Finn Dever: Täuschung - Bastian Martschink - E-Book

Finn Dever: Täuschung E-Book

Bastian Martschink

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Beschreibung

Der zweite Fall des KI-Ermittlers Finn Dever führt ihn in das düstere Milieu eines geheimnisvollen Nachtclubs. Nach einer Schießerei mit mehreren Opfern wird Finn Teil eines komplexen Falles aus Intrigen, Verrat und Täuschung. Denn auch der »Blackvale-Ripper« schlägt wieder zu, und schnell erkennen Finn und seine Kollegin Kate Okon eine Verbindung zur Nachtclub-Schießerei. Hat der Serienmörder diesmal einen entscheidenden Fehler gemacht? Als ein charismatischer FBI-Agent und ein Kartell-Cleaner ins Spiel kommen, wird das Team in ein Netz aus Lügen verstrickt. Trotz seiner außergewöhnlichen Fähigkeit, die Zukunft zu sehen, kommt Finn immer mehr an seine Grenzen und es wird deutlich, dass es hier um eine weit größere Verschwörung geht, die die Ermittlungen bis zum Schluss immer wieder auf den Kopf stellt.

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Seitenzahl: 481

Veröffentlichungsjahr: 2025

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BASTIAN MARTSCHINK

KRIMINALROMAN

FINN DEVER

TÄUSCHUNG

1. eBook-Ausgabe 2025

1. Auflage

© 2025 Golkonda in der Europa Verlage GmbH, München

Lektorat: Silwen Randebrock

Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann & Kompanie

Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock

Layout & Satz: Margarita Maiseyeva

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-96509-080-4

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Ansprechpartner für Produktsicherheit

Europa Verlage GmbH

Monika Roleff

Johannisplatz 15

81667 München

Tel.: +49 (0)89 18 94 733-0

E-Mail: [email protected]

www.golkonda-verlag.com

Für Janna,Mats, Stine und Henry

Inhalt

WAS BISHER GESCHAH

DAS ERMITTLERTEAM

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

HINWEIS ZU BUCH 3

DANKSAGUNG

WAS BISHER GESCHAH

Blackvale – ein aufstrebendes urbanes Zentrum an der Ostküste der USA, gezeichnet von düsteren Geheimnissen. Seit Monaten hält eine grausame Mordserie die Stadt in Atem. Acht Opfer hat der sogenannte »Ripper« mittlerweile auf dem Gewissen, alle mit denselben verstörenden Merkmalen: Strangulation sowie präzise Schnitte an Augenlidern, Zeigefingern und großen Zehen.

Unter den Toten: Lola, die Patentochter von Ermittler Finn Dever. Ihr Tod hat ihn verändert. Besessen von Schuld- und Verantwortungsgefühl, will er vor allem eines – den Killer finden.

Dabei ist Finn kein gewöhnlicher Ermittler. Er besitzt die spezielle Fähigkeit, in bestimmten Situationen die unmittelbare Zukunft eines Menschen zu sehen – vorausgesetzt, er hat Blickkontakt und ein besonderes, euphorisches Gefühl im Kopf.

Erst kürzlich hat er erfahren, dass seine Gabe kein Zufall ist, sondern das Ergebnis eines neuronalen KI-Implantats. Die sogenannte TimePulse-Fähigkeit berechnet hochpräzise Zukunftsvorhersagen – und liegt dabei fast nie falsch. Mit weiterem Training könnte Finn auch längere Visionen erhalten oder gar in die Vergangenheit sehen.

Doch er ist nicht der Einzige mit einem Implantat. In Blackvale gibt es weitere Träger, die ebenfalls eine Fähigkeit aufweisen. Bekannt sind drei Varianten:

TimePulse – kurze Visionen der Zukunft

BodyPulse – Kontrolle über fremde Körper

TerraPulse – Einfluss auf physische Materie (z. B. Metall verbiegen)

Alle drei Fähigkeiten benötigen Blickkontakt – und vor allem das euphorische Gefühl, das entsteht, wenn andere Implantatträger sich in näherer Umgebung befinden. Denn die Fähigkeiten stehen in einem gefährlichen Spannungsverhältnis zueinander – sie können sich gegenseitig aktivieren oder blockieren.

Diese Wechselwirkungen folgen einem dynamischen Dreieck.

TimePulse (Finn) aktiviert TerraPulse und blockiert BodyPulse

BodyPulse aktiviert TimePulse und blockiert TerraPulse

TerraPulse aktiviert BodyPulse und blockiert TimePulse

Finns Implantat ist jedoch besonders: Er ist ein Wandler – theoretisch in der Lage, zwischen allen drei Fähigkeiten zu wechseln. Noch kann er das nicht kontrollieren, aber mit gezieltem Training wäre es möglich.

Eine technische Abkürzung bietet der sogenannte Pulse-Aktivator – ein Amulett, entwickelt von Finns Mentorin. Es kann auf Knopfdruck das euphorische Gefühl künstlich auslösen und so alle Fähigkeiten aktivieren, außer sie werden gerade durch ein anderes Implantat blockiert. Zusätzlich lässt sich der Effekt umkehren, sodass alle Fähigkeiten im näheren Umfeld für Stunden deaktiviert werden können.

Trotz aller gewonnenen Erkenntnisse ist die ganze Thematik rund um die Fähigkeiten für ihn noch Neuland. In die Zusammenhänge und Denkweisen muss er sich erst nach und nach hineinarbeiten. Zudem bleiben noch viele Fragen offen. Vorerst stößt er jedoch mit einem befristeten Einjahresvertrag fest zum Ermittlerteam rund um Detective Kate Okon. Denn die Polizei tappt im Fall des Rippers im Dunkeln: keine Spuren, keine Zeugen – nur ein verstörender Anruf mit verzerrter Stimme und der Ankündigung eines weiteren Verbrechens.

Die Jagd nach dem Blackvale-Ripper geht also weiter!

DAS ERMITTLERTEAM

Finn Dever …

… ist 34, trägt eine runde Brille und eine locker zurückgekämmte Tolle über rasierten Seiten – die bei ihm meist schnell zerzaust. Nach einem abgebrochenen Psychologiestudium arbeitet er beim Blackvale Police Department und unterstützt Detective Kate Okon mit seiner Fähigkeit, die Zukunft anderer zu sehen. Seit sechs Jahren lebt er mit der Lehrerin Elia in einer Wohnung nahe der Innenstadt und beteiligt sich an einem Podcast.

Kate Okon …

… ist 31, hat grüngraue Augen, markante Züge und schokoladenbraunes Haar, das sie meist zum Dutt hochgesteckt trägt. Klug und ehrgeizig, übernahm sie vor einem halben Jahr ihre erste Führungsrolle beim Blackvale Police Department. Kurz nach ihrer Ankunft kam sie mit Steven Klein, dem Leiter einer Einrichtung für kognitiv beeinträchtigte Kinder, zusammen.

Brad Hale …

… ist 37, stämmig gebaut, mit kurz geschnittenem, kastanienbraunem Haar. Aufgewachsen in Blackvale mit einem Detective als Vater, beendete eine Knieverletzung seinen Traum von einer Footballkarriere und führte ihn ebenfalls zur Polizei. Disziplin lernte der Detective beim Militär, Hartnäckigkeit im Streifendienst – und beides prägt auch sein aktives Datingleben.

Gerda Lincoln …

… ist 52, klein, mit dunkelvioletter Brille und schulterlangem, dunkelbraunem Haar. Nach dem frühen Tod ihres Vaters zog ihre Mutter sie und zwei Schwestern allein in New York groß. Heute lebt sie mit ihrem Mann Gordon in einem Vorort von Blackvale – ihr 16-jähriger Sohn Jake ist ihr Ein und Alles.

KAPITEL 1

GOOD MORNING BLACKVALE

NEWS

VOR ZWEI MONATENBLACKVALE, 17. AUGUST 2024

Guten Morgen und willkommen zurück. Warum hat er nicht wieder zugeschlagen? Fünf Monate – so viel Zeit ist seit dem letzten Ripper-Mord vergangen. Der Serienkiller scheint plötzlich verschwunden. Nun fragt sich die ganze Stadt: Ist das wirklich ein Grund zur Erleichterung? Wir werfen einen genaueren Blick auf die neuesten Entwicklungen und sprechen mit einer Kriminalpsychologin, um zu klären, was hinter dem abrupten Ende der Mordserie steckt.

BLACKVALE, 19. OKTOBER 2024

8 Minuten

Die dröhnenden Bässe ließen den Betonboden unter Jennas Füßen vibrieren. Die Deckenstrahler des Black Diamond tauchten die rauen Wände mit ihren Graffiti in rotes und lilafarbenes Licht. Jenna sah zum erhöhten Pult des DJs, der die Arme im Takt der wummernden Beats durch die Luft schleuderte und johlend die Menge anheizte. Der Geruch von verschüttetem Alkohol und teurem, zu schwerem Parfüm stieg ihr in die Nase.

Sie stützte die Ellbogen auf die glatte Oberfläche der Bar. Jenna drehte den Kopf zur Seite und fixierte die Tanzfläche. Bei der Menschenmenge war ihre Freundin Natalie schwer auszumachen. Doch da war sie: lächelte und bewegte sich rhythmisch zur Musik.

Der Alkohol benebelte Jennas Sinne, und ihr Blick verschwamm. Die feiernde Menge verschmolz zu einer einzigen, pulsierenden Masse. Für einen Moment existierte die Welt außerhalb dieses Ortes nicht mehr.

6 Minuten

»Hey, darf ich dir was ausgeben?« Eine tiefe, selbstbewusste Stimme riss Jenna aus ihren Gedanken.

Zögernd drehte sie sich um und sah einen Mann, der seinen muskulösen Arm provokant auf den Tresen gelegt hatte. Charmantes Lächeln, eindeutig aufgesetzt. Der Typ Mann, der genau wusste, wie er auf andere wirkte. Jenna signalisierte dem Barkeeper, ihr ein weiteres Bier zu bringen.

Kaum merklich schüttelte sie den Kopf. »Danke, aber ich bin mit einer Freundin hier«, brüllte sie gegen die Musik an. Sie wandte sich vom Mann ab und sah demonstrativ zu Natalie hinüber.

Der Typ hinter ihr bestellte ebenfalls ein Bier und sprach sie gleich wieder an. »Komm schon, nur ein Drink. Oder vielleicht ein Tanz?«

Lallte er? Der ist doch hackedicht, dachte Jenna.

Ohne ihn anzusehen, fächerte sie die ersten seichten Rauchschwaden des künstlichen Nebels weg, der aus einer der Düsen neben der Tanzfläche aufzusteigen begann. Der Barkeeper reichte ihr das Bier, und Jenna streckte ihm einen zusammengeknüllten Schein entgegen. Sie warf dem Mann neben ihr noch einen Blick zu und hob die Hand.

»Vielleicht beim nächsten Mal.« Ihr Ton war endgültig.

Schulterzuckend fixierte der Mann sie. »Kleines, du verpasst was.«

4 Minuten

Jenna atmete tief ein und drehte sich weg. Sie genoss das Gefühl, die Kontrolle behalten zu haben. Zielstrebig steuerte sie auf Natalie zu. Doch plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Ihr Körper versteifte sich. Langsam drehte sie sich um, und da stand wieder der Typ mit dem charmanten Lächeln. Dieses Mal spiegelte sich eine Spur von Aggression in seinem Gesicht.

Er zog sie zu sich, und sie spürte seinen heißen Atem im Ohr.

»Ich glaube, du hast mich nicht richtig verstanden«, raunte er.

Sein Atem roch nach schalem Bier, und seine klebrigen Finger gruben sich fester in ihre Schulter. Wie ärgerlich, dass die nicht von ihrem roten Bandeaukleid bedeckt wurde. Er blickte ihr tief in die Augen. Seinen Griff empfand sie gerade stark genug, um die Grenze zu überschreiten.

Je länger der Typ sie anstarrte, desto mehr Angst bekam Jenna. Sie versuchte, ruhig zu bleiben, und hielt seinem Blick stand. Für einen Moment verschwand die dröhnende Musik im Hintergrund.

»Lass mich los.«

Sein Griff löste sich nicht. Stattdessen beugte er sich wieder zu ihr.

»Komm schon, ich hatte gehofft, du lutschst mir heute den Schwanz«, lallte er.

Angewidert stieß sie ihn mit beiden Händen zur Seite. Die Überraschung war ihm deutlich anzusehen. Er verlor das Gleichgewicht und taumelte gegen die Bar. Einen Augenblick lang schien er zu überlegen, was er machen sollte.

Was für ein Arschloch. Warum hatte sie sich von Natalie auch zu diesem Nachtklub überreden lassen, in dem wohl jeder Typ dachte, er könne sich alles kaufen?

»Kleiner!«, brüllte Jenna, »so wie du dich verhältst, ist der bestimmt so winzig, den würde ich nicht finden.«

Sie drehte sich blitzschnell um, presste sich durch die herumstehenden Menschen auf die Tanzfläche hinunter und griff nach der Hand ihrer Freundin. Dort, mitten in der tanzenden Menge, holte sie tief Luft. Das Adrenalin vermischte sich mit der elektrisierenden Energie der Musik. Im aufkommenden Nebel versuchte sie, das Podest des DJs auf der gegenüberliegenden Seite zu erkennen, das im Glanz der Lichter nahezu verschwand.

Hoffentlich kam der Penner nicht noch mal wieder! Der Nebel wurde dichter. So würde der Typ sie zumindest nicht mehr sehen können.

Natalie zog sie zu sich. »Ich hol mir schnell einen Drink. Bin an der Bar.«

»Hätte ich dir doch mitbringen können«, schrie Jenna gegen die dröhnende Musik an. »Bei dem Nebel findest du mich doch nicht mehr.« Sie wollte nicht allein auf der Tanzfläche bleiben.

»Sorry. Ich beeil’ mich.« Natalie drückte ihr einen Kuss auf die Wange und verschwand in der feiernden Menge.

1 Minute

Langsam schloss Jenna die Augen. Der Bass vibrierte in ihrem Körper, vermischte sich in ihrem Kopf mit den Stimmen – dem Lachen, den ausgelassenen Rufen –, und für einen Moment vergaß sie alles und ließ sich von der Musik mitreißen. Von links wurde sie von einem eng aneinandergeschmiegten Pärchen angerempelt. Der Mann hatte eine Hand tief in die Hosentasche der Frau gesteckt, während diese sich aufreizend an ihn drückte. Jenna lächelte. Die beiden hatten alles um sich herum vergessen.

Starrte der ältere Mann neben ihr sie an? Nicht noch so einer. Der war aber etwas zu alt für diesen Nachtklub. Jenna schüttelte den Kopf. Die Nebeldüsen legten nun richtig los. Sie konnte fast nichts mehr sehen. Die Menge um sie herum verschwand im dichten Dunst, und sie fühlte sich ganz allein. Was für ein komischer Laden!

Dann schnellten die Blicke der Feiernden nach oben. Von der Decke sprühten goldene und silberne Funken in alle Richtungen, begleitet von glitzernden Streifen. Auf der gegenüberliegenden Seite konnte Jenna gerade noch erkennen, wie der DJ auf sein Pult kletterte und die Arme in die Höhe riss. Der Bass hämmerte noch intensiver. Vor ihren Augen tanzte das Feuerwerk zum Beat und verschwand langsam im Nebel.

Plötzlich zuckte ein greller, weißer Blitz über die Tanzfläche. Jenna spürte ein scharfes Brennen in ihrer Brust. Ihr Atem stockte. Die Welt um sie herum stand still. Ihre Beine gaben nach, und sie sackte auf den Boden.

Mühsam hob sie den Kopf. Ihre Sicht trübte sich. Ihr Herz schlug wild. Der Schmerz in ihrer Brust überlagerte alles. Sie kämpfte darum, den Fokus zurückzugewinnen. Etwas prallte gegen ihr Bein. Eine Frau? Sie konnte nichts sehen.

War das … Blut? An ihrer Hand? Sie durfte nicht nachgeben, musste wach bleiben. Ihre Brust brannte.

Die Musik, die Hitze und das Dröhnen der Bässe – alles entfernte sich. Es wurde dunkel um sie herum, und die Welt verschwand für immer.

KAPITEL 2

GOOD MORNING BLACKVALE

NEWS

VOR ZWEI MONATENBLACKVALE, 28. AUGUST 2024

Guten Morgen! Ein Insiderbericht sorgt heute für Gesprächsstoff in Washington: Senator John Greaves bringt sich offenbar in Stellung für die Präsidentschaftswahl in vier Jahren. Sollte seine Wiederwahl als Senator in diesem November gelingen, plant der einflussreiche Politiker, nicht für das Amt des Gouverneurs zu kandidieren, sondern direkt den Sprung ins Weiße Haus zu wagen.

BLACKVALE, 19. OKTOBER 2024

»Ich kann dir garantieren, dass ich keine Personenüberprüfung bei deinem Kfz-Mechaniker machen werde.« Detective Kate Okon hob das Absperrband hoch und schlüpfte durch. Mit einem dumpfen Knarren öffnete sie die Tür des Black Diamond und wurde vom hellen Licht aus dem Inneren geblendet.

Der Geruch von abgestandenem Alkohol und Rauch schoss Finn Dever in die Nase, als er der Ermittlerin unter dem gelben Absperrband hindurch folgte. »Ach komm schon. Der hat nahezu kein Wort mit mir gewechselt, war die ganze Zeit im Büro mit irgendwelchen zwielichtigen Gestalten zugange und lebt nach Aussage seines Mitarbeiters im dunklen Keller seiner Eltern. Das riecht doch nach einem Serienkiller. Meinst du nicht?«

Der spöttische Blick und das kaum sichtbare Lächeln reichten Finn als Antwort auf seine ebenso augenzwinkernd gemeinte Forderung. Entschlossen schritt Kate durch den Eingangsbereich des Black Diamond.

»Wer ist ein Serienkiller?« Durch das laute Klacken von Kates Absätzen auf dem glänzenden Marmorboden hatte Finn nicht bemerkt, dass der Ermittler Brad Hale sich ihnen angeschlossen hatte.

»Finn hat von seinem Kfz-Mechaniker eine saftige Rechnung bekommen.« Kate beschleunigte ihren Schritt und ließ die anderen für einen Moment hinter sich.

»Das war keine saftige Rechnung. Für mich war das ein Attentat auf meine Brieftasche.« Finn hielt sich die Hände schützend vor die Augen, da der Boden die LED-Lichter unangenehm reflektierte.

»So schlimm?« Brad lachte auf.

»Frag nicht«, murmelte Finn.

Bevor er jedoch weiterreden konnte, hielt er den Atem an. Vor ihm entfaltete sich der Nachtklub in seiner luxuriösen Pracht – samtbezogene Sofas, Glaskronleuchter, aufwendige Graffitis an den Wänden.

»Wow … was für ein Laden«, flüsterte er ehrfürchtig.

Brad grinste breit. Der Ausdruck auf seinem Gesicht verriet, dass er hier kein Fremder war. »Willkommen im Black Diamond. Ich kann dir sagen: klasse Klub zum Feiern. Super DJs, super Frauen, super Ambiente.«

Finn atmete durch und entlastete kurz sein Bein. Das mittlerweile vertraute Ziehen erinnerte ihn daran, dass die Genesung noch nicht vollständig abgeschlossen war. Vier Monate waren vergangen, seit er bei seinem ersten Fall auf der Jagd nach dem Ripper angeschossen wurde. Die Wunde war schnell verheilt. Doch dann kam der Rückschlag. Wochen der Ruhigstellung, die ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen waren. Endlose Stunden in der Physiotherapie, in denen er das Laufen neu erlernen musste. Zumindest waren die Ärzte zuversichtlich – das Bein heilte gut, nur eine Narbe würde bleiben. Und mittlerweile war der Schmerz zu einem dumpfen Pochen verblasst, das ihn jedoch immer noch bei jedem Schritt begleitete.

Brad unterbrach Finns Gedanken. »Das hier ist aber mehr als nur ein Nachtklub. Hinter dem Bling-Bling und der satten Musik laufen die wirklich interessanten Geschäfte ab. Deals, die man nicht mitbekommt – Drogen, gestohlene Ware. Alles schön unter der Kontrolle der Besitzerin, Vanessa ›Viper‹ Rodriguez.«

Er deutete auf eine schlanke Frau auf einer Empore über ihnen. Ihr glattes, pechschwarzes Haar fiel über die Schultern und schimmerte im grellen Licht. Regungslos beobachtete sie die Szenerie unter ihr. Finn spürte die Autorität, die von ihr ausging – ihre Präsenz. Hier geschah sicherlich nichts, was ihrem scharfen, kontrollierten Blick entging.

Sie schlossen zu Kate auf, die bereits auf der Tanzfläche mit ihrem kunstvollen Mosaikdesign angekommen war.

»Was haben wir?«, fragte die Ermittlerin.

Mit einem raschen Schritt stellte Brad sich neben seine Kollegin. Finn sah sich um und bemerkte jetzt erst, dass hier etwas Gewaltiges passiert war.

»Es gab eine Schießerei. Vier Tote – eine Frau, drei Männer«, berichtete Brad nüchtern.

Finn betrachtet das Chaos auf der Tanzfläche. Blutlachen, zerbrochene Gläser, umgeworfene Tische.

»Weitere Verletzte?« Kate ließ ihren Blick durch den Raum schweifen.

»Mehrere schwer verletzt, einige davon kritisch. Der Täter wurde in Gewahrsam genommen, aber er ist momentan nicht vernehmungsfähig.«

»Warum?«

»Er steht unter starkem Drogeneinfluss. Völlig weggetreten. Der ist mal so richtig ordentlich zugepumpt.«

»Zeugen?«

»Jein. Also, der Laden war proppenvoll. Aber die arbeiten hier mit sehr viel Nebel, und der Schütze hat sich den Moment zunutze gemacht, als die Leute von einem Deckenfeuerwerk abgelenkt waren. Wir haben ein paar Zeugen, die sagen, dass der mutmaßliche Täter aus dem Nichts angefangen hat zu schießen. Dann brach Panik aus. Die Leute haben versucht, sich zu retten.«

»Wieso ist die Zahl der Opfer dann doch verhältnismäßig niedrig?«

»Der Täter wurde gestoppt.«

»Von wem?«

»Ein Gast. Hat sich auf ihn geworfen, bevor der Täter noch weiterschießen konnte.«

»Ist dieser Gast ansprechbar?«

»Ich …«

Eine glatte, geschmeidige Stimme schnitt Brad ins Wort. »Für Sie im Moment noch nicht. Tut mir leid.«

Die drei drehten sich um und blickten auf einen Mann, der sie selbstsicher anlächelte. Finn stach die Erscheinung des Neuankömmlings ins Auge: groß, volles, dunkelbraunes Haar, perfekt gestylt. Und dazu ein maßgeschneiderter Anzug. Der Mann wirkte wie für diesen Ort geschaffen – oder noch eher für den Laufsteg.

»Und Sie sind?« Kate schien wie immer unbeeindruckt.

Die blauen Augen des Mannes blitzten auf. Mit einem charmanten Lächeln zückte er seine Marke.

»FBI, Agent Jean Zimmer. Wir sprechen zuerst mit dem Gast.« Sein Ton war freundlich und machte doch unmissverständlich klar, dass es hier keine Diskussion geben würde.

Noch bevor Kate reagieren konnte, trat Zimmer näher an sie heran. »Detective Okon«, begann er freundlich, »ich habe Ihre Arbeit in den letzten fünf Monaten mit großem Interesse verfolgt. Beeindruckend, was Sie hier in Blackvale auf die Beine gestellt haben. Einhundert Prozent Aufklärungsquote bisher im BPD.«

Wie selbstverständlich schob Zimmer sich an Brad vorbei. Kein Gruß, kein Blick, nur ein flüchtiges Kopfnicken. Seine Aufmerksamkeit galt nun Finn.

»Finn Dever, richtig?« Die Frage klang rhetorisch. »Man hört einiges über Sie. Klingt, als hätten wir hier einen aufsteigenden Stern.«

Finn ergriff die ausgestreckte Hand. Verdammt, hat der Typ eine weiche Haut, dachte er, während Zimmer ihm tief in die Augen blickte und dabei jede Regung zu studieren schien. Reflexartig richtete Finn seine Brille.

Nachdem der FBI-Agent immer noch keine Anstalten machte, Brad zu begrüßen, lief dessen rundliches Gesicht rot an.

»Wir müssen den Zeugen ebenfalls befragen«, sagte er, die Betonung auf »müssen«.

Finn schmunzelte beim Anblick des eingezogenen Bauchansatzes und der durchgedrückten Brust des Ermittlers. Da wollte jemand sein Revier markieren.

Der FBI-Agent lächelte die versuchte Machtdemonstration einfach weg. »Ganz ruhig, Pfadfinder – keine Sorge, ich werde alle Informationen teilen. Sie können gleich auch gerne Protokoll führen.« Er ignorierte Brads Schnauben und stellte den Tonfall von spöttisch auf respektvoll um, als er sich wieder Kate zuwandte. »Detective Okon, wie wäre es, wenn wir das gemeinsam machen? Zwei Köpfe sind besser als einer, und Sie haben hier den Heimvorteil.«

Die blickte ihn skeptisch an. »Wer hat Sie eigentlich benachrichtigt?«

Zimmer nickte, als hätte er die Frage erwartet. »Mein Vorgesetzter hat Captain Thake kontaktiert und um Kooperation gebeten. Es besteht der Verdacht auf einen Zusammenhang mit einem Fall der organisierten Kriminalität.«

»Was für einen Fall?«

Zimmer zögerte. »Ich kann Ihnen die Details gerne auf dem Revier erklären, wenn es …«, er musterte Brad von unten bis oben, »etwas vertraulicher ist. Für den Moment: Ich bin wegen einem Hinweis auf eine Drogenlieferung des mexikanischen La-Mano-Negra-Kartells hier. Ich möchte nur überprüfen, ob diese Schießerei etwas damit zu tun hat.« Er deutete auf die Leichen vor ihm.

»Gut, Sie werden es mir später erklären. Ich möchte mir jetzt erst einen Überblick hier verschaffen. Können Sie mir vielleicht sagen, warum der hintere Bereich mit rotem Band abgesperrt ist? Das kann nicht von uns sein.« Kate zeigte auf eine der dunklen Ecken des Nachtklubs, fernab der Tanzfläche.

Neben einem VIP-Bereich, abgetrennt durch eine edle Kordel, flatterte ein grell leuchtendes Absperrband, hinter dem Trennwände nur unzureichend eine staubige Baustelle verdeckten. Wie ein Bruch im Raum – Luxus neben Rohbau.

Der FBI-Agent zuckte mit den Schultern. »Damit habe ich nichts zu tun. Dieser Nachtklub wird seit Monaten neu gestaltet. Da hinten wird gebaut. Das war wohl der alte Toilettenbereich.«

Kate nickte, und ihr Blick schwenkte zurück zum Tatort. Die vier Leichen lagen eng beieinander auf der Tanzfläche, als wären sie alle von den Schüssen überrascht worden. Keine Hinweise darauf, dass jemand versucht hatte, zu fliehen.

»Also, hier haben wir es.« Die Ermittlerin Gerda Lincoln, die bisher die Zeugen an der Bar befragt hatte, näherte sich. Die frühe Morgenstunde war ihr an den tiefen Schatten unter den Augen anzumerken.

Zimmer begrüßte sie auffällig charmant, und die Ermittlerin zupfte an der zarten Perlenkette um ihren Hals.

Dann fuhr sie fort. »Der Schütze stand wohl relativ nah an den Opfern, die Schusswunden sind auf den ersten Blick nicht zielgerichtet. Er scheint wild um sich geschossen zu haben.«

»Und niemand reagiert, wenn einer eine Waffe zieht?« Kate holte ihren Notizblock heraus.

»Du siehst hier fast nichts«, warf Brad ein, »wenn die den Nebel hier reinpumpen. Und dann noch mit der Beleuchtung, während sie oben an der Decke ein Feuerwerk abfackeln.«

Eine tiefe Furche zog sich über Kates Stirn. »Wie konnte jemand eine Waffe in den Laden schmuggeln?«

Gerda blickte kurz zu Zimmer, der neugierig ihren Ausführungen folgte, dann wandte sie sich wieder Kate zu. »Du kennst das Black Diamond noch nicht, oder?«, fragte sie vorsichtig.

Kate schüttelte den Kopf. »Bisher nicht.«

»Das Black Diamond ist ein beliebter Szenehotspot«, begann Gerda und schwang ihren Arm ausladend durch die Luft. »Die Tanzfläche ist immer proppenvoll, und die Preise sind alles andere als niedrig. Doch das ist nur die glänzende Fassade. Der Klub ist als Schauplatz für zwielichtige Geschäfte bekannt, und die Sicherheitsvorkehrungen sind eher lasch – der Täter hat diese Schwäche offensichtlich zu seinem Vorteil genutzt.«

Kate, die in die Hocke gegangen war, um die Leichen genauer anzusehen, hob den Kopf. »Und wo ist die Waffe?«

»Haben wir schon eingetütet.«

»Was wissen wir sonst?«

»Der Täter hat aus direkter Nähe gefeuert. Dann wurde er von einem Gast von hinten angesprungen. Vermutlich wurde der Schütze panisch und hat mit dem Angreifer um die Waffe gerungen. Dabei hat er dem Gast in den Fuß geschossen. Danach hat der Gast es geschafft, den Täter am Boden zu fixieren.«

»Okay. Was wissen wir über den Täter?«

»Entschuldigt dazu die Unterbrechung«, hörte Finn eine Stimme hinter sich.

Diana Gamp! Fast erschrocken bemerkte er, dass er die Leiterin der Pathologie des Blackvale Police Departments, die seitlich der Gruppe auf dem Boden kniete, übersehen hatte. Das Gesicht der Asiatin war ebenfalls von der langen Schicht gezeichnet, doch ihre Augen blitzten scharfsinnig.

»Der Schütze heißt Michael Thompson. Unser Schnelltest hat eine hohe GHB-Konzentration in seinem Körper ergeben.«

»GHB?«, fragte Finn.

Aus der blauen BPD-Regenjacke zog Diana einen weißen Umschlag, den sie Kate reichte. »GHB ist ein psychoaktives Beruhigungsmittel, das in der Partyszene verwendet wird. In niedrigen Dosen wirkt es entspannend und euphorisierend, während höhere Dosen Bewusstlosigkeit oder eine vollständige Atemdepression verursachen können.« Sie ließ ihre Worte einen Moment wirken. »Mr. Thompson ist momentan nicht ansprechbar. Das GHB hat Auswirkungen auf das zentrale Nervensystem und kann die motorischen Fähigkeiten sowie das Bewusstsein stark beeinträchtigen. Da er unter dem Einfluss dieser Substanz steht, ist er wahrscheinlich nicht in der Lage, sich an den Vorfall zu erinnern oder klar zu kommunizieren.«

Zimmer streckte Diana nach einer kurzen Vorstellung die Hand entgegen. »Junge Dame«, fragte er fast singend, »wann schätzen Sie wird unser Mr. Thompson befragungsfähig sein?« Sein Blick bohrte sich in die wie immer makellos formell gekleidete Frau zu seinen Füßen.

Diana errötete. »In ein paar Stunden, denke ich«, murmelte sie, bemüht, professionell zu bleiben.

»Dann befragen wir ihn später auf dem Revier«, sagte Kate zu Gerda und Brad, bevor ihr Blick kurz zu Zimmer wanderte. »Natürlich mit Ihnen zusammen, Mr. Zimmer.«

Der FBI Agent nickte kaum merklich, und Kate konzentrierte sich bereits auf den nächsten Punkt. »Was wissen wir über die Opfer?«

Gerda atmete hörbar aus und hob entschuldigend die Hände. »Kate, hier bin wohl ich dran. Aber ich hatte noch nicht so viel Zeit. Reicht es gleich auf dem Revier?«

»Klar, natürlich.« Kate lächelte aufmunternd. »Brad, was wissen wir über die Leute an der Theke?«

Das war Brads Stichwort. Mit festem Blick auf Zimmer stellte er sich breitbeinig vor die Gruppe. »Die beiden an der Bar? Der eine ist Nico Herrera«, sagte er und wies mit dem Kinn auf einen schlaksigen Mann Mitte zwanzig, vor dessen Füßen ein Sanitäter kniete. »Er arbeitet als IT-Spezialist in Greenwood. Ziemlich selbstbewusster Typ. War alleine hier. Er hat den Täter überwältigt. Stand hinter dem Täter, als der gefeuert hat. Hat mit ihm um die Waffe gerungen und selbst noch einen Schuss in den Fuß abbekommen.«

Dann deutete Brad auf eine Frau neben Nico Herrera, die nervös mit den Händen zuckte. »Und das ist Natalie Harper. Sie war mit einem der Opfer befreundet.« Natalie Harper, eine junge Frau mit lockigem Haar und erschrocken blickenden Rehaugen rutschte auf dem Stuhl hin und her. Als sie bemerkte, dass über sie gesprochen wurde, wanderte ihr Blick zu Boden. »Sie ist ziemlich aufgewühlt«, fügte Brad hinzu.

Bevor Kate etwas sagen konnte, marschierte Zimmer an allen vorbei in Richtung Bar, nicht ohne Brad kräftig auf die Schulter zu klopfen. »Klasse, Kleiner. Das wird doch noch was.« Beim Rückwärtsgehen breitete er die Arme aus. »Dann packen wir die bunte Truppe doch zusammen und schaffen sie bei Ihnen aufs Revier, oder? Ich halte bei Dunkin’ auf dem Weg. Irgendwelche Wünsche an Donuts? Geht auf mich.«

Hatte Kate Brad absichtlich mit der Zeugenbefragung beschäftigt, um eine Konfrontation zwischen Jean Zimmer und ihm zu vermeiden? Finn starrte durch die gläserne Wand des Besprechungsraums auf Brad, der sich über seinen Schreibtisch lehnte und eine hochgewachsene Frau mittleren Alters befragte. Der geschäftige Betrieb des Reviers war um diese Uhrzeit fast erloschen, die wenigen verbliebenen Geräusche ließen die Szenerie im fahlweißen Licht der Neonröhren unnatürlich wirken. Was soll man um vier Uhr morgens auch erwarten, dachte Finn müde und unterdrückte das ständige Trommeln seiner Finger auf die Tischplatte.

Wenn er nur das euphorische Gefühl in seinem Kopf spüren könnte. Ohne seine Visionen fühlte er sich nackt, ersetzbar – und immer wieder musste er an den Pulse-Aktivator denken. Dieses kleine Amulett, entwickelt von seiner Mentorin und KI-Expertin Rhonda Whitmore, konnte durch eine präzise Drehbewegung und den Druck auf die daraufhin pulsierende Oberfläche sein Hirnimplantat durch elektromagnetische Impulse aktivieren. Und dadurch seine besondere Fähigkeit stimulieren – unabhängig von der Anwesenheit anderer Implantatträger. Je nach Druckstärke blieb die Fähigkeit für eine entsprechend begrenzte Zeit aktiv, bevor die Wirkung nachließ – ein Prozess, vergleichbar mit dem Ausnüchtern nach Alkoholkonsum.

Das Klirren von Kates Kaffeetasse auf dem Tisch vor ihnen unterbrach die Stille.

»Also, was haben wir?« Kates Augen wanderten zur Pinnwand, wo unter dem Bild des Täters Michael Thompson die Fotos der vier Opfer hingen. Finn schaute zu Gerda, die ebenfalls konzentriert die Pinnwand fixierte. Nur Jean Zimmer blätterte ruhig in einer Akte und lächelte, als wäre nichts geschehen.

Gerda räusperte sich. »Vier Tote. Erster ganz links ist Mike ›Mighty Mike‹ Palantino. Ende vierzig, polizeibekannt, eine Reihe von kurzen Haftstrafen wegen kleinerer Delikte, hauptsächlich Drogenhandel und Diebstahl. Ein typischer Kleinkrimineller, der immer wieder zwischen Gefängnis und Straße pendelte.« Das Foto von Mike Palantino zeigte einen Mann mit groben Zügen, kurz geschorenem Haar und einem grimmigen Gesichtsausdruck. »Er war kein Unbekannter für uns. Hat immer wieder Probleme gemacht. Mit dem Black Diamond haben wir ihn bisher aber noch nicht in Verbindung bringen können.«

Zimmer zuckte mit den Achseln. »Einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Leute wie er geraten öfter in solche Situationen, auch wenn sie selbst keine klare Agenda haben.« Er hatte nicht einmal den Blick von der Akte gehoben.

»Vielleicht …«, murmelte Kate, bevor Gerda weitersprach.

»Dann haben wir Jenna Porter, Anfang zwanzig«, fuhr sie fort. »Keine Vorstrafen, nichts Auffälliges. Ein normales Mädchen, das laut Aussage ihrer Freundin Natalie Harper einfach nur feiern wollte.« Das zweite Bild in der Reihe zeigte eine junge Frau mit strahlenden Augen und einem breiten Lächeln. »Sie scheint wirklich zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein.«

Kate deutete mit dem Kinn in Richtung Pinnwand. »Wer ist der Nächste?«

Finns Blick blieb dabei an der leitenden Ermittlerin hängen. Ihre Augen strahlten eine Energie aus, als würde die Erschöpfung, die sich an ihrer Haltung und dem nachlässig gebundenen Zopf ablesen ließ, keine Rolle spielen. Finn bewunderte Kate. Wie schaffte sie es, so fokussiert zu bleiben? Nichts schien sie aus der Bahn werfen zu können. Nicht einmal eine Nacht wie diese.

»Das ist Gregor Nash«, erklärte Gerda und deutete auf das Foto rechts von Jenna Porter. Darauf war ein blasser, schmächtiger Mann mit akkuratem Seitenscheitel zu sehen. »Er arbeitetet in der Kundenbetreuung der Mena-Versicherung. Laut seinen mitfeiernden Arbeitskollegen ein unauffälliger Mensch. Keine Vorstrafen, keine bekannten Feinde. Mr. Nash kannte Michael Thompson, den Täter, aber von der Arbeit, und ist mit ihm gekommen. Anscheinend haben sie zusammen mit den anderen Arbeitskollegen bei Mr. Nash vorgeglüht und sind dann ins Black Diamond. Dort waren sie regelmäßig. Keiner der überlebenden Arbeitskollegen kann erklären, woher Mr. Thompson die Waffe hatte. Alle schwören, dass er sie bei Mr. Nash zu Hause nicht dabeihatte.«

Finn runzelte die Stirn. »Man würde doch wahrscheinlich erkennen, ob jemand eine Waffe dabeihat. Wenn ich das vorhin richtig gesehen habe, hatte Mr. Thompson ja auch nur eine dünne Jacke zum Anziehen. Und warum sollte er seinen Arbeitskollegen erschießen und dann wild in die Menge feuern?«

»Das ist eine gute Frage«, murmelte Kate. »Vielleicht Zufall? Vielleicht war er einfach durchgedreht.«

Zimmer räusperte sich. »Oder es gibt eine tiefere Verbindung, die wir noch nicht sehen. Grundsolide Menschen wie Thompson drehen selten ohne Grund durch.«

Nachdem Stille eingekehrt war, deutete Gerda auf das letzte Foto der Reihe. »Und dann haben wir Cornelius Hummer, rechte Hand und Wahlkampfleiter von Senator John Greaves.« Sie hielt kurz inne, um die Bedeutung dieses Namens wirken zu lassen.

Kate schnellte nach vorne. »Das ist Cornelius Hummer? Der sieht auf dem Foto ganz anders aus als im Fernsehen.«

Gerda nickte und half dem fragend blickenden Zimmer auf die Sprünge: »Hummer ist eine bekannte Figur in der politischen Szene der Stadt. Er ist der Dampfhammer des Senators. Oder war es zumindest. Sehr einflussreich.«

»Das macht die Sache heikel«, murmelte Zimmer mit Blick auf den rothaarigen Mann, der das Foto mit seiner massiven Statur komplett ausfüllte. »Der Senator wird Antworten wollen. Und zwar schnell.«

»War er vielleicht das eigentliche Ziel?«, fragte Finn. »Thompson wird sich ja wahrscheinlich nicht wahllos Leute ausgesucht haben.«

Zimmer blätterte wieder in der Akte. »Definitiv nicht. Ein Typ wie Thompson war kein Mensch, der wahllos Gewalt anwendete. Irgendetwas hat ihn in diese Richtung getrieben.«

Kate stand auf. »Wir haben vier Leichen, einen überlebenden Täter und jede Menge Fragen. Aber bevor wir uns weiter in Hypothesen verlieren, sollten wir Mr. Thompson befragen. Irgendwo in seinem Leben muss der Grund …«

Noch bevor sie ihren Satz zu Ende bringen konnte, flog die Tür mit einem energischen Ruck auf. Wie ein Cowboy vor einem Duell betrat Brad den Raum. Er grinste breit.

»Haltet euch fest, Leute! Einer der überlebenden Arbeitskollegen des Schützen Michael Thompson hat gerade etwas ausgeplaudert.« Mit einem selbstzufriedenen Nicken stemmte er beide Hände auf den Tisch. »Michael Thompson hat eine Ex-Verlobte. Wie sich herausgestellt hat, hatten die beiden eine zehnjährige Beziehung, schon seit der Schulzeit. Sie waren sogar kurz davor zu heiraten.« Brad ließ sich Zeit, die Worte mit Nachdruck zu setzen. »Aber dann … hat Michael Thompson seine Ex-Verlobte eine Woche vor der Hochzeit mit jemand anderem im Bett erwischt.« Sein Blick wanderte zu den Fotos an der Pinnwand. »Eine verdammte Woche vor der Hochzeit. Er sollte eigentlich arbeiten und wollte seine Ex-Verlobte mit einem freien Tag überraschen, da die beiden so viel Stress mit der Planung hatten.«

»Das hört sich nicht schön an, aber wo ist der Zusammenhang zu unserem Fall?«, fragte Kate.

Brads Grinsen wurde noch breiter. »Der Typ, mit dem die Ex-Verlobte unseren guten Michael Thompson betrogen hat, ist Gregor Nash.« Triumphierend zeigte er auf das Foto des schlaksigen Versicherungsmitarbeiters.

KAPITEL 3

GOOD MORNING BLACKVALE

NEWS

VOR ZWEI MONATENBLACKVALE, 30. AUGUST 2024

Senator Greaves, der selbst in Blackvale aufgewachsen ist und die Herausforderungen sowie das Potenzial der Stadt bestens kennt, wird heute Details zu einem umfassenden Infrastrukturprogramm vorstellen. Mit dem geplanten Bau eines neuen Hafenterminals setzt der Politiker ein klares Zeichen für seine enge Verbundenheit mit der Region. Das Projekt soll nicht nur zahlreiche Arbeitsplätze schaffen, sondern auch den wirtschaftlichen Aufschwung der Stadt nachhaltig stärken.

BLACKVALE, 19. OKTOBER 2024

Finns Blick blieb einen Moment an der Pinnwand mit den schon leicht welligen Klebezetteln und Fotos der Ripper-Opfer hängen. Seit Monaten gab es keine brauchbare Spur – nur nutzlose Hinweise. Vor allem erinnerte die Wand ihn aber an die erfolglose Suche im Sommer. Der Anruf des Unbekannten mit dem Stimmverzerrer bei Kate hatte die Ermittlungen der letzten Monate geprägt. Der Mann hatte mit seiner Behauptung, der Ripper würde wieder zuschlagen, eine Lawine losgetreten. Kate hatte jedes Detail aus dem Gedächtnis notiert: Stimme, Wortwahl, Hintergrundgeräusche. Die IT-Abteilung hatte den Anruf zurückverfolgt, doch die Nummer war nicht registriert. Er stammte von einem entsorgten Prepaidhandy ohne aktive SIM-Daten. Sie hatten erfolglos versucht, den Standort zu triangulieren und dazu den Netzbetreiber kontaktiert. Aber jede Spur hatte sich im Nichts verlaufen.

Sie richteten ihren Fokus auf den einzigen Hinweis des Anrufers: Das nächste Opfer würde »jung und unschuldig« sein. Doch was sollten sie daraus machen? Von Kindern bis zu jungen Erwachsenen ohne Vorstrafen oder auffälligem Hintergrund kam jeder infrage. Sie hatten alte Ripper-Fälle nach möglichen Verbindungen durchforstet, doch die Beschreibung war schlicht zu ungenau, um eine konkrete Spur zu finden.

Hatte der Anrufer überhaupt die Wahrheit gesagt? War er wirklich jemand aus dem Umfeld des Serienkillers – oder gar der Ripper selbst? Mit jeder weiteren Woche ohne Mord zweifelten Kate und ihr Team mehr an der Glaubwürdigkeit des Anrufers. Vier Monate später stuften sie den Anruf in den Einsatzbesprechungen zunehmend als gezielte Ablenkung ein.

Doch Finn konnte diese bohrende Unruhe, die ihn nachts wachhielt, nicht abschütteln. Jeder Tag ohne Fortschritt fühlte sich an, als würde er dem Ripper mehr Raum geben. Mehr Zeit, um wieder zuzuschlagen. Die Vorstellung, dass weitere Menschen sterben könnten, weil er, Finn, den entscheidenden Hinweis übersehen hatte, wurde unerträglich.

Das war der Grund, dass Finn sich in den letzten Monaten immer stärker von seinem besten Freund Simon zurückgezogen hatte. Er hatte Nachrichten ignoriert und Treffen verschoben. Denn die bloße Erwähnung von Simons Tochter Lola, seinem Patenkind, das auf so grausame Weise vom Ripper ermordet worden war, ließ ihn immer noch innerlich erstarren. Er fühlte sich schuldig. Trotz seiner durch sein Implantat ermöglichten besonderen Fähigkeit war der Ripper ihm immer einen Schritt voraus gewesen, und jede neue Leiche hatte sich wie ein persönliches Versagen angefühlt.

»Weißt du, was mir an dem Typen so richtig auf die Nerven geht?« Brads Flüstern holte Finn aus seinen Gedanken zurück an den Schreibtisch des Ermittlers.

Finn fuhr sich durch sein wildes Haar. Er musste nicht lange raten, wer gemeint war. »Zimmer?«

Ein leises Schnauben entfuhr Brad. »Genau. Der Typ kommt hier rein, als wüsste er alles besser. Diese ganze Nummer mit dem FBI – große Show, nichts dahinter.« Mit einem nervtötenden Klicken ließ er die Mine seines Kugelschreibers immer wieder raus- und reinfahren. »Hast du gesehen, wie er sich ständig in den Vordergrund drängt? Als hätte er das verdammte Rad neu erfunden.«

»Vielleicht ist das nur seine Art«, erwiderte Finn. »Du weißt doch, die FBI-Leute ticken oft ein bisschen anders.« Er hatte keine Ahnung, ob das stimmte.

Brad lachte trocken. »Scheiße, Mann. Der Typ nervt. Hast du den Blick gesehen, den er Kate zugeworfen hat? Als hätte er den Fall schon gelöst, bevor er überhaupt die Akte aufgeschlagen hat.«

»Du glaubst, er versucht, uns zu übertrumpfen?« Besorgt wanderte Finns Blick in Richtung Kate und Jean, die sich drei Tische entfernt unterhielten. Wenn Brad sich weiter so laut aufregte, würden sie ihr Gespräch unweigerlich mithören.

»Übertrumpfen? Er tut so, als wären wir seine Fußabtreter. Als könnten wir nur froh sein, dass der große Jean Zimmer aus seiner glorreichen FBI-Welt herabsteigt, um uns zu helfen. Und wieso darf niemand außer Kate wissen, an welchem Fall er arbeitet?«

»Vielleicht gefällt es ihm, ein bisschen Eindruck zu schinden. Und bisher hat er doch keine schlechten Vorschläge gemacht.«

»Darum geht’s nicht.« Brad warf den Kugelschreiber genervt hinter seine Tastatur. »Es geht darum, wie er es macht. Immer dieser unterschwellige Ton, dieses ›Ich weiß mehr als ihr‹. Er könnte genauso gut einen leuchtenden Pfeil auf sich selbst richten.«

»Entschuldigung, Detective Hale?« Eine Frau, Anfang zwanzig, mit lockigem, karamellfarbenem Haar, trat an den Schreibtisch. »Kann ich jetzt gehen?«, fragte sie höflich.

Brad schnellte aus dem Stuhl und baute sich vor der Frau im knappen, schwarzen Kleid auf. »Gehen?« Er lächelte charmant. »Ich wollte eigentlich gleich noch mit Ihnen sprechen, Miss Harper.«

Stimmt. Jetzt erkannte Finn die Frau wieder. Natalie Harper. Die Freundin der ermordeten Jenna Porter. Im nüchternen Licht des Reviers sah ihr Gesicht viel blasser aus.

Natalie Harper verlagerte ihr Gewicht auf ein Bein. »Ich dachte, ich bin durch«, sagte sie trocken.

Brad hob entschuldigend die Hand. »Na, ich werde es schnell machen, versprochen«, sagte er und stützte seine Hand auf die Kante des Schreibtischs. »Aber ich hab da noch ein paar Fragen …«

Natalie Harper zögerte. »Okay«, sagte sie schließlich, offensichtlich genervt.

Unter dem Klackern ihrer hohen Absätze entfernte sie sich wieder vom Schreibtisch.

Finn lehnte sich im Stuhl nach hinten. »Weißt du, vielleicht solltest du dir bei Zimmer mal was abschauen. Der bekommt die Frauen besser um den Finger gewickelt als du.«

Wie auf ein Stichwort löste sich Zimmer von Kate und steuerte mit der Ermittlerin im Schlepptau auf die beiden zu. Er nickte Finn freundlich zu, und sein amüsierter Blick blieb an Brad hängen.

»Hey, Bruce«, begann Jean. »Haben Sie vielleicht irgendwann mal die Information für mich, wann wir Michael Thompson befragen können?«

Wollte er Brad mit dem süffisanten Unterton provozieren?

»Ich heiße Brad.« Der Ermittler richtete sich auf.

»Wie auch immer … Also: Wann kann ich Thompson verhören?«

Brad hielt inne und krallte die Finger um die Tischkante. Sein Blick suchte Kates, und Finn sah aus dem Augenwinkel, wie sie nickte.

»Wir können Thompson noch nicht befragen. Der ist komplett durch und muss wieder klar werden«, antwortete er knapp und starrte Zimmer direkt in die Augen.

»Sie sprechen hier also von mehreren Stunden?« Der FBI-Agent lächelte säuerlich, als wäre es eine absurde Vorstellung, so lange warten zu müssen.

»So sieht’s aus.« Ohne eine Miene zu verziehen, hielt Brad den Blickkontakt.

»Großartig«, sagte Zimmer ironisch und machte einen Schritt zurück. »Lassen Sie uns wissen, wenn Sie weitere Fortschritte machen.«

Finn bekam Mitleid mit Brad. Zimmer ließ jeden Satz wie einen Seitenhieb wirken.

»Gibt es hier irgendwo einen Platz, an dem ich Zugang zum System bekomme?«, fragte Zimmer gelangweilt. Warten schien nicht sein Ding zu sein.

Kate nickte knapp. »Natürlich. Gerda kann Ihnen einen Raum zeigen.«

Bei der Erwähnung ihres Namens zuckte die Ermittlerin am Nebentisch leicht zusammen und stand hastig auf. Zimmer zwinkerte Gerda kaum merklich zu, die daraufhin wieder errötete.

Während die beiden in einem der Seitengänge verschwanden, wandte sich Finn an Kate. »Ich frage mich: Wenn Thompson jetzt noch nicht einmal ansprechbar ist, wie soll er dann unfallfrei eine Waffe aus seiner Tasche gezogen und gezielt geschossen haben?« Den Gedanken, dass – gerade nach dem Vorfall im Sommer – auch eine BodyPulse-Fähigkeit im Spiel gewesen sein könnte, mit der Michael Thompson gesteuert wurde, behielt er für sich.

Finn war hundemüde. Wann war er auch das letzte Mal bis halb sechs morgens wach gewesen? Der Glaskasten des Polizeireviers verschwamm immer wieder vor seinen Augen. Schon mehrmals hatte er erfolglos seine Brillengläser geputzt. Die trübe Sicht lag wohl eher am Schlafmangel. Um nicht einzuschlafen, hatte Finn sich für die Befragung von Nico Herrera hinten an die Wand gelehnt. Trotzdem fiel es ihm verdammt schwer, die Augen offen zu halten.

»Also, Mr. Herrera«, begann Kate mit verschränkten Armen, »erzählen Sie uns noch einmal genau, was im Nachtklub passiert ist.«

Nico Herrera schien nicht im Geringsten müde. Er saß aufrecht, die Schultern gerade, und seine dunkelbraunen Augen ruhten konzentriert auf Kate. Mit einem selbstsicheren Lächeln hatte er es sich auf dem Stuhl bequem gemacht.

»Na ja, es war ziemlich chaotisch. Ich kam von der Bar, und die Musik war echt laut. Durch den Nebel habe ich fast nichts gesehen. Dann höre ich plötzlich direkt neben mir einen Knall. Erst denke ich, das gehört zur Musik. Dann noch einer, noch einer. Dann rennen die Leute auf einmal in alle Richtungen. Und direkt neben mir steht dann der Typ mit einer Waffe und feuert weiter. Ich … ähm … ich habe sofort reagiert.« Er hielt kurz inne.

Finns Augenbraue hob sich fast unmerklich.

Kate nickte nur knapp und sagte: »Erzählen Sie weiter.«

»Ja, also«, fuhr Nico Herrera wild gestikulierend fort, »als ich sah, dass der Verrückte anscheinend nicht aufhörte, wusste ich, dass ich etwas tun musste. Intuitiv. Wie, als wäre mein Körper darauf programmiert. Also bin ich einfach auf ihn gesprungen.« Er ballte die Faust.

»Und dann?« Kates Blick verengte sich.

»Dann hab ich ihn nach unten gedrückt.« Er machte eine rasche Bewegung, als würde er den Täter gerade erneut überwältigen. »Ich wusste, wenn ich zögere, könnte es noch mehr Tote geben.«

Mutig, dachte sich Finn. Passte dies zu dem Mann vor ihm? Nico Herrera erschien ihm wie jemand, der alles unter Kontrolle haben wollte, zumindest äußerlich. Sein schwarzbraunes Haar war sauber geschnitten, kein Strähnchen stand ab, und auch sein glatt rasiertes Gesicht war auffallend gepflegt – und das alles nach diesem Abend.

Nico Herreras Blick ging für einen Moment ins Leere. »Der Typ war ziemlich überrascht, würde ich sagen. Denke, der hat nicht damit gerechnet, dass jemand … na ja … sich traut …« Wieder ballte er eine Faust.

Finn konnte sich ein leises Schnauben nicht verkneifen. Nico Herrera war schlank, eher schmächtig. Hatte dieser Mann Michael Thompson, der ein Stück größer und deutlich schwerer war, einfach so zu Boden ziehen können? Wie viel Selbstinszenierung war hier im Spiel?

Er tauschte einen Blick mit Kate, der ihm verriet, dass sie Nico Herrera ebenfalls kritisch betrachtete. In ihrem Ton ließ sie sich aber nichts anmerken.

»Was ist danach passiert?«

»Tja, ich hatte ihn am Boden, bevor er überhaupt wusste, was los war.«

»Und wie genau haben Sie es geschafft, ihn zu Boden zu bringen?«, fragte Kate nun nachdrücklicher.

Nico Herrera zögerte. »Überraschungseffekt. Ich habe mich einfach auf ihn geworfen, und er ist nach vorne gekippt. Ich habe seinen Arm gepackt. Ich wollte an die Waffe. Ich hatte nur den Gedanken, ihn zu stoppen und Menschenleben zu retten.«

Nico Herrera gefiel sich sichtlich in dieser Rolle. Der Retter. Der Held.

»Und der Schuss?« Kate ließ ihn nicht aus den Augen. »Er hat Sie doch am Fuß getroffen.«

Finns Blick fiel nach unten auf Nico Herreras bandagierten Fuß. Kate hatte Brad eigentlich den Auftrag gegeben, Krücken für Herrera zu besorgen. Hatte der junge Mann diese bewusst abgelehnt, um heroischer zu wirken?

Nico Herreras Miene versteinerte sich. »Ja, das … das war nicht vorherzusehen. Wir haben um die Waffe gerungen. Ich habe seine Hand mit der Pistole nach unten gedrückt. Dann hat sich ein Schuss gelöst. Aber ich konnte ihn dennoch zu Boden bringen.« Er versuchte sichtlich, locker zu wirken. Die Verletzung sollte den Glanz seiner Heldengeschichte nicht trüben. »Ich bin mir sicher, wenn ich nicht da gewesen wäre, hätte er noch mehr Menschen getötet.«

»Hm«, murmelte Kate schließlich und lehnte sich wieder in ihrem Stuhl zurück. »Das klingt nach einer ziemlich riskanten Aktion, Mr. Herrera.«

Nico Herrera hielt ihrem Blick stand, und das selbstzufriedene Lächeln kehrte langsam zurück. »Manchmal muss man einfach handeln, bevor es zu spät ist.«

Es klopfte, und die Glastür des Besprechungsraums flog auf. Mit wippendem, goldblondem Zopf betrat Finns Schwester Kelly Dever, die Sekretärin des Captains, den Raum. Ihr enges, lilafarbenes Kleid zog sofort die Blicke auf sich. »Der Captain will dringend mit dir sprechen, Kate«, verkündete sie ohne Umschweife. »Und Finn, dich will er auch dabeihaben.«

»Wir machen hier eine Pause.« Mit einem Blick zu Nico Herrera unterbrach Kate die Befragung. Sie stand auf. »Kelly, kümmerst du dich bitte so lange um Mr. Herrera?«

Kurz zogen sich Kellys Augenbrauen zusammen, doch sie fing sich sofort. »Natürlich«, säuselte sie. »Da sind Sie hier in den allerbesten Händen.«

Nico Herreras selbstsicheres Grinsen wurde breiter. »Nun, da habe ich bei Ihnen keine Zweifel«, erwiderte er spielerisch und ließ seinen Blick über Kellys extravagantes Outfit gleiten.

Kelly kommentierte die Erwiderung nicht weiter. Ungewöhnlich für sie. Stattdessen lächelte sie Nico Herrera einfach an.

»Also, Mr. Herrera«, begann sie in ihrem gewohnt ironischen Ton, »darf ich den großen Helden des Abends für einen Kaffee begeistern?« Sie legte den Kopf zur Seite.

»Ich bin nicht der Held des Abends«, erwiderte Nico Herrera, ohne es wirklich zu meinen. »Aber hey, man tut, was man kann.«

»Na, Sie sind ja bescheiden!«, entgegnete Kelly belustigt. Ihre Augen leuchteten vor Vergnügen, und sie spielte mit einer Haarsträhne, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte. »Aber gut, irgendjemand muss ja die Welt retten, nicht wahr?« Finn kannte das Zucken ihres Mundwinkels. Dann war seine Schwester wirklich gefordert – oder sie hatte jemanden durchschaut und hatte Gefallen an einem kleinen Machtspielchen.

»Ich wette, dass das normalerweise Sie übernehmen«, erwiderte Nico Herrera mit einem Zwinkern.

Das Prickeln zwischen den beiden war unübersehbar. Kelly liebte es, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen – und Nico Herrera stand ihr da in nichts nach. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, wie ihr Geplänkel weitergehen würde. Zum Glück musste Finn nicht weiter zuhören.

»Finn, kommst du?« Erst durch Kates hochgezogene Augenbraue bemerkte er, dass er seine Schwester und Nico Herrera angestarrt hatte. Mit einem Grinsen trat er hinter der Ermittlerin aus dem Raum.

»Na, da haben sich ja zwei gefunden«, murmelte er.

Kate schmunzelte. »Für jeden Topf gibt es einen Deckel.«

Kate und Finn trafen Captain Timothy Thake in seinem Büro nicht an und beschlossen, dort zu warten. Die Glastür verschluckte die langsam aufkommenden frühmorgendlichen Geräusche des Reviers. Kaum hatten sie sich schweigend und erschöpft auf die beiden Stühle vor dem hölzernen Schreibtisch mit den penibel sortierten Akten fallen lassen, sprang die Tür mit einem Knall auf.

»Kate …« Mit seiner gewohnt mürrischen Miene stampfte der Captain in den Raum. »Dever …« Die buschigen Augenbrauen hatten sich eng zusammengezogen. »Klasse, Sie sitzen schon, also fangen wir direkt an«, sagte er in seiner tiefen, scharfen Stimme, die durchs ganze Revier hallte. »Wir müssen über das FBI sprechen.«

Finn richtete sich auf.

»Reden wir nicht drumherum: Ich wurde angerufen«, begann er und ließ sich auf seinen Stuhl fallen, der dies erstaunlich robust abfederte. »Washington will, dass wir dem FBI in diesen Fall berichten. Die Schießerei im Black Diamond hat für Aufsehen gesorgt, da Senator Greaves’ rechte Hand unter den Opfern ist. Wir haben die halbe Politik des Landes im Nacken. Dazu wurde mir ein neuer Kontakt vermittelt, Agent Wojnaski.«

»Das mit dem FBI wissen wir bereits. Was genau erwarten Sie, Sir?«, fragte Kate.

»Wir starten in unser normales Ermittlungsverfahren, aber wir koordinieren dies mit Wojnaski«, brummte der Captain und pfefferte eine Akte auf den Tisch. »Ich habe gerade ein erstes Gespräch mit dem Mann geführt. Sie haben mit dem Team jetzt drei Tage Zeit. Dann rufen Sie Wojnaski bitte an.« Er reichte ihr einen Zettel mit einer Telefonnummer. »Im Moment gehe ich davon aus, dass es bei reinen Statusberichten bleibt.«

Finn starrte den Captain mit offenem Mund an. Ein Blick zur Seite zeigte ihm, dass Kate ebenfalls vollkommen irritiert war. Die Ermittlerin ergriff als Erste das Wort.

»Captain, FBI-Agent Jean Zimmer ist doch bereits involviert. Er war am Tatort im Black Diamond dabei und hat sich uns angeschlossen, um das Verhör zu unterstützen. Sie haben ihn doch an uns vermittelt.«

Thakes Augenbrauen schnellten nach oben. »Zimmer? Davon weiß ich nichts. Wer soll das sein?«

Kate und Finn tauschten erneut einen Blick aus.

»Er ist vom FBI und ermittelt in einem Fall des organisierten Verbrechens«, sagte Finn.

Der Captain griff zum Telefon auf seinem Schreibtisch und hämmerte mit den Fingern auf den Ziffernblock ein. Während das Freizeichen ertönte, trommelte er ungeduldig auf die Schreibtischplatte.

Nach ein paar Sekunden nahm jemand am anderen Ende der Leitung ab. »Thake hier«, brummte der Captain ins Telefon. »Ich brauche Informationen zu einem Ihrer Agenten, Jean Zimmer. Er ist in einem unserer Fälle involviert.«

Ein für Finn unverständliches Gemurmel ertönte aus dem Hörer. Die Furchen im Gesicht des Captains vertieften sich. »Was heißt das?« Seine Stimme wurde noch schärfer. »Z-I-M-M-E-R, Jean.«

Kate nickte ihm zu.

Der Captain hörte eine Zeitlang intensiv zu. Schließlich knallte er den Hörer auf die Gabel und atmete tief aus. Seine Lippen mit den sonst hängenden Mundwinkeln zogen sich zu einer schmalen Linie zusammen.

»Ich habe gerade mit Agent Wojnaski gesprochen. Das FBI kennt keinen Agenten Jean Zimmer«, knurrte er. Zorn und Besorgnis lagen in seinen Augen. »Was zum Teufel ist hier los?«

»Sir, er hat uns eine Marke gezeigt«, erklärte Kate vorsichtig. »Er …« Sie hielt inne.

Finns Magen spannte sich an. Wie viel wussten sie eigentlich über Jean Zimmer? Er selbst hatte heute zum ersten Mal einen FBI-Agenten getroffen. Zumindest dachte er das. Waren sie einem Betrüger aufgesessen? Ein schneller Blick auf Kates angespannte Kiefermuskeln verriet ihm, dass sie sich ihres Fehlers schmerzlich bewusst war.

Die letzten sechs Monate mussten sowieso hart für sie gewesen sein. Der Wechsel von der West- an die Ostküste hatte sie nicht nur aus ihrem Job, sondern auch aus ihrem dortigen Netzwerk gerissen. Über Diana hatte Finn erfahren, dass Kates frühere Kollegen kaum noch Kontakt zu ihr hielten – aus Enttäuschung oder vielleicht aus Neid.

Vor allem aber hatte sie in ihren bisherigen Fällen nie mit dem FBI zusammengearbeitet. Und beim Ripper-Fall versuchte sie seit Monaten, eine verlässliche Zusammenarbeit aufzubauen – doch ständig wechselten die zuständigen Mitarbeiter, und seit dem letzten Mord war nicht ein einziger Bundesbeamter mehr vor Ort gewesen.

Dass sie nun ausgerechnet einem falschen FBI-Agenten aufgesessen war, würde sie doppelt treffen. »Soll das verdammt noch mal Ihr Ernst sein? Kate, lassen Sie sich bei so was das nächste Mal direkt von Agent Wojnaski bestätigen, dass das auch ein wirklicher FBI-Agent ist.« Thake schnaubte verächtlich.

Kate sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

»Worauf warten Sie?«, donnerte der Captain. »Finden Sie diesen Kerl. Zackig. Wer auch immer er ist – ich will wissen, was er vorhat.«

Sekunden später stürmten Kate und Finn über die Bürofläche. Vorbei an der staunenden Kelly, die Nico Herrera gerade einen Kaffee gebracht hatte. Es ging hier um jede Minute. Der Schmerz schoss wieder in Finns Bein. Doch er biss die Zähne zusammen und zwang sich vorwärts. Gemeinsam stürmten sie auf Gerda zu.

»Gerda!«, rief Kate atemlos. »Wo hast du Jean Zimmer hingesetzt?«

Die Ermittlerin zuckte zusammen und deutete über ihre Schulter. »Im Analystenraum, da hinten.«

»Danke«, stieß Kate hervor und sprintete los. Finn folgte.

Die Glastür knallte gegen die Wand, als sie eintraten. Olexiy Khatoviv schreckte hoch.

»Wo ist Jean Zimmer?«, schoss es knapp aus Kate heraus.

»Der nette FBI-Typ?« Olexiy kratzte sich am Kopf.

»Wo ist er, Olexiy?«

»Er war nur kurz hier, hat sich Daten auf einen Stick gezogen und ist dann Richtung Fahrstuhl abgehauen. Vor … vielleicht fünf Minuten?«

»Verdammt!«

Im Vollsprint stürmten sie auf die Treppe zu, denn der Fahrstuhl fuhr im Schneckentempo. Sie hasteten die Stufen hinunter, zwei, drei auf einmal nehmend, bis sie schließlich die Lobby des Reviers erreichten. Schwer atmend wischte sich Finn den Schweiß von der Stirn. Diese verdammte Schusswunde.

Das große Empfangsfoyer war belebt. Die Morgensonne schien durch die Fenster und blendete leicht. Finn blinzelte und blickte sich um. Er sah Polizisten, die gerade ihren Dienst antraten. Die ersten Bürger, die sich an den Schaltern anstellten. Aber wo verdammt war Zimmer? Hier würden sie ihn nie finden.

Kate schob sich durch die Menge, Finn dicht hinter ihr. Nach und nach schnappte sich die Ermittlerin die ankommenden Kollegen. »Hast du einen Mann gesehen, Ende dreißig, dunkle Haare, Maßanzug? Er müsste vor ein paar Minuten rausgegangen sein.«

Finn wollte schon aufgeben. Was sollte das hier noch bringen? Dann schnipste ein Polizist mit den Fingern. »Der war gerade hier! Da vorne, im Blue Brew.«

»Los«, rief Kate.

Gemeinsam rannten sie auf das innen liegende, kleine Café zu. Verdammt. Der Schmerz in Finns Bein kämpfte gegen ihn. Jetzt war Wille gefragt. Er blieb dicht hinter Kate. Im Café stürmten sie direkt auf den älteren Mann hinter der Theke zu. Die Warteschlange ignorierten sie.

»Sie müssen sich anstellen«, sagte der Kassierer irritiert.

Kate riss ihre Marke nach oben.

»Hat vor ein paar Minuten jemand bei Ihnen etwas gekauft: dunkle Haare, Maßanzug, selbstbewusstes Auftreten?«, presste sie heraus.

Der Mann grinste. »Oh ja, der Typ mit dem Muffin. Der hatte es eilig. Sie haben ihn um eine Minute verpasst. Der ist gerade zur Straße raus.«

Finn und Kate sahen sich kurz an. So ein Mist. Sie eilten durch die Drehtür nach draußen. Die Sonne blendete sie erneut. Der Morgenverkehr rollte bereits an. Autos hupten, Fußgänger wechselten eilig die Seiten, und die Menge schien nur dichter zu werden. Finn suchte verzweifelt die dicht gedrängten Passanten ab. Wie sollten sie hier jemanden finden?

»Siehst du ihn?« Hektisch sah sich Kate um.

Finn biss die Zähne zusammen. »Nein … nichts.«

»Das war’s. Der ist weg.« Kate faltete die Hände hinterm Kopf. »Das kann doch nicht wahr sein!«

»Wir müssen herausfinden, was er an Daten gezogen hat.« Finn sog die frische Morgenluft tief ein.

»Tschuldigung, Detective Kate Okon?« Ein Teenager, schlaksig und in einer ausgewaschenen Jeansjacke, hatte eben die Straße überquert und stand vor ihnen.

Finn blinzelte überrascht, während Kate nur irritiert nickte. Der Junge kramte in seiner Hosentasche und zog einen kleinen Zettel hervor. »Der ist für Sie.«

»Was ist das?«

Der Junge zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Hat mir eben ein Mann drüben gegeben und auf Sie gezeigt. Ich hab zwanzig Dollar dafür gekriegt, dass ich den zu Ihnen rüberbringe.«

Kate faltete den Zettel auseinander und las vor: »Leute, es war mir eine Freude, mit euch zusammenzuarbeiten – wirklich! Kate, dein Instinkt ist unübertroffen, und Finn, du hast etwas Besonderes. Und mein Freund Bruce, es hat echt Stil, wie du versuchst, cool zu wirken. Ein wahres Original! Bis bald – und keine Sorge, ich werde euch vermissen. Euer Jean«.

KAPITEL 4

GOOD MORNING BLACKVALE

NEWS

VOR ZWEI MONATENBLACKVALE, 07. SEPTEMBER 2024

Und schalten Sie auch heute wieder ein, wenn es heißt: »Fire (L)ON«. Unser guter Lon McCarren hat Senator John Greaves und Bau- und Logistikunternehmer Jerry Tysan für eine Podiumsdiskussion gewinnen können. Thema heute: die Fläche des ehemaligen Wuyoning-Gebäudes im Norden von Blackvale. Während Senator Greaves den Bereich in einen öffentlichen Park verwandeln möchte, um »grüne Oasen für die Bürger zu schaffen«, hat Jerry Tysan andere Pläne. Er plant den Bau eines Erlebniszentrums, das Arbeitsplätze und Tourismus in die Region bringen soll. Beide Ideen sorgen bereits seit Wochen für kontroverse Diskussionen in der Stadt. Schalten Sie heute Abend in die Liveberichterstattung!

BLACKVALE, 19. OKTOBER 2024

Das warme Wasser prasselte auf Finns Schultern, strömte über seine müden Muskeln und wusch den Stress ab. Er hatte keine Minute geschlafen und versuchte jetzt, die letzten Stunden hinter sich zu lassen.

»Du kannst die Zeit nutzen, um deinen Kopf freizukriegen.« Elia Russori, Finns Freundin, überlagerte mit ihrer Stimme das Plätschern des Wassers.

Durch den dichten Dampfschleier sah er, wie sie sich eine Strähne hinter ihr Ohr strich und dann vor dem Spiegel die Haare zusammenband. Sie summte vor sich hin und packte ihre Kosmetiktasche für die bevorstehende, einwöchige Klassenfahrt. »Lass die Wohnung aber in einem Stück, ja?«

Finn grinste und stellte das Wasser ab. »Ich werde die Ruhe genießen«, erwiderte er.

Elia reichte ihm ein Handtuch. Wie wunderbar intuitiv sich alles anfühlte. In den letzten Monaten hatten sie sich auf eine Weise eingespielt, wie er es sich vor einem halben Jahr kaum hätte vorstellen können. Die schwierige Zeit im Sommer nach seinem Jobverlust und Elias Gefühl, an zweiter Stelle hinter seiner Jagd nach dem Ripper zu stehen, wirkte weit entfernt. Die kleinen Dinge hatten sie einander wieder nähergebracht: das gemeinsame Frühstück, die ruhigen Abende zusammen, ihre Spaziergänge um den Block.

»Hast du alles für die Fahrt?«, fragte er und stellte sich mit dem Handtuch um die Hüften hinter sie. Zärtlich drückte er ihr einen Kuss auf den Nacken.

»Ja, fast. Nur noch ein paar Kleinigkeiten.« Sie drehte sich um und legte eine Hand an seine Brust. »Mach dir keine Sorgen. Es sind nur ein paar Tage. Und danach hast du mich wieder an der Backe.«

Finn lachte und küsste sie auf die Stirn. »Ich kann es kaum erwarten.« Es fühlte sich angenehm an, wieder Stabilität und Leichtigkeit in der Beziehung zu haben. Aber es war mehr als das. In den letzten Wochen war eine Idee in ihm gereift: Elia war die perfekte Frau. Sie war klug, leidenschaftlich und sie sah einfach verdammt gut aus. Er wollte ihr einen Antrag machen.

Seit Tagen dachte er darüber nach, wie er die Zeit ohne sie nutzen konnte. Es war die ideale Gelegenheit, den Antrag bis ins Detail vorzubereiten. Den Ring hatte er bereits vor drei Wochen gekauft. Er konnte es nicht erwarten, Elia die entscheidende Frage zu stellen – überzeugt, dass er die Antwort schon kannte.