Finn und die tödliche Überraschung - Jürgen Schnell - E-Book

Finn und die tödliche Überraschung E-Book

Jürgen Schnell

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Beschreibung

Finn Krawinkel - 29jähriger Kriminalpsychologe bei der Mordkommission Dresden - findet seinen Opa bewusstlos in dessen Wohnung. Trotz sofortiger medizinischer Hilfe verstirbt er kurz darauf im Krankenhaus. Auf den ersten Blick sieht alles nach einem Suizid aus. Es dauert allerdings nicht lange, bis sich das als fataler Irrtum herausstellt. Nun ermittelt die Polizei in einem Mordfall. Von dem wird Finn aufgrund seiner familiären Beziehung zum Opfer vorübergehend abgezogen. Dennoch sucht er von Zuhause aus weiter nach einem Motiv sowie dem möglichen Täter und findet im Nachlass seines Opas ein brisantes Roman-Manuskript, das kurz vor der Veröffentlichung stand. Doch die wäre einigen Personen überhaupt nicht recht gewesen. Finn ist sich sicher, damit nicht nur ein Mordmotiv, sondern auch potentielle Täter gefunden zu haben. Er muss davon nur noch seine Kollegen überzeugen. Der Mord an einem der Tatverdächtigen macht diese Aufgabe nicht gerade leichter. Nach "Der Weihnachtsmann bin ich" und "Finn und die Rätsel der Vergangenheit" legt Jürgen Schnell mit dem dritten Band der Familiensaga einen hochspannenden Krimi mit überraschenden Wendungen vor, der die ermittelnden Beamten immer wieder vor neue Herausforderungen stellt. Finn erweist sich dabei als kompetenter Analyst und perfekter Stratege. Das Ergebnis der Ermittlungen überrascht allerdings nicht nur ihn.

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Seitenzahl: 314

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Über den Autor:

Jürgen Schnell wurde 1951 in Magdeburg geboren, wuchs dort auf und lebt heute in Dresden. Er studierte in Leipzig Wirtschaftswissenschaften und Journalistik, schloss mit einem Diplom ab, und war in diesem Beruf viele Jahre tätig. 1989 machte er sich mit einem Pressebüro selbstständig und war an der Herausgabe mehrerer Sachbücher beteiligt.

Ab 2016 widmete er sich ausschließlich der Schriftstellerei. Drei Romane um den Waisenjungen Finn 2 sind seither erschienen.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 26

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Nachwort des Autors

1

Das mulmige Gefühl in der Magengegend wuchs, als auf sein Klingeln keine Reaktion erfolgte. Finn stand vor einem nach historischem Vorbild neu erbauten Mehrfamilienhaus in der Dresdner Innenstadt. In dieses Schmuckstück war sein Großvater mit seiner Lebensgefährtin vor einigen Jahr eingezogen. Er drückte den Klingelknopf neben dem Namen „Krawinkel“ erneut. Diesmal etwas länger. Aber der kleine Lautsprecher unter der Kamera der Wechselsprechanlage blieb still. Sichtlich nervös suchte er in seiner ledernen Umhängetasche nach dem Schlüssel, den ihm Opa Friedbert für den Notfall ausgehändigt hatte. Als er ihn in der Hand hielt, zögerte er: War dies wirklich ein Notfall? Sein Opa war vielleicht nur auf einem Spaziergang? Oder traf er sich mit Freunden in einem der umliegenden Restaurants? Dann hätte er sich aber zumindest am Handy gemeldet. Finn hatte es seit heute Morgen mehrfach erfolglos versucht.

Seine Hand zitterte leicht und er benötigte drei Versuche, den Schlüssel in das Schloss einzuführen. Zwei Stufen auf einmal nehmend erreichte er die zweite Etage, ohne nach Luft zu pumpen. Nach erneutem Klingeln und vorsichtigem Klopfen öffnete er die Wohnungstür.

„Opa, bist du da?“ fragte er in die bedrückende Stille.

Vorsichtig öffnete er die Schlafzimmertür. Eines der beiden Betten war zerwühlt und leer. Die zwei Türen gegenüber führten in Bad und Toilette. Beide Räume waren aufgeräumt, aber menschenleer. Blieb nur noch das Arbeits- und das Wohnzimmer am Ende des Korridors mit der durch eine große Schiebetür abgrenzbaren Küche. Finn schob die nur angelehnte Wohnzimmertür vorsichtig auf. Dann sah er ihn auf der Dreisitzer-Couch liegen, den Kopf auf der Armlehne ruhend. Die Füße lagen auf der Couch, stießen auf der anderen Seite an die Lehne. Offenbar tief schlafend, unverkrampft und friedlich. Mit wenigen Sprüngen stand Finn unmittelbar neben ihm, sprach ihn an, schüttelte ihn leicht an der Schulter. Nichts. Ein unangenehmer Alkoholdunst stieg ihm in die Nase. Auch sein lautes, fast gebrülltes „Opa, wach auf!“ half nicht. Sein Blick fiel auf den Couchtisch und die dort liegende Blisterverpackung mit Schlaftabletten neben einer nur noch halbvollen Flasche Wodka. Verzweiflung stieg in ihm auf, als er tief gebückt krampfhaft nach einem Puls suchte. Am Hals spürte er ihn dann ganz leicht, richtete sich abrupt auf, suchte sein Handy und wählte die „112“.

Zehn Minuten später waren Notarzt und Rettungssanitäter vor Ort. Als mittlerweile erfahrener Kriminalist wies er sie eindringlich darauf hin, keine Gegenstände, wie Wodkaflasche, Trinkglas und Tablettenblister, zu berühren. Er sei sich überhaupt nicht sicher, ob sein Opa ohne Fremdeinwirkung in diesen Zustand versetzt worden war. Alkoholiker sei er jedenfalls nie gewesen. Der Notarzt versorgte seinen Opa und meinte emotionslos: „Wir nehmen ihn mit in die Uniklinik. Machen Sie sich aber nicht allzu große Hoffnungen. Wir wissen noch nicht, wie viele der Tabletten er schon wie lange intus hat. Aber ihm ist neben dem Alkohol noch etwas eingeflößt worden, das wir erst noch analysieren müssen. Ich tippe auf K.-O.-Tropfen. Wir werden alles versuchen, können aber nichts versprechen. Außerdem müssen wir die Polizei informieren, denn es handelt sich hier offenbar um einen Suizid-Versuch.“

„Ich bin die Polizei.“ Finn reichte dem Notarzt seine Visitenkarte. „Bin Kriminalist hier in der Polizeidirektion und kümmere mich um die Formalitäten“.

„Melden müssen wir es trotzdem“, verabschiedete sich der Arzt und folgte den Sanitätern.

Die plötzliche Ruhe in der Wohnung erschlug Finn förmlich. Was war hier passiert? Und warum? Es dauerte ein paar Minuten, bis sich seine Gedanken wieder in einigermaßen geordneten Bahnen bewegten. Wie aus dem Nichts tauchte das Handy in seiner linken Hand auf. Intuitiv drückte Finn eine Kurzwahlnummer und sein Kollege nahm ab. „Du, Mark, ich brauche dich hier. Mein Großvater hat offenbar versucht, sich das Leben zu nehmen. Ich habe ihn gefunden und den Rettungsdienst gerufen. Er ist schon auf dem Weg in die Klinik. Aber irgendetwas stimmt hier nicht.“

„Ich komme sofort. Adresse? Und fass erst mal nichts an! Aber das weißt du ja selber.“ Das Besetztzeichen signalisierte, dass Mark aufgelegt hatte. Gut zehn Minuten später klingelte er an der Haustür. Finn öffnete ihm mit dem kurzen Hinweis „zweite Etage“ und erwartete ihn an der Wohnungstür.

„Danke, dass du dich so schnell loseisen konntest. Komm erst mal rein. Ich habe bisher nichts angefasst oder verändert. Lediglich mein Opa liegt nicht mehr auf der Couch im Wohnzimmer. Ihn habe ich natürlich nach Lebenszeichen untersucht und am Hals einen leichten Puls gespürt. Allerdings war er nicht mehr ansprechbar.“

„Da er deinen Nachnamen trägt, gehe ich davon aus, dass es sich um den Vater deines Papas handelt.“

„Richtig. Bis zu seinem Ruhestand war er Finanzvorstand eines mittelgroßen Dresdner Konzerns. Vor über zehn Jahren hatte er sich von meiner Oma getrennt und eine neue Beziehung aufgebaut. Bei meinem letzten Besuch hatte mir mein Opa allerdings erklärt, dass seine Lebensgefährtin Beate vorübergehend zu ihrem Sohn gezogen sei.“

Noch während seiner Rede begann Finn sich im Zimmer genauer umzuschauen und entdeckte neben der Tageszeitung auf dem Tisch ein weißes Blatt Papier mit computergeschriebenem Text.

„Schau mal, Mark.“ Finn deutete auf das Blatt.

„Warte“, unterbrach ihn Mark und zog aus seinem Jackett zwei Paar Gummihandschuhe. „Wir sollten vorsichtig sein, um ein Fremdverschulden ausschließen zu können. Ich schaue mich erst mal in der Wohnung um.“ Sie streiften sich die Handschuhe über und Finn ergriff das computerbeschriebene A4-Blatt und begann zu lesen:

Hilflos und zutiefst erschüttert müssen wir mit ansehen, wie die Welt sich selbst zerstört. Menschen schießen ganz in unserer Nähe wieder auf Menschen, Städte werden zerbombt und Politiker schüren den Hass auf den vermeintlichen Gegner anstatt sich mit ihm an den Verhandlungstisch zu setzen. Und dies nun auch mitten in Europa, das auf über 75 Jahre Frieden zurückblicken kann. Um den zu bewahren, dafür habe ich gearbeitet, dafür habe ich meine Kinder in die Welt gesetzt und erzogen und dafür habe ich gelebt. Nun wird uns – auch wegen der Umweltzerstörung – mehr und mehr die Lebensgrundlage genommen. Die Menschen in unserem Land entzweien sich zusehends, hören einander nicht mehr zu, radikalisieren sich. Wohin wird das führen? Eine Antwort haben uns die Politiker dieser Welt bisher nicht gegeben. Jeder sieht nur seinen Vorteil. Das macht mir Angst und ...

Mitten im Satz brach der Text ab. Finn stand etwas ratlos in diesem gemütlich und zweckmäßig eingerichteten Wohnzimmer und schaute ziellos an dem unschuldigen Blatt Papier vorbei in den Raum, ohne den zurückkommenden Mark zu beachten. Die Gedanken in seinem Kopf hatten sich aufgelöst, er spürte eine grenzenlose Leere. „Was ist passiert, Finn?“ Die Worte seines Kollegen holten ihn in die Wirklichkeit dieses Tages zurück. Wortlos streckte er seinen Arm mit dem weißen Blatt aus. Langsam, einen Fuß vor den anderen setzend, kam Mark näher, so dass er das Blatt greifen konnte. Schweigend überflog er die wenigen Zeilen, ließ die Arme sinken und meinte trocken: „Daraus ergeben sich für mich mehr Fragen als Antworten.“ „Das sehe ich genauso“, stimmte Finn ihm zu. „Sollte es ein Abschiedsbrief werden und er wurde beim Schreiben unterbrochen?“

„Wir können deinen Opa im Augenblick dazu nicht befragen. Ich gehe jedenfalls zunächst davon aus, dass er sich das Leben nehmen wollte. Die Tabletten und der Alkohol sprechen dafür. Alles andere halte ich für Spekulation. Tut mir leid für dich, Finn. Die Spurensicherung können wir uns wohl erst einmal sparen. Trotzdem packe ich zur Sicherheit noch das Glas, die Wodka-Flasche und den Tablettenblister hier vom Tisch ein und fahre dann in die Klinik, um zu sehen, wie es ihm geht.“

„Ich komme mit“, ergänzte Finn leise. „… und dieses ominöse Schreiben sollten wir auch mitnehmen.“

Aus den Taschen seines Jacketts zauberte Mark Plastiktüten hervor, um die vier Dinge geschützt zu verstauen.

Bevor sie die Wohnung verließen, wollte Mark noch wissen, wer alles einen Schlüssel dafür hätte. Finn sah ihn fragend an: „Ich weiß es nicht, Mark. Mein Opa hat einen, ich habe einen. Von anderen weiß ich es nicht. Allerdings gehe ich davon aus, dass seine Lebensgefährtin auch noch einen besitzt. Sie ist ja mit ihm in dieser Wohnung gemeldet. Und ihr vorübergehender Auszug wird daran nichts geändert haben.“

„Gut, dann müssen wir versiegeln, hab aber keine Banderole dabei. Warte hier, bin gleich zurück und bringe das Auto mit.“ Mark drehte sich abrupt um und verließ die Wohnung und einen ratlosen Finn. Der Text seines Opas beschäftigte ihn und würde es wohl noch länger tun.

Gesprächsfetzen aus Diskussionen mit ihm flammten auf und verloschen im nächsten Moment. Sie waren nicht immer einer Meinung gewesen, aber stritten meist sachlich miteinander. Und irgendwie konnte er ihn mit seinen teils radikalen Ansichten auch verstehen. Nur das letzte Gespräch war etwas aus dem Ruder gelaufen. Aber ihn deshalb verurteilen? Das kam ihm nicht in den Sinn. Er hatte ihn doch lieb. Vielleicht nicht ganz so, wie seinen Opa Achim, den Bäckermeister und Vater seiner Mama. Da schoss ihm ein Gedanke ein: Er musste seinen Papa anrufen und ihn über das Vorgefallene informieren.

„Hallo Finn, was gibt´s Neues?“, nahm der den Anruf mit seinem Smartphone sofort entgegen.

„Nicht so Erfreuliches, Papa. Opa hat offenbar versucht, sich das Leben zu nehmen und liegt jetzt in der Uniklinik. Der Notarzt ist aber nicht sehr optimistisch.“

Da sein Papa die schockierende Nachricht erst mal verdauen musste und schwieg, setzte Finn seinen Bericht fort: „Bin jetzt noch in Opas Wohnung, habe ihn hier vor gut einer halben Stunde gefunden und werde gleich mit einem Kollegen in die Klinik fahren.“

Helge – sein Papa – hatte inzwischen seine Sprachlosigkeit überwunden. „Ich kann es im Augenblick noch nicht fassen, Finn, werde aber Mama, meine Schwester und meinen Bruder informieren und erst einmal alle heutigen Termine canceln. Gib mir eine Stunde. Dann treffen wir uns in der Klinik.“

„Okay, Papa!“ Doch der hatte inzwischen aufgelegt. Noch während Finn in seinem Handy die Nummer seiner Frau suchte, klingelte es an der Tür. Mark kehrte zurück, und sie konnten die Wohnung versiegeln und zur Uniklinik starten.

Ihre Polizeiausweise erleichterten die Suche auf dem riesigen Klinikareal. In der Rettungsstelle stand ihnen nach kurzer Wartezeit auch der verantwortliche Arzt gegenüber.

„Wie sieht es mit Herrn Krawinkel aus?“, wandte sich Mark an den Doktor.

„Noch liegen mir die Ergebnisse der Blutanalysen nicht vor. Die erwarte ich in den kommenden dreißig Minuten. Aber gut sieht es trotz sofortiger Magenspülung nicht aus, der Blutdruck ist immer noch extrem niedrig, er ist nicht ansprechbar und reagiert auf keinerlei Reize. Die Atmung ist instabil, deshalb müssen wir ihn beatmen. Im Augenblick können wir nur abwarten und hoffen, dass er es schafft. Sie sollten dennoch zeitnah die nächsten Verwandten informieren.“

„Ich bin sein Enkel“, wandte sich Finn an den Arzt. „Seinen Sohn – meinen Vater – habe ich bereits informiert. Er kommt so schnell es geht aus Leipzig rüber und wird in der nächsten Stunde eintreffen. Ich werde unten auf ihn warten.“

„Bis dahin wissen wir mehr. Melden sie sich bei der Stationsschwester dort vorn.“ Der Doktor zeigte auf den Tresen am Eingang zur Station und verabschiedete sich mit einem Kopfnicken. Mark drehte sich zu Finn um und sah ihn an: „Gut, du bleibst hier vor Ort und ich werde mich im Büro um den Schriftkram kümmern und unseren Kriminaltechnikern unsere Mitbringsel übergeben.“

„Bist du so gut, Mark, kopierst dieses Schriftstück für mich und schickst es mir aufs Handy?! Hätte es vorhin gleich abfotografieren sollen.“

„Mach ich.“ Sprach´s und lief mit hastigen Schritten Richtung Ausgang. Finn folgte ihm nachdenklich und gemächlich. Er brauchte jetzt die Zeit zum Nachdenken.

Seit fünf Jahren arbeitete er inzwischen bei der Kripo hier in Dresden, hatte nach dem Bachelor in Psychologie noch ein Studium an der Polizeihochschule angehängt, sehr erfolgreich abgeschlossen und in der Elbestadt ein Super-Team gefunden. Die Arbeit füllte ihn aus und machte ihm Spaß, wenn man beim Aufdecken von Verbrechen davon überhaupt reden konnte. Dass dabei aber einmal sein Opa zum Fall für ihn werden würde, hätte er sich nie träumen lassen. Was war geschehen, dass dieser selbstbewusste, energische und streitbare Mann in den Selbstmord getrieben worden war? Okay, noch lebte er. Aber seine Chancen standen schlecht. Schon zu oft war bei ähnlichen Fällen seine anfängliche Hoffnung enttäuscht worden.

Das Handy signalisierte Finn den Eingang einer Nachricht. Mark hatte ihm die Kopie des Schriftstücks rübergeschickt. Finn setzte sich vor der Klinik auf eine Bank und las es zum zweiten Mal. Nein, ein Abschiedsbrief war das definitiv nicht. Aber es hätte einer werden können, wenn Opa – von wem auch immer – nicht unterbrochen worden wäre. Oder war es gar Teil eines ganz anderen Textes? Doch dann müssten sie von einem Tötungsdelikt ausgehen, was Mark eigentlich ausschloss. Auch Finn konnte sich noch so sehr anstrengen, ein Motiv zu finden, seinen 67jährigen Großvater umzubringen.

Ähnlich viele ungelöste Fragen sah Finn allerdings auch bei einem Suizid. Sein Opa war weder einsam noch verzweifelt oder depressiv, um einen derart drastischen Schritt zu gehen. Finn war davon überzeugt, dass er die Anzeichen bemerkt hätte. Vor wenigen Tagen erst – das konnte höchstens eine Woche her sein – hatten sie abends bei einem Bierchen über die Weltlage diskutiert und Opa hatte sich mächtig aufgeregt über die im Hintergrund kriegsschürenden Amerikaner. Das konnte Finn so nicht im Raum stehen lassen, denn es war Putin, der die Ukraine überfallen hatte. Opa hielt lautstark dagegen, dass der Kremlchef gar keine andere Wahl gehabt habe, auf die ständigen Provokationen der Ukrainer zu reagieren und dass Deutschland willig oder besser willenlos den Amerikanern folge und das eigene Land damit in Gefahr brächte.

Finn hatte seine gegensätzliche Position vehement verteidigt, ein Wort hatte das andere gegeben und er hatte die Wohnung seines Großvaters schließlich grußlos verlassen. Er schüttelte den Kopf, konnte es immer noch nicht verstehen, wie er so kopflos hatte reagieren können. War er in gewisser Weise sogar mitschuldig am Suizid-Versuch seines Opas?

„Hallo, mein Sohn!“ Helges lautes Organ unterbrach seine Selbstzweifel abrupt. Sie umarmten sich stumm und länger als üblich. Es war auch Ausdruck des herzlichen Verhältnisses, das den ehemaligen Waisenjungen mit dem nur zwölf Jahre älteren studierten Betriebswirtschaftler verband. Der Junge hatte sich Helge und dessen Freundin Jana, die damals ein Journalistik-Studium absolvierte, als Eltern ausgesucht und diesen Kampf um die Adoption vor fünfzehn Jahren gewonnen.

„14:45 Uhr. Wie es aussieht, bist du gut durchgekommen“, begrüßte Finn mit einem Blick auf die Armbanduhr seinen Papa. „Kommen Michelle und Lukas auch?“

„Michelle habe ich an der polnisch-ukrainischen Grenze erwischt. Sie ist dort als Dolmetscherin unterwegs und will so schnell es geht aufbrechen. Aber vor morgen Abend wird sie nicht hier sein können. Und Lukas müsste gleich eintreffen.“

„Dann warten wir noch auf ihn, bevor wir den Arzt suchen.“ Finn griff zu seinem Smartphone und reichte seinem Vater die darauf gespeicherte Kopie des rätselhaften Textes. Noch während Helge las, eilte mit raumgreifenden Schritten dessen 34jähriger Bruder Lukas auf die beiden zu und fragte schon aus einiger Entfernung: „Wie steht es um Vater?“

„Nicht gut.“ Finn streckte ihm die Hand entgegen. „Aber Genaueres werden wir hoffentlich jetzt vom Arzt erfahren.“

„Aber vorher solltest du das hier lesen, Lukas.“ Sein Bruder reichte ihm das Handy weiter. Und Finn ergänzte: „Das habe ich vorhin neben ihm auf dem Wohnzimmertisch gefunden.“

Eine kurze Zeit standen die drei Männer schweigend nebeneinander, dann platzte Lukas heraus: „Der spinnt doch, der Alte. Dieser Krieg ist doch kein Grund, sich das Leben zu nehmen. Ihm geht´s doch gut hier. Ich fasse es nicht!“

„Offenbar sah Papa das anders. Aber jetzt lass uns erst einmal den Arzt aufsuchen.“ Helge wandte sich zum Klinikeingang und lief los. Lukas und Finn folgten ihm schweigend. Kurz vor der Eingangstür drehte sich Helge um: „Finn, du weißt, wo wir hinmüssen?“

Der ließ sich nicht zweimal bitten. Mit einem „Na klar! Folgt mir!“ übernahm er die Führung, steuerte zielgerichtet den Info-Tresen in der ersten Etage an und bat die diensthabende Schwester, den für seinen Opa zuständigen Arzt zu informieren. Der hatte offenbar bereits auf sie gewartet, denn die etwas knurrige Dame verwies sie auf ein Zimmer am Ende des Korridors.

Eine bedrückende Stimmung lastete auf den drei Männern, während sie schweigend den Klinikflur entlanggingen. Die Miene des Arztes, der sie freundlich-distanziert empfing, konnte ihre ängstliche Zurückhaltung nicht auflösen. Helge als Ältester fühlte sich bemüßigt, die alle bewegende Frage zu stellen: “Herr Doktor, wie geht es unserem Vater und Opa?“

„Bevor ich Ihre Frage beantworte, würde ich gern wissen, mit wem ich es zu tun habe. Den Enkel und Kriminalisten habe ich bereits kennengelernt. Würden Sie sich bitte ausweisen?“

Helge und Lukas zückten ihre Ausweise und der Arzt notierte sich die Daten akribisch in seinen Unterlagen: „Gibt es von Ihrem Vater eine Patientenverfügung?“

„Nicht, dass wir wüssten.“ Helge blickte seinen Bruder fragend an, aber der schüttelte nur leicht mit dem Kopf. „Spielt das jetzt eine Rolle?“

„Eigentlich nicht, aber der Form halber muss ich Sie danach fragen. Die Situation ist sehr kritisch, die große Dosis Schlafmittel in Verbindung mit dem Alkohol konnte zu lange in seinem Körper wirken und Unheil anrichten. Selbst wenn er aufwachen würde – was ich allerdings so gut wie ausschließen möchte – würden gesundheitliche Langzeitschäden bleiben. Interessant ist allerdings, dass wir noch eine andere Substanz im Blut gefunden haben, landläufig bekannt als K.O.-Tropfen. Mit dem bei Ihrem Vater und Opa festgestellten Blutalkoholspiegel von 2,0 Promille ein sehr gefährlicher Mix.“

„Herr Doktor“, platzte Lukas dazwischen, „wenn mein Vater sich das Leben nehmen wollte, sollten wir diesen Wunsch respektieren, ob ich das gutheiße oder nicht.“

Finn schluckte eine aufklärende Antwort an Lukas zurück.

„Sie meinen also“, wandte sich Helge an den Arzt, „er würde selbst im günstigsten Fall nie mehr der Alte werden. Habe ich das richtig verstanden?“

„Ich könnte es nicht besser sagen.“ Der Doktor hob etwas resignierend die Arme.

„Können wir ihn noch einmal sehen?“ Lukas blickte den Arzt fragend an.

„Selbstverständlich. Kommen Sie.“

Die drei folgten dem Doktor in die zweite Etage und standen schließlich vor einer großen Glasfront, hinter der vier Betten neben blinkenden und kurvenzeichnenden Geräten standen, von denen Schläuche und Kabel zu vier bleichen Patienten führten, die bewegungslos in ihren Betten lagen. Ihren Vater und Opa entdeckten sie scheinbar leblos im vorderen Bett. Er wurde beatmet.

„Ich kann ihn so nicht länger anschauen“, drehte sich Lukas nach ein paar Minuten zu seinem Bruder um. „Lassen wir ihn friedlich einschlafen.“

„Wir können ihn doch nicht einfach so sterben lassen.“ Die tiefe Erschütterung war Helge anzumerken. Und mit schwacher Stimme, fast flüsternd, meldete sich Finn: „Ich würde schon gern noch einmal mit ihm reden …“ Die Erinnerungen an die letzte, unrühmlich abgeschlossene Diskussion mit seinem Opa gingen ihm nicht aus dem Kopf.

„Morgen erwarten wir unsere Schwester, Herr Doktor, dann würden wir gern noch einmal vorbeikommen. Ist das möglich?“ Helge drehte sich zu dem hinter ihm stehenden Arzt um.

„Selbstverständlich. Allerdings kann ich nicht garantieren, dass Ihr Vater die Nacht übersteht. Wenden Sie sich einfach an den diensthabenden Arzt. Tut mir leid, dass ich keine positiveren Nachrichten für Sie habe.“

Schockiert standen die drei Männer kurz danach vor dem Arztzimmer und schwiegen sich an. Mit leiser Stimme unterbrach Finn die Stille:

„Ich rufe jetzt die Dienststelle an und melde mich für heute ab. Dann gehen wir zu mir und trinken ein Bier.“

Helge reagierte als erster: „So machen wir es. Ich kann euch mit dem Auto mitnehmen. Das steht im Parkhaus dort vorne.“

In den frühen Morgenstunden des nächsten Tages wurde Finn von einem diensthabenden Kollegen der Polizeidirektion informiert, dass sein Großvater in der Nacht friedlich verstorben sei.

2

Die Nachtruhe war für Finn passé. Das Gesicht seiner neben ihm liegenden Ehefrau Emma konnte er nicht sehen, trotz der eingeschalteten Nachttischlampe. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt, atmete kaum hörbar und schlief fest. Vor vier Jahren hatten sie geheiratet, nachdem sie zuvor über zehn Jahre lang freundschaftlich sehr eng verbunden waren. Er hätte sich lange Zeit keine bessere Frau fürs Leben vorstellen können. Doch in dieses für die Außenwelt unzertrennlich scheinende Band waren in letzter Zeit mehr oder weniger tiefe Kerben geschlagen worden. Dazu hatte auch der immer enger werdende Gedankenaustausch geführt, den Emma in den zurückliegenden Wochen mit Opa Friedbert gesucht hatte. Finns und Emmas Ansichten drifteten daraufhin auseinander und führten immer häufiger zu heftigen Streitereien, die kein versöhnliches Ende fanden. Anfangs hatte er noch Verständnis für Emmas Situation gehabt, denn durch die Corona-Pandemie war die studierte Musikpädagogin viele Monate zur Arbeitslosigkeit verurteilt gewesen. Der Musikunterricht an der Schule war ausgesetzt, das Treffen ihrer beiden Chöre verboten und der private Klavierunterricht fast schon illegal. Diese Konstellation hatte sie in eine Bitterkeit getrieben, die er so an ihr überhaupt nicht gekannt hatte. Fast alle Möglichkeiten einer Aufheiterung waren ihnen genommen: Die Theater und Clubs rundum geschlossen, Reisen nur unter großen Schwierigkeiten und Einschränkungen möglich. Er hatte sich mit der Situation einigermaßen abfinden können und sich ganz seinem Beruf hingegeben, Emma war das verwehrt geblieben.

Nun hatte sich zwar die Corona-Lage in diesem Jahr 2022 entschärft, dafür war der Krieg nach Europa zurückgekehrt. Neben unendlichem Leid erschütterte der hierzulande die Grundpfeiler der Demokratie. Eines dieser Fundamente, die Wahrhaftigkeit, blieb notgedrungen auf der Strecke. Wer wollte in einem militärischen Konflikt behaupten, dass seine Darstellung wahr sei? Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst. Sie ist einfach schwer überprüfbar. Somit sucht sich jede Kriegspartei ihre eigene Wahrheit, was völlig natürlich zu großen Dissonanzen und Streitereien führt. Fast täglich wird er damit konfrontiert, ob nun im Büro, in der Familie oder auch in der Kneipe. Opa Friedberts niedergeschriebener Text kam ihm als Beispiel in den Sinn. Wie er ihn einschätzte, würden sie auf seinem Computer mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weitere Texte finden. Ein bisschen fürchtete er sich davor und den damit verbundenen Diskussionen mit Familienmitgliedern und Arbeitskollegen.

Auf Dauer würde er ihnen nicht entgehen können. Zunächst jedoch waren andere Fragen wichtiger: Die persönlichen Unterlagen seines Opas mussten gefunden und gesichtet werden. Dazu gehörten auch der Mietvertrag und laufende Versicherungen. Wie konnte er das mit der immer noch andauernden Wohnungsversiegelung in Einklang bringen? Sollte er nicht seinen Papa wecken, der in ihrem kleinen Gästezimmer schlief? Wie spät war es eigentlich?

5:50 Uhr zeigte ihm sein Handy an und er entschied sich aufzustehen. „Wo willst du hin?“ meldete sich eine verschlafen klingende Stimme aus dem Nebenbett.

„Oh, ich wollte dich nicht wecken. Aber Opa ist gestorben und ich sollte jetzt Papa informieren.“

„Das ist schlimm, aber ich habe damit gerechnet. Schau nach deinem Papa. Ich gehe schnell ins Bad und mache dann Kaffee, okay?“ Emma sprang aus dem Bett und verschwand noch vor Finn aus dem Schlafzimmer.

„Papa …?“ Finn öffnete vorsichtig die Tür zum Gästezimmer. Ein leichtes Räuspern drang ihm aus einem zusammengerollten Knäuel entgegen. „Papa, bist du schon wach?“, versuchte Finn es etwas lauter.

„Jetzt ja!“, knurrte es aus dem Knäuel hervor. Die Zudecke flog in hohem Bogen aus dem Bett und Helge sah, auf der Bettkante sitzend, mit leicht zusammengekniffenen Augen seinen Sohn an: „Was ist denn los?“

„Opa hat es nicht geschafft, ist gestorben“, raunte Finn mit belegter Stimme zurück. Seine Augen glänzten feucht. Nur mit Mühe konnte er die Tränen zurückhalten. Nun würde er damit leben müssen, im Streit mit seinem Opa auseinandergegangen zu sein. Eine Bürde, die ihn wohl noch lange belasten würde.

Seinem Papa war die schockierende Nachricht in die Glieder gefahren. Stocksteif hockte er auf der Bettkante, hielt die Augen geschlossen und versuchte den Gedanken zu verinnerlichen, dass er seinen Vater nun nie mehr um Rat fragen konnte, dass der sich viel zu früh aus dem Leben verabschiedet hatte.

„Wann ist er eingeschlafen?“ Finns sonst so taffer Papa brachte diese Worte nur leise stotternd hervor.

„Heute früh. Unser Nachtdienst hat mich gerade informiert.“

„Gut. Nein, natürlich nicht gut! Ein großer Mist ist das!“, platzte es aus dem Mund seines Papas heraus. Leise fügte er hinzu: „Ich gehe mich kurz frischmachen, dann können wir reden.“ Helge erhob sich und Finn hob seinen rechten Arm: „Du hast noch etwas Zeit, Emma ist gerade im Bad und will uns dann Frühstück machen.“ Sein Papa ließ sich wieder aufs Bett plumpsen und zog die heruntergefallene Decke zu sich und schwieg.

„Ich gehe schon mal den Tisch decken.“ Finn drehte sich um und verließ das Gästezimmer. Nach kurzem Zaudern folgte Helge ihm im Schlafanzug in die Küche. Schweigend arbeiteten sie Hand in Hand, stellten Teller und Tassen auf den Tisch, legten das Besteck bereit.

„Guten Morgen, Helge, du kannst jetzt ins Bad.“ Emma ging sofort auf die Kaffeemaschine zu. „Ich mache jetzt weiter.“

„Und ich ziehe mich an und gehe nach dem Frühstück ins Bad. Muss dann auch los ins Büro.“ Finn verließ die Küche.

„Du willst doch nicht etwa heute in deine Dienststelle?“, rief ihm Emma nach.

Finn stoppte unter dem Türrahmen kurz: „Doch, ich muss!“

„Das ist jetzt nicht dein Ernst!“, rief ihm seine Frau hinterher, bekam aber keine Antwort.

Die verspätete Reaktion folgte, als alle drei am Tisch saßen und den ersten heißen Schluck Kaffee geschlürft hatten: „Ich muss mich um die Aufhebung der Versiegelung kümmern. Wir kommen ansonsten nicht in Opas Wohnung. Müssen dort aber alle Unterlagen für die Vorbereitung der Beisetzung suchen. Oder hast du die bei dir zu Hause, Papa?“

„Natürlich nicht. Habe doch nie und nimmer mit solcher Kurzschlussreaktion meines Vaters gerechnet.“

„Auf jeden Fall hat er sich nicht selbst umgebracht. Da bin ich mir ganz sicher“, warf Emma etwas Sprengstoff in die bis dahin friedliche Diskussion rein.

„Was soll das, Emma?“, brauste Finn sofort auf.

„Was weißt du, was wir nicht wissen?“, wurde auch Helge etwas energischer.

Unbeeindruckt sah Emma die beiden Männer triumphierend an: „Bis zur Jugendweihe deiner Tochter Josefine vor einem Vierteljahr, Helge, war eigentlich alles noch im grünen Bereich. Doch dort begannen die Streitereien um den Ukrainekrieg, die danach in kleinen Runden heftig fortgesetzt wurden. Opa war unbeeindruckt bei seiner Sicht geblieben, dass Putin gewissermaßen provoziert worden war. Ihr Kinder und auch Finn konnten ihn nicht überzeugen und er hat sich immer mehr von euch zurückgezogen und begonnen, ein Buch zu schreiben. Ich war fast die Einzige, die ihn regelmäßig besucht und auch verstanden hat.“

„Du schwimmst ja auch auf der gleichen Welle“, konnte sich Finn nicht zurückhalten. „Was für ein Buch schreibt er denn?“

„Einen Roman, der fast fertig ist“, erklärte Emma.

„Und warum wissen wir nichts davon?“ In Finn brodelte es.

„Ich kenne doch den Inhalt auch nicht. Dein Opa hat ein Riesen-Geheimnis darum gemacht. Ich glaube, er wollte euch damit überraschen.“

„Hauptsache, es wird keine böse Überraschung“, konnte Finn sich eine bissige Bemerkung nicht verkneifen und ahnte nicht mal, wie nah er damit der Wahrheit gekommen war.

„Gut jetzt“, ging Helge dazwischen. „Streiten können wir später.

„Finn, du hast recht. Kümmere dich um die Freigabe der Wohnung. Ich muss kurz in der Firma und Zuhause vorbeischauen und nach dem Rechten sehen, bin am späten Nachmittag wieder da. Wenn alles gut geht, wird dann hoffentlich auch Michelle eintreffen. Können wir uns hier bei euch zusammensetzen?“

„Natürlich“, beeilte sich Finn mit der Antwort. „Sagst du den beiden Bescheid?“

„Mach ich.“

3

Es war fast Mittag geworden, als Finn die Freigabe der Wohnung seines Großvaters erhalten hatte und sich auf den Weg zu dessen Wohnung machte. Mark wünschte ihm noch viel Glück bei der Suche nach den notwendigen Unterlagen und verabschiedete sich dann zum Gang in die Kantine. Finn hatte keinen Appetit, ihm saß der Tod seines Opas noch immer in den Knochen. Vielleicht auch, weil er vor knapp zwei Jahren bereits seinen „richtigen“ Opa Fritz zu Grabe getragen hatte. Natürlich wusste Finn, dass dieses „richtig“ und „falsch“ für Opas keine passende Beschreibung war. Doch seine Familienverhältnisse waren schon etwas besonders. Vor zwanzig Jahren hatten Helge und Jana ihn aus einem Kinderheim zu sich geholt und ihm ein wunderbares Zuhause gegeben. Seine alleinerziehende Mutter war bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Die Großeltern lebten in einem Pflegeheim und kamen als Erziehungsberechtigte für ihn nicht in Frage. Seinen „richtigen“ Vater oder besser Erzeuger hatte er mit Hilfe seiner neuen Eltern erst viele Jahre später gefunden. Doch der war ihm ein Fremder geblieben. Inzwischen warteten in Leipzig zwei kleine Schwestern – die Kinder von Helge und Jana – auf ihn, die ihren Halbbruder abgöttisch liebten.

„Pass doch auf, du Träne!“ schrie eine schrille Stimme neben seinem rechten Ohr und riss Finn aus seinen Träumen. Der Radfahrer hatte gerade noch ausweichen können, wäre dabei aber fast selbst zu Fall gekommen.

„Sorry“, brummte Finn zurück, „war in Gedanken.“

„Hab´ ich gemerkt“, rief der Radfahrer und trat wieder in die Pedale. Finn blieben nur noch ein paar Meter bis zur Haustür. Er nutzte sie, um seinen Kopf wieder klar zu bekommen. Das war bitter nötig, denn auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock stoppte er instinktiv, holte sein Handy aus der Hosentasche und wählte Marks Nummer.

„Tut mir echt leid, aber du musst herkommen und die Kriminaltechniker mitbringen.“

„Was ist denn nun schon wieder los, Finn?“, antwortete Mark mit halbvollem Mund.

„Das Siegel ist aufgebrochen!“

„Ich fasse es nicht. Geh auf keinen Fall allein in die Wohnung! Wir kommen!“

Mark schluckte den letzten Bissen runter, sprang auf und brachte sein Geschirr zur Ablage. Beim Verlassen der Kantine sah er zwei Mitarbeiter der KTU auf ihn zukommen und stellte sich ihnen in den Weg.

„Ich brauche euch dringend. Ihr wisst doch vom Suizidversuch von Finns Opa. Gestern haben wir dessen Wohnung versiegelt, heute ist das Siegel aufgebrochen. Finn steht davor und kann ohne uns nicht rein.“

„Mir knurrt zwar der Magen, aber Finn zuliebe könnte ich ihn noch ´ne Stunde hinhalten“, sprach der ältere der Beiden. „Ist es weit?“

„Wir können hinlaufen“, meinte Mark kurz und ging ihnen voran Richtung Ausgang. Der Jüngere hielt ihn zurück: „Warte, wir müssen unsere Koffer noch holen.“

Schon von Weitem sahen die drei den vor dem Haus aufgeregt hin- und herlaufenden Finn, in dessen Kopf sich zwei Fragen festgesetzt hatten, auf die er keine Antwort wusste: Was passierte hier gerade und warum?

Mark übernahm sofort das Kommando: „Ich denke, Schuhüberzieher, Handschuhe und Mundschutz reichen in diesem Fall. Jemand anderer Meinung?“ Er blickte in die Runde, sah keine Reaktion und setzte fort: „Finn, du hast einen Schlüssel. Wir gehen beide als erste in die Wohnung und prüfen, ob sie leer ist. Komm!“

Die Wohnung war leer und sie konnten den Kriminaltechnikern Entwarnung geben. Der Jüngere hatte sich schon das Schloss an der Wohnungstür vorgenommen, der Ältere suchte an der Tür nach Fingerabdrücken.

Mark nahm sich Finn zur Seite: „Du hast mir gestern erzählt, dass du nicht weißt, wer alles einen Schlüssel zu dieser Wohnung hat. Bist du heute schlauer?“

„Nein, bin ich nicht. Du weißt, dass ich einen habe. Ob seine Lebensgefährtin noch einen besitzt, kann ich dir beim besten Willen nicht sagen.“

„Die hatten sich kürzlich vorübergehend getrennt, sagtest du. Wie heißt sie?“

„Ich kenne sie nur als Beate. Treffe heute Nachmittag aber meine Familie und werde nachforschen.“

„Finn, wir müssen dringend den Mietvertrag finden.“

„Den suche ich auch, um den Vermieter zu informieren ...“

„… und ich will wissen, wie viele Schlüssel übergeben wurden.“ Mark begann im Wohnzimmerschrank mit der Suche und Finn begab sich ins angrenzende Schlafzimmer. Er musste auch noch nach anderen Dokumenten suchen, wie Geburtsurkunde, Versicherungspolicen und ähnlichem. Doch er stoppte sein Unterfangen sofort, nachdem er den ersten Schrank geöffnet hatte. Hier hatte jemand offensichtlich etwas gesucht. Er rief den älteren Spusi-Mann zu sich und zeigte ihm die Unordnung. Der schickte ihn vor die Tür und meinte nur: „Ich kümmere mich.“

Draußen sprach ihn der Jüngere an: „Eines kann ich dir definitiv sagen, dieses Schloss wurde nur mit passendem Schlüssel geöffnet. Um weitere Besuche zu verhindern: Ich hätte zufällig ein Ersatzschloss dabei. Soll ich es einbauen?“

„Wie viele Schlüssel gibt´s dazu?“, wollte Finn wissen.

„Drei.“

„Dann rein damit.“ Finn begab sich zu seinem Kollegen Mark ins Wohnzimmer und berichtete ihm von den Neuigkeiten. „Und du, hast du bisher was gefunden?“

„Schön wäre es.“ Mark drehte sich kurz zu ihm um. „Kannst bei dem Sideboard dort hinten weitermachen.“

Doch auch hier sah Finn auf den ersten Blick, dass er nicht der erste war, der nach etwas suchte. „Da muss wohl erst mal die Spusi ran“, meinte er lakonisch.

„Ist das deine Methode, dich vor Arbeit zu drücken“, raunte Mark spöttisch zu ihm rüber.

Finn konterte: „Ich würde sagen, hier hat jemand genau gewusst, wo er suchen muss. Oder wie siehst du das?“

Mark stimmte ihm zu und rief den jungen Kriminaltechniker zu sich.

„Bin sofort da“, rief der zurück, „Schloss ist gleich einsatzbereit.“

Doch er trat nicht allein ins Wohnzimmer. An seiner Seite eine etwas kräftig gebaute, elegant gekleidete Dame Ende der Fünfziger, die wütend in die Runde sah: „Was machen Sie hier in meiner Wohnung?“

Finn richtete sich auf, erkannte sie sofort: „Hallo Beate, ich denke, du hast dich von Friedbert getrennt?“

Die hübsche Frau hatte sich schnell wieder im Griff: „Hallo Finn, du bist es. Ja, ich bin vor gut einer Woche vorübergehend zu meinem Sohn gezogen. Trotzdem ist das hier immer noch auch meine Wohnung.“

Jetzt fühlte sich Mark veranlasst einzugreifen: „Junge Frau, kann ich zunächst bitte Ihren Ausweis sehen. In diese Wohnung wurde vergangene Nacht offenbar eingebrochen.“

Beates Gesichtsausdruck verdüsterte sich augenblicklich: „So ein Quatsch, ich brauchte ein paar Sachen und bin rein, nachdem Friedbert nicht aufs Klingeln reagiert hat.“ Sie zog ihren Personalausweis aus der Tasche und reichte ihn mit Wut im Bauch an Mark. Der blickte kurz drauf und wandte sich dann mit ernstem Gesicht an sie: „Frau Fetsch, dann muss ich Ihnen mitteilen, dass Ihr Lebenspartner verstorben ist. Haben Sie sein Fehlen gestern Abend nicht bemerkt?“

Beates Erschütterung hielt sich in Grenzen: „Habe mir nur gedacht, dass er wieder mal bei seiner Ex ist. Wann soll er gestorben sein?“ „Gestern Nacht. Aber Sie hatten sich doch von ihm getrennt, oder?“

„Vorübergehend ja, aber doch nicht für immer! Meine ganzen Sachen sind ja hier in der Wohnung.“

„Das berechtigt Sie aber nicht, das Polizeisiegel aufzubrechen, Frau Fetsch.“ Mark wurde energischer. „Warum haben Sie nicht die Polizei angerufen?“

„Weil ich erst verdammt spät aus dem Büro weggekommen bin und es eilig hatte. Außerdem hätten Sie sich vielleicht mal erkundigen können, wer hier Mieter ist.“

Finn wollte einer weiteren Eskalation Vorschub leisten: „Beate, kannst du uns mal zeigen, wo du gestern Abend Sachen entnommen hast?“

„Kann ich.“ Beate drehte sich um und steuerte gezielt auf den Schrank im Schlafzimmer zu, den der ältere der beiden Spusi-Leute gerade gründlich untersucht hatte. Mark war an der Tür stehen geblieben: „Und wo noch?“

„Nirgendwo!“, fauchte Beate zurück.

„Dann kommen Sie mal bitte mit“, blieb Mark entspannt und trat wieder ins Wohnzimmer. „Dort im Sideboard hat aber ebenfalls jemand etwas gesucht.“

„Aber ich nicht“, wurde Beate immer ärgerlicher. „Dort stehen Friedberts Texte in Ordner abgeheftet. Schön ordentlich nach Themen sortiert.“

Finn beugte sich hinab und öffnete die beiden Flügeltüren des Boards: „Schau Beate, hier fehlen – ich würde schätzen – mindestens zwei Ordner. Weißt du, wo die sein könnten?“

Nun wurde auch die aufgebrachte Dame etwas nachdenklicher:

„Nein, da bin ich nie rangegangen. Friedbert hat sie mir immer vor dem Abheften zum Lesen gegeben. Daraus entwickelten sich ja viele unserer Streitereien. Zum Schluss wollte ich von den Texten einfach nichts mehr wissen.“

In Finn tauchte eine dunkle Ahnung auf, aber er hielt sich mit einer Bemerkung zurück.

Mark wandte sich an seine beiden Techniker: „Ich glaube, wir beenden das jetzt hier, nehmen den Computer sicherheitshalber zur Auswertung mit und bauen das alte Türschloss wieder ein. Denn einen Einbruch hat es offensichtlich nicht gegeben.“ Murrend wandte sich der jüngere Kollege erneut der Wohnungstür zu, während sich Mark an Beate wandte: „Wissen Sie, wer noch alles einen Schlüssel zu Ihrer Wohnung hatte?“

„Es gibt nur drei davon. Friedbert und ich besaßen einen und Finn für den Notfall. Apropos Notfall, woran ist Friedbert eigentlich gestorben?“

„Er hat sich mit einer Überdosis Schlaftabletten offenbar das Leben genommen. Finn wollte ihm gestern einen Besuch abstatten und hat ihn gefunden.“

Der Schlag saß. Beate ging in die Knie und saß zusammengesunken auf der Couch. „Hat er etwas hinterlassen, vielleicht eine Nachricht an mich?“ Ihr anfangs so selbstbewusstes Auftreten verlor sich in Trauer und Schmerz. Finn setzte sich neben sie und reichte ihr stumm sein Handy mit dem rätselhaften Text.

Je weiter sie las, desto fragender wurde ihr Blick, bis sie am Ende zu Finn hochsah: „Den Text kenne ich. Der ist schon älter. Den als Abschiedsbrief zu nehmen ist mal wieder typisch für ihn.“

„Wie kommst du jetzt darauf?“

„Ich hätte ihn mir persönlicher gewünscht. Hatten schließlich über zehn gemeinsame und schöne Jahre. In letzter Zeit hat er sich aber immer weiter von mir entfernt.“