Filia Lunae - Isabel Yvonne - E-Book

Filia Lunae E-Book

Isabel Yvonne

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Beschreibung

Ohne jegliche Erinnerung wacht Rose in einem Krankenhauszimmer auf. Wo ist sie? Das Institut für unheilbare Krankheiten hat sie zu sich genommen, um sie zu heilen. Denn Rose ist eine Filia Lunae, eine Kaltblütlerin. Zunächst ängstlich und verunsichert, fängt sie langsam an, Vertrauen zu fassen, insbesondere zum unverschämt gut aussehenden Lieutenant Adam. Doch dann tritt ein geheimnisvoller junger Mann in ihr Leben und stellt ihre Welt auf den Kopf. Wem soll sie vertrauen? Diesem fremden, zerzausten Jungen oder Adam, der mit seinem engelsgleichen Aussehen ihr Herz zum Rasen bringt?

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Seitenzahl: 571

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Filia Lunae

TitelseiteSchneeweißes BlutProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. KapitelImpressum

Schneeweißes Blut

Anmerkung

Alle vorkommenden Namen sind englisch auszusprechen, auch in Gedanken. Vor allem der NameJoseph, da die deutsche Aussprache dieses Namens einfach nur... nun ja, schrecklich ist.

Prolog

Um mich herum war alles weiß, schneeweiß. Die Helligkeit war strahlend und angenehm und ich fühlte mich federleicht, so als würde ich schweben.

So musste es sein, oder? Ich schwebte.

Anders konnte ich es mir nicht erklären, denn da war nichts. Ich fühlte rein gar nichts, weder eine Straße, auf der ich hätte stehen können, noch weiches, feuchtes Gras, auf dem ich hätte liegen können. Es war kein einziges Geräusch zu hören. Absolute Stille umgab mich und schien mich nicht loslassen zu wollen.

Ich fühlte nichts. Ich hörte nichts. Ich sah nichts.

Ich seufzte.

Langsam ebbte das schwerelose Gefühl ab und ich bemerkte die Taubheit meiner Glieder. Quälerisch langsam krabbelte eine Kälte meine Zehen hinauf, über meine Oberschenkel bis zu meiner Nasenspitze. Ich glaubte, jeder meiner Knochen würde zu einem Eisbrocken mutieren. Es war eiskalt. Das Blut in meinen Adern konnte bei dieser Kälte einfach nicht mehr weiter fließen, meine Gehirnzellen mussten schon abgestorben sein. Dennoch hörte ich das stetige Rauschen der roten Körperflüssigkeit, als es durch meine Blutgefäße floss. Und dennoch war ich hier, vollkommen munter und lebendig … Moment, ich war doch nicht…

War ich tot? War ich gestorben und so sah das Leben nach dem Tod aus? Weiß, kalt und einsam?

Ich blinzelte und versuchte mich zu bewegen, doch der eiskalte Griff wurde dadurch nur stärker und kälter und es fühlte sich an, als würde ich explodieren.

Keuchend suchte ich nach Informationen; versuchte zu verstehen, was hier gerade passierte. Plötzlich erschien eine Blockade in meinem Kopf. Ähnlich wie eine breite, undurchdringliche und angsteinflößende Wand versperrte sie mir die Sicht auf meine Erinnerungen und egal was ich tat, sie ließ mich nicht passieren. Ich grub tiefer und versuchte, mich zu erinnern, aber da war nichts.

Nichts. Vollkommenes, leeres Nichts.

Mein Atem beschleunigte sich, während ich mein Gehirn immer noch nach Informationen – nach Erinnerungen, nach irgendetwas, das mir sagte, was hier geschah – durchforstete. Zu Beginn konnte ich den stechenden Kopfschmerz noch ignorieren, der sich hinter meiner Stirn ausbreitete. Es fühlte sich an wie eine kleine Nadel, mit der jemand wieder und wieder meine Kopfhaut attackierte. Nach der Zeit verwandelte sich diese Nadel in einen Hammer und die Schläge wurden brutaler und schneller. Mein rechter Augapfel begann unangenehm zu pochen und etwas Flüssiges rann aus meiner Nase.

Blut? Hatte ich Nasenbluten?

Als ich mir mit der Hand über die Nase strich und sie mir dann vor die Augen hielt, erschrak ich. Ich erschrak so sehr, dass ich glaubte, mich selbst schreien zu hören. Der Schrei war gellend laut und hallte in meine Ohren. Ungläubig starrte ich auf meine Hand.

Oder versuchte es zumindest.

Denn ich konnte meine Hand nicht sehen. Da war einfach nichts. Nichts als weiß. Keine Hand, kein Blut, kein gar nichts. Nichts, immer wieder nichts.

Ich wackelte mit meiner Hand und glaubte sogar zu spüren, wie sich mein Armmuskel an- und wieder entspannte. Vor meinen Augen blieb alles schneeweiß.

Mit jeder Sekunde wurden die Schmerzen schlimmer. Bald schon waren sie so unerträglich, dass sich mein Mund wie von alleine öffnete und ich mich wieder schreien hören konnte. Meine Wirbelsäule bog sich durch, ich wand mich. Meine Kehle wurde rau und blutig durch das Geschrei. Ich schluckte das Blut hinunter, welches einen metallischen Geschmack in meinem Mund hinterließ. Ich wollte mich zu einer Kugel zusammenrollen, doch kaum bewegte ich mein Bein, überflutete mich eine Schmerzwelle. Ich hörte ein Knacksen und hätte schwören können, dass der Knochen meines Oberschenkels in der Mitte durchbrach. Ich wollte wieder schreien, aber ich konnte nicht mehr. Ich hatte keine Kraft mehr.

Mit einem Schlag verwandelte sich das weiße Bildnis in reines Schwarz und ich wurde von der Dunkelheit übermannt. Noch nie war mir die Dunkelheit so friedlich erschienen wie in diesem Moment, als ich mich fallen ließ und das Bewusstsein verlor.

~

Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis ich wieder aufwachte. Oder ob ich überhaupt geschlafen hatte. An meiner Situation änderte sich nichts, abgesehen davon, dass das Weiß verschwunden blieb und nun schwärzeste Dunkelheit ihren Platz eingenommen hatte. Und die Schmerzen, nun ja, sie waren nicht mehr so erdrückend, sondern eher abgedämpft und stumpf.

Ich konnte mich nicht wirklich bewegen, ich konnte nicht sprechen. Ich stand nicht, ich saß nicht und ich lag nicht. Als ob es keine Schwerkraft mehr gäbe, schwebte ich durch Raum und Zeit. Stundenlang verweilte ich so, möglicherweise waren es nur Minuten oder aber mehrere Wochen. Ich hatte keine Ahnung.

Irgendwann fing ich an, Stimmen zu hören. Nur gedämpft drangen sie zu meinen Ohren durch, aber eine Welle der Erleichterung durchflutete mich. Ich konnte keinen Zusammenhang in den Worten erkennen, die auf jeden Fall von einem Mann stammten: „Die Schmetterlinge fangen an zu wirken. Nicht mehr lange und … ihre Zellen neu regenerieren…. wollen Sie mit ihr machen?“

Schmetterlinge fingen an zu wirken? Was? Wo war ich hier, im rosaroten Eiscreme-Land von Emily Erdbeer, wo Schmetterling Schmerzen lindern konnten?

Eine andere, ebenfalls männliche Stimme erklang: „Wir werden das Mädchen erst einmal … um sie kümmern … sie muss uns vertr– “

Der Rest wurde durch ein lautes Piepsen übertönt. Wieder fühlte ich den aggressiven Schmerz hinter der Stirn, das Pochen und Ziehen verschlang mich in eine Welt der Schmerzen und steckte meinen Körper in Brand.

Das ergab alles keinen Sinn.

Auf einmal verstummten die Stimmen um mich herum. Das Piepsen war das einzige, was die Stille noch unterbrach. Ich wurde wahnsinnig vor Schmerzen. Stöhnend wölbte sich mein Körper.

Jemand berührte meinen Arm, und das war genau der Moment, in dem es zu viel wurde. Die schwarze Welt um mich herum verschwamm und löste sich auf. Schreie erklangen in meinen Ohren und ich wand mich und kreischte so lange, bis sie endlich kam. Bis die Ohnmacht endlich kam und mich erlöste.

Das stetige Piepsen begleitete mich durch Tag und Nacht und mein Herz schlug im selben Rhythmus. Ba-bum-bum-Ba-bum-bum-Ba-bum-bum …

Meistens schlief ich, manchmal war ich wach. Hin und wieder konnte ich Stimmen hören, verhielt mich aber ruhig und bewegte mich nicht. Ich wusste, die Schmerzen würden wiederkommen; hatte ich sie doch schon oft genug erlebt.

Mehrmals hatte ich versucht, nach Hilfe zu rufen. Ich hatte geschrien und geschrien, bis ich schließlich angefangen hatte zu weinen. Mit den Tränen kamen die Schmerzen, und mit dem Schmerz die Bewusstlosigkeit.

Egal, was ich versuchte – ob ich nun schrie, um mich trat, weinte oder einfach still war – ich konnte nicht entkommen. Ich war eingesperrt in diesem schwarzen Nichts.

Ich bemerkte gar nicht, wie die Zeit verging. Es war so, als wäre ich irgendwo stecken geblieben, aber nicht nur mein Körper, sondern auch mein Geist und meine Seele.

Immer öfter versuchte ich, nachzudenken und einen Weg zu finden, diese Situation zu beenden. Doch immer war das Ergebnis dieser Kopfschmerz und all die folgenden Schmerzen, und so beließ ich es mit der Zeit. Es war keineswegs mein Hobby, unerträgliche Schmerzen zu erleiden, schon gar nicht, wenn es mich überhaupt nicht weiterbrachte.

Still lag ich da und tat nichts; ein Umstand, der mich langsam aber sicher verrückt machte. Es musste etwas passieren, denn sonst würde ich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit noch durchdrehen.

Und dann tauchte mitten in dem Nichts, in dem ich gefangen war, ein Bild auf. Zuerst war es verschwommen und so dunkel, dass ich nichts erkennen konnte, bis auf eine schemenhafte, junge Gestalt. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, aber schließlich verstand ich das Bildnis. Es war ein kleiner Junge, nicht älter als acht Jahre alt. Er hatte braunes Haar, das strubbelig und in kurzen Strähnen von seinem Kopf abstand. Seine Augen waren blau-grünlich, mit einem leichten grauen Schimmer und ich konnte seine kindliche Verspieltheit hinter ihnen erkennen.

Auf seiner Nase und seinen Wangen lagen mindestens zwei Dutzend heller Sommersprossen und insgesamt sah er so sonnig und fröhlich aus, dass ich die zusammengepressten Lippen in seinem Gesicht nicht verstand. Er hätte lächeln müssen. Ich sah genauer hin, versuchte das Bild irgendwie näher an mich heranzuziehen, stattdessen fing es an zu verschwimmen. Also beruhigte ich mich wieder und wartete darauf, dass der Junge zurückkam.

Tatsächlich tat er es, genau dasselbe Bildnis von ihm. Diesmal fiel mir hinter dem kindlichen Blick in seinen Augen eine versteckte Angst auf. Jetzt, da ich sie erkannt hatte, schien sie mir unübersehbar. Ohne zu wissen warum, verstand ich, dass es sich bei dieser Angst nicht um eine kleinkindliche Furcht handelte. Der Junge war nicht etwa verängstigt, weil er seinen Kuschelbären nicht finden konnte, er sah viel mehr zu Tode geschockt aus.

Als wäre gerade seine Mutter gestorben.

Moment.

War ich seine Mutter, seine tote Mutter? Konnte das sein?

Unwillkürlich streckte ich die Hand aus, um ihn zu berühren. Nichts wollte ich lieber tun, als ihn in meine Arme zu schließen und zu trösten. Ihm sagen, es wäre alles okay und er müsse keine Angst haben.

Ich wusste nicht, was ich diesmal anders tat als das Mal zuvor. Jedenfalls löste sich das Bild nicht auf. Stattdessen streckte mir der Junge seine Hände entgegen, wartete auf mich.

Ohne zu zögern fasste ich nach ihnen und er zog mich zu sich. Es fühlte sich an, als wäre er ein Anker, der mich davon abhielt, zu verschwinden. Es fühlte sich an, als wäre er der dünne Faden, der mich aus der Finsternis zog …

1. Kapitel

Mit einem Mal veränderte sich alles. Bis auf das Piepsen, das weiterhin zu hören war, jedoch viel, viel leiser. Ich konnte meine verklebten Augenlider öffnen, wobei die salzigen, ungeweinten Tränen in meinen Augen mich dazu veranlassten, mehrmals zu blinzeln. Über mir sah ich eine graue Wand und mir wurde bewusst, dass ich nicht länger in der Dunkelheit gefangen war.

Ruckartig setzte ich mich auf und sah mich keuchend um. Ich lag auf einem Bett, eine weiße Decke lag über meinem zitternden Körper. Mein Blick flog zu den Maschinen neben dem Bett, glitt über die Kabel, die in meiner Armbeuge verschwanden und eine Flüssigkeit in meine Adern pumpten. Es war offensichtlich, dass ich in einem Krankenhaus war, aber ich hatte keine Ahnung, warum. Ich erkannte diesen Ort nicht wieder und erinnerte mich nicht daran, schon jemals hier gewesen zu sein. Tausend Fragen schwirrten in meinem Kopf herum. Wieso war ich in einem Krankenhaus? Hatte ich einen Unfall gehabt?

Ich wartete, dass Bilder in meinem Gehirn auftauchen würden, die mir erklären konnten, was hier los war. Ich wartete auf Erinnerungen, die einfach nicht kamen. Ich wusste nicht, warum ich hier war. Ich wusste nicht, wo ich war. Ich wusste nicht, wer ich war.

Einzig und allein erinnerte ich mich an das Bild aus der Dunkelheit. Das Bildnis des Jungen mit seinem traurigen Blick verfolgte mich und ich musste mich schütteln, um mich nicht darin zu verlieren. Ich versuchte ruhig zu bleiben, unterdrückte die aufsteigenden Tränen. Eine Kälte nahm von meinem Körper Besitz und ich fing an, noch heftiger zu zittern. Auch das versuchte ich zu ignorieren und sah mich in dem Raum um, in dem ich mich befand.

Es handelte sich um ein kleines Zimmer mit einem Fenster und zwei Türen. Die Aussicht des Fensters war von einer elektrischen Jalousie verdeckt, deshalb konnte ich nicht erkennen, was dahinter war. Eine der beiden Türen war näher an meinem Bett und mit einem trüben Glasfenster versehen, wodurch ich das Licht des Raums dahinter durchscheinen sehen konnte. Wahrscheinlich führte sie zum Krankenhausflur. Die andere Tür war eine normale Kunststofftür, auf der ein Schild mit der Aufschrift „Sanitär-Bereich“ klebte.

Irgendetwas stimmte hier nicht. Das Ziehen in meiner Brust und das Rasen meines Pulses versicherten mir, dass hier etwas ganz gewaltig nicht in Ordnung war. Eine Welle der Unruhe durchfuhr mich und ich glaubte, von draußen vor der Tür etwas zu hören. Vielleicht Schritte oder Stimmen. Ich dachte kurz nach, doch die Angst siegte über meinen Verstand und ich handelte instinktiv. Ich griff nach den zwei Schläuchen, die in meine Armbeuge führten. Einen Moment lang zögerte ich; das würde sicher wehtun.

Nach einem tiefen Atemzug zog ich an den Schläuchen und mit einem ekeligen Geräusch und einem stechenden Schmerz riss ich sie aus meiner Haut. Kurz wurde mir schwindelig und meine Sicht verschwamm. Doch ich ignorierte den Würgereiz, verzog das Gesicht und schlug die Decke zurück. In diesem Moment hörte ich ein Lachen und schallende Schritte näher kommen, was in mir einen Kurzschluss auslöste. Ein Schatten erschien in dem kleinen Fenster an der Tür und mein Herz blieb für eine Sekunde stehen.

Ohne nachzudenken sprang ich auf und lief zu der zweiten Tür, verwundert darüber, dass mir nicht einmal schwindelig oder schlecht wurde. Immerhin hatte ich doch eine gewisse Zeit in Ohnmacht, wenn nicht sogar im Koma gelegen. Leise öffnete ich die Tür, huschte in den Sanitär-Bereich und schloss sie hinter mir. Mein Herz musste einen Marathon laufen, so schnell pochte es in meiner Brust.

Meine Finger tasteten nach dem Lichtschalter und ich musste blinzeln, als das grelle Licht des Raumes anging. In meiner Panik dachte ich nicht daran, dass das Licht höchstwahrscheinlich durch den Türschlitz zu sehen war und jeder, der das Zimmer davor betrat, bemerken würde, dass sich jemand im Sanitärbereich befand.

Ich sah mich um. Es handelte sich um ein kleines, minimalistisches Badezimmer. Ich entdeckte eine Dusche, ein Waschbecken, einen Teppich.

Ich sah auf und blickte einer Fremden ins Gesicht. Sie hatte lange, braune Haare, die in fettigen Strähnen ihr Gesicht umrahmten. Ihre Augen hatten eine hellgraue Farbe und ihre Iris war von einem dunklen schwarzen Ring umgeben. Ihre Haut war blass, fast schon weiß.

Erschrocken taumelte ich ein paar Schritte zurück und bemerkte noch überraschter, dass das Mädchen genau dasselbe tat. Was war hier … Ich hielt meine Hand hoch, wackelte damit und sie tat das gleiche.

Sie war mein Spiegelbild. Dieses jugendliche Mädchen war mein Spiegelbild. Sie war ich, ich war sie.

Damit konnte ich zumindest ausschließen, dass der Junge, der mich aus dem Koma gezogen hatte, wirklich mein Sohn war.

Ich hätte mir mit der Hand gegen die Stirn schlagen könne, so lächerlich war mein Verhalten. Ich stand hier mit Tränen in den Augen und machte mir fast selbst in die Hosen, bloß aufgrund meines Spiegelbildes. Dafür blieb mir jedoch keine Zeit, da ich hörte, wie eine Tür geöffnet wurde und an lauten Schritten erkannte ich, dass jemand in das Zimmer getreten war, in dem ich vor wenigen Minuten noch geschlafen hatte. Eine Stimme erklang, laut und wütend und ich hörte, wie eine zweite Person ins Zimmer gerannt kam. Lautstark brüllte einer der Männer.

Unkontrolliertes Zittern nahm von meinem Körper Besitz. Wo war ich hier nur gelandet? Ich wusste, dass gleich jemand die Tür öffnen und mich finden würde. Aber ich war nicht bereit dazu … Es musste einen Weg geben, von hier fort zu kommen. Ich konnte doch nicht –

Ein Mann schlug die Tür auf und stürmte in das Badezimmer. Ich stolperte nach hinten und flog rücklings auf den Fliesenboden, während ich aufschrie. Schmerz durchfuhr meinen Hintern und meine Wirbelsäue.

Zwei weitere Männer kamen ins Badezimmer gelaufen, jeder von ihnen trug eine Waffe bei sich und richtete sie auf mich. Als der Mann, der als erster hereingestürmt war, näher kam, trat ich mit dem Fuß nach ihm. Wahrscheinlich eher überrascht als verletzt, wich er zurück und sah mich mit großen Augen an.

„Fass mich nicht an!“ schrie ich und kroch weiter von ihm weg. Ich war vollkommen verängstigt und kurz vorm Ausrasten, wenn nicht schon mitten drin. „Geh weg!“

„Beruhige dich! Wir tun dir nichts“, sagte er und kam wieder einen Schritt auf mich zu.

Diesmal schlug ich nicht zu, stattdessen wimmerte ich und hob die Hände schützend vor mein Gesicht. Tränen sammelten sich in meinen Augen. Tränen der Wut, der Angst, aber auch der Hilflosigkeit. Ich konnte mich an nichts erinnern. An gar nichts. Ich wusste meinen Namen nicht, ich wusste mein Alter nicht. Ich wusste nicht, wer diese Männer waren und sie hatten verdammt noch mal WAFFEN bei sich! Was erwarteten die sich auch von mir? Dass ich mich ihnen, wildfremden Leuten, in die Arme warf und sie bat, mich zu retten? Das konnten sie sich schön abschminken, diese Mistkerle.

„Bleibt weg von mir!“, kreischte ich und mein Rücken stieß gegen die Wand des Badezimmers. Weiter konnte ich nicht vor ihnen davonkriechen. Der vorderste Mann ging vor mir in die Knie und sah mich mit flehenden Augen an, aber da war auch etwas in seinem Blick, das ich nicht deuten konnte. Er legte mir eine Hand auf die Schulter und ich zuckte zurück.

„Fass mich nicht an!“ Ich keuchte und holte mit der Hand aus, um ihn zu schlagen. Er fing sie in der Luft auf, seufzte und sagte: „Bitte. Wir wollen dir nichts tun.“ Er legte seine Pistole vor sich auf den Boden und kurz war ich in der Versuchung, danach zu greifen. Doch dann taten es ihm die anderen zwei Männer gleich und starrten mich an, während ich mit großen Augen zurückstarrte.

„Nun?“, fragte der erste Mann und sah mit erwartungsvollen Augen auf mich herunter. Seine Augen waren hellblau und strahlend, so helles Blau glaubte ich noch nie gesehen zu haben. Obwohl das vielleicht auch gar nicht stimmte, immerhin waren meine Erinnerungen ja weg.

Meine Erinnerungen waren weg! Und diese Männer … sie mussten etwas damit zu tun haben!

Mein Herz pochte rasend schnell in meiner Brust und ich überlegte, was ich tun sollte. Mir die Pistole schnappen und wie wild um mich schießen? Das würde wahrscheinlich mit einer Kugel in meinem Kopf enden.

Hinter dem Mann mit den blauen Augen schnaubte jemand. „Ich hab doch gewusst, dass es nichts bringen wird. Gib ihr die Spritze und wir können uns dieses Theater hier sparen.“ Seine Stimme triefte vor Genervtheit über mein Verhalten und er warf dem Mann vor mir eine Spritze hin. Dieser sah sie sich lange an, bevor er sich wieder mir zuwandte.

Panik durchflutete mich. Ich sprang auf und versuchte, an den Männern vorbeizulaufen, denn ich war mir sicher, dass ich im Kampf gegen sie null Chancen hätte. Der Mann mit den hellblauen Augen reagierte schneller als ich und packte mich an der Hüfte, als ich noch nicht einmal einen Meter gelaufen war. Ich schrie und versuchte, mich aus seinem Griff zu befreien. Auf einmal wurde ich herumgerissen und auf den Boden gedrückt. Der Mann sah mich fast schon gelangweilt an, in seiner Hand die Spritze. Mit einer ruckartigen Bewegung stieß er mir die Spritze in den Nacken. Zu meiner eigenen Verwunderung schrie ich nicht, obwohl es wehtat, als sich die Flüssigkeit mit meinem Blut vermischte.

Vielleicht lag es daran, dass die Spritze so schnell wirkte.

Die Männer und das Badezimmer verschwammen vor meinen Augen und ließen mich in der Dunkelheit zurück.

Schon wieder.

~

„Noch zwei Minuten.“

Entfernt hörte ich Geräusche und eine Stimme. Sie schafften es allerdings nicht, die Dunkelheit zu durchbrechen, in der ich mal wieder gefangen war. Das hastige Klopfen eines Schuhs auf den Boden schlug im Takt mit meinem Herzen und ich bemerkte, wie sich der Nebel um mich herum langsam auflöste.

„Eine Minute“, sagte die Stimme wieder. Diesmal war sie viel klarer und lauter, sodass ich erkannte, dass sie zu einem Mann gehörte.

Orientierungslos seufzte ich auf und spürte eine zarte Berührung an meiner Wange. Ein seltsames Gefühl breitete sich in meinem Magen aus. Da war irgendetwas … Irgendetwas wichtiges, das ich vergessen hatte.

„Drei, zwei, eins…“

Plötzlich musste ich niesen. Ruckartig setzte ich mich auf und hielt mir die Hand vor die Nase. Meine Augen fingen an zu tränen und ich musste sie ribbeln und die Sandmänner wegwischen, um wieder sehen zu können. Ein leises, zufriedenes Grunzen erklang neben mir und ich sah auf.

Dort stand ein kleingewachsener Mann neben meinem Bett – dasselbe Krankenhausbett, in dem ich auch vor kurzem schon aufgewacht war. Ich kannte ihn nicht, hatte keine Ahnung, wer dieser Mann war oder warum ein fremder Mensch neben meinem Bett stand.

Verdammt noch mal, wo war ich hier? Überall waren fremde Menschen! Zuerst diese Männer, die mir die Spritze verabreicht hatten …

Verdammte Scheiße! Jemand hatte mich mit einer Spritze außer Gefecht gesetzt … das klang verdächtig nach einem schlechten Actionfilm. Ich zog meine Augen zu Schlitzen zusammen – ich war nicht wirklich willig, die Hauptrolle eines schlechten Actionfilmes zu sein.

Der Mann streckte die Hand nach mir aus.

„Stopp!“, schrie ich. „Was wollen Sie von mir?!“

Der Mann lachte. Es war ein freundliches Lachen, bei dem man sofort mitlachen wollte. Dazu war ich allerdings nicht in Stimmung. Meine Augen verengten sich noch mehr.

„Miss, das ist wirklich nicht nötig. Vor mir brauchen Sie sich nicht zu fürchten“, sagte der Mann. Unauffällig, so hoffte ich es zumindest, wandte ich den Blick ab und suchte nach … ich wusste, nicht genau, wonach ich suchte. Einen Fluchtweg? Eine Möglichkeit, weg von all diesen fremden Menschen zu kommen? „Ich weiß, dass Sie viel durchgemacht haben und dass das alles nicht einfach für Sie ist. Sie haben keine Erinnerungen an ihre …“ Der Mann unterbrach sich und räusperte sich. „Jedenfalls kann ich verstehen, wenn Ihnen unsere Burschen vorhin einen Schrecken eingejagt haben.“

Ich schnappte nach Luft. „Einen Schrecken eingejagt?“ Mein misstrauischer Blick glitt zu ihm zurück. „So bezeichnen sie es, wenn man jemanden mit Waffen bedroht und ihm dann eine Spritze in den Nacken schlägt?“

„Ich war von dieser Vorgangsweise genauso wenig erfreut, wie Sie es nun sind“, fing der Mann wieder an. „Ob Sie es mir nun glauben wollen oder nicht. Außerdem bin ich nicht dafür zuständig, mit Ihnen über das Geschehene zu sprechen. Ich bin einzig und alleine hier, um meine Arbeit zu machen. Ich bin ihr Arzt, Miss, und keiner der Lieutenants, verstanden? Ich habe also nicht die Absicht, sie in irgendeiner Weise zu attackieren oder zu verletzen.“

Natürlich. Er war Arzt. Immerhin war ich ja in einem Krankenhaus. Außerdem wiesen der lange, weiße Kittel, die Krankenakte – die er krampfhaft in den Händen hielt – und das Stethoskop um seinen Hals eindeutig darauf hin. Er hatte blonde Haare mit grauen Strähnen. Ich schätzte ihn auf 50, war mir aber nicht sicher. Das helle Braun seiner Augen wirkte vertrauenswürdig und langsam wurde mir bewusst, dass ich kein Recht hatte, diesem Mann zu misstrauen. Er hatte mir nichts getan.

Ich atmete tief durch, doch die Spannung verließ meine Schultern nicht.

„Mein Name ist Dr. Adalph. Korban Adalph. Haben Sie irgendwo Schmerzen?“ Seine Rehaugen sahen mich neugierig an, so als wäre ich ein Experiment. Er war sichtlich aufgeregt, worüber auch immer. Ich hatte keine Ahnung – immerhin waren meine Erinnerungen noch nicht zurückgekehrt.

Ich überlegte kurz, nicht zu antworten, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder. Dieser Mann war ein Arzt und Ärzte waren doch dazu da, Leuten zu helfen, oder? Noch dazu schien er freundlich zu sein, wieso also sollte ich auf bockiges Kind machen?

„Nein“, antwortete ich schließlich. Meine Kehle war trocken und ich räusperte mich. „Nein, ich denke nicht.“ Mir fiel auf, dass meine Stimme eingerostet war und schrill klang. Meine Stimme war mir auf eine komische Art vertraut und irgendwie doch vollkommen fremd. Es kam mir so vor, als würde ich sie in diesem Moment zum ersten Mal hören – beziehungsweise zum zweiten Mal, bedenkt man die gekreischten Sätze, die ich mit den Lieutenants gewechselt hatte, als der Lauf einer Pistole mit meiner Nase Kontakt gemacht hatte.

Meine Stimme war … normal. Nicht besonders hoch oder tief, einfach standartmäßig. Konnte ich gut singen? Oder war ich etwa eines von diesen Mädchen, die sich einbildeten, wunderschön singen zu können, obwohl in Wahrheit nur quietschige Töne aus ihren Mund kamen? Am liebsten hätte ich auf der Stelle angefangen zu singen, nur um diese Fragen beantworten zu können.

Da fiel mir ein, dass der Arzt mich interessiert beobachtete und dieser Drang löste sich in Luft auf.

Gott sei Dank hatte ich meinen Mund noch nicht geöffnet.

Es war so verdammt verwirrend. Ich konnte mich an vieles erinnern, das mir in diesem Moment bloß unnötig erschien. Ich wusste grundsätzliche Fakten über Musik – was man mit der Stimme und Instrumenten alles machen konnte. Ich wusste, wofür es Toiletten, Duschen und Kühlschränke gab. Ich verstand sogar Quadratische Gleichungssysteme, Lineare Funktionen und wusste, wer der bedeutendste römische Kaiser gewesen war.

Diese Dinge – Dinge, die man in der Schule sowie im Alltag lernt – waren noch immer in meinem Kopf enthalten. Komischerweise waren alle persönlichen Daten aus meinem Gehirn gelöscht. Wie konnte so etwas überhaupt funktionieren? Wie konnte ich mir merken, wie der derzeitige Präsident der Staaten hieß, obwohl ich den Namen meiner Schwester vergessen hatte? Hatte ich überhaupt eine Schwester?

Wie konnte ich mir nicht merken, warum ich hier war?

„War nicht anders zu erwarten.“ Dr. Adalph nickte zufrieden und holte mich aus meinen Gedanken zurück.

„Was soll das heißen?“, fragte ich mit zusammengezogenen Augenbrauen.

„Nun ja, wir haben hier im Institut die richtigen Mittel und Wege, Miss. Bei ihrem Eintreffen hatte ich meine Zweifel. Um ehrlich zu sein hätte ich nicht gedacht, dass Sie es schaffen würden. Doch nach der Behandlung, die Sie hinter sich haben, ist es kein Wunder, dass sie wieder ganz wohlauf sind.“ Ein kleines Lächeln erschien in seinem Gesicht.

„Behandlung? Welche Behandlung?“

Der Doktor blinzelte, lächelte aber weiter. „Die Behandlung, die Sie hier im Institut erhalten haben.“

„Was …? Ich verstehe das nicht …“ Ich legte mir eine Hand an die Stirn und verzog das Gesicht. „Wieso bin ich hier, in diesem … diesem Institut? Wieso kann ich mich an nichts erinnern?“ Meine Stimme war ungewollt lauter geworden und ich presste die Lippen zusammen, während sich Tränen in meinen Augen bildeten.

„Ich bin nicht derjenige, der dieses Gespräch mit Ihnen führen sollte. Entschuldigen Sie, Miss.“ Dr. Adalph schluckte und wandte sich anschließend dem Blutdruckgerät neben ihm zu. „So, und nun würde ich sie trotz allem noch einmal kurz untersuchen, ja?“ Fragend drehte er sich zu mir um.

„Aber … Nein.“ Bockiges Kind hin oder her, die Angst und das verzweifelte Gefühl, unwissend zu sein, überwiegten. „Ich will wissen, was hier los ist. Es ist einfach … mein Gehirn ist leer. Ich habe keine Ahnung, was hier los ist und wer Sie sind und was Sie von mir wollen. Ich habe keine Ahnung, wer ich bin! Ich habe keine Ahnung, wie ich heiße oder was das alles hier soll!“ Ein Schluchzen durchdrang meine Lippen und die Tränen verschleierten meine Sicht.

„Miss, so leid es mir tut, ich kann ihnen nicht helfen. Zumindest nicht hier. Allerdings würde ich gern nachsehen, ob mit Ihnen wirklich alles in Ordnung ist, dann wird man Sie zu Mr. Pierce bringen und dieser wird ihnen mehr sagen können und dürfen als ich.“ Seine Miene war zurückhaltend und definitiv besorgt.

Stille folgte. Nur mein lautes Atmen war zu hören.

Der Doktor hob eine Augenbraue. „Also, darf ich nun?“

Ich war noch immer misstrauisch. „Danach wird man mich zu diesem Mr. Parce bringen und ich bekomme Antworten?“

„Mr. Pierce. Und ja, das werden Sie.“

Obwohl noch tausend Fragen in meinem Kopf herumwirbelten und ich nur zu gerne wüsste, wer dieser Mr. Pierce war, blieb ich still sitzen, während Dr. Adalph mich ein letztes Mal untersuchte. Hoffentlich das letzte Mal. Er horchte mein Herz ab, maß meinen Blutdruck und verwendete noch ein halbes Dutzend andere Werkzeuge, von denen ich keine Ahnung hatte, was sie eigentlich bewirkten.

Während Dr. Adalph seine Arbeit machte, blieb ich ruhig sitzen und ließ ihn gewähren. Er schien ein netter Mensch zu sein – definitiv netter als die Leute, die mich mit einer Spritze attackiert hatten – und aus einem Grund, den ich nicht verstand, konnte er mir keine Antworten geben.

„Fertig“, sagte der Doktor schon nach wenigen Minuten. „Sie sind gesund, nun ja, soweit Sie nun mal gesund sein können. Körpertemperatur, Blutfluss, Puls – alles in bester Ordnung. Ihre Körpertemperatur ist natürlich sehr niedrig, aber in Ihrem Fall ist das ja normal.“ Er lächelte mich an. Dieses Lächeln konnte nicht böse sein. Er konnte nicht böse sein. Auf keinen Fall.

Also verdrängte ich meine innere Sorge. Ein anderer Gedanke kam mir in den Sinn, bei dem mein Herz einen Luftsprung vollführte. „Das heißt, ich kann nach Hause gehen? Ich meine, nach dem ich mit diesem Mr. Pierce gesprochen habe?“ Nach Hause. Obwohl ich nicht wusste, was mein zu Hause war und wer dort auf mich warten würde, fluteten warme Gefühle meinen Bauch. Warme Gefühle, die von einer eisigen Kälte verfolgt wurden.

Dr. Adalph riss die Augen auf und starrte mich schockiert an. „Nach Hause? Miss, aber Sie wissen doch …“ Er schüttelte den Kopf und schluckte hart. Ein seltsamer Ausdruck legte sich auf sein Gesicht. „Entschuldigen Sie. Ich vergaß ihre Amnesie. Nun, auf Ihre Frage kann ich Ihnen keine Antwort geben.“

Mein Herz klatschte auf dem kalten Fließboden auf. „Aber …“

Der Doktor unterbrach mich mit einem Kopfschütteln. „Kommen Sie, es wird Zeit, dass Sie dieses Krankenzimmer verlassen.“

~

Ich trug ein graues Krankenhaushemd, das gerade die Hälfte meiner Oberschenkel verdeckte. Sofort nachdem ich aufgestanden war, hatte ich nachgesehen, ob dieses komische Teil auch ja meinen Hintern verdeckte. Zu meinem Glück war das Hemd hinten geschlossen und anderen Leuten blieb ein Blick auf meine privaten Körperteile erspart.

Ich bereute es, nur diesen kurzen Fummel zu tragen, denn außerhalb meines Krankenhauszimmers war es um einige Grade kälter und mein Körper fing an, stark zu zittern. Mit meinen Armen umschlang ich meinen Körper.

Dr. Adalph führte mich durch einen langen, weißen Flur und mein Verdacht, in einem Krankenhaus zu sein, verflüchtigte sich. Ich hatte noch keinen einzigen anderen Arzt geschweige denn Patienten gesehen. Es gab hier nur unendlich viele Gänge, und hin und wieder kamen wir an dunkelgrün gekleideten Männern vorbei, von denen ich jede Minute erwartete, dass sie mir eine Knarre ins Gesicht halten würden.

Ich wartete darauf, aber sie sahen mich nur neugierig an.

Wir kamen an unzähligen Türen vorbei, bevor wir schließlich vor einer von ihnen Halt machten und sich Dr. Adalph zu mir umdrehte. Ich starrte ihn völlig steif an und wusste nicht, was ich fühlen sollte.

„Was machen wir hier?“, fragte ich ihn mit zittriger Stimme. Als ich merkte, wie schwach ich klang, biss ich mir auf die Lippen. Ich war kein kleines Mädchen mehr. Zwar hatte ich keinen mentalen Beweis oder eine Erinnerung, die es bestätigen konnte, aber physisch fühlte ich mich keineswegs wie ein Kind. Außerdem hatte ich doch mein Spiegelbild gesehen.

„Keine Sorge, Ihnen wird nichts geschehen.“ Dr. Adalph wollte gerade an die Tür klopfen, da drehte er sich noch einmal zu mir um. „Es werden auch ein paar Lieutenants da sein, also erschrecken Sie sich nicht. Sie werden Ihnen nichts tun. Das verspreche ich.“

Bevor ich protestieren konnte, klopfte er und öffnete Tür.

Die Türschnalle machte einen Klicks, dann wurde der Raum dahinter sichtbar. Er war kleiner, als ich erwartet hatte. Kleiner als das Krankenzimmer und noch spärlicher eingerichtet. Es gab einen weißen Bürotisch mit Sessel, ein Bücherregal und noch andere Stühle, die vor dem Tisch standen.

Doch das alles war unbedeutend, als ich den Mann erblickte, der hinter dem Bürotisch saß. Er trug ein schwarzes Sakko mit weißem Hemd darunter, das locker in seine dunkle Jeans eingestrickt war. Seine Haare waren sehr kurz geschnitten und hatten eine dunkelblonde Farbe. Seine Augenbrauen waren hoch und seine Lippen voll, was ihn allgemein zu einem gut aussehenden Mann machte. Ich schätzte ihn auf 35.

Neben ihm standen zwei Männer, die auf jeden Fall jünger waren als der Mann im Sakko. Sie konnten nicht älter als 20 sein. Im Gegensatz zum älteren Mann trugen sie kein Sakko, sondern eine dunkelgrüne Uniform. Dunkel erinnerte ich mich an dieses Gewand und an ihre Gesichter und Bilder blitzten durch meinen Kopf. Diese Männer hatten mich im Badezimmer überfallen und mir eine Spritze in den Nacken gerammt!

Obwohl Dr. Adalph mich vorgewarnt hatte, konnte ich mich nicht zurückhalten.

Entsetzt schnappte ich nach Luft und schwankte ein paar Schritte zurück. Ich prallte gegen Dr. Adalphs Brust und spürte, wie sich seine Hand beruhigend auf meine Schulter legte. Mein Puls schnellte in die Höhe und ich sah mich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Innerhalb von einer Millisekunde, bevor ich überhaupt realisierte, was ich überhaupt tat, änderte sich mein Gemütszustand von ängstlich zu wütend und meine Hand schnellte nach vorne. Meine Faust sagte Hallo zum Kiefer des blauäugigen Mannes – der, der mir die Spritze verabreicht hatte –, sodass sein Kopf zur Seite flog.

Beißender Schmerz raste durch meine Fingerknöchel, während er leise fluchend seine blutige Lippe betastete. Ich unterdrückte ein Grinsen. „Das war für die Spritze, Arschloch.“

Zu meiner Überraschung lachte der zweite Mann hinter ihm.

„Noch einmal würde ich das an deiner Stelle nicht tun, Mädchen.“ Ich blickte zu dem Mann im Sakko, der mich mit einem überlegenen Lächeln musterte. „ Danke, Adalph, du kannst jetzt gehen.“

Noch einmal drückte Dr. Adalph meine Schulter, dann verließ er den Raum und ließ mich mit diesen verrückten Menschen alleine zurück. Mit Menschen, die ich vermutlich gerade sehr verärgerte hatte. Scheiße. Ich verfluchte Dr. Adalph innerlich dafür.

„Mein Name ist Dux Pierce, ich bin der Leiter des St. Edwards Instituts“, sagte der Mann und hielt mir seine Hand hin. Zögernd ging ich einen Schritt auf ihn zu und ergriff sie vorsichtig. Er schüttelte kräftig meine Hand und lächelte, doch das Lächeln erreichte seine Augen nicht. „Das hier sind mein erster und zweiter Lieutenant, Adam und Joseph. Kümmere dich nicht um sie und setz dich, Mädchen.“ Es klang nicht wie eine Bitte, sondern vielmehr wie ein Befehl. Er nickte zu den weißen Stühlen, ohne mich aus den Augen zu lassen. Ich kam mir vor wie ein Reh, das seinem Jäger gegenüber stand.

Ich schluckte und tat langsam, wie mir geheißen.

„Wie heißt du?“, fragte Mr. Pierce plötzlich.

Ich blinzelte ihn an und versuchte, die Leere aus meinem Gehirn zu vertreiben. Doch ich konnte diese Frage nicht beantworten. „Ähm … ich – ich weiß nicht.“ Verdammt, hör auf so armselig zu stottern!

Mr. Pierce nickte. „Was weißt du über deine Familie?“

Ich unterdrückte ein Schluchzen und versuchte gar nicht erst, in meinem Kopf nach einer Antwort zu suchen. Ich würde doch sowieso keine finden. Die Zähne zusammenbeißend, versuchte ich, dasselbe Mädchen zu sein, das dem blauäugigen Lieutenant vorhin einen Seitenhieb verpasst hatte. „Nichts“, sagte ich, meine Stimme immer noch nicht unter Kontrolle.

„Weißt du, warum du hier bist?“

Ich wollte mit meinen Armen meinen Oberkörper umschlingen, allerdings wusste ich, wie das aussehen würde. Als wäre ich ein kleines, verängstigtes Kind. Ich meine, ich hatte Angst vor ihnen, aber das mussten sie ja nicht wissen. Die Tränen, die sich langsam in meinen Augen sammelten, verfluchte ich und schluckte sie hinunter, bevor sie jemand sehen konnte. Als Antwort schüttelte ich den Kopf.

„Es tut mir leid, aber ich muss dir diese Fragen stellen.“ Mr. Pierce‘ Stimme klang auf einmal sanft. Überrascht sah ich ihn an und erwartete Kälte in seinen Augen zu sehen, stattdessen fand ich Trauer. Oder war es Mitleid?

„Hast du irgendeine Ahnung über deine Vergangenheit? Wo du gewohnt hast, was deine Hobbys waren?“ Auch diesmal antwortete ich ohne viel zu überlegen mit einem Kopfschütteln, wobei meine Lippen fest zusammengepresst waren.

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie der zweite Lieutenant, Joseph, die Augen über meine Schwäche rollte. Ich war kurz davor aufzuspringen und ihn dorthin zu treten, wo er seine Männlichkeit hernahm. Mit der Schuhspitze direkt in seine Kronjuwelen. Dieses Arschloch.

Durch die Wut verblasste die Angst ein wenig und ich konnte die Tränen hinunterschlucken.

„Sehr gut.“ Wie bitte? Was war daran denn bitte sehr gut? „Dann liegen meine Ärzte richtig in der Annahme, dass du unter einer schweren Amnesie leidest. Wie schon befürchtet, erinnerst du dich an nichts von all dem, was geschehen ist, bevor du hier im Krankentrakt aufgewacht bist, stimmt’s?“ Er wartete mein bestätigendes Nicken ab, bevor er weitersprach. „Wir selbst sind derzeit weder in der Lage, dir über deine Vergangenheit Informationen zu geben noch halten wir es für eine gute Idee.“ Hä? Sie hielten es nicht für eine gute Idee? Hieß das, sie wussten doch etwas über meine Vergangenheit? Über meine Familie? Doch gerade als ich den Mund zum Protest öffnete, starrte mir Mr. Pierce warnend in die Augen und sein angespannter Körper ließ keine Wiederrede zu. Doch mein Inneres brüllte so laut herum, dass sich mein Mund von alleine öffnete.

„Das können Sie nicht machen.“ Ich stand auf. „Mein Kopf platzt vor Leere. Verstehen Sie das? Ich muss wissen, was hier los ist!“

„Mr. Pierce?“, fragte Lieutenant Adam, seine blauen Augen ausdruckslos auf seinen Boss gerichtet. Dieser saß ruhig in seinem Rollsessel, blickt mich abwartend an. „Mädchen“, er hob eine Hand. „wie bereits gesagt: Ich kann dich verstehen. Und das ist der einzige Grund, warum ich dich so mit mir reden lasse.“

Zorn wallte in mir auf. Ich schnaubte. „Sie verstehen mich? Und deshalb verheimlichen Sie mir meinen Namen? Deshalb – “

„Genug.“

Ach ja? Also meiner Meinung nach war es noch nicht genug. Meiner Meinung nach hatte dieser arrogante Sack namens Mr. Pierce vor mir einen Stock im Arsch, der dort noch ein Weilchen bleiben konnte. Ich machte einen Schritt nach vorne.

Ein Schatten huschte zwischen mir und dem Boss. Ein breiter, muskulöser Schatten. „Es reicht“, warnte Lieutenant Adam. Er umfasste meinen Oberarm mit einem krampfhaften Griff.

„Eine Sache noch.“

Bei Mr. Pierce’ Stimme hob sich Adams Augenbraue und er drehte sich um.

Sein Boss sprach weiter: „Eine Sache kann ich dir versichern: Du wirst noch länger hier im Institut bleiben müssen. Das liegt einerseits natürlich an der Amnesie, andererseits haben die Ärzte etwas über dich herausgefunden. Es gibt also doch eine Sache, die ich dir über deine Vergangenheit erzählen kann.“

Mit einem Mal wurde mein Inneres still und alle Fragen lösten sich in Luft auf. Die Wut war vergessen.

„Du hast eine seltene Krankheit, die erst wenige Male vorgekommen ist. Ähnlich wie bei Krebs bildet dein Körper zu viele Zellen, die eigentlich gar nicht benötigt werden. Aber anders als bei dieser Krankheit, wird dadurch kein Geschwulst, also kein Tumor, erzeugt. Diese neuen Zellen verändern sich, während sie gebildet werden. Sie verteilen sich in deinem Körper und … nun ja, unsere Neurogenetiker arbeiten noch daran, herauszufinden, was dann passiert. Zwei Sachen sind aber auf jeden Fall klar. Erstens, die Zellen verbreiten in dir eine unnatürliche Kälte, weshalb man Leute wie dich auch als Kaltblütler bezeichnet. Zweitens, diese seltene Krankheit ist unheilbar.“

2. Kapitel

Mir lief ein Schauer über Rücken, als ich tief in die blassblauen Augen von Mr. Pierce starrte. Sollte das in Scherz sein? Wollte er mich verarschen?

Weder seine Miene noch seine Haltung wiesen darauf hin, dass er scherzte. Er sah mich ernst an, und ich wusste, er meinte das vollkommen ernst.

Ich schluckte. Ich war unheilbar krank.

Ich war unheilbar krank!

Dieser Gedanke wirbelte durch meinen Kopf, aber ich konnte ihn nicht verstehen.

„Hä?“, flüsterte ich, mehr an mich selbst gerichtet. Was sollte das heißen, ich war unheilbar krank? Würde ich sterben? Wie viel Zeit hatte ich noch?

Ich erschrak, als Mr. Pierce seinen Sessel mit einem lauten Geräusch zurückschob und aufstand. Er räusperte sich und drehte sich zu seinen Lieutenants um. „Das war genug für heute, bringt sie auf ihr Zimmer.“

Ich fühlte mich taub, trotzdem sprang ich auf. „Nein! Warten Sie. Was heißt das?“ Mr. Pierce ignorierte mich und nickte den beiden Männer zu und schritt erhobenen Hauptes auf die Tür zu, ohne mich noch einmal zu beachten.

„Das können Sie nicht machen.“

Ich wurde ignoriert.

„Sie können nicht sagen, ich sei unheilbar krank und dann gar nichts mehr sagen!“, schrie ich ihm hinterher. Ich wollte ihm nachrennen und schütteln bis die Antworten nur so aus seinem Mund herausprasselten, denn ich war mich sicher, er wusste mehr über mich als er zugeben wollte. Doch dazu kam es nicht. Ich spürte, wie zwei Hände meine Oberarme packten und mich zurückhielten. Ich musste meinen Kopf nicht zur Seite drehen, um zu wissen, dass es sich dabei um Joseph und Adam handelte, die jeweils mit einer Hand meinen Arm festhielten. Ich versuchte mich zu wehren und wand mich, ohne Erfolg. Ihr Griff war hart wie Stahl. Schließlich stieß ich einen Schrei der Frustration aus und sackte in mich zusammen.

„Mr. Pierce!“ Mein Gesicht musste mittlerweile so rot wie eine Tomate sein. Ich konnte noch so sehr an meinen Armen zerren, weder Adam noch Joseph würden mich los lassen. Und Mr. Pierce würde mir so oder so keine Antwort mehr geben. Deshalb presste ich meine Kiefer aufeinander und unterdrückte den Drang, diesem arroganten Mistsack a la Mr. Pierce einige andere Dinge hinterher-zuschreien, für die man mich hier in diesem gruseligen Institut wahrscheinlich noch in einen Kerker geworfen hätte.

„Bist du jetzt fertig?“ Sichtlich genervt, fuhr sich Adam durch seine kurzen Haare.

Joseph griff sich ans Kinn: „Vielleicht funktioniert ihr Gehirn einfach nicht mehr richtig. Keine Erinnerungen, keine sozialen Bindungen mehr – Schreien ist eine der primitivsten Ureigen-schaften der Menschheit, und vielleicht ist das ja der Gru– “

Ich schnappte nach Luft. Als mich eine Welle der Wut durchflutete unterbrach ich ihn fauchend: „Versuch du doch mal, an einem fremden Ort ohne Erinnerungen aufzuwachen und von unbekannten Männer mit Waffen und einer Riesenspritze attackiert zu werden, ohne auszurasten!“

Joseph und Adam schauten mich an, als wäre ich ein Alien.

„Versuch du doch mal, nicht wie ein Irrer herumzuschreien, wenn dir jemand sagt, du wärst unheilbar krank!“ Ich pustete mir die Haare aus dem Gesicht und schob noch ein gemurmeltes „Arschloch“ hinterher.

Zu meiner Verwunderung fing der blonde Lieutenant an zu lachen. „Die Kleine gefällt mir.“

„Das war eine rein hypothetische Annahme, Zwerg. Und du bist nicht die erste, die dieses kleine Wörtchen zu mir gesagt hat.“, meinte Joseph, wobei er versuchte, genervt dreinzublicken. Allerdings sah ich, wie sich seine Mundwinkel wenige Millimeter hoben, als er ein Schmunzeln nicht verstecken konnte. Also belustigte ich die beiden arroganten Lieutenants nun. Sie lachten mich ernsthaft aus. Ich schloss meine Hände zu Fausten, doch bevor ich irgendetwas – höchstwahrscheinlich etwas Dummes – tun konnte, schüttelte Joseph seinen Kopf und sagte: „Bringen wir sie auf ihr Zimmer. Ich habe schon seit einer halben Stunde Feierabend und …“ Seine Augen richteten sich auf seine Armbanduhr. „Seit einer Viertelstunde wartet Alice auf mich.“ Joseph seufzte theatralisch. „Hoffentlich wartet sie immer noch.“

„Alice?“, fragte Adam, während mich die beiden Lieutenants einen langen Korridor entlang führten. Wir kamen an unzähligen Türen vorbei und stiegen dann in einen Lift. „Ich dachte, ihr Name wäre Natalie.“

Joseph schnaubte. Er drückte einen Knopf und der Aufzug setzte sich in Bewegung. „Das mit Natalie ist schon seit zwei Wochen aus. Alice ist … wie soll ich sagen?“

„Attraktiver?“ Adam grinste. Ich blickte auf eine Reihe weißer, perfekter Zähne.

„Das auch. Eigentlich meinte ich reifer.“ Er zuckte die Schultern und klopfte seinem Freund auf dem Rücken. „Ich habe wenigstens ein Liebesleben, im Gegensatz zu dir.“

Adam lachte und sein Grinsen wurde breiter. „Das denkst du also von mir?“

„Wann hattest du das letzte Mal Kontakt mit dem anderen Geschlecht?“, fragte Joseph. Oh Gott. Bei seiner Wortwahl verdrehte ich die Augen.

„Ein Gentleman genießt und schweigt“, kam die geschnaubte Antwort zurück. Ich verdrehte meine Augen ein weiteres Mal und beschloss, dieser unsinnigen Konversation nicht länger zu folgen. Die beiden Jungs redeten noch weiter, doch ich blendete ihre Stimmen aus. Mir schwirrte der Kopf, obwohl nur ein einziger Gedanke immer wieder und wieder hinter meiner Stirn zu hören war.

Ich war krank.

Unheilbar krank.

Den Rest des Weges war ich still in meiner Gedankenwelt versunken, zu schockiert um etwas zu sagen oder aufzupassen, wo wir gerade hingingen.

Als die Tränen kamen, presste ich die Augen zusammen und ließ mich von den Lieutenants führen. Ich vertraute ihnen nicht, war mir aber ziemlich sicher, dass sie mich nicht gegen eine Wand würden laufen lassen. Es war schwer, die Tränen zurückhalten.

Keine Erinnerungen, keine sozialen Bindungen mehr – Schreien ist eine der primitivsten Ureigenschaften der Menschheit. Die Worte des Lieutenants echoten in meinen Kopf. Irgendwie stimmte es ja auch. Ich konnte mich an nichts erinnern, ich hatte keine Familie, ich war allein. Ich war auf meine primitivsten Eigenschaften beschränkt.

Ich biss mir auf die Lippe, so fest es ging, und versuchte mich mit diesem Schmerz abzulenken.

Und, oh Wunder, es funktionierte. Ich schmeckte den metallischen Geschmack des Bluts in meinem Mund, gerade als wir vor einer grauen Tür zum Stehen kamen.

Keine Sekunde später befand ich mich in einem kleinen Raum, in dem alles einheitlich grau gefärbt war. Ich drehte mich um und sah, wie die Tür vor meiner Nase krachend ins Schloss fiel.

Ich unterdrückte ein ersticktes Schluchzen. Meine Fäuste hämmerten gegen die dicke Metalltür. „Adam? Was ist das hier? Warum sperrt ihr mich hier ein?“

Ich wartete auf eine Antwort, aber es kam keine. Ich hörte nicht, wie sich ihre Schritte entfernten, aber ihr Lachen schallte durch den Gang bis in das Zimmer, in dem ich mich befand.

Mein Zimmer.

Ich drehte mich wieder um, ribbelte mit den Händen über die Gänsehaut, die sich auf meinen Oberarmen gebildet hatte. Ein Bett stand in einer Ecke, ein kleiner Nachttisch daneben. Das war’s. Kein Fenster, kein Kasten, kein gar nichts. Ein dezentes Licht erhellte den Raum, aber ich hatte keine Ahnung, woher dieses Licht kam.

Jetzt konnte und wollte ich nichts mehr dagegen tun. Die Tränen kamen und flossen über meine Wangen. Schluchzend schlang ich die Arme um meinen Oberkörper und ließ mich an der Wand entlang zu Boden gleiten. Wie in einem dieser dramatischen Schnulzenfilme, aber das war mir im Moment egal.

Mein ganzer Körper zitterte und meine Zähne schlugen aufeinander, während ich dort wie ein Baby eingerollt am Boden lag. Es dauerte nicht lange und ich schlief, trotz der eisigen Kälte und des Schmerzes in meiner Brust, ein. Die Gedanken, die in meinen Kopf herumschwirrten, Josephs Stimme, dich mich als primitiv und allein bezeichnete, und das kalte Pochen in meiner Brust, versuchte ich zu ignorieren.

Zipp – zapp – zipp – zapp – zipp – zapp …

Ich hörte ein Geräusch, als wäre ein Wasserhahn undicht und einzelne Wassertropfen würden aus der Öffnung tropfen. Meine Augen waren aufgerissen und trotzdem sah ich nichts als Dunkelheit.

Ich stand auf einer Brücke, mitten in der Nacht. Ich beugte mich nach vorne und sah hinunter in die schwarze Leere. Ich konnte nicht erkennen, was sich darunter befand. Verwirrt drehte ich mich um, und bereute es sofort.

Ein gellender Schrei entglitt meinen Lippen und ich stolperte zurück.

Vor mir war ein Gesicht aufgetaucht, das Gesicht eines kleinen Jungen. Ich kannte diesen Jungen … Aber woher?

Da erinnerte ich mich, und der Schock, der meine Brust gefangen gehalten hatte, löste sich auf. Es war derselbe Junge, den ich schon während meines Komas gesehen hatte. Er sah mich mit seinen großen Glupschaugen erwartungsvoll an. Kurz huschte ein Lächeln über sein Gesicht, dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck und er blickte mich traurig an. Tränen schimmerten in seinen Augen.

Wie auch beim letzten Mal, als ich ihn in der Dunkelheit gesehen hatte, machte ich einen Schritt auf ihn zu, wollte ihn trösten. Doch ich kam ihm nicht näher. Mit gerunzelter Stirn fing ich an zu laufen, aber egal wie sehr ich es versuchte, egal wie schnell ich rannte, der Junge blieb stets zu weit entfernt, als dass ich ihn hätte berühren können. Trotzdem schien er sich selbst nicht einmal einen Millimeter zu bewegen.

In meiner Brust entwickelte sich ein komisches, unwohles Gefühl. Ich musste zu ihm, ich musste ihn in die Arme nehmen. Dieser unerklärliche Drang wuchs ins Unermessliche und bald schon hatte ich das Gefühl zu platzen.

Doch ich kam ihm nicht näher.

Ein verzweifelter Schrei entglitt mir, während ich immer weiter rannte.

Ich hätte schwören können, dass ich einen dumpfen Schmerz in meinen Beinmuskel spürte, als ich versuchte, noch schneller zu rennen.

„Wach auf“, flüsterte er plötzlich, ohne den Mund zu bewegen. Ich erstarrte, blieb ruckartig stehen. Mein Atem ging in schnellen Zügen, Schweiß tropfte von meiner Stirn.

„Wach auf, wach auf, wach auf…“

~

Ich wachte auf.

Das Herz klopfte mir bis zum Hals, als ich mich kerzengerade aufsetzte. Wo zur Hölle war ich?

Mein Blick wanderte in dem dunklen, unbeleuchteten Raum umher, bis ich verstand. Ich war im Institut, in der Zelle – ähm Zimmer –, in die mich die Lieutenants Adam und Joseph gebracht hatten. Ich war hier wegen dieser weltweit unbekannten, seltenen Krankheit.

Mit einem Schlag traf es mich.

Ich war unheilbar krank. Ich hatte eine schwere Amnesie. Ich hatte keine Ahnung, wer meine Familie war, oder ob ich überhaupt eine Familie hatte. Ich wusste nicht einmal, wer ich war.

Und wieso zum Teufel war ich in einem Institut und nicht in einem normalen Krankenhaus mit normalen Ärzten?

Wie eine Verrückte dachte ich immer und immer wieder dieselben Gedanken, so als könnte ich sie nicht richtig verstehen. Seit Stunden schwirrten diese Fragen in meinem Kopf herum, seit dem Moment als Mr. Pierce mich über den Grund meines Aufenthalts im Institut aufgeklärt hatte, konnte ich einfach an nichts anderes mehr denken.

Unwillkürlich schluchzte ich auf. Ich war kurz davor zu weinen. Wütend über mich selbst und meine Schwäche, biss ich die Zähne zusammen und schluckte die Tränen hinunter. Meine Lippe pochte und ich spürte, wie sie erneut aufplatzte und zu bluten anfing. Das Blut ignorierend, stand ich mit schmerzenden Glieder auf. Ich hatte ja auch unbedingt auf dem Boden schlafen müssen, ich Genie.

Seufzend strich ich mir über die Haare und …

… zuckte zusammen als auf einmal das Licht über mir anging. Die Helligkeit ließ mich erneut blinzeln. Nachdem ich mich ein paar Mal im Kreis gedreht hatte und die Wände des Zimmers nach einem Lichtschalter abgesuchte hatte, gab ich auf. Es gab hier keine Möglichkeit, das Licht händisch ein- oder auszuschalten. Also musste es sich hier um einen Sensor handeln, der das Licht regelte.

Ich setzte mich aufs Bett und atmete tief durch. Mit starren Augen blickte ich auf meine Hände, während ich nachdachte. Mir kamen die schrecklichsten Gedanken und Vorstellung in den Sinn. Ich könnte eine gemeingefährliche Verbrecherin, ich könnte eine Mörderin sein. Genauso gut könnte ich eine Balletttänzerin sein, oder aber ein Freak mit psychischer Störung. Mein Atem beschleunigte sich.

Mindestens eine Stunde lang saß ich dort auf dem Bett, zuerst im Schneidersitz, dann lag ich auf dem Rücken und starrte die Decke an. Irgendwann befand ich mich in Bauchlage, mein schräg gelegter Kopf musste mittlerweile schon rauschen. Minutenlang versuchte ich, die doofe Mauer in meinem Hirn zu umgehen. Ich stellte mir Leute vor und versuchte eine Verbindung zu ihnen herzustellen. Es funktionierte einfach nicht. Ich versuchte mir eine Schule vorzustellen, einen Vater, eine Mutter – aber mein Gehirn wollte und wollte nicht mitmachen. Was eigentlich gar nicht so überraschend war, immerhin hatte ich ja eine Amnesie.

Frustriert blies ich die Luft aus.

Also wirklich, ich war in einem Institut mit Ärzten und Lieutenants und einem gruseligen Chef namens Mr. Pierce, und jeder von ihnen wusste, wer ich war und was ich hier zu suchen hatte, aber jeder einzelne verschwieg mir die Wahrheit? Warum taten sie das? Warum sagte mir keiner, was los war?

Mein Herz zog sich zusammen.

Weil sie fremde Leute waren. Ich kannte sie nicht. Sie konnten mir erzählen, was sie wollten und ich hatte keine Ahnung, was davon die Wahrheit war oder nicht. Ich hielt den Atem an. Verdammt, ich saß wirklich tief in der Scheiße.

Mein Blick wanderte zur Tür und ich fragte mich, ob ich mich wohl hier rausschleichen könnte. Innerlich verspürte ich den Drang, hier so schnell wie möglich rauszukommen. Sowohl aus dem kleinen Zimmer als auch aus diesem St. Edwards Institut. Irgendetwas konnte hier nicht stimmen. Es erschien alles so unwirklich, so falsch.

Da ich mich allerdings in einem überaus modernen Gebäude befand, musste es offensichtlicher Weise auch genug Sicherheitsmaßnahmen geben, um einen Insassen wie mich vom Fliehen abzuhalten.

Moment. Ich war keine gefangene Insassin, ich war eine kranke Patientin. Oder etwa nicht? Vielleicht bildete ich mir das alles nur ein, vielleicht bildete ich mir nur ein, dass ich misstrauisch sein sollte. Ja, so musste es sein. Vielleicht war Paranoia ja eine Nebenwirkung der Amnesie? Immerhin gab es keinen Grund, Mr. Pierce oder Adam nicht zu trauen, warum also sollte ich so misstrauisch sein?

Paranoia hin oder her, das schlechte Gefühl in meiner Magengrube genauso wie die Enge des Raumes erschienen mich zu erdrücken. Ich musste hier raus.

Langsam huschte ich zur Tür und griff nach dem Türknopf. Hoffnungsvoll drehte ich ihn und lehnte mich gegen die Tür, um sie zu öffnen.

Tja, Pech gehabt.

Die Tür war verschlossen. Noch einmal drückte ich dagegen und lehnte mein gesamtes Körpergewicht gegen die Metalltür. Ich zog an dem Knauf und drehte ihn in beide Richtungen, aber es half nichts. Frustriert trat ich mit dem Fuß gegen die Tür, was auch nichts brachte, außer dass ich jetzt einen pochenden großen Zeh hatte. Die graue Metalltür blieb zu.

Oder auch nicht.

Mit einem metallischen Knirschen sprang sie aus dem Schloss.

Überrascht hüpfte ich zurück. Ein Lächeln legte sich über mein Gesicht. Ich konnte es nicht fassen. Ich hatte es tatsächlich geschafft! Die Tür war offen!

„Guten Morgen“, erklang eine Stimme, die mir vertraut vorkam.

Eine Welle sofortiger, beißender Enttäuschung durchflutete mich. Ich stolperte ein paar Schritte zurück und musterte Lieutenant Joseph, der sich in der Türschwelle gähnend streckte. „Viel zu früh zum Arbeiten, aber Zeit für dich zu duschen.“ Damit griff Joseph nach meinen Arm und wollte mich aus dem Zimmer führen.

Es war der ein wenig zu feste Druck seiner Finger an meinem Oberarm, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die angsteinflößenden Gedanken, die noch immer in meinem Gehirn herumspukten; die Furcht, die mir tief in den Glieder lag und vor allem das große Unwissen, das mir ins Gesicht geschrieben stand – das alles war einfach zu viel.

Du könntest eine Mörderin sein.

Mein Herz setzte einen Schlag aus.

Diese Leute hier könnten dich gefangen halten.

Ich schluckte hart.

Deine Familie. Was ist mit deiner Familie?

Paranoia siegte über meinen Verstand.

Ich stieß einen leisen Schrei aus, die Panik in mir wurde immer größer. Ich riss meinen Arm los und drehte mich keuchend um. Joseph sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und seufzte: „Nicht schon wieder.“

Oh doch, schon wieder.

Ich war nicht bereit, mich in dieses Spiel einzulassen, das man mit mir zu spielen versuchte. Ich war nicht bereit, die Marionette von diesem Mr. Pierce zu spielen, der mich hier in diesem Institut gefangen halten wollte und mir etwas von einer komischen, seltenen Krankheit erzählte.

So ein verdammter Blödsinn.

„Leck mich am Arsch“, stieß ich aus zusammengepressten Lippen hervor. Schon schnellte meine Hand vor. Mit der Faust traf ich ihn in der Magengegend, woraufhin er stöhnend einen Schritt zurückging. Da er nicht erwartet hatte, dass ich wirklich zuschlagen würde, hatte ich es geschafft, ihn zu überraschen.

Mehr brauchte ich nicht. Ich drehte mich um und rannte. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich rannte. Aber ich musste hier raus, und zwar schnell.

Ich lief den Gang entlang, kam zu einer Gabelung der Wege und entschied mich hastig, nach links zu laufen. Von dort waren wir gestern doch auch gekommen, oder? Gott, warum musste das Institut auch so ein Labyrinth sein?!

Nach wenigen Meter kam die nächste Gabelung und auf gut Glück rannte ich in irgendeine Richtung weiter. Ich konnte förmlich spüren, wie sich die Muskeln in meinen Waden bei jedem Sprung anspannten. In meiner Brust löste sich ein Knoten, die Anspannung in meinen Schultern lockerte sich und so unpassend es in diesen Moment auch war, ich fühlte mich vollkommen frei. Ich rannte.

„Bleib stehen!“, schrie jemand hinter mir. Joseph.

Ich rannte noch schneller. Ich kam an zwei Männern vorbei, die mich mit großen Augen ansahen, als ich an ihnen vorbei lief. Sie hielten beide einen Kaffeebecher in der Hand und waren zu verdattert, um etwas zu tun.

„Haltet sie auf!“, rief Joseph hinter mir, der sich mittlerweile gefährlich nahe anhörte. „Ihr Idioten!“, brüllte er die Männer an, die – ich vergewisserte mich mit einem hastigen Blick zurück – noch immer seelenruhig und überaus verblüfft an derselben Stelle standen und starrten.

Schon wieder spaltete sich der Weg. Ich bog nach rechts ab und landete in einem Gang, der genauso aussah, wie der zuvor. Der einzige Unterschied war das Licht, das durch einen Wackelkontakt ständig flackerte und kurzzeitig sogar mehrere Sekunden völlig aus blieb. Das Herz schlug mir bis zur Brust.

Mir war noch immer kalt, aber nicht mehr so stechend und beißend wie zuvor. Es tat so verdammt gut, zu laufen und meine Muskeln zu spüren und das winzige Gefühl einer – nicht wirklich vorhandenen – Freiheit zu fühlen.

Allerdings tat es nicht gut zu wissen, dass Joseph mich gleich einholen würde.

Und das würde er, denn er war mir dicht auf den Fersen.

Noch einmal versuchte ich, schneller zu laufen.

Ich bog nach links, als wieder jemand anfing zu schreien. Aber diesmal war es nicht Joseph, mit seiner kratzbürstigen, tiefen Stimme. Eine andere, kreischende Stimme übertonte seine Morddrohungen und sein Geschimpfe, von wegen ich liefe wie eine Ente, und er wäre der Fuchs, der mich jeden Moment von hinten fassen würde.

Okay gut, diese Drohung machte mir in der Tat ein wenig Angst. Auch wenn es eine Unverschämtheit war von ihm zu behaupten, ich liefe wie eine Ente.

Nein, es war eine Frauenstimme, eine hohe, gellende Stimme. Der Schrei hallte in meinen Ohren und ich blieb ruckartig stehen. Mein Blick flog umher, während ich nach der Ursache des Geschreis suchte, das noch immer anhielt. Es hörte sich an, als würde jemand diese Frau foltern. Sie musste unglaubliche Schmerzen haben.

„Wo bist du, Zwerg?“, unterbrach Josephs Stimme den Schrei. Ich konnte ihn nicht sehen, aber er klang so nahe. Unwillkürlich fing ich wieder an zu laufen, ignorierte Joseph und die schreiende Frau, auch wenn mir ihre gequälten Schreie ein Messer ins Herz rammten.

Der Gang schien kein Ende nehmen zu wollen. Überall waren Türen, doch entweder waren sie abgeschlossen, oder Leute befanden sich hinter ihnen, wie ich durch die leicht verschwommenen Türgläser sehen konnte. Das Pochen meines Herzens war nun so laut, dass es jeder auf einer Entfernung von mehreren Metern hören musste.

Scheiße. Scheiße. Scheiße.

„Bleib stehen, Mädchen!“

Kurz blickte ich mich um und bemerkte, dass er mir nun wirklich schon sehr nahe war.

Scheiße. Scheiße. Scheiße.

Plötzlich endete der Gang, ohne Gabelung der Wege. Stattdessen befand sich die Tür eines Aufzugs vor mir. Hastig drückte ich den Knopf, immer wieder und wieder. Schritte hallten hinter mir, denn Joseph näherte sich mit jeder Sekunde, in der ich hier dumm rum stand.

„Scheiße“, flüsterte ich. „Geh auf. Jetzt geh schon auf!“ Wieder drehte ich mich nach Joseph um, der gerade hinter mir zum Stehen kam. Er grinste mich an.

„So, und was hat dir das jetzt gebracht?“, fragte er, so als würde er mit einem Kleinkind reden.

Die Aufzugstür sprang auf, ich spuckte Joseph ins Gesicht und hüpfte in den Aufzugsschacht. Blitzschnell griff ich nach dem Schließen-Knopf und drückte darauf, doch Joseph war schneller. Er befand sich in der Schwelle, als sich die beiden Türen zu schließen begannen und sich gegen seine Schultern drückten. Ein animalisches Knurren ausstoßend, quetschte er sich durch. Hinter ihm schlossen sich die Türen endgültig.

Griesgrämig sah er mich an, die Spucke noch immer im Gesicht.

Unwillkürlich wich ich zurück, und prallte gegen etwas Hartes. Es war nicht die Wand des Aufzugs, denn dieses Etwas war warm, und es atmete.

„Was zum Teufel ist hier los?“, fragte eine männliche Stimme hinter mir.

Ruckartig schwang ich herum und blickte in die strahlend blauen Augen von Lieutenant Adam.

Scheiße. Fette, dampfende Scheiße.

Ausatmend, ließ ich mich gegen die Wand fallen und vergrub mein Gesicht in meinen schwitzenden Händen. Zum gefühlten ersten Mal seit einer Ewigkeit atmete ich wieder ein, während meine Lungen aufgrund des Sauerstoffmangels stechend schmerzten.

„Die Kleine hat versucht, abzuhauen.“ Endlich wischte sich Joseph die Spucke aus dem Gesicht und wandte sich dann mir zu. „Spuck mich noch einmal an, und ich schwöre dir, ich bringe dich – “

„Joseph“, unterbrach ihn Adam und drückte auf den Knopf, dessen Aufschrift mir durch seinen breiten Rücken versperrt wurde. Nur einen kurzen Moment später, fing der Aufzugsschacht an, sich zu bewegen. „Sie hat Angst, es ist klar, dass sie durchdreht.“

Am liebsten hätte ich jetzt beiden noch einmal ins Gesicht gespuckt. Gott sei Dank, ich konnte mich zurückhalten. So sah ich sie lediglich aus wütenden, verengten Augen an und überlegte fieberhaft, wie ich aus diesem Schlamassel jetzt rauskommen sollte.

Ich könnte versuchen, kräftig in ihre Kronjuwelen zu treten und dann nichts wie raus aus diesem Institut. Aber ich hatte doch keine Ahnung, welchen Weg ich nehmen musste. Einfach nur panisch laufen und rennen würde mich zwar weg von diesen beiden Idioten bringen, aber wirklich helfen würde es mir nicht. Immerhin hatte es gerade eben auch nicht geklappt. Ich brauchte einen Plan. Und zwar sofort. Vielleicht könnte ich ja –

„Hör schon auf“, befahl Joseph.

Erst nach ein paar Sekunden verstand ich, dass er mit mir sprach. „Was?“

„Hör auf darüber nachzudenken, wie du am besten hier rauskommst. Das klappt sowieso nicht.“ Er schüttelte den Kopf.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sagte kein weiteres Wort.

„Er hat Recht.“ Adams stahlblaue Augen lagen auf mir. „Du kommst hier nicht raus. Aber, verdammt noch mal, warum willst du überhaupt so dringend weg von hier? Wir haben dir nichts getan. Wenn überhaupt, haben wir dir das Leben gerettet.“

Meine Kinnlade klappte herunter. „Das Leben gerettet?“

Adam antwortete nicht. Joseph blies die Luft aus und schüttelte den Kopf. Was sollte das jetzt schon wieder bedeuten? Was war so schwierig daran, wie ein normaler Mensch mit Ja oder Nein zu antworten?

„Aber …“

„Ich kann dir nicht mehr sagen, noch nicht“, fing Adam wieder an. „Aber du musst verstehen, dass wir dir hier nichts Böses wollen. Du bist zu deinem eigenen Schutz hier, sonst frisst dich deine Krankheit irgendwann noch auf.“

Und dann was?

Mir lag die Frage auf der Zunge, aber ich schluckte sie herunter. Die Antwort war offensichtlich. Und dann würde ich sterben. Ich wäre tot, nicht mehr anwesend, einfach weg.

Ich würde nicht mehr existieren.

Sofort schob sich ein anderer Gedanke in meinen Kopf. Würde mich jemand vermissen?

Kaum merklich schüttelte ich den Kopf. Es brachte doch nichts, über so etwas nachzudenken. „Ihr behauptet also, dass dieses Institut bloß versucht, Leuten wie mir zu helfen?“

„Ja“, antworteten sie unisono.

Adam und Joseph sahen sich an, der eine schüttelte den Kopf, der andere murmelte: „Wir sind ja schon fast wie Zwillinge. Dieselben Gedanken, dieselben Worten.“

Ich ignorierte diesen Einwurf. „Warum hat dann gerade eben eine Frau so laut und verzweifelt geschrien, als ob man sie vergewaltigen würde? Das nennt ihr „Leuten helfen“?“

Die Lieutenants tauschten einen Blick aus. Anschließend sahen sie mich an, Joseph mit einem Blick, der ganz klar sagte, dass er mich für verrückt hielt, und Adams Blick war … nun ja, gelangweilt.

„Es hat niemand geschrien.“ Joseph zog die Augenbrauen zusammen. „Das hast du dir nur eingebildet.“

Adam sagte nichts.

Die nächsten paar Minuten schwiegen wir alle. Es war eine unangenehme, gezwungene Stille.

„Ich habe mir das nicht eingebildet“, behauptete ich stur. „Da hat jemand geschrien. Laut und gellend.“

„Das kann nicht sein.“ Josephs Blick wurde nun mitleidig. „Ich arbeite schon etwas länger hier und schreien habe ich noch keinen gehört. Zumindest nicht diese Art von Schreien.“

„Das glaube ich nicht.“ Vielleicht hatte ich eine unheilbare Krankheit, aber gestört war ich nicht.

Und was wenn doch?, flüsterte eine leise Stimme in meinem Kopf.

Meine Augen weiteten sich vor Schock. Nein, ich war nicht verrückt. Ich hörte keine Stimmen, zumindest normalerweise nicht. Ich war ernsthaft davon überzeugt, auf keinen Fall geistig gestört zu sein. Aber dachten nicht die meisten Geistesgestörten so?

Jetzt mischte sich Adam ein. „Und genau das ist das Problem. Ich kann verstehen, dass du Angst hast. Aber du misstraust uns ohne jeden Grund. Du glaubst uns nicht, obwohl wir dir die Wahrheit sagen.“

Ich öffnete den Mund um etwas zu sagen, schloss ihn aber wieder.

Tief in meinem Inneren wusste ich, dass er Recht hatte.

Sollte ich ihnen vertrauen? Nein. Sollte ich ihnen eine Chance geben, mein Vertrauen zu gewinnen? Vielleicht. Sollte ich aufhören, so paranoid zu sein, dass ich mir schon einbildete, Stimmen zu hören? Auf jeden Fall.

Mir wurde klar, was ich nun tun musste. Ich musste Antworten bekommen. Ich musste verstehen, was hier los war und wer ich war. Vielleicht hatte Adam ja Recht, vielleicht hatten sie mir das Leben gerettet. Und wenn dies der Fall wäre, dann musste ich mir ein tiefes Loch schaufeln und mich darin vergraben. Immerhin war ich nun schon zweimal ausgerastet und die Lieutenants hatten allen Grund, mich als Nervensäge und als kleines, unreifes Kind abzustempeln. Röte schoss mir in die Wangen.