Finn und die Rätsel der Vergangenheit - Jürgen Schnell - E-Book

Finn und die Rätsel der Vergangenheit E-Book

Jürgen Schnell

0,0

Beschreibung

Der 13jährige Waisenjunge Finn sieht sich plötzlich einem Erbe gegenüber, dass ihm mehr Rätsel aufgibt, als ihm lieb ist. Könnte seine alleinerziehende Mutter, die vor vier Jahren nach einem Verkehrsunfall im Krankenhaus starb, noch leben? Bei der Suche nach seinem wirklichen Vater steht Finn zudem vor immer neuen Fragen. Antworten darauf zu finden, erweist sich schwieriger als gedacht. Und dann taucht plötzlich noch eine ihm völlig unbekannte Tante auf, deren Existenz als Familiengeheimnis lange Zeit gehütet wurde. Ist damit die geplante Adoption durch seine geliebten Pflegeeltern Helge und Jana gefährdet? Finn und seine Freundin Emma versuchen, die Rätsel der Vergangenheit zu lösen. Doch sie geraten dabei selbst in Gefahr. Emma muss mit ansehen, wie Finn entführt wird. Doch wer steckt dahinter? Eine hochspannende Geschichte voller überraschender Wendungen, bei der die Polizei den Ereignissen oft hinterherläuft und Kriminalhauptkommissar Bob Malschewski kurz davor ist, die Nerven zu verlieren.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 622

Veröffentlichungsjahr: 2021

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Über den Autor:

Jürgen Schnell wurde in Magdeburg geboren, wuchs dort auf und lebt heute in Dresden. Er studierte in Leipzig Wirtschaftsjournalistik und war in diesem Beruf viele Jahre tätig.

Später gründete er ein Pressebüro und war an der Herausgabe mehrerer Sachbücher beteiligt. Nun legt er die Fortsetzung seines ersten Romans „Der Weihnachtsmann bin ich“ (ISBN 978-3-7504-4282-5) vor.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

I.

VERSUCHUNGEN

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

II.

ESKALATION

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

III.

ERWARTUNGEN

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

EPILOG

PROLOG

Sonntag, 5. Mai 2002, gegen 5 Uhr morgens

Die Nebelschwaden verdichteten sich, die Sicht wurde immer schlechter. Ein leichter Föhn hauchte über Wald und Wiesen. Der Regen der vergangenen Tage verdunstete vom frischen Grün der Blätter und den Halmen der Gräser. Gespenstische Ruhe lag über der Landschaft. Bei Marcel Schieder kam diese Ruhe nicht an. Er saß in seinem neuen A4 und trommelte mit den Fingern beider Hände nervös auf das Lenkrad. Was tat er hier? Warum hatte er sich auf dieses Treffen eingelassen?

Das Auto stand in einer kleinen Parkbucht am Rande einer einsamen Landstraße im dunklen Grau des beginnenden Tages. Sie würde kommen, da war er sich hundertprozentig sicher, wollte schließlich sein Geld. Er griff in die Innentasche seines Jacketts und spürte den Umschlag mit den druckfrischen Euro-Scheinen, die es seit Anfang des Jahres in Deutschland gab. Das Leben sei teurer geworden und der Junge koste immer mehr Geld, bräuchte neue Klamotten, hatte sie ihm am Telefon gesagt. Und als Vater habe er seinen Beitrag zu leisten. 5.000 Euro seien dafür wohl angemessen. Ob sie noch alle Tassen im Schrank habe, hatte er sie gefragt. Er habe ihr nach der Geburt immerhin 10.000 DM übergeben. Damit solle es aber auch gut sein. Das sähe sie etwas anders, hatte sie daraufhin gemeint. Gäbe sie ihn als Vater bei den Behörden an, müsse er für neun Jahre das Kindergeld zurückzahlen, das sie bisher vom Staat erhalten hatte. Und diese Summe sei um ein Vielfaches höher. Er konnte nicht einmal lautstark fluchen, denn das Telefonat war an seinem Arbeitsplatz eingegangen, dort, wo sie sich vor fast elf Jahren kennengelernt hatten. Gerade vom Studium gekommen, hatte er als Entwicklungsingenieur eine attraktive Stelle erhalten. Yasmin arbeitete im selben Unternehmen als Finanzbuchhalterin. Die lebenslustige Schwarzhaarige war fast zwei Jahre älter als er,aber zwischen Ihnen hatte es sofort gefunkt. Sie kosteten die Liebe in allen Facetten aus, doch dann lernte er bei einem Lehrgang die blonde Schönheit Tanja kennen. Er entschied sich nach langen und schlafarmen Nächten für die vier Jahre jüngere Blondine.

Yasmins Mitteilung, dass sie schwanger sei, nahm er nicht ernst, hielt es für eine Finte, um ihn an sie zu fesseln. Doch dann sah er die Veränderungen an ihrem Körper und musste der Wahrheit ins Auge sehen. Yasmin wollte das Kind unbedingt. Wenigstens hatte sie ihm angeboten, gegen die Zahlung von 10.000 DM seinen Namen als Vater nicht zu nennen. Bis heute hatte sie sich an die Absprache gehalten. Und er hat ihren gemeinsamen Sohn all die Jahre nie zu Gesicht bekommen. Der mittlerweile Neunjährige bedeutete ihm nichts. Seine beiden Kinder, die er mit Tanja gezeugt hatte, liebte er dagegen über alles.

Marcel war sich ziemlich sicher, wenn er heute zahlte, würde sie ihn wahrscheinlich nicht mehr in Ruhe lassen. Aber was sollte er sonst tun? Also hatte er die 5.000 Euro heimlich von seinem Konto abgehoben. Geld, das er für den Familienurlaub im Sommer zurückgelegt hatte. Irgendwann würde er Tanja erklären müssen, dass ihr geplanter Urlaub ausfallen müsse. Im Augenblick weigerte er sich, darüber auch nur einen Gedanken zu verschwenden.

Endlich sah er einen schwachen Lichtschein im nebligen Schleier, der langsam kräftiger wurde. War es Yasmin? Wenn ja, dann drückte sie gerade kräftig aufs Gaspedal. Zu kräftig, wie er fand. Jetzt hörte er schon den laut heulenden Motor. Plötzlich bemerkte er dunkle Schatten, die aus dem Waldstück an der rechten Fahrbahnseite auf die Straße liefen. Sie standen bereits mitten auf der Fahrbahn, als die Bremsen quietschten, das Auto einen Schwenk nach links machte und mit berstendem Krachen an einem Baum landete. Marcel war einige Sekunden zu keiner Bewegung fähig, dann öffnete er langsam die Fahrertür und stieg aus. Eine bleierne Stille umgab ihn. Die Schatten waren, wie von Geisterhand gesteuert, verschwunden.

Im festen Willen zu helfen, eilte er auf das Autowrack zu, sah schon von Weitem den schlaff herabhängenden Airbag auf der Fahrerseite und eine Frau, eigenartig verrenkt dahinter sitzend. Die linke Seite des Autos war zieharmonikaartig zerknittert, die Fahrertür so verklemmt, dass sie sich von ihm nicht öffnen ließ. Durch die zersplitterte Scheibe erkannte er Yasmin, die aus einer Wunde am Kopf blutete und deren linker Arm eigenartig verrenkt herunterhing. Sie lag bewusstlos in den Sicherheitsgurten, doch die Finger der rechten Hand bewegten sich leicht. Sie lebte also noch. In diesem Moment versagte sein Drang, ihr zu helfen. Den Rettungsdienst rufen? Wie denn? Ein Handy besaß er nicht. Und was sollte er denen sagen, warum er hier gewartet hatte? Würde die Polizei ihn vielleicht sogar als Verursacher des Unfalls in Betracht ziehen?

Lösten sich durch den Unfall nicht gerade all seine Probleme! Instinktiv wanderte seine rechte Hand in die Innentasche seines Sakkos, spürten die Finger den Umschlag mit den Geldscheinen, den er nun behalten konnte. Der Sommerurlaub war gerettet!

Marcel zögerte instinktiv noch einen kurzen Moment, dann drehte er sich vom Auto und der schwer verletzten Yasmin weg und lief schnellen Schrittes zu seinem Fahrzeug. Er startete den Motor und fuhr davon. Die um ihn herum wabernden Nebelschwaden forderten seine ganze Aufmerksamkeit, ließen nicht die Spur eines Gedankens an die dramatischen Folgen seines Handelns zu. Je weiter er sich von der Unfallstelle entfernte, desto mehr hatte sich sein ursprüngliches Vorhaben, die Rettungsstelle zu informieren, im Nebel des heranbrechenden Tages aufgelöst.

I VERSUCHUNGEN

1

Vier Jahre später, Anfang Juni 2006, Leipzig

Die Standesbeamtin Viola Conradi saß an ihrem Schreibtisch und blätterte gedankenversunken im Manuskript der Ansprache, die sie gleich halten würde. Auf diese Eheschließung hatte sie sich seit Tagen gefreut, die Geschichte des Brautpaares sie emotional sehr bewegt. Ihre eigene Vergangenheit überrollte sie aus diesem Grunde gerade mal wieder. Sie hatte sich als junge Frau unsterblich in einen adretten Herrn verliebt, für den eigene Kinder überhaupt kein Thema waren. Nach schweren inneren Kämpfen hatte sie sich schließlich dem Ansinnen des Geliebten gefügt und es später immer mal wieder bereut. Jetzt, mit über fünfzig, war das Thema Kind für sie gegessen, doch ein Stachel im Herzen geblieben.

Der war wieder spürbar geworden, als sie diese Eheschließung vorbereitete. Gerade einmal 22 Jahre jung, hatten die beiden heiratswilligen Studenten sich zufällig auf einer Schulung für Weihnachtsmänner und Weihnachtsengel kennengelernt und ineinander verliebt. Bei einem vorweihnachtlichen Einsatz in einem Kinderheim war ihnen ein neunjähriger Waisenjunge begegnet, der sofort Vertrauen zu ihnen fasste. Die junge Frau, einst selbst Heimkind, wollte dem Jungen unbedingt helfen, hätte ihn am liebsten sofort zu sich geholt. Doch das war für sie als Studentin im dritten Semester unmöglich. Ihr Partner tat sich anfangs schwer mit diesem Gedanken. Bei-de waren nach wie vor abhängig von ihren Eltern, hatten kein Einkommen, nicht mal eine gemeinsame Wohnung. Doch als der kleine Junge ein paar Monate später von der ihm vom Jugendamt zugewiesenen Pflegefamilie ausbüxte, warf auch der junge Student alle seine ursprünglichen Lebenspläne über den Haufen und unternahm alles, um gemeinsam mit seiner Freundin fürden Jungen die Pflegeelternschaft zu bekommen. Heute war der Junge dreizehn Jahre alt und sie würde ihn gleich im Saal ganz vorne sehen können.

Ein Blick auf ihre Armbanduhr verriet, dass sie sich jetzt sputen musste. Das Paar hatte sich die Alte Börse im Zentrum der Stadt als Trauungsort ausgewählt. Schwülheiße Luft schlug ihr beim Verlassen des Rathauses entgegen. Der Juni präsentierte sich in diesem Jahr besonders warm. Aber sie hatte es nicht weit. Noch einmal um die Ecke gebogen, schon stand sie vor der großen Freitreppe, die zu dem festlichen kleinen Saal hinaufführte. Oben erwartete sie bereits der Pianist, der die musikalische Begleitung der feierlichen Zeremonie übernehmen sollte.

„Grüß Dich, Erik. Komm rein, ich glaube, dort ist es etwas kühler“, begrüßte sie ihn und schloss die doppelflügelige Tür auf.

Die Hoffnung erfüllte sich nicht, die hohen Fenster hatten der Sonne ungehindert Einlass ermöglicht. Viola Conradi öffnete einige, um die stickige Luft aus dem Raum zu bekommen. Nachdem der Durchzug sein Werk getan hatte, schloss sie die der Sonne zugewandten Fenster und zog die Vorhänge zu.

Dabei sah sie am Fuße der Treppe die sich bereits versammelnden Familien ihres Brautpaares.

`Na, dann wollen wir mal´, dachte sie bei sich und stieg die Stufen der Freitreppe hinunter, um die Familienangehörigen in den Trauungsraum zu bitten. Das Brautpaar würde sie dann persönlich hereinführen.

Eine silberfarbene Limousine bog auf den Vorplatz der Alten Börse ein, fuhr im Schritttempo vor und hielt direkt neben der Standesbeamtin. Als erstes öffnete sich die Beifahrertür und ein Junge sprang heraus.

„Du musst Finn sein, stimmt‘s?“, begrüßte ihn Viola Conradi.

„Stimmt“, antwortete der, ohne sie näher zu beachten. „Aber erst muss ich meiner Mama die Tür aufmachen!“

Inzwischen war auch der Bräutigam um das Auto herumgekommen und half seiner Freundin beim Aussteigen. Finn hielt die Tür geöffnet und bemerkte leise, fast ehrfurchtsvoll:

„Mama, du bist heute die schönste Mama der Welt!“

„Was denn, nur heute?“, erwiderte die mit einem schelmischen Lächeln. Im knielangen weißen Spitzenkleid stand die schlanke Schönheit vor ihnen. Ihr pechschwarzes Haar kringelte sich, kunstvoll zu Zöpfen gebunden, bis weit über die Schulterblätter hinab.

„Herzlich willkommen, Frau Lischka, herzlich willkommen, Herr Krawinkel“, begrüßte die Standesbeamtin die beiden und schüttelte deren Hände etwas zu lange.

Von neugierigen Passanten beobachtet, stiegen sie würdevoll die Freitreppe zum Festsaal empor, erledigten im Vorraum die Formalitäten und schritten, von festlich-getragener Klaviermusik begleitet, an ihren wartenden Familien vorbei in den Saal.

Hinter einem edlen Mahagoni-Schreibtisch stehend, wandte sich Viola Conradi an das Brautpaar und deren Hochzeitsgesellschaft. Ihre emotionale Ansprache schloss sie mit einem Zitat des chinesischen Philosophen Laotse ab:

„Pflichtbewusstsein ohne Liebe macht verdrießlich.

Verantwortung ohne Liebe macht rücksichtslos.

Gerechtigkeit ohne Liebe macht hart.

Wahrhaftigkeit ohne Liebe macht kritiksüchtig.

Klugheit ohne Liebe macht betrügerisch.

Freundlichkeit ohne Liebe macht heuchlerisch.

Ordnung ohne Liebe macht kleinlich.

Sachkenntnis ohne Liebe macht rechthaberisch.

Macht ohne Liebe macht grausam.

Ehre ohne Liebe macht hochmütig.

Besitz ohne Liebe macht geizig.

Glaube ohne Liebe macht fanatisch.

Liebes Brautpaar, Sie sehen, ohne Liebe ist das Leben nichts. Möge Sie Ihnen deshalb ein Leben lang erhalten bleiben.“

Der Pianist setzte zu einem heiteren Intermezzo an und überließ den Zuhörern, sich über das gerade Gehörte ihre eigenen Gedanken zu machen. Die Zeremonie neigte sich dem Ende zu und der Standesbeamtin oblag es, die alles entscheidenden Fragen zu stellen:

„Helge Krawinkel, wollen Sie die hier anwesende Jana Lischka ehelichen und den gemeinsamen Namen Krawinkel führen, so antworten Sie mir mit `Ja, ich will´!“

Das `Ja, ich will! ´ kam laut und deutlich aus Helges Mund.

„Jana Lischka, wollen Sie den hier anwesenden Helge Krawinkel zu Ihrem Ehemann nehmen und den gemeinsamen Namen Krawinkel führen, so antworten Sie mir mit `Ja, ich will´!“

Die zustimmende Formel kam mit zittriger Stimme und nur in der ersten Zuschauerreihe hörbar von einer sichtlich bewegten Jana.

„Damit erkläre ich Sie, Helge und Jana Krawinkel, offiziell zu Mann und Frau. Sie können nun die Ringe tauschen und danach nach vorn kommen, um das amtliche Dokument zu unterschreiben. Die beiden Trauzeugen bitte ich ebenfalls zu mir.

Und natürlich sollten Sie, Helge, nicht vergessen, ihre Ehefrau zu küssen.“

Die Trauzeugen waren die ersten Gratulanten. Helges Studienfreund Hilmar hatte vor zwei Jahren sein Studium abgebrochen und die Firma seines Vaters übernommen, der nach einem Schlaganfall sein Unternehmen nicht mehr führen konnte. Seine Ehefrau Annika fungierte ebenfalls als Trauzeugin. Die ehrgeizige Jurastudentin stand kurz vor ihrem Berufseinstieg als Staatsanwältin. Als die beiden vor reichlich einem Jahr den Bund der Ehe geschlossen hatten, waren Helge und Jana als deren Trauzeugen dabei. Nun hatten sie die Rollen getauscht.

Hilmar umarmte seinen Freund herzlich, klopfte ihm dabei kräftig auf die Schulter und flüsterte ihm ins Ohr: „Hey Alter, hast du es tatsächlich geschafft, dein Schneewittchen zu gewinnen!? Hätte ich nicht gedacht. Meinen Segen hast du, mach was draus. Als Hochzeitsgeschenk biete ich dir einen Job als Verkaufsleiter in meiner Firma. Über die Details reden wir noch.“

Helge bedankte sich, ohne auf das Angebot einzugehen. Ihm blieb dafür auch keine Zeit, denn die bildhübsche, blondgelockte Annika hatte ihn schon umschlungen und auf die Wange geküsst:

„Ich freue mich für euch und wünsche euch alles Glück dieser Welt.“

Die Eltern und Geschwister der beiden Frischvermählten schlossen sich der Gratulationskur an, bevor ein betagtes, elegant gekleidetes Paar vor ihnen stand.

„Fritz und Elfriede, schön dass ihr gekommen seid“, begrüßte Jana Finns leibliche Großeltern, die in einem Pflegeheim lebten. Fritz war gehbehindert, benötigte einen Stock, aber war geistig noch fit. Seine Frau dagegen, eine ehemalige Gymnasiallehrerin, litt an fortschreitender Demenz und benötigte ständige Pflegeaufsicht. Mit tränenfeuchten Augen stand sie vor Jana:

„Dass ich das noch erleben darf! Meine Tochter im Brautkleid mit einem hübschen Mann an ihrer Seite! Maria, ich bin überglücklich.“

Von ihrer ersten Begegnung an hatte sie Jana als ihre Tochter angesehen. Anfangs hatte sich Jana dagegen gewehrt, inzwischen akzeptierte sie es. Die Krankheit hatte Elfriede in ihrer eigenen Welt, für die es für Außenstehende keinen Zugang gab, eingeschlossen. Auch Finn hatte sich mittlerweile damit arrangiert, war ihm doch Jana als neue Mama ans Herz gewachsen. Und dass seine Oma Jana immer mit dem zweiten Vornamen seiner richtigen Mutter anredete, war ihm auch ganz recht, denn deren eigentlichen Rufnamen `Yasmin´ hatte er eh nie leiden können.

Auf seinen Stock gestützt, hatte Opa Fritz vor dem frisch getrauten Paar Aufstellung genommen:

„Liebe Jana, lieber Helge, ich bin überglücklich, dass ihr beide euch gefunden und lieben gelernt habt sowie den Mut hattet, meinen Enkel bei euch aufzunehmen. Ich bin überzeugt, dass ihr eine glückliche Familie werdet und Finn nicht ohne Geschwister aufwachsen wird. Ich wünsche euch alles erdenklich Gute. Denkt immer daran: Das Leben ist ein wunderbares Abenteuer, das immer wieder Neues und Unerwartetes bereithält. Mögen viele schöne Überraschungen für euch dabei sein.“

Fritz und Elfriede Heselmann traten zur Seite und überließen dem letzten Gratulantenpaar den Platz.

Dr. Richard Reichwein und seine Frau Gerda, Helges und Janas Vermieter, traten lächelnd heran. Seit zwei Jahren lebten das Brautpaar und Finn in deren geräumiger Fünf-Raum-Wohnung kostenfrei zur Untermiete. Zwischen ihnen hatte sich ein enges und herzliches Verhältnis herausgebildet. Gerda, die mit Helges Schwester Michelle beratend das Brautkleid ausgesucht hatte, umarmte Jana herzlich und brachte zunächst keinen Ton hervor. Jana musste sich dafür ein wenig herunterbeugen und Gerda sich auf die Zehenspitzen stellen. Das fiel der alten Dame schwer, aber sie fand ihre Stimme wieder:

„Ihr seid ein tolles Paar, Jana. Genießt die Zweisamkeit und macht etwas aus eurem Leben.“

Nicht ganz so gefühlsbetont, dennoch herzlich, drückte Richard, der ehemalige Mathematik-Dozent, Helges Hand:

„Schon die kleinen Kinder wissen, dass 1+1=2 ist. Bei eurer Familie steht als Ergebnis aber eine `3´! Wenn du weiter derartige wissenschaftliche Sensationen produzierst, steht dir eine große Zukunft bevor, mein Junge.“

Beide mussten herzhaft lachen und fielen sich nun doch noch in die Arme.

Viola Conradi hatte in der Zwischenzeit die Sektgläser gefüllt und trat mit dem Tablett zu den Familienangehörigen. Helge ließ mit dem Glas in der erhobenen linken Hand seine kräftige, dunkle Stimme ertönen:

„Jana und ich bedanken uns für die herzlichen Glückwünsche. Lasst uns auf eine glückliche Zukunft anstoßen!“

Ein vielstimmiges Gläserklingen beschloss die Zeremonie.

Finn saß kurze Zeit später neben Jana am festlich gedeckten Mittagstisch in einem nahegelegenen Restaurant und blickte verkniffen lächelnd in die Runde. Nur wer ihm direkt in die Augen schauen würde – und das tat in diesem Moment, in dem jeder mit seinem Essen beschäftigt war, niemand – , konnte darin eine versteckte Traurigkeit entdecken. In wenigen Stunden würden Jana und Helge zu ihrer einwöchigen Hochzeitsreise auf die Atlantikinsel Madeira starten und er musste zu Hause bei Richard und Gerda bleiben und brav zur Schule gehen. Bis zu den Sommerferien waren es noch vier Wochen, dann erst wollte die junge Familie gemeinsam in den Urlaub starten. Das hatten die beiden, sein neuer Papa und seine neue Mama, ihm fest versprochen.

Die Hochzeitsreise hatten Helges Eltern den beiden geschenkt. Und die wussten ja nicht, dass er ungern allein zu Hause blieb. Aus Angst, am nächsten Morgen aufzuwachen und Mama und Papa wären nicht da. So war es ihm vor vier Jahren mit seiner richtigen Mama ergangen. Sie hatte ihn abends liebevoll ins Bett gebracht und sich dann zur Nachtschicht verabschiedet. Am nächsten Morgen war sie tot, beim Ausweichen vor einer Wildscheinrotte mit dem Auto gegen einen Baum geprallt. Seither hat er Angst, wenn sich geliebte Menschen von ihm verabschieden, um zum Beispiel abends etwas allein zu unternehmen oder, wie jetzt Helge und Jana, allein eine Reise zu unternehmen. Und er konnte nichts dagegen tun, obwohl er in der letzten Zeit seine Gefühle besser im Griff hatte. Seit fast zwei Jahren lebte er jetzt bei den beiden. Selten waren sie abends noch einmal außer Haus gegangen. Wenn doch, hatte er anfangs in seinem Bett wach gelegen, bis sie zurückgekommen waren. Jetzt konnte er gleich einschlafen und sie waren des Morgens immer da gewesen. Doch nun wollten sie ihn eine ganze Woche allein lassen!

Er war innerlich hin- und hergerissen. Dass sie heute geheiratet haben, fand er ja gut, denn jetzt hatte er eine richtige Familie mit Mama und Papa. Sie wollen ihn, Finn, sogar adoptieren. Papa hatte es ihm erklärt, als sie über die geplante Hochzeit gesprochen hatten. Er war jetzt 25 Jahre alt und durfte einen solchen Antrag stellen. Und wenn der vom Familiengericht genehmigt würde, hätten sie auch einen gemeinsamen Nachnamen. Finn Krawinkel klang zwar irgendwie komisch, Finn Heselmann gefiel ihm da besser, doch das war ihm nicht so wichtig. Er wollte den neuen Namen unbedingt.

„Wovon träumst du, Finn? Vergiss das Essen nicht!“, riss Jana ihn aus seinen Träumen.

„Ich will nicht eine ganze Woche allein bleiben.“ Finn blickte sie trotzig an.

„Du bist doch nicht allein“, versuchte Jana ihn zu beruhigen. „Richard und Gerda werden für dich da sein. Und wir sind schon nach sieben Tagen wieder daheim.“

„Ich will aber nicht!“ Es klang wie ein Aufschrei. Augenblicklich herrschte Ruhe an der Festtafel und fast alle blickten fragend auf Finn. Jana fühlte sich bemüßigt zu einer Erklärung:

„Finn möchte nicht, dass wir eine Woche ohne ihn verreisen.“

„Und was wollt ihr?“ Helges Mutti Madlen konnte kaum an sich halten. „Bevor wir die Reise gebucht haben, hatten wir euch um eure Meinung gebeten. Ihr wart begeistert und habt euch gefreut. Und jetzt interveniert Finn und ihr stellt alles in Frage?“

„Niemand hat hier etwas in Frage gestellt, Mutti“, meldete sich Helge zu Wort.

„Wir freuen uns auf Madeira und Finn wird das eines Tages auch verstehen.“

Die Farbe hatte sich aus dem Gesicht des Jungen zurückgezogen. Er fühlte sich unverstanden. Warum konnte keiner seine Angst nachvollziehen. Abrupt stand er auf und verließ den Gastraum.

Helge reagierte am schnellsten und folgte ihm, fand ihn nach kurzem Suchen auf der Herrentoilette. Finn weinte bitterlich und presste unter ständigem Schluchzen ein „Ich will euch doch nur nicht verlieren“ hervor.

Helge hatte so etwas geahnt und erinnerte sich an Weihnachten vor zweieinhalb Jahren. Obwohl sie den Jungen gerade einmal einen guten Monat kannten, hatten sie die Genehmigung erhalten, ihn über die Feiertage mit zu Janas Eltern zu nehmen. Auch damals hatte Finn Theater gemacht, als Helge sich eines Abends mit Jana treffen wollte. Das Date platzte und er war wütend gewesen. Er konnte die Ängste des kleinen Jungen nicht nachvollziehen. Erst mit der Zeit nahm sein Verständnis zu und gemeinsam mit Jana hatte er mit viel Geduld an der Überwindung von Finns Verlustangst gearbeitet. Wenn sie ihm heute genau erklärten, wohin und wie lange sie die Wohnung verlassen wollten, schlief er beruhigt ein. Sie hatten sich stets akribisch an die Absprachen gehalten.

Jetzt wollten sie Finn eine Woche allein lassen und diese unbestimmte Angst war bei ihm wieder aufgebrochen. Helge hockte sich hin und nahm den Jungen wortlos in den Arm. Wie konnte er ihm diese Angst nehmen?

„Weißt du, Finn“, begann er in ruhigem und tiefem Ton. „Nachdem, was du damals mit deiner Mama erlebt hast, kann ich verstehen, dass du dir Sorgen machst, auch uns zu verlieren. Aber dafür gibt es keinen Grund. Seit fast zwei Jahren leben wir in einer Familie und wollen das auch weiterhin tun. Du gehörst zu uns und wir haben dich sehr gern. Wir werden immer für dich da sein.“

„Das hat meine Mama … damals auch immer gesagt … und dann war sie plötzlich weg“, stotterte Finn, bemüht, seine Tränen zurückzuhalten.

„Das war ein schlimmer Unfall, Finn. Niemand wünscht sich das. Versuche, einfach nicht mehr daran zu denken. Wir wollen doch eigentlich fröhlich durchs Leben gehen und da hat so eine Reise, wie wir sie vorhaben, doch auch etwas Gutes. Wir freuen uns gemeinsam auf das Wiedersehen am kommenden Sonntag. Gönne mir bitte diese gemeinsame Zeit mit meinem Schneewittchen.“

Bei diesem Namen huschte plötzlich ein Lächeln über Finns Gesicht. Janas lange tiefschwarze Haare hatten seinen Papa zu diesem märchenhaften Namen animiert und er benutzte ihn heute immer noch, wenn er ihr etwas besonders Liebes sagen wollte.

Finn beruhigte sich langsam und überlegte kurz:

„Und warum darf ich nicht dabei sein?“

„Finn, das weißt du. Deine Ferien beginnen erst in vier Wochen und du willst doch die siebente Klasse mit möglichst guten Noten abschließen. Wir müssen uns nach diesem Kurzurlaub auf die Verteidigung unserer Abschlussarbeiten vorbereiten. Wenn wir das erfolgreich schaffen, ist unser Studium beendet. Danach werden wir unseren Urlaub immer gemeinsam innerhalb deiner Ferien planen. Versprochen.“

Helge nahm Finns Kopf zwischen seine Hände und drehte ihn so, dass sie sich direkt in die Augen schauen konnten.

„Lass uns jetzt wieder zu den anderen gehen und noch etwas feiern. Sei bitte nicht mehr traurig. Wir werden uns jeden Abend telefonisch bei dir melden, um dir eine gute Nacht zu wünschen. Okay?“ Es dauerte einen Moment, bis Finn sich zu einer Antwort entschloss:

„Na gut. Aber vergesst das nicht.“

Er suchte die Hand seines Papas und zog ihn aus der Herrentoilette heraus.

Im Gästezimmer war es in der Zwischenzeit gespenstisch still geblieben. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach und traute sich nicht, sie laut zu äußern. Madlen hätte Jana am liebsten belehrt, bei Finns Erziehung konsequenter vorzugehen. Ihrem Mann waren ihre Äußerungen peinlich. Schließlich fand hier gerade die Hochzeit ihres Sohnes statt und da musste man keine Grundsatzdiskussion über Erziehungsfragen losbrechen. Typisch Lehrerin. Er kannte seine Frau ja mittlerweile ein Vierteljahrhundert.

Achim und Helga Lischka, die Bäckereibesitzer aus der Nähe von Dresden und Janas Adoptiveltern, waren erschüttert. So ging man doch nicht mit seinem Kind um! Sie hatten immer großen Wert auf ein harmonisches Miteinander gelegt. Und bisher war ihnen das in ihrer Familie größtenteils gelungen. Auch bei der Integration von Jana, die sie mit fünf Jahren aus einem Kinderheim in Pflege genommen hatten, da ihre leiblichen Eltern dem Alkohol verfallen waren. Diese hatten später allen ihren Adoptionsanträgen widersprochen, dennoch betrachteten Lischkas Jana uneingeschränkt als ihre Tochter. Das änderte sich auch nicht, als überraschend ihre Zwillinge auf die Welt kamen. Jana hatte kurz zuvor ihren vierzehnten Geburtstag gefeiert und Helga die Zeit danach bei der Betreuung der beiden Jungs liebevoll unterstützt. Die wiederum waren vernarrt in ihre große Schwester.

Erst mit der Volljährigkeit Janas konnte die Adoption vollzogen werden, war eine Einwilligung der „Erzeuger“ nicht mehr notwendig, trugen sie alle nun den gemeinsamen Namen Lischka.

Am Rand der u-förmigen Tafel beobachteten Michelle und Lukas, die jüngeren Geschwister des Bräutigams, die Szenerie. Der 18jährige Lukas beugte sich zu seiner Schwester herüber und flüsterte ihr ins Ohr:

„Da kann der eigene Kinderwunsch einen ganz schönen Knacks kriegen.“

„Du spinnst ja“, flüsterte die zurück. „Finn ist so ein lieber Junge. Den beschäftigt halt der Verlust seiner Mutter immer noch.“

„Du musst es ja wissen, Klugscheißerin.“

„Weiß ich auch! Du hast ihn ja nie zu Hause erlebt. Ich aber schon.“ Michelle studierte seit zwei Jahren ebenfalls in Leipzig und war des Öfteren bei ihrem Bruder und seinen Vermietern zu Besuch.

Lukas blickte auf, denn in diesem Moment betraten Helge und Finn Hand in Hand den Raum. Das letzte Wort wollte er sich dennoch nicht nehmen lassen:

„Vielleicht hast du Recht. Schauen wir mal.“

Die angespannte Stimmung im Raum löste sich schlagartig, als die beiden sich wieder links und rechts neben Jana gesetzt hatte. Die legte den beiden ihre Arme auf die Schultern und zog sie leicht zu sich heran:

„Meine Männer sind doch immer wieder für Überraschungen gut. Ich danke euch.“

Die strenge Sitzordnung löste sich langsam auf. Die Terrassentür zum Innenhof des Restaurants wurde geöffnet und es bildeten sich immer wieder neue Gesprächsgruppen. Friedbert Krawinkel, Helges Vater, ging auf Janas Papa zu, der die Finanzierung des Mittagessens übernommen hatte: „Achim, wir sollten uns die heutige Rechnung teilen.“

„Das ist nett von dir, aber nicht notwendig.“

„Ich weiß, aber wir möchten auch einen Beitrag für die gelungene Hochzeitsfeier leisten. Schlag es uns bitte nicht ab.“

„Na dann“, Achim reichte ihm die Hand, „lass uns das mit einem guten Cognac besiegeln.“

Neben den beiden unterhielt sich Finn mit Janas Brüdern, die mittlerweile auch schon elf Jahre alt waren. Der eine von ihnen stupste Finn an: „Sei doch froh, wenn deine Eltern dich mal alleine lassen! Haste ´ne sturmfreie Bude und kannst machen, was du willst.“

Annika hörte das im Vorbeigehen, blieb abrupt stehen und drehte sich lächelnd zu den Jungs: „Genau! Diese Zeit habe ich früher zu Hause immer am meisten genossen. Finn, das wirst du auch noch lernen.“

„Du hast ja auch Glück gehabt“, versuchte Finn, sich zu verteidigen. „Deine Mama ist ja immer wieder zurückgekommen. Meine nicht.“

„Ja, das ist schlimm. Sag mal, kennst du eigentlich deinen Vater.“

„Ich habe doch einen Papa, das ist Helge. Einen anderen kenne ich nicht.“

„Aber es muss ihn geben, Finn. Ansonsten wärst du nicht entstanden.“ Annika setzte ein schelmisches Lächeln auf und wandte sich zum Gehen.

„Ich brauche keinen anderen“, gab Finn ihr entschlossen Kontra. Schon im Weggehen drehte Annika ihren Kopf zurück: „Irgendwann wird die Neugier siegen. Glaube mir!“

Die Zwillinge bliesen in das gleiche Horn: „Bist du wirklich nicht neugierig?“

„Überhaupt nicht“, hielt Finn an seiner Meinung fest.

„Bevor sie der Adoption zugestimmt hat, war unsere Schwester auch noch mal bei ihren Erzeugern, obwohl sie jahrelang nichts mehr von ihnen gehört hatte.“

„Ehrlich?“ Die Zweifel waren bei Finn unüberhörbar.

Die Zwillinge gaben keine Ruhe: „Frag sie doch selber!“

Das ließ sich Finn nicht zwei Mal sagen. Er suchte Jana und fand sie im Gespräch mit ihren Adoptiveltern: „Mama, ich habe mal eine Frage: Bevor du adoptiert wurdest, hast du da deine eigentlichen Eltern noch mal besucht?“

Jana schaute ihn entgeistert an: „Wie kommst du denn jetzt darauf?“

„Deine Brüder haben mir das erzählt?“ Finn sah sie mit großen Augen an. „Und Annika hat mich gefragt, ob ich denn meinen Vater kennen würde.“

`Diese Schlange´, schoss es Jana durch den Kopf., `muss die den Jungen aufstacheln? ´ Sie überlegte einen Moment, wie sie Finn am besten antworten könnte.

„Weißt du, mein Junge“, begann sie langsam und schaute Finn direkt in die Augen, „deine Mama wollte unbedingt dich, aber keinen Ehemann. Sie hat den Namen deines Vaters niemandem verraten. Deshalb kennen wir ihn auch nicht. Wenn wir seinen Namen wüssten, würde deine Adoption wahrscheinlich sehr, sehr schwierig. Und nun zu deiner Frage: Ja, ich habe vor meiner Zustimmung zur Adoption meine Eltern“ – dieses Wort ging ihr nur schwer über die Lippen – aufgesucht, wollte wissen, warum sie nie einer Adoption zugestimmt hatten.“

„Und hast du es erfahren?“, fragte Finn neugierig nach.

„Nein, sie waren zu einer klaren Antwort einfach nicht in der Lage. Und mit Achim und Helga hier“, sie zeigte auf ihre Adoptiveltern, „habe ich seit vielen Jahren meinen Papa und meine Mama gefunden. Und ich hoffe, in einigen Jahren wirst du das auch von uns sagen. Dann wäre ich sehr glücklich.“

Jana strich Finn leicht über den Kopf und lächelte ihn an.

„Ja, Mama, ich bin happy, euch gefunden zu haben.“

2

Mitte Juni 2006, Madeira

Die Jungvermählten saßen seit vier Stunden Seite an Seite im Flugzeug, hielten liebevoll ihre Hände umschlungen und sahen das Anschnallzeichen vor ihnen aufleuchten. Die Boeing verlor langsam an Höhe und steuerte den Flughafen in Funchal an, einen der gefährlicheren auf dieser Welt, der nur von Flugkapitänen mit spezieller Ausbildung angeflogen werden durfte. Der Druck auf die Ohren wurde stärker, und Janas Fingerspitzen krallten sich kräftig in Helges Handfläche.

„Versuche zu gähnen“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Dann lässt der Druck etwas nach.“

Und tatsächlich, er funktionierte. Ein Knacken im Ohr und das Rauschen verschwand. Allerdings nur kurzzeitig, denn der Druckschmerz baute sich erneut auf. Helge sah aus dem Fenster auf den immer näherkommenden Atlantischen Ozean. Wasser, wohin er schaute. Von Land keine Spur. Dieser Anflug auf Funchal, der Hauptstadt der portugiesischen Atlantikinsel Madeira, war schon etwas Besonderes. Erst vor fünf Jahren hatte man die 2.777 Meter lange Start- und Landebahn auf unzähligen Betonpfeilern über die Uferregion hinaus bis ins Meer verlängert. Seitdem konnten auch größere Flugzeuge die Blumeninsel anfliegen.

Sie flogen schon in geringer Höhe, als Helges Blick auf die kleine Insel Porto Santo fiel, einem Madeira vorgelagerten Eiland mit herrlichen Stränden, die man mehrmals täglich mit einer Fähre von Funchal aus erreichen konnte. Die Maschine begann leicht zu schaukeln, bevor sie etwas unsanft auf der Betonpiste aufsetzte und der Pilot das Bremsmanöver einleitete.

„Willkommen in Funchal!“ – Jana küsste ihren Mann während des Ausrollens intensiv. Die Stewardess, die sich gerade von ihrem Sitz erhoben hatte, beobachtete die beiden mit einem neidvollen, aber freundlichen Lächeln.

Die am Golfstrom gelegene Insel empfing sie mit angenehmen 23 Grad Celsius und einem freundlich dreinschauenden Portugiesen, der ein Schild mit dem Namen ihres Hotels hochhielt. Sie steuerten Hand in Hand auf ihn zu und wurden zu einem Minibus gewiesen, der sie in das „Orca Preia“ bringen sollte. Die Sonne hatte sich bereits hinter die Steilwände der Gebirgszüge verabschiedet und die Abenddämmerung fiel über die Stadt, die sich davon in ihrer Lebendigkeit nicht beeindrucken ließ. Nur hin und wieder wurde auf ihrer halbstündigen Fahrt der phantastische Blick aufs Meer von Bäumen oder vorbeihuschenden Häusern unterbrochen.

Verdutzt schaute Jana ihren Mann an, als der Bus vor einem gedrungen wirkenden Flachbau hielt. Hier sollte ihr Hotel sein? Helge, der sich zu Hause im Internet schon vorab informiert hatte, lächelte zurück:

„Lass dich überraschen. Ich glaube, es wird dir gefallen.“

Das Einchecken verlief problemlos. Mit ihrem Zimmerschlüssel in der Hand bestiegen sie einen Lift, der sie nach unten beförderte. Bei Etage „- 4“ blieb er stehen und entließ die beiden in einen fensterlosen langen Gang. Janas Skepsis wich erst, als Helge die Tür ihres Zimmers öffnete und ihr Blick auf eine breite Fensterfront fiel, die ihr einen traumhaften Blick auf das Meer ermöglichte.

„Das ist ja Wahnsinn!“, rief sie erstaunt und stürzte vor, öffnete die breite Schiebetür der Fensterfront und trat auf eine geräumige Terrasse hinaus. Helge war ihr gefolgt und stand nun genauso beeindruckt neben ihr. Es dauerte einen Moment, bis sie sich mit leuchtenden Augen zu ihm umdrehte und ihm um den Hals fiel. Nur das Rauschen des Meeres drang an ihr Ohr.

„Das ist traumhaft schön“, flüsterte sie Helge ins Ohr, um die Wellenmelodie nicht zu stören.

„Hab ich doch gesagt, dass es dir gefallen wird“, erwiderte der genauso leise.

Janas Augen fielen durch die geöffnete Terrassentür ins Zimmer, sie zuckte überrascht zusammen und entließ Helge aus der Umarmung:

„Da steht ja ein toller Blumenstrauß!“

Helge folgte ihrem Blick und zog sie in das geräumige Zimmer zurück. Neben dem Strauß standen eine Flasche Sekt, zwei Gläser und ein Kartengruß an die Hochzeitsreisenden.

„Das haben bestimmt deine Eltern organisiert“, brachte Jana gerührt hervor.

„Dann sollten wir jetzt auf unsere Hochzeitsreise anstoßen!“ Helge ergriff die Flasche, begann sie zu entkorken und schaffte das, ohne dass der Flaschenverschluss unkontrolliert durchs Zimmer schoss. Mit dem perlenden Getränk in den Gläsern setzten sie sich auf die Terrasse, stießen auf ihren ersten gemeinsamen Auslandsurlaub an und küssten sich lange und intensiv.

„Das Hotel ist ja wirklich irre“, fand Jana zuerst ihre Sprache wieder. „Terrassenförmig an eine Steilküste gebaut, jedes Zimmer mit diesem Wahnsinnsblick auf den Ozean, unten der Strand mit dem schwarzen, vulkanischen Sand, daneben noch ein Pool – was wollen wir mehr?!“

„Ich wüsste schon was“, meinte Helge trocken. „Lass uns ins Bett gehen …“

Jana blickte ihren frisch gebackenen Ehemann aus leicht zusammengekniffenen Augen schelmisch an:

„Du bist wohl schon müde?“

„Im Gegenteil.“

„Na los!“ Jana sprang auf, schnappte ihr Sektglas und ging ins Zimmer. „Vorher rufen wir aber noch kurz Finn zu Hause an.“

Der hatte schon auf den Anruf gewartet. Helge erzählte vom Flug und ihrem Hotel und dass sie jetzt auch ins Bett gehen würden. Jana entledigte sich währenddessen ihrer Kleidung und posierte nackt vor ihm. Finn gab immer noch keine Ruhe und Jana begann die Lasche an Helges Gürtel zu lösen.

„Wir telefonieren morgen Abend wieder, Finn. Jetzt wünschen wir dir eine gute Nacht mit schönen Träumen“, beendete Helge das Gespräch.

Seine Hose lag inzwischen auf dem Fußboden. Das Handy konnte er endlich beiseitelegen, um sich vom Rest seiner Kleidung zu befreien. Er umarmte seine Frau und ließ sich mit ihr auf das große Doppelbett fallen.

Nach einer intensiven Hochzeitsnacht fielen sie eng umschlungen in einen tiefen und langen Schlaf. Der wurde am nächsten Morgen jedoch abrupt durch ein vorsichtiges Klopfen an der Tür beendet.

„Zimmerservice!“ Eine helle Stimme mit unverkennbarem Akzent drang durch die geschlossene Tür zu ihnen und ließ ein erneutes, heftigeres Klopfen folgen. Jana schreckte auf, blinzelte in die grell ins Zimmer einfallende Sonne und stieß den neben ihr schlafenden Helge unsanft an. Da drehte sich auch schon ein Schlüssel im Schloss und die Tür wurde vorsichtig geöffnet. Sie hatte gerade noch ihre Bettdecke bis zum Kinn hochziehen können, als ein erschrockenes Frauengesicht sie mit weit aufgerissenen Augen anblickte, ein „Oh, sorry!“ stammelte und blitzschnell die Tür wieder von außen schloss.

„Was war das denn?“ Helge war inzwischen auch munter geworden. „Kommen die hier immer so früh?“

„Mein Schatz, es ist gleich um zehn“, holte ihn Jana in die Realität zurück.

„Na super! Beste Zeit für ein Sektfrühstück. Ich glaube, in der Flasche ist noch was drin.“ Helge hielt die Flasche prüfend in der Hand und verteilte den darin befindlichen Rest auf ihre Gläser. Aber der Sekt war warm und abgestanden. Jana nippte kurz daran und stellte das Glas beiseite:

„Der schmeckt nicht mehr.“

Sie stellte das Glas vorsichtig auf ihrem Nachttischchen ab, drehte sich zu Helge um und sie gingen in die Verlängerung ihrer Hochzeitsnacht.

Nach diesem turbulenten Auftakt erlebte das frischvermählte Paar einen spannenden, erlebnisreichen, teils abenteuerlichen Urlaub, war mit der Seilbahn von Funchal nach Monte gegondelt, von dort mit einer weiteren Seilbahn hinüber zum blumenübersäten Botanischen Garten gefahren, hatte den spektakulären Ausblick, 200 Meter über einem Tal hängend, genossen, an einer Verkostung des weltberühmten Madeira-Weins in „Blandy´s Wine Lodge“ teilgenommen oder war einfach nur auf der Küstenstraße Funchals Arm in Arm spaziert. Wie im Regenwald hatten sie sich bei einer Levada-Wanderung hoch oben im Gebirge gefühlt. Das nur auf dieser Insel zu findende historische, heute immer noch funktionierende Bewässerungssystem bestand aus schmalen, in die Felsen gehauenen und betonierten Wasserläufen, die das kostbare Nass aus dem feuchteren Nordwesten in den trockenen Südosten der Insel transportierte. Helge und Jana waren barfuß im nur zehn Zentimeter hohen Rinnsal der Levada gewatet, die Schuhe in der rechten Hand, die linke suchte immer wieder den Kontakt zur steil aufragenden, grün bewachsenen und vor Nässe triefenden Felswand. Rechts neben diesem künstlichen Kanal ging es genauso steil in die Tiefe. Vor ihnen verschwand dieser Kanal plötzlich im Felsen. Sie mussten irgendwie durch, sich weit nach unten beugen, fast schon kriechen, sahen nach kurzer Zeit einen Lichtschein vor sich und wurden am Ausgang des Tunnels mit einer grandiosen Aussicht belohnt.

„Toll!“, hatte Jana sehr zurückhaltend gejubelt, „aber solche Wege muss ich nicht unbedingt jeden Tag laufen.“

„Machen wir ja auch nicht. Morgen gehen wir im Meer baden, einverstanden?“

„Sehr.“

Viel zu schnell waren die sieben Tage vorüber. Morgen früh würde ihr Flieger zurück nach Leipzig starten. Für den letzten Abend hatten sie sich einen Tisch in der nur 150 Meter vom Hotel entfernt liegenden „Aconchego-Bar“ reserviert, einem kleinen Restaurant, dessen Urigkeit sich am gelb-roten flachen Eingang überhaupt nicht erahnen ließ. Es war einst in den oberen Teil des Steilküstenfelsens hineingebaut worden. Helge musste auf dem von Fackeln beleuchteten Weg zu ihren Plätzen hin und wieder den Kopf einziehen.

Sie bestellten einen leichten Wein und dazu zwei Espetata, ein traditionelles Hauptgericht auf Madeira. Ein dreißig Zentimeter langer Rindfleischspieß, der mit Lorbeerblättern und grobem Meersalz auf Holzfeuer gegrillt und dann an einem Haken hängend serviert wird. Janas Hände schlängelten sich langsam über den Tisch und erreichten Helges Arme:

„Es waren wunderschöne Tage mit dir, mein Lieber. Und das hier ist ein toller Abschluss. Aber nun sollten wir vielleicht über das reden, was uns nach unserer Rückkehr erwartet, oder?“

Helge, der die Kellnerin mit den Fleischspießen kommen sah, griff ihre Hand:

„Du hast ja recht, aber jetzt lass uns erst einmal essen. Auf einen schönen Abend.“ Er hob sein Weinglas und prostete Jana zu. Die ergriff ihrerseits das Glas und ließ es gegen Helges klingen. In dem Moment stellte die Kellnerin die saftigen Spieße auf den Tisch und wünschte „Aprecie sua refeição” (“Guten Appetit”).

“Das schaffe ich nie”, stöhnte Jana beim Anblick der vier großen Fleischstückchen, aus denen der Saft auf eine Schale tropfte.

“Keine Sorge, ich bin ja auch noch da”, versuchte Helge, sie zu beruhigen, schob das erste Stück auf seinen Teller, schnitt ein kleines Teil ab und kostete. “Noch sehr heiß, aber lecker”, war sein kurzes Fazit. Jana hielt den Galgen, an dem der Spieß hing, mit der einen Hand fest und versuchte mit der Gabel in der anderen Hand, ein Fleischstück nach dem anderen nach unten zu drücken. Heiße Süßkartoffeln und verschiedene Dipps vervollständigten das Menü, das ihnen beiden ausgezeichnet mundete. Ihr letztes Fleischstückchen schob Jana auf Helges Teller, legte ihr Besteck auf den Teller und stöhnte:

“Ich kann beim besten Willen nicht mehr.”

Helge kaute noch genüsslich: “Hauptsache, es hat dir geschmeckt.” “Hat es.” Jana schaute ihren Mann mit ihren großen dunklen Augen liebevoll an. “Allerdings geistern in meinem Kopf zur Zeit so viele Dinge durcheinander, die wir in allernächster Zeit entscheiden müssen. Wo soll in Zukunft unser Lebensmittelpunkt sein? Wo und wann bekommen wir einen Job? Wenn wir aus ihrer Wohnung ausziehen müssen, wie machen wir das Richard und Gerda klar? Sie haben uns in den letzten beiden Jahren ein Zuhause gegeben, uns und Finn liebevoll unterstützt. Ich habe sie ins Herz geschlossen und kann mir überhaupt nicht vorstellen, von ihnen wegzuziehen.”

“Eines hast du noch vergessen: Wann adoptieren wir Finn und was müssen wir dafür noch erledigen?” Helge hatte seine Mahlzeit inzwischen auch beendet, ergriff Janas Hand, führte sie zu seinem Mund und küsste sie. “Wir werden es schaffen, Jana. Eines nach dem anderen.”

“Du hast gut reden”, wurde Jana energischer. “Das Wenigste liegt doch in unserer Hand. Nimm doch nur die Jobs, für die wir uns beworben und immer noch keine Antwort erhalten haben.”

“Gutes Beispiel.” Helge konnte sich einen leicht triumphierenden Unterton nicht verkneifen. “Bis zur Abgabe unserer Abschlussarbeiten und durch die Vorbereitung unserer Hochzeit konnten wir uns darum auch nicht so richtig kümmern. Hilmar hat mir kurz nach der Trauung einen Job als Verkaufsleiter in seiner Firma angeboten.”

“Schön, dass ich das auch mal erfahre”, reagierte Jana leicht angefressen. “Das heißt, wir müssten nach Magdeburg umziehen. Dort habe ich mich aber überhaupt nicht beworben. Wir waren uns mal einig, dass für uns nur Dresden oder Leipzig als Hauptwohnsitz infrage kommen, oder?”

“Richtig. Ich habe ja auch nicht gesagt, dass ich den Job annehmen werde. Es ist ja erst mal nur ein Angebot, das ich noch nicht einmal richtig kenne.”

“Und was willst du tun?”

“Hinfahren und mir genau anhören, was er zu bieten hat.”

“Also ziehst du es doch in Erwägung. Gegen unsere Absprache.” Jana wurde jetzt richtig ärgerlich.

„Ganz langsam, mein Liebling“, versuchte Helge, eine Eskalation an diesem so idyllisch begonnenen Abend zu vermeiden. „Eine pauschale Absage des Angebots kann ich Hilmar nicht antun. Er will uns ja helfen, so wie damals, als er mir den tollen Nebenjob als Kundenbetreuer verschafft hat. Ohne den Verdienst hätten wir nie die Pflegeelternschaft für Finn beantragen können.

Eines verspreche ich dir hier und heute: Ich werde ihm nie etwas zusagen, ohne vorab mit dir einig zu sein.“

„Das weiß ich ja“, lenkte Jana ein. „Ich möchte mich auch nicht mit dir streiten. Doch lass in deinem Kopf den Gedanken zu, dass Hilmars Angebot nichts mit Hilfsbereitschaft zu tun hat, sondern reiner Selbstzweck ist. Er weiß, was er an dir hat und will dich auf keinen Fall verlieren.“

Und nach einer kurzen Pause, in der Helge sie mit ernstem Blick angeschaut hatte: „Jetzt lass uns erst einmal über das reden, was wir in der eigenen Hand haben.“

„Du meinst die Adoption …“

„Unter anderem. Ich weiß ja aus eigener Erfahrung, was dazu alles notwendig ist. Meine Pflegeeltern mussten einen Antrag beim Familiengericht stellen, der notariell beglaubigt sein musste. Und das kostet richtig Geld.“

„Finanziell sehe ich kein Problem. Durch meine Nebentätigkeit bei Hilmar konnten wir ja Einiges zurücklegen. Und in diesem Jahr ist auch schon wieder Provision aufgelaufen. Wie lange ich das noch machen kann, hängt ja auch von meinem zukünftigen Job ab.“

„Dann sollten wir in der kommenden Woche versuchen, einen Notartermin zu bekommen. Ich glaube nicht, dass wir Probleme mit dem Jugendamt oder dem Familiengericht bekommen werden.“

„Sehe ich auch so. Immerhin leben wir ja nun schon fast zwei Jahre mit Finn zusammen. Und dessen Großeltern, sollten sie überhaupt um ihr Einverständnis gebeten werden, sind ja auf unserer Seite.“

Jana war aufgestanden und um den Tisch herumgekommen, beugte sich zu Helge herunter und küsste ihn:

„Dann sind wir eine richtige Familie …“

„… und zu deren Vollendung fehlen nur noch eigene Kinder“, ergänzte Helge. „Ich denke da so an zwei bis drei.“

„Nun übertreibe nicht gleich wieder. Bis zwei gehe ich ja noch mit, aber Zeit lassen sollten wir uns auf jeden Fall noch etwas. Erst muss klar sein, wo wir in Zukunft unsere Zelte aufschlagen werden.“

Jana löste sich aus der Umarmung, spazierte Richtung Toilette davon und ließ einen freudestrahlenden Helge zurück.

3

Mitte Juni 2006, Schönebeck

Ilona Breitschuh schwang die weiße Damastdecke mit weit ausholenden Armen auf den Esstisch und begann, ihn für das Abendessen einzudecken. Sie und ihr Mann erwarteten ihren Sohn mit seiner Frau. Die Begegnungen waren seltener geworden, seitdem die beiden ihr eigenes Haus bezogen hatten. Zum Glück. Mit ihrer Schwiegertochter kam Ilona auch über ein Jahr nach deren Hochzeit immer noch nicht klar. Die kreiste in ihren Gedanken immer nur um sich selbst, kam nie auf die Idee, ihr mal in der Küche zur Hand zu gehen. Miriam, die ehemalige Freundin ihres Sohnes, war ihr wesentlich sympathischer gewesen. Nun musste sie halt Annika, so gut es eben ging, ertragen. In die Ehe einmischen kam für sie nicht in Frage, schließlich musste ihr Sohn Hilmar damit klarkommen. Ob er das tat, hatte sie allerdings noch nicht herausbekommen. Alle ihre vorsichtigen Versuche, das zu erfahren, hatte er rigoros abgeblockt, sie solle sich keine Sorgen machen, er hätte alles im Griff.

Das leise Surren des Elektromotors kündigte an, dass ihr Mann Achim mit seinem Rollstuhl ins Zimmer gefahren kam. Seit seinem schweren Schlaganfall vor zwei Jahren war er auf das Gefährt angewiesen. Sein rechtes Bein war nach wie vor gelähmt. Seinen rechten Arm dagegen konnte er dank intensiver Physiotherapie für einfache Tätigkeiten wieder eingeschränkt nutzen.

„Will helfen“, brachte er stockend hervor. Sie lächelte ihn an, wusste, dass er Beschäftigung brauchte. Sie rückte die Stühle vom Tisch weg, stellte die Geschirrstapel und den Besteckkasten auf den Tisch und meinte: „Wenn du den Tisch decken könntest, kann ich mich in der Küche ums Essen kümmern.“

„Mach ich.“ Achim rollte zur Stereoanlage, legte mit der linken Hand eine CD mit Oldies ein und begann mit dem Eindecken.

Ilona war glücklich, dass er sich wenigstens mit einigen Worten wieder verständlich machen konnte. Anfangs war seine Sprache vollkommen weg gewesen. Doch ihr Mann war ein Kämpfer, fuhr bis heute regelmäßig zu einem Logopäden und trainierte das Sprechen. Das bewunderte sie an ihm. Nur kurz nach dem Schlaganfall, als selbst kleinste Fortschritte ausblieben, hätte es ihn fast aus der Bahn geworfen, ihn, den Unternehmer, für den ein Zwölf-Stunden-Tag die Regel gewesen war. Sie dachte zurück an den Tag, als er, ohne sie vorher einzuweihen, im Krankenhaus die Firma seinem Sohn angeboten hatte, der daraufhin sein Studium abgebrochen hatte. Hilmar führte die Firma seit nunmehr zwei Jahren außerordentlich erfolgreich. So verrückt es klingt: Als ihr Mann die Firma gerettet sah, fasste er langsam wieder Mut zum Leben. Und heute können sie sogar wieder verreisen, ins Kino oder Theater gehen.

Selbst am Sex haben sie wieder Spaß.

Ilona lächelte in sich hinein, als die schrille Haustürglocke sie aus ihren Gedanken riss. Sie eilte zum Eingang und öffnete. Mit einem bunten Strauß Sommerblumen stand Hilmar vor der Tür:

„Hallo, Mama.“

„Kommst du allein? Wo ist Annika?“

„Die wird bald einfliegen. Hatte noch einen Termin bei ihrem Oberstaatsanwalt. Lässt du mich trotzdem rein?“

„Aber natürlich, mein Sohn! Entschuldige, war nur einen Moment perplex.“ Ilona Breitschuh trat einen Schritt zur Seite. „Papa ist im Esszimmer und deckt den Tisch.“

„Na, du Fleißiger“, begrüßte Hilmar seinen Vater, der gerade das Besteck neben den Tellern ausrichtete. „Wohl gut in Form heute?!“

„Geht so“, kam relativ flüssig über Papas Lippen, doch dann wurde es schwieriger: „Wie laufts … in W…irma?“

Hilmar verstand ihn trotzdem und suchte nach einer Antwort, die seinen Vater zufriedenstellen würde.

„Wir können uns im Augenblick vor Aufträgen nicht retten. Fahren an der Kapazitätsgrenze und einen Großteil der Anlagen schon rund um die Uhr. Ich denke ernsthaft über eine Erweiterung nach.“

Sein Vater griff zu seinem Laptop und begann eine Antwort einzutippen. Für eine solche Unterhaltung reichte seine Sprachfähigkeit einfach noch nicht aus. Hilmar trat neben ihn und las laut mit:

`Gratuliere zur Auslastung. Aber Achtung, kann gefährlich werden! Darfst Wartung der Maschinen nicht vergessen. In Halle 2 könntest du neue Anlage aufstellen.´

„Den Platz nutze ich im Augenblick als Lager. Das ist nämlich auch zu klein.“

`Dann baue neue Lagerhalle. Investitionssumme nicht so hoch. Nicht so hoch verschulden.´

Typisch Papa, dachte Hilmar bei sich. Er scheut halt jedes Risiko.

Laut sagte er: „Wäre eine Variante. Ich werde drüber nachdenken.“

Das hatte er jedoch im Augenblick nicht vor.

„Gut. Sei w…orsicht…“, das Ende verschluckte sein Vater, dem jedes Wort größte Anstrengung abforderte. So war er ganz glücklich, dass die Klingel ihre stockende Diskussion unterbrach.

„Das wird Annika sein“, meinte Hilmar, überließ es aber seiner Mutter, die Tür zu öffnen.

Die junge, hübsche Frau mit der wohlproportionierten Figur kam freudestrahlend hereingestürmt:

„Ihr werdet es nicht glauben: Ich habe meinen Wunschjob bekommen“, platzte sie heraus. „Mein Oberstaatsanwalt meinte, er hätte lange nicht eine so gute Absolventin eingestellt.“

Achim kam mit seinem Rollstuhl herangepirscht, griff mit seiner linken ihre Hand und lächelte sie an:

„Gratuliere!“

Annika beugte sich zu ihrem Schwiegervater herunter, drückte ihn fest und hauchte ihm ein „Danke“ ins Ohr. Auch Hilmar nahm seine Frau in den Arm und meinte:

„Gratulation, Frau Staatsanwältin. Muss ich jetzt Angst vor dir haben?“

„Keine Sorge, dafür bist du zu alt! Werde im Jugendstrafrecht eingesetzt“, lachte Annika ihn an.

Ilona hatte die überschwängliche Begrüßungszeremonie von der Tür aus verfolgt, ging jetzt auf Annika zu und streckte ihr die Hand entgegen: „Ich habe nie daran gezweifelt, dass du das schaffst. Dein Ehrgeiz hätte das nicht zugelassen. Glückwunsch!“

Mit einem verkniffenen Lächeln nahm Annika die ihr gebotene Hand: „Kennst mich eben doch noch nicht so gut, Ilona. Ohne Hilmars Freund Helge hätte ich vor zwei Jahren mein Studium geschmissen.“

„Da kannten wir uns noch nicht“, fühlte sich Hilmar bemüßigt zu ergänzen. “Zum Glück konnte er dich überzeugen, deinem Vater klarzumachen, dass du nicht in seine Kanzlei einsteigen wirst, sondern Staatsanwältin werden willst.“

Wortlos zog seine Mutter ihre Hand zurück, drehte sich um und verließ das Zimmer Richtung Küche. Von dort rief sie: „Kümmert Ihr euch bitte um die Getränke!“

Hilmar sprang auf: „Geht klar, ich hole Wein. Weiß oder rot?“ Er blickte seinen Vater an.

„Wäre für rot“, meldete der seinen Anspruch an.

„Ich möchte nur ein Wasser“, ergänzte Annika.

„Bist wohl s...wanger?“ Mit erstaunten Augen blickte Achim seine Schwiegertochter an.

„Wie kommst du denn darauf?“, lachte die zurück. „Ich muss nachher noch fahren.“

„Ein Glas Wein schadet aber nichts“, rief Hilmar ihr auf dem Weg in die Küche etwas zu forsch zu.

„Doch, tut es!“, antwortete ihm Annika genauso scharf. „Ich beginne gerade meinen Weg als Staatsanwältin. Den werde ich mir doch nicht durch so einen Lapsus versauen. Es gibt genügend Neider um mich herum.“

„Ist ja gut“, lenkte Hilmar ein. „du musst wissen, was du tust.“

Es wurde ein sehr ruhiges, um nicht zu sagen schweigsames Abendessen im Hause Breitschuh. Nachdem abgeräumt war, machte Annika Anstalten, sich zu verabschieden.

„Willst du schon gehen?“, Ilona warf einen vorwurfsvollen Blick in die Runde.

„Würde ich gerne“, versuchte Annika eine Erklärung. „Habe morgen einen anstrengenden Tag vor mir. Danke für das tolle Essen.

Hilmar, kommst du mit oder wollt ihr noch über die Firma reden?“

„Ich bleibe noch ein Stündchen. Fahre ruhig schon los, habe ja mein Auto auch hier. Gute Nacht, Liebling.“

Annika drückte ihm noch einen flüchtigen Kuss auf die Wange, umarmte ihren Schwiegervater und ließ sich von ihrer Schwiegermutter zur Haustür bringen. Sie war ganz froh, den Abend in Ruhe ausklingen lassen zu können.

Als sie in ihrem Auto saß, vibrierte das Handy. Sie fand es schnell in ihrer Handtasche und las die SMS ihres Oberstaatsanwaltes:

„Freue mich auf unsere enge Zusammenarbeit.“

Die Uhr zeigte 22 Uhr und sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Um diese Zeit würde sie ihm heute mit Sicherheit keine Nachricht mehr schicken.

Nachdem auch Hilmar das Elternhaus verlassen hatte, saß sein Vater noch lange nachdenklich in seinem Rollstuhl und starrte mit leicht zusammengekniffenen Augen ins Nichts. Sein Sohn hatte ihm gerade klar gemacht, dass er einen Millionenkredit aufzunehmen gedenke, um die Produktionskapazitäten zu erhöhen. Die Banken hätten ihm schon Zustimmung signalisiert. Er hatte ihm abgeraten, sah sein Lebenswerk in Gefahr. Fünfundzwanzig Jahre lang hatte er das Unternehmen aufgebaut, am Markt platziert, stabile Kundenbeziehungen entwickelt und jährlich einen ordentlichen Gewinn erwirtschaftet. Und nun musste er tatenlos zusehen, wie sein Sohn risikoreiche Expansionspläne schmiedete.

Er fühlte sich gefangen im eigenen Körper, konnte sich nur mit dem Rollstuhl bewegen, kaum verständlich sprechen und lediglich mit einer Hand den Laptop bedienen. Nach einer halben Stunde verließ ihn aber auch dort seine Kraft und er brauchte eine längere Pause.

Wie sollte er Hilmar seine Gedanken verständlich und überzeugend darlegen? Nicht ständiges Wachstum ist das Maß aller Dinge, sondern eine effektive Produktion, das Ausnutzen der eigenen Reserven durch längere Maschinenlaufzeiten zum Beispiel. Doch Hilmar vernachlässigte die regelmäßige Wartung der Anlagen. Sein alter Produktionsleiter, mit dem er nach wie vor engen Kontakt hielt, hatte ihn darüber informiert und gebeten, seinen Einfluss beim Sohn geltend zu machen. Doch der hatte ihm nur geantwortet, das ginge im Augenblick nicht, er hätte so viele Aufträge in der Warteschleife.

Vaters gesunde Hand ballte sich zur Faust. Es war eine Art Ohnmacht, die ihn aufstöhnen ließ.

„Achim, was ist los mit dir?“ Seine Frau war gerade hereingekommen, um nach ihm zu sehen.

„Hi...mar macht gro...be W…ehler“, presste er mühsam hervor.

„Ich weiß“, stimmte ihm Ilona zu, „und er lässt nicht mit sich reden.

Ist eben genauso ein Sturkopf wie du.“

„Was wei…t du?“, hakte Achim nach.

„Dass die Anlagen im Betrieb auf Anschlag fahren und immer häufiger kleine Aussetzer auftreten und dass die geplante Investition fast eine Verdopplung unserer Kapazität bedeuten würde und der Markt dafür gar nicht vorhanden ist. Hat mir im Vertrauen unser Produktionsleiter erzählt.“ Ilona war seit vielen Jahren in der Buchhaltung beschäftigt und hatte nach Achims Schlaganfall den Familienbetrieb am Laufen gehalten.

Ihr Mann war noch tiefer in seinen Rollstuhl gesunken und schüttelte mit dem Kopf.

„Aber vielleicht geht auch alles gut“, versuchte Ilona, ihren Mann zu beruhigen. „Hilmar weiß, was er will. Wir sollten ihm vertrauen und ihn unterstützen.“

Achim dagegen schüttelte immer noch mit dem Kopf: „Das geht …ni… gut.“

4

Ende Juni 2006, Leipzig

Der untersetzte, etwas pummelig wirkende Junge mit den hellbraunen Haaren schaute den um fast einen Kopf größeren Finn erstaunt an: „Wie viele Leute wohnen denn bei euch in der Bude?“

„Erkläre ich dir später“, antwortete der und drückte auf den Klingel-knopf der Wechselsprechanlage direkt neben der Hauseingangstür. Vier Namen standen eng gequetscht auf dem kleinen Schild neben dem Drücker: Reichwein, Lischka, Krawinkel und Heselmann. Es dauerte nicht lange und ein freundliches „Ja bitte?“ ertönte etwas blechern aus dem Lautsprecher.

„Mama, ich bin´s. Habe meinen Freund mitgebracht.“ Finn schaute zu Markus herunter und lächelte.

„Na, dann kommt mal rein, ihr zwei“, ertönte Janas Stimme, kurz gefolgt vom Surren des Türöffners.

Gemächlich erklommen die beiden Jungs mit ihren nicht gerade leichten Schulrucksäcken die Treppen bis zur dritten Etage, wo sie von Finns Mama bereits erwartet wurden.

„Du musst Markus sein“, begrüßte Jana den Jungen. „Finn hat uns schon viel von dir erzählt. Komm erst mal rein.“ Sie wusste, dass Markus mit Finn in eine Klasse und nach dem Unterricht in den Hort ging, seine überängstliche Mutter ihm bisher jedoch die Genehmigung zu einem Besuch bei Finn verweigert hatte. Erst als sie versprochen hatten, den Jungen bis spätestens 18 Uhr persönlich nach Hause zu bringen, hatte sie ihr Einverständnis gegeben.

Die Jungs hatten ihre Schuhe ausgezogen und betraten Finns Zimmer. Markus blieb abrupt mit weit aufgerissenen Augen stehen, blickte auf die große Modelleisenbahnanlage und brachte nur ein „Ist ja krass!“ hervor.

„Komm, krieg dich ein!“ Finn lachte, schmiss seinen Ruck-sack mit kühnem Schwung in die Ecke und setzte die Züge unter Strom.

„Geile Anlage, gehört die dir?“ Markus war nähergekommen und hatte seinen Ranzen auf einen der Stühle abgelegt.

„Schön wäre es. Sie gehört Richard, aber ich darf mit ihr spielen.“

„Und wer ist Richard?“

Finn erinnerte sich an Markus´ Reaktion auf ihr Klingelschild und überlegte, wie er ihm das „Vier-Namen-Chaos“ am besten erklären könnte. Ging seinen Freund das überhaupt etwas an? `Dumme Frage´, entschied er für sich. Immerhin war Markus in diesem Schuljahr zu seinem Freund geworden und gegenüber Freunden hatte man keine Geheimnisse.

„Also gut. Du wolltest wissen, warum da vier Namen auf dem Klingelschild stehen. Zwei werden in Kürze verschwinden. Richard und Gerda Reichwein sind die Eigentümer dieser Wohnung und wir sind ihre Untermieter. Richard war mal Matheprofessor und hilft mir immer mal wieder bei den Hausaufgaben. Kann richtig gut erklären. Der Name Lischka gehört meiner Mama, die du gerade kennengelernt hast. Er kann aber weg, denn sie hat meinen Papa vor drei Wochen geheiratet und heißt jetzt Krawinkel.“

Finn machte eine kurze Pause, die Markus für eine Frage nutzte:

„Verstehe ich nicht. Du heißt doch aber Heselmann …“

„Richtig. War ja auch noch nicht fertig. Die beiden sind meine Pflegeeltern. Meine richtige Mama kam vor ein paar Jahren bei einem Autounfall ums Leben. Und meinen richtigen Vater habe ich nie kennengelernt. Meine Pflegeeltern wollen mich aber adoptieren und dann heiße ich auch Krawinkel.“

„Willst du‘s denn auch?“

„Wäre echt super! Habe ja auch viel dafür getan.“

Und dann erzählte er die Geschichte von seinem Aufenthalt in einem Kinderheim, von Helge als Weihnachtsmann und Jana als dessen lieblichen Weihnachtsengel, davon, dass er beide von Anfang an gemocht, sie aber nicht mal eine eigene gemeinsame Wohnung gehabt hätten. Er sei dann an eine andere Pflegefamilie vermittelt worden, wo es ihm überhaupt nicht gefallen hatte. Von dort sei er einfach ausgerissen und zu seiner Mama auf den Friedhof gefahren.

Überall hätte ihn die Polizei gesucht, aber Helge und Jana hätten ihn schließlich auf einer Friedhofsbank schlafend gefunden und von da an alles erdenkliche versucht, ihn als Pflegekind zu übernehmen.

„Da bist du ja ein Glückskind.“ Markus schaute angestrengt dem fahrenden ICE auf der Modellbahnanlage nach und vermied es, Finn ins Gesicht zu sehen.

„Und was ist mit dir?“, wollte Finn wissen. „Ich weiß nur, dass du keinen Vater hast.“

„Einen Vater hat jeder“, polterte Markus zurück. „Hättest im Unterricht besser aufpassen müssen. Ich kenne ihn nur nicht und meine Mutter blockt, wenn ich sie danach frage.“

„Das ist ja hammerhart. Aber warum tut sie das?“

„Woher soll ich das wissen. Soll wohl eine kurze Urlaubsbekanntschaft gewesen sein. Vielleicht weiß sie es selbst nicht. Jetzt hat sie wieder mal einen Freund, aber das ist ein Arsch. Für den bin ich so gut wie nicht existent, turtelt nur um meine Mutter rum. Irgendwann will ich meinen richtigen Vater kennenlernen. Du nicht?“

„Nee, ich habe doch jetzt einen Papa und bin damit bisher mehr als zufrieden. Bei dir ist das was anderes. Aber wie willst du ihn finden?“

„Keine Ahnung! Ich weiß nur, dass meine Mutter mit mir in den Sommerferien nach Österreich fahren will. In den Ort, wo sie vor vierzehn Jahren mit einer Freundin Urlaub gemacht und angeblich meinen unbekannten Vater kennengelernt hat. Soll mir bloß keine Hoffnungen machen, meinte sie, sie will mir nur die herrliche Landschaft zeigen.“

„Wäre ja ein großer Zufall, wenn er auch dort sein sollte, oder?“

„Sicher, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, ihn zu finden.

Schlechter als der jetzige Lover meiner Mutter kann er nicht sein.“

„Vielleicht weiß er nicht mal, dass es dich gibt.“

„Davon gehe ich aus. Wird bei deinem Vater nicht anders sein.“

„Darauf kannste wetten. Hab bisher nur herausbekommen, dass meine Mama ein Kind, aber keinen Ehemann wollte. Aber fragen kann ich sie dazu nicht mehr.“

Etwas traurig wandte sich Finn an Markus: „Komm, lassen wir andere Züge auch auf die Strecke.“

Plötzlich öffnete sich die Tür zum Nebenraum einen Spalt und Jana steckte ihr lächelndes Gesicht herein: „Wer von den Herren möchte denn ein Stück Streuselkuchen mit Füllung?“

Die beiden Jungs schauten sich an und brachten fast gleichzeitig ein kräftiges „Wir“ hervor.

„Na, dann kommt mal rüber.“ Jana öffnete die Tür, und die Jungs sahen den gedeckten Kaffeetisch im Wohnzimmer. So vornehm wollten sie allerdings den Kuchen nicht speisen:

„Mama, können wir den Streuselkuchen nicht in meinem Zimmer essen?“ Finn sah sie mit seinem umwerfendsten Lächeln an, während Janas Gesicht erfror:

„Wollt ihr mich wirklich allein am Kaffeetisch sitzen lassen?“

„Ist Papa noch nicht da“, fragte Finn sicherheitshalber nach, obwohl er die Antwort darauf wissen müsste, denn Helge hätte ihn beim Heimkommen mit Sicherheit begrüßt.

„Nein, ich warte ja auch auf ihn.“

„Allein lasse ich dich nicht, Mama“, meinte Finn. „Komm, Markus, wir gehen rüber.“

Doch just in dem Moment, als die Freunde ins Wohnzimmer traten, hörten sie das Drehen des Schlüssels an der Wohnungstür.