0,99 €
Finanzkönige zeichnet mit kühler Präzision die Verflechtung von Börsenspielen, politischen Hinterzimmern und gesellschaftlichen Salons nach. Im Zentrum stehen die taktischen Manöver von Magnaten und Vermittlern, deren Entscheidungen Währungen wanken lassen und Existenzen formen; der Roman entfaltet dabei ein Netz aus Allianzen, Erpressungen und elegant kaschierter Gewalt. Im literarischen Kontext der edwardianischen »clubland«-Tradition verbindet Oppenheim den Finanzthriller mit dem politischen Sittenroman; klare Schnitte, pointierte Dialoge und eine panoramische, bisweilen ironische Erzählhaltung geben den Mechanismen von Gerücht, Presse und Kredit dramatische Gestalt. E. Phillips Oppenheim (1866–1946), einer der produktivsten Architekten des modernen Spannungsromans, schöpfte aus kaufmännischer Berufserfahrung, ausgedehnten Europa-Reisen und genauer Beobachtung der internationalen Hotel- und Diplomatenmilieus. Die Konjunkturen von Vorkriegsangst, Krieg und Zwischenkriegsinstabilität prägten sein Werk; stets interessiert ihn, wie privates Kapital nationale Politik moduliert und wie Cosmopolitismus als Maske und Netzwerk zugleich funktioniert. Finanzkönige verdichtet diese Erfahrung zu einer Studie über Machttechniken in ökonomisierten Öffentlichkeiten. Ich empfehle Finanzkönige allen, die Spannung mit historischer und ökonomischer Tiefenschärfe schätzen: Leserinnen und Leser politischer Romane, Freundinnen analytischer Gesellschaftsbilder sowie Forschenden, die literarische Quellen zur Geschichte des Kapitalismus nutzen. Der Roman unterhält souverän und bietet zugleich begriffliche Anknüpfungspunkte – von Informationsasymmetrien bis zur Performativität des Marktes –, die weit über seine Entstehungszeit hinausweisen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Virginia hatte rührenden Abschied von ihrer Familie genommen und war mit dem großen Autobus von ihrem Heimatdorf zu der Großstadt gefahren. Sie war erst neunzehn Jahre alt, fühlte sich aber als eine wichtige Persönlichkeit. Als sie aber vier Stunden später in New York einem gut gekleideten Diener durch eine lange Reihe von Empfangsräumen folgte, schwand all ihr Stolz dahin, und sie kam sich sehr unbedeutend und klein vor. Der Lärm und das Treiben in der großen Stadt hatten sie betäubt, und sie glaubte noch die vielen Geräusche auf der Straße zu hören. Das vornehme, palastähnliche Gebäude machte großen Eindruck auf sie, denn sie hatte ihr Leben bisher in einem einfachen Farmhaus zugebracht, wo alle Leute arbeiten mußten und man sich keine Dienstboten halten konnte. Und nun befand sie sich plötzlich in der Wohnung eines Multimillionärs, die mit den kostbarsten, alten Möbeln aus Europa eingerichtet war.
Ehrfurchtsvoll, beinahe furchtsam, sah sie sich um, als der große, stattliche Diener sie zu dem Allerheiligsten des großen Mannes führte, auf dessen Einladung hin sie hierhergekommen war. Sie wußte zwar noch nicht viel von Kunst, aber mit Bewunderung betrachtete sie die herrlichen Gemälde an den Wänden, die reicheingelegten Parkettböden, die Bronzen und den einzigartigen Blumenschmuck. Es war eine Offenbarung für sie, daß das gutgeschulte Personal nur leise und bescheiden sprach und sich fast geräuschlos in diesen Räumen bewegte. Sie hatte zwar von all diesen Dingen schon gelesen, vielleicht auch davon geträumt, aber niemals hatte sie es für möglich gehalten, daß sie einmal für sie Wirklichkeit werden könnten.
Bei jedem Schritt, den sie machte, sank ihr Selbstbewußtsein mehr und mehr. Die Kleider, die die beste Schneiderin des Dorfes nach französischen Modeheften angefertigt hatte, erschienen Virginia plötzlich armselig und unpassend für diese prachtvolle Umgebung. Zu Hause galt sie als das schönste Mädchen im Ort und war von vielen jungen Männern verehrt und verwöhnt worden, seitdem sie das Lyzeum verlassen hatte. Infolge ihrer Begabung hatte sie ihre Abschlußprüfung verhältnismäßig früh gemacht, und sie hatte allen Grund gehabt, ein wenig stolz auf sich selbst zu sein. Aber mochte sie auch in Wellham Springs eine Königin sein, im Hause ihres Onkels fühlte sie sich nur als eine unbedeutende, kleine Person, denn er war der Eisenbahnkönig und Finanzmann Phineas Duge.
Als sie schließlich in dem kleinen, vor Fremden ängstlich gehüteten Arbeitszimmer stand, blickten ihre dunklen, großen Augen hilflos und scheu in das Gesicht des Mannes, der sich eben von seinem Stuhl erhoben hatte, um sie zu begrüßen.
»Das ist also meine liebe, kleine Nichte Virginia«, sagte er und streckte ihr freundlich beide Hände entgegen. »Ich freue mich, dich hier zu sehen. Bitte nimm hier Platz. Hast du eine gute Reise hinter dir? Du siehst etwas müde aus, und du fühlst dich natürlich in der Großstadt noch ganz fremd.«
Virginias Angst war plötzlich wieder verschwunden. Sie hatte niemals geglaubt, daß ihr Onkel, vor dem viele Tausende zitterten, ein so liebenswürdiger, schöner, alter Herr sein könnte. Er war schlank und mittelgroß, hatte weiße, ein wenig gelockte Haare und freundliche, graue Augen. Er hatte sympathische Züge und einen besonders feingeschnittenen Mund. Seine Stimme klang angenehm, und er sprach sehr höflich, wenn auch bestimmt.
»Nein, ich bin durchaus nicht müde,« versicherte sie, »nur der Lärm hat mir zugesetzt. Ich war ja noch nie in New York, und ich habe zum erstenmal ein so schönes Haus gesehen. Fast habe ich mich ein wenig gefürchtet.«
Er legte freundlich seine Hand auf die ihre.
»Du wirst dich aber sicher bald an deine neue Umgebung gewöhnen,« meinte er lächelnd, »und wenn es dir hier gefällt, lebst du dich auch bald ein.«
Sie lachte leise.
»Wenn es mir gefällt, sagst du. Es ist hier so schön wie in einem Feenland!«
»Ich fühle mich manchmal hier ein wenig einsam und da dachte ich, meine Schwester könnte vielleicht eins ihrer Kinder missen. Für ihre Freundlichkeit würde ich mich sehr dankbar erweisen. Möchtest du hier bei mir wohnen, Virginia, und die Dame des Hauses sein?«
Sie schrak ein wenig zurück.
»Ich möchte es schon gerne, aber daran darf ich doch gar nicht denken. Ich bin nur an ein einfaches Leben und nicht an diese großen Verhältnisse gewöhnt. Ein Haus wie dieses zu leiten, kann ich mir unmöglich zutrauen.«
Er lächelte sie freundlich an.
»Vielleicht ist das viel einfacher, als du es dir vorstellst. Ich habe hier eine Verwalterin, die sich um alle Kleinigkeiten kümmert. Sie braucht nur jemand, an den sie sich ab und zu wenden kann. Mit den Dienstboten oder mit der Küche hast du nichts zu tun, du hättest nur die gesellschaftlichen Pflichten einer Dame des Hauses zu übernehmen.«
»Ich fürchte, daß ich darin noch weniger Bescheid weiß.«
»Sorge dich nicht darum«, sagte er begütigend. »Ich habe gute Freunde, die dir raten können. Du brauchst dich nur natürlich zu geben, wie du bist. Du mußt die Kunst verstehen, anderen Leuten interessiert zuzuhören und schöne Kleider zu tragen. Dann wirst du sehen, wie leicht es ist, eine gefeierte Dame der Gesellschaft zu werden.«
Virginia sammelte nun allen Mut, um eine bestimmte Frage an ihren Onkel zu stellen, die sie quälte.
»Ich freue mich wirklich, daß ich hier sein darf, und es klingt alles so schön – aber wie ist es denn mit Stella?«
Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und machte ein unwilliges Gesicht, so daß sie fast schon bereute, den Namen seiner Tochter erwähnt zu haben.
»Vielleicht ist es ganz gut, daß du mich gleich fragst«, erwiderte er. »Ich war immer ein nachsichtiger Vater, aber es gibt gewisse Beleidigungen, die ich niemals vergessen und verzeihen kann. Stella hat mich hintergangen. Sie hat eine Mitteilung, und zwar eine vertrauliche Mitteilung, die sie von mir erhielt, mißbraucht und an einen Mann weitergegeben, für den sie sich interessierte. Meine Geschäftsgeheimnisse hat sie dazu benützt, ihn reich zu machen. Ihr Vergehen ist um so schwerer, als ich sie vorher gewarnt habe. Und ich möchte betonen, daß ich eine Warnung nie zweimal ausspreche.«
»Ist sie nicht mehr bei dir?« fragte sie ängstlich.
»Mein Haus ist in Zukunft für sie verschlossen«, entgegnete er ernst. »Dasselbe würde dir auch passieren, wenn du dich wie Stella benehmen solltest. Aber mein liebes Kind«, fügte er freundlich hinzu, »ich glaube nicht, daß du dazu fähig bist. Was ich dir eben sagte, genügt sicher, um dich von dergleichen Dingen abzuhalten. Wenn du erst einige Zeit bei mir gewesen bist und die Stelle meiner Tochter eingenommen hast, wirst du mich nicht hart und undankbar finden. Aber jetzt will ich Mrs. Perrin klingeln, das ist die Haushälterin. Sie soll dir deine Zimmer zeigen. Heute abend speisen wir beide allein und können uns dann noch weiter unterhalten. Wir wollen aber nicht zu Hause essen, sondern in einem berühmten, bekannten Restaurant. Es wird mir ganz gut bekommen, wenn ich heute abend ein oder zwei Stunden ausgehe. In Chicago und Illinois ist eine Panik an der Börse ausgebrochen – aber das verstehst du noch nicht. Sei bitte pünktlich um acht Uhr fertig.«
»Aber Onkel –« begann sie schüchtern.
»Ach so, du hast keine Kleider? Aber ich habe von einer unserer ersten Firmen eine Auswahlsendung kommen lassen. Sicher wirst du etwas darunter finden, was du heute abend tragen kannst. Hier kommt Mrs. Perrin.«
Die Türe hatte sich geöffnet, und eine ältere Dame trat in das Zimmer.
»Mrs. Perrin – meine Nichte. Virginia kommt vom Lande und kennt die Großstadt nicht. Teilen Sie ihr mit, was sie wissen muß, helfen Sie ihr bei ihrer Garderobe und sehen Sie zu, daß sie heute abend so gut wie möglich aussieht. Sie soll um acht bei Sherry mit mir speisen.«
Das Telefon klingelte. Mr. Duge nahm den Hörer auf und verabschiedete Virginia und Mrs. Perrin mit einer Handbewegung. Das junge Mädchen folgte der Haushälterin die Treppe hinauf in das Obergeschoß, und mit jedem Schritt glaubte sie mehr und mehr, in einem Zauberland zu weilen.
»Nun, Virginia, wie gefällt es dir hier?«, sagte Mr. Duge mit liebenswürdigem Lächeln. Sie saßen an einem runden Tisch, dessen Mitte ein geschmackvolles, prächtiges Blumenarrangement einnahm.
Virginia schüttelte den Kopf.
»Ich kann es gar nicht in Worten ausdrücken. Es ist alles so wunderbar schön. Wenn du jemals in unserem Hause in Wellham Springs gewesen wärest, könntest du meine Gefühle besser verstehen.«
»O, ich bin auch in einem Farmhaus aufgewachsen.«
»Das Zimmer, das ich zu Hause hatte, ist nur zweimal so groß wie der Schrank, in dem ich jetzt meine Kleider aufbewahren soll.«
»Hoffentlich bist du mit deinen Räumen zufrieden. Ich habe Mrs. Perrin Anweisung gegeben, alle deine Wünsche zu erfüllen.«
»Ob ich zufrieden bin? Ich glaube kaum, daß ich heute abend zu Bett komme, soviel Neues und Schönes habe ich in meinem Zimmer zu betrachten.«
»In einer Woche«, meinte er nachsichtig, »hast du dich an alles gewöhnt, und in einem Monat würdest du die Dinge sehr vermissen, wenn du sie aufgeben müßtest.«
Sie wurde plötzlich ernst, und er betrachtete sie fragend.
»Woran denkst du denn gerade?«
»An Stella«, entgegnete sie zögernd. »Wie schwer muß es ihr gefallen sein, dieses Heim zu verlassen!«
Seine Züge verhärteten sich, und das Lächeln schwand aus seinem Gesicht.
»Du hast deine Kusine noch nie gesehen?«
»Nein.«
»Verschwende kein Mitleid an sie. Sieh einmal zu der jungen Dame in dem mauvefarbenen Kleid und dem großen Hut hinüber, die drei Tische weiter links sitzt.«
Sie nickte.
»Ich sehe sie. Ein sehr schönes Mädchen. Und ihr Begleiter sieht sehr klug aus.«
Ihr Onkel lächelte wieder, aber keineswegs liebenswürdig.
»O ja, Norris Vine ist sehr schlau. Er ist Journalist, und soviel ich weiß, Eigentümer einer Zeitung und gehört zu diesen armen Narren, die sich selbst für Menschenfreunde halten und dabei stets versuchen, ihre Meinung anderen Leuten aufzudrängen. Und die junge Dame an seinem Tisch ist meine Tochter und deine Kusine.«
Virginia sah erstaunt auf, und ihre Wangen röteten sich leicht.
»Ist das wirklich Stella?«
»Ja. Und Norris Vine ist der Mann, dem sie meine Geheimnisse verraten hat.«
Virginia konnte es noch nicht fassen.
»Aber du hast doch nicht mit ihr gesprochen, als sie hier auf den Dachgarten kam. Du hast nur dem Herrn zugenickt, aber von ihr gar keine Notiz genommen.«
»Ich werde wohl nie wieder in meinem Leben mit ihr sprechen.«
Sie wurde bleich.
»Das ist doch aber schrecklich«, sagte sie leise und schwieg dann einige Minuten, während ihr Onkel das Menü zusammenstellte und dem Kellner seine Aufträge gab.
»Was hast du denn, Virginia? Du machst ja plötzlich ein so ernstes Gesicht?«
»Ich fürchte mich ein wenig vor dir«, erwiderte sie offen. »Ich würde mich auch vor jedem anderen Manne fürchten, der so von seiner eigenen Tochter sprechen kann.«
Er lächelte leicht.
»Du hast eine Eigenschaft, die ich bei Frauen ungemein schätze, denn sie ist sehr selten. Du bist ehrlich und aufrichtig. In der kleinen Welt, aus der du kommst, herrscht noch Offenherzigkeit. In New York ist das nicht mehr so. Ich bin ein gutmütiger Mann, aber ich bin auch gerecht. Meine Tochter hat mich hintergangen, und das kann ich ihr nicht verzeihen. Hältst du mich wirklich für grausam, Virginia?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe schon manches von dir in der Zeitung gelesen, und ich fürchtete mich entsetzlich, als meine Mutter sagte, daß ich zu dir kommen sollte. Als ich dich aber persönlich kennenlernte, warst du doch ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Aber jetzt habe ich doch wieder ein wenig Angst vor dir.«
Er seufzte.
»Die Zeitungen schreiben natürlich, daß ich ein harter, skrupelloser Mann bin, der nie verzeiht, eine Art Maschine, die nur Geld zu machen versteht. Sehe ich denn so aus?«
»Nein.«
»Du wirst mich noch besser kennen lernen. Denke bitte immer daran, daß ich stets zwei Dinge von dir erwarte: unbedingten Gehorsam und unbestechliche Treue. Du wirst niemals Ursache haben, es zu bereuen, wenn du dich nach meinen Wünschen richtest.«
»Ich will mein Bestes tun.«
Ihre Gedanken wanderten plötzlich in ihre Heimat zurück. Welche Erregung hatte der Brief ihres Onkels bei der Familie hervorgerufen! Welche Hoffnungen waren erweckt worden! Besonders sah sie ihren abgearbeiteten Vater und die glückerfüllten Züge ihrer Mutter vor sich.
Unbedingten Gehorsam, unbestechliche Treue. Wenn er nur das von ihr verlangte, würde sie aushalten können. Dessen war sie sicher.
»Wenn wir das Restaurant verlassen«, sagte er plötzlich, »wirst du sehen, daß mindestens ein halbes Dutzend Leute unten warten, die mich sprechen wollen. Von meinem Platz aus kann ich schon zwei Reporter sehen, die am Eingang auf mich lauern.«
Sie sah ihn interessiert an.
»Aber warum denn?«
»Ach, das hat nur mit dem Geldmarkt zu tun. Während der letzten Tage habe ich einige Finanzoperationen vorgenommen, die die Leute nicht verstehen. Sie wissen nun nicht, ob sie meinem Beispiel folgen oder sich zurückhalten sollen, und die Presse kann sich diese Dinge auch nicht erklären. Deshalb beobachtet man mich die ganze Zeit.« Er sah sie liebevoll an. »Ich habe das Gefühl, Virginia, daß ich dir vertrauen kann. Ich unternehme manchmal Dinge, von denen nicht einmal meine Privatsekretäre eine Ahnung haben. Aber du sollst alles wissen. Ich hoffe, daß wir beide recht gut miteinander auskommen. Eine große Geldsumme biete ich dir nicht an, weil du im Augenblick doch nicht weißt, was du damit anfangen sollst. Aber solange du bei mir bist und mir treu hilfst, will ich dafür sorgen, daß es deinen Angehörigen in Wellham Springs sehr gut geht.«
Sie sah ihn glücklich an.
»In den beiden nächsten Wochen hast du nichts weiter zu tun, als dich in deine neue Rolle einzuleben«, fuhr er fort. »Die kleinen Dienste, die ich von dir erwarte, beginnen erst später.«
Plötzlich trat jemand an ihren Tisch, und als sie aufschaute, sah sie zu ihrem größten Erstaunen Stella vor sich.
»Also Sie sind meine Kusine«, sagte Stella. »Die kleine Virginia! Ich habe Sie früher nur einmal gesehen, aber an Ihren großen, dunklen Augen hätte ich Sie immer wieder erkannt. Sie können sich natürlich nicht auf mich besinnen, denn ich bin sechs Jahre älter als Sie. Aber ich will mich nicht länger hier aufhalten. Es wird Ihnen ja auch bekannt sein, daß ich nicht mit meinem Vater spreche. Aber ich wollte Ihnen gerne einmal die Hand geben.«
»O, sie sind sehr liebenswürdig«, brachte Virginia mit stockender Stimme hervor.
Phineas Duge hatte sich erhoben und trat in höflicher, aber uninteressierter Haltung beiseite, als ob eine vollständig Fremde Virginia angesprochen hätte. Nachdem sich Stella entfernt hatte, nahm er seinen Platz wieder ruhig ein. Virginia hatte erwartet, daß er ärgerlich sein würde, aber er zeigte nicht die geringste Erregung, sondern steckte sich behaglich eine Zigarre an.
»Nimm dich vor diesem Norris Vine in acht, wenn du jemals mit ihm in Berührung kommst. Er gab vor einem Jahr öffentlich bekannt, daß er mich innerhalb der nächsten fünf Jahre ruinieren wollte.«
»Ich werde immer daran denken.«
Mr. Phineas Duge hatte sich seit dem Tode seiner Frau von dem gesellschaftlichen Leben zurückgezogen und ließ sich höchstens von ein paar Freunden einladen, mit denen er in geschäftlicher Verbindung stand. Als er jedoch seine Nichte Virginia zu sich nahm, öffnete er die Tore seines sonst so gastlichen Hauses wieder. Die Empfangsräume strahlten aufs neue in festlichem Glanz, die Diener erhielten neue, prunkvolle Livreen und Mr. Phineas Duge eröffnete ein besonderes Büro, das nur für die Vergnügen und Lustbarkeiten in seinem Hause zu sorgen hatte.
Mrs. Trevor wurde als Gesellschafterin für Virginia engagiert, und diese Dame wunderte sich sehr über die plötzliche Wandlung, die mit Mr. Duge vorgegangen war. Man hatte ihn in den letzten Jahren für einen Menschenhasser und einen Feind der Gesellschaft gehalten.
»Wenn ich Ihren Onkel nicht für einen Mann hielte, der keiner Zuneigung fähig ist, dann würde ich glauben, er hätte sich in Sie verliebt«, sagte sie eines Tages zu Virginia, als die beiden bei einer Tasse Tee zusammensaßen.
Virginia, die auch schon ähnliche Bemerkungen gehört hatte, sah ganz erstaunt auf.
»Ich kann mir nicht denken, warum alle Leute meinen Onkel für einen herzlosen, harten Mann halten. Ich habe noch keinen liebenswürdigeren und freundlicheren Menschen kennengelernt als ihn. Er sieht doch schon so hübsch und sympathisch aus!«
Mrs. Trevor lachte leicht und lehnte sich etwas vor. »Mein liebes Kind, die New Yorker Gesellschaft kennt Ihren Onkel nun schon seit fünfundzwanzig Jahren, und ich kann wohl sagen, daß wir alle unter ihm gelitten haben. Leute wie er bringen ihre großen Vermögen nur auf Kosten anderer Leute zusammen. Viele Leute verloren ihre Existenz, damit Phineas Duge ein reicher Mann werden konnte.«
Virginia schüttelte den Kopf.
»Das verstehe ich nicht.«
»Ihr Onkel hat einen eisernen Willen. Er denkt nur an sich und hat noch niemals aus Gründen des Gefühls oder Mitleids gehandelt. Er geht über Leichen. Aber in Amerika tadelt man ja solche energischen, zielbewußten Männer nicht. Die Starken siegen im Kampf ums Dasein, die Schwachen müssen zugrundegehen. Aber offen gestanden können wir dieser neuen Entwicklung nicht folgen. Ich weiß aus langer Erfahrung, daß ihr Onkel nichts ohne Zweck tut.«
»Sie haben eben behauptet,« entgegnete Virginia langsam, »daß er kein Herz hat. Warum hat er aber nach mir geschickt? Seitdem ich bei ihm bin, hat er die Schulden und Hypotheken bezahlt, die auf dem Grundstück meines Vaters lasteten und ihm das Leben verbitterten. Er hat meinem Bruder das Studium auf der Universität ermöglicht und mir versprochen, für meine ganze Familie zu sorgen. Wenn Sie wüßten, wie sich das Leben meiner Eltern dadurch verändert hat, würden Sie verstehen, daß ich nicht gerne derartig über meinen Onkel sprechen höre.«
Mrs. Trevor sah Virginia nachdenklich an,
»Was Sie mir eben erzählt haben, klingt sehr sonderbar. Ich kann nicht einsehen, warum er das alles getan hat. Das wäre wirklich großzügig von ihm. Er sollte Sie eigentlich heiraten, das wäre die beste Lösung.«
Virginia errötete leicht und wurde unruhig.
»Bitte, sagen Sie das nicht. Ich möchte meinem Onkel nur helfen.«
»Welche Hilfe könnten Sie ihm denn geben?«
»Das weiß ich allerdings noch nicht, aber er hat es mir selbst gesagt.«
Mrs. Trevor sah nachdenklich vor sich auf den Tisch. Dann steckte also doch eine gewisse Absicht hinter allem. Aber das ging sie ja nichts an. Sie war seit Jahren mit der Familie befreundet und Phineas Duge hatte ihr ein großes Gehalt für die Stellung geboten, die sie jetzt einnahm.
Die Unterhaltung wurde unterbrochen, denn es kam Besuch. Mrs. Perrin hielt das erste At home zu Ehren Virginias ab. Virginias schlanke, elegante Gestalt kam in einem prachtvollen Kleide wundervoll zur Geltung. Herrliche, dunkle Augen brannten in ihrem blassen, ovalen Gesicht. Sie war sofort der Mittelpunkt, und alle bemühten sich um sie und erwiesen ihr Aufmerksamkeiten. Plötzlich trat eine junge Dame an sie heran, die Virginia noch nicht bemerkt hatte, berührte sie leicht am Ann und zog sie ein wenig beiseite. Virginia war aufs höchste überrascht, als sie ihre Kusine Stella erkannte.
»Ich möchte ein wenig mit Ihnen sprechen – wollen Sie sich zu mir setzen? Sie füllen Ihren Posten vorzüglich aus.«
Virginia war zuerst ein wenig scheu und wußte nicht, ob sie mit ihrer Kusine sprechen dürfte. Aber sie beugte sich dem stärkeren Charakter Stellas.
»Natürlich weiß ich,« fuhr Stella fort, »daß ich bei meinem lieben Vater in Ungnade gefallen bin, und daß Sie sich fürchten, mit mir zu sprechen. Aber Sie müssen auch eine gewisse Rücksicht auf mich nehmen, denn Sie haben meine Stelle in diesem Hause eingenommen und mich gewissermaßen verdrängt.«
»Bitte, sprechen Sie nicht so«, erwiderte Virginia ruhig. »Sie wissen doch sehr gut, daß ich das nicht getan habe. Als mein Onkel mich nach New York holte, wußte ich nicht, daß Sie sein Haus verlassen hatten.«
»Drei Jahre habe ich mit ihm zusammengelebt, seitdem ich von Europa zurückkam. Das ist wirklich ein Rekord, den so leicht niemand wieder erreichen wird. Ich schätze, daß er mit Ihnen nach drei Monaten fertig ist.«
»Das glaube ich kaum. Ich finde, mein Onkel ist sehr leicht zu behandeln. Man kommt glänzend mit ihm aus, solange man seinen Willen tut.«
Stella lächelte.
»Nun ja, ich möchte Sie nicht entmutigen. Sie sind ein so nettes, liebes Kind. Ich fürchte, Sie haben den Charakter meines Vaters noch nicht richtig erkannt. Das wird aber nicht ausbleiben. Bis dahin würde ich mir an Ihrer Stelle das Leben so schön wie möglich machen. Wie gefällt Ihnen New York?«
»Ich bewundere es selbstverständlich. Ich wußte bisher noch nicht, was Luxus war, aber jetzt habe ich eine ganze Flucht von Räumen, eine Zofe, ein eigenes Auto und viele prachtvolle Dinge.«
»Werden Sie aber auch den Preis dafür zahlen wollen, wenn die Zeit kommt?« fragte Stella ruhig.
Virginia sah sie erstaunt an.
»Welchen Preis meinen Sie denn?«
Stella lachte ein wenig hart.
»Sie sind noch sehr jung. Merken Sie sich, daß mein Vater noch nie etwas Gutes ohne Absicht getan hat. Stets denkt er irgendwie an seinen Vorteil oder erwartet eine Gegenleistung, wenn er sich mit jemand anfreundet. Ihre Zeit ist noch nicht gekommen, aber sie wird auch nicht sehr fern sein.«
Virginia hatte sich hochaufgerichtet. Sie war ganz blaß geworden, und ihre Augen glänzten.
»Ich möchte mit Ihnen gerne mehr sprechen, Stella, weil Sie mit mir verwandt sind und ich keine Freundin habe. Aber ich höre Ihnen nicht zu, wenn Sie so unfreundlich über meinen Onkel reden, besonders da er nahe mit uns beiden verwandt ist.«
Stella neigte sich zu ihr und streichelte ihr gutmütig die Hand.
»Sie sind noch sehr jung, aber ich hoffe, daß wir eines Tages doch noch sehr gute Freunde werden. Es ist Ihnen wahrscheinlich verboten, mich zu besuchen?«
»Ohne Erlaubnis meines Onkels würde ich nicht kommen.«
»Das dachte ich mir. Setzen Sie sich deswegen auch keiner Gefahr aus. Wir treffen uns schon ab und zu, besonders da mein Vater den Entschluß gefaßt hat, wieder gesellschaftlich zu verkehren und sein Haus allen Leuten zu öffnen. Nebenbei noch eine Frage. Hat er mit Ihnen schon über mich gesprochen?«
»Er sagte nur, daß Sie ihn getäuscht hätten.«
»Hat er irgendwelche Einzelheiten erwähnt?«
»Ich weiß nicht, ob ich mit Ihnen darüber sprechen darf.«
Stella runzelte die Stirn.
»Also wissen Sie, warum er mich fortschickte?«
»Ja.«
Stella zuckte die Achseln und erhob sich.
»Ich will Sie nicht ganz allein mit Beschlag belegen, sonst wird man mir böse sein.«
Sie verabschiedete sich durch ein leichtes Kopfnicken. Virginia fühlte sich nicht recht wohl, und als sie später Mr. Duge traf, hielt sie es für besser, ihm von dieser Begegnung zu erzählen. Sie stand neben ihm in dem großen Empfangssalon, während sie auf die Gäste warteten, die zum Abendessen geladen waren. Außer ihnen befanden sich nur noch einige Diener in dem Raume, die die Kerzen an dem großen Kronleuchter ansteckten.
»Onkel«, sagte Virginia plötzlich, »ich habe Stella heute nachmittag getroffen und mich mit ihr unterhalten.«
Er sah sie ruhig an.
»Nun – und?«
»Ich dachte, ich müßte es dir sagen. Ich weiß nicht, wie du darüber denkst.«
»Ich habe nichts dagegen, wenn du gelegentlich mit ihr sprichst. Sie soll aber nicht in dieses Haus kommen. Lade sie also bitte nicht ein. Dulde auch nicht, daß sie dich hier besucht.«
»Ich verstehe.«
»Hast du diesen Mr. Norris Vine auch schon getroffen?«
»Ich habe ihn seit dem Abend auf dem Dachgarten nicht wieder gesehen.«
»Was ich eben von Stella sagte, bezieht sich natürlich auch auf ihn. Keiner der beiden darf die Schwelle meines Hauses übertreten, denn sie sind im Bunde gegen mich. Aber sie sind zu unbedeutend, um im Ernst über sie zu sprechen.«
Virginia war vollständig verwirrt.
»Es gibt hier Formen in unserem Leben,« fuhr Phineas Duge nach einigem Zögern fort, »die du nicht verstehen kannst, selbst wenn du in New York geboren wärest. Aber vielleicht verstehst du, was ich dir jetzt sage. In den Kreisen der höheren Finanz wird sehr viel intrigiert, und es ist daher Diplomatie nötig, wenn man sich behaupten will. Ich habe stets Geheimnisse, die niemand anders erfahren darf, und ich bin manchmal gezwungen, Dinge zu tun, die ich vor anderen aus reinem Selbsterhaltungstrieb geheimhalten muß. Seit Jahren befasse ich mich mit Geschäften, deren Erfolg ganz und gar von der Heimlichkeit abhängt, mit der sie ausgeführt werden. Natürlich habe ich Gegner. Auf dem großen Markt gibt es Käufer und Verkäufer. Wenn ich verdiene, müssen andere verlieren. Ich werde deshalb immer Feinde haben. Die Geheimgeschichte der großen Finanzleute, die in der letzten Zeit in diesem Lande emporgekommen sind, würde einen spannenden Roman abgeben. Aber hier kommen unsere Gäste.«
