entblösste eine Reihe schwarzer Zähne.
In München war Fritz erst durch einige Strassen gefahren und hatte das Auto dann in einer nicht sehr vertrauenserweckenden Gegend abgestellt. Er war ausgestiegen und in einem heruntergekommenen Haus verschwunden. Mich hatte er im Auto gelassen. Aus Langeweile begann ich, den Wageninnenraum genauer unter die Lupe zu nehmen. Neben dem Ganghebel lagen zwei angebrochene Packungen Marlboro. Unter meinem Sitz fand ich ein altes, schon gebrauchtes Stofftaschentuch, und als ich mich vorbeugte, um auch meinen Fussraum zu untersuchen, fand ich einen Damenhandschuh aus hellbraunem, sehr weichem Leder. Er musste teuer gewesen sein. Das Material war – soweit ich das beurteilen konnte – gut verarbeitet worden. Die Nähte bestanden aus gleichmässigen, winzigen Stichen. Ich pfiff leise durch die Zähne und murmelte: „Fritz, Fritz, Fritz…“ Ich legte den Handschuh neben mich auf den Sitz und suchte weiter. Auf der Rückbank entdeckte ich einen Schuhkarton. Ich war allerdings zu faul, um nach hinten zu klettern und mir seinen Inhalt anzuschauen. Ausserdem konnte Fritz jeden Moment zurückkommen, und ich wusste nicht, ob er sehr erfreut sein würde, wenn er sah, dass ich in seinem Auto herumturnte. Statt auf die Rückbank zu klettern, öffnete ich das Fenster, schnappte mir eine Zigarette – eine von meinen, wohlgemerkt – und streckte den Kopf nach draussen. Wir standen in einer der kleinen Nebenstrassen. Das Kopfsteinpflaster wirkte nass, ein paar leere Bierflaschen standen an einer Häuserecke. Die Gegend stank. Eine ungepflegte Katze mit struppigem Fell, das ein paar kahle Stellen aufwies, tapste über die Strasse. Als ich zu Ende geraucht hatte, warf ich den Stummel in eine Pfütze und zog den Kopf wieder ins Wageninnere. Nachdem ich das Fenster wieder hochgekurbelt hatte, lehnte ich mich in den Sitz zurück und wartete.
Ein dunkler Wagen kam die Strasse entlang gefahren. Hinter dem Steuer sassen zwei Männer, die misstrauisch erst Fritz‘ Auto und dann mich musterten. Ich erwiderte den Blick, woraufhin sie stoisch geradeaus blickten und vorbeifuhren. Als ich mich jedoch umwandte, konnte ich aus dem Heckfenster erkennen, dass der Wagen nur wenige Häuser weiter angehalten hatte.
In dem Moment kam Fritz aus dem alten Haus, umrundete den Wagen und schwang sich auf den Fahrersitz. Er drückte mir ein braunes Päckchen in die Hand und meinte: „Halt mal kurz.“ Dann zog er die Autotür zu, drehte den Zündschlüssel um und gab Gas. „Was ist das?“, fragte ich und drehte das Päckchen neugierig in meiner Hand hin und her. Es war eigentlich kein Päckchen. Eigentlich war es ein grosser brauner Briefumschlag. Fritz nahm es mir wieder ab und warf es auf die Rückbank. „Nichts.“ Ich wollte gerade sagen, dass es nicht nichts sein könne, als unser Wagen ins Sonnenlicht fuhr. Wir befanden uns an einer grösseren Kreuzung, überall waren Autos und Menschen. Fritz fädelte sich in den Verkehr ein und meinte: „Ich hab Hunger, gehen wir doch was essen.“ Ich nickte erfreut. „Halt mal ‘n bisschen Ausschau, vielleicht gibt’s hier ‘n Gasthof“, wies mich Fritz an. Gehorsam schaute ich aus dem Fenster. Die Menschen und Gebäude faszinierten mich. Ich war ja grosse Städte gewohnt. Schliesslich hatte ich mal in Berlin gewohnt, und jetzt lebte ich in Stuttgart, aber jede grosse Stadt hat ihre eigene Atmosphäre. Und die von München war etwas ganz besonderes. Ich drehte mich um und liess meinen Blick über die Autos um uns herum schweifen. Fritz meinte konzentriert: „Hier gibt’s wahrscheinlich nichts zu essen… Wahrscheinlich müssen wir laufen.“ Tatsächlich konnte ich im Moment keine Gaststätte oder auch nur eine Imbissbude ausmachen. Stattdessen bemerkte ich bei einem zufälligen Blick in den Rückspiegel einen Wagen, der in einigem Abstand hinter uns fuhr. Ich konnte nicht ausmachen, um welche Automarke es sich handelte, obwohl ich sonst fast jedes Auto sofort erkannte. Ich kniff die Augen zusammen und meinte, hinter der Windschutzscheibe die beiden Männer von vorhin zu erkennen.
Im Schutz der Dunkelheit stolperte die junge Russin durch den Wald. Ein nasser Ast klatschte ihr ins Gesicht. Sie zuckte zurück, bückte sich und rannte weiter. Hinter sich hörte sie die Schreie und Schüsse der deutschen Soldaten. Sie hielt inne, drehte sich um und suchte ihre Umgebung nach Verfolgern ab. Aber noch war niemand hinter ihr her. Der Mond schien auf die Transporter, und der Waldrand schimmerte im silbernen Licht. Sie rannte weiter. Der Wald um sie herum wurde immer dichter. Nebel umgab sie, und, während sie rannte, wurde er immer undurchdringlicher. Es schien ihr, als stieg er aus den Moosen und Farnen empor und legte eine weiß-bläuliche Decke über den Waldboden. Nun war es so dunkel, dass sie beinahe nichts mehr sehen konnte. Sie blieb keuchend stehen und lauschte angestrengt. Doch alles, was sie vernahm, war das Rauschen des Blutes in ihren Ohren. Sie stützte ihre Hände auf die Knie, um kurz auszuruhen. Doch sie wollte sich nicht hinsetzen. Falls ihr doch jemand gefolgt war, würde er sie bald eingeholt haben. Sie riss sich zusammen und ging weiter, noch tiefer in den Wald hinein.
Immer wieder blieb sie stehen und lauschte. Der Nebel war nun so dicht, dass sie nur einen halben Meter sehen konnte. Sie tastete sich vorwärts und wünschte sich, wenigstens etwas hören zu können, aber selbst die Geräusche des Waldes wurden von der dicken Brühe verschluckt. Ihr einziger Trost war, dass ihre potentiellen Verfolger sich in derselben Situation befanden und die Suche vielleicht längst aufgegeben hatten, falls sie überhaupt gemerkt hatten, dass sie fehlte.