Finster ist die Nacht - Karin Salvalaggio - E-Book

Finster ist die Nacht E-Book

Karin Salvalaggio

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Beschreibung

Detective Macy Greeley ist nachts unterwegs im einsamen Montana. Plötzlich läuft ihr ein Mann direkt ins Auto und sie verliert die Kontrolle darüber. Verletzt und im Wrack festgeklemmt kann sie nur hilflos mit ansehen, wie ein Motorradfahrer bremst und den Mann vor ihren Augen erschießt. Das Opfer ist Philip Long, ein bekannter Radiomoderator. Trotz ihrer Blessuren arbeitet Macy verbissen daran, den kaltblütigen Mord zu klären. Wer kann ein Interesse daran haben, den beliebten Moderator zu töten? Bei den Ermittlungen trifft sie Emma, die Tochter des Opfers. Nach vielen Jahren ist sie zum ersten Mal in die ungeliebte Heimat zurückgekehrt. Emma kennt das größte Geheimnis ihres Vaters: Akribisch notierte er sich jeden Fehltritt, jede düstere Wahrheit der verschwiegenen Dorfgemeinschaft. In den falschen Händen würde das Buch viele Menschen ins Gefängnis bringen ...

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Das Buch

Detective Macy Greeley ist nachts unterwegs im einsamen Montana. Plötzlich läuft ihr ein Mann direkt ins Auto und sie verliert die Kontrolle darüber. Verletzt und im Wrack festgeklemmt kann sie nur hilflos mit ansehen, wie ein Motorradfahrer bremst und den Mann vor ihren Augen erschießt.

Das Opfer ist Philip Long, ein bekannter Radiomoderator. Trotz ihrer Blessuren arbeitet Macy verbissen daran, den kaltblütigen Mord zu klären. Wer kann ein Interesse daran haben, den beliebten Moderator zu töten? Bei den Ermittlungen trifft sie Emma, die Tochter des Opfers. Nach vielen Jahren ist sie zum ersten Mal in die ungeliebte Heimat zurückgekehrt. Emma kennt das größte Geheimnis ihres Vaters: Akribisch notierte er sich jeden Fehltritt, jede düstere Wahrheit in der verschwiegenen Kleinstadt. In den falschen Händen wäre das Buch eine große Gefahr ...

Die Autorin

KARIN SALVALAGGIO wurde in den USA geboren und ist in Alaska, Florida, Kalifornien und im Iran aufgewachsen. Seit zwanzig Jahren lebt und schreibt sie in London. Sie hat zwei Kinder und einen Schnauzer namens Seamus.

Karin Salvalaggio

Finster ist die Nacht

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Sophie Zeitz

List

Die Originalausgabe erschien 2016unter dem Titel »Walleye Junction«bei Minotaur Books, New York

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ISBN: 978-3-8437-1635-2

© 2016 by Karin Salvalaggio Ltd.© der deutschsprachigen Ausgabe2017 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinCovergestaltung: Cornelia Niere, MünchenCoverabbildung: © Landschaft: Cultura RM / Alamy Stock Foto / Art Wolfe, Farmhouse und Himmel: Shutterstock

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Tante Louise und Onkel Larry,dieses Buch ist für euch

Ich habe gelernt, dass es zwischen Himmel und Hölle keinen Zaun gibt, auf dem man sitzen kann. Da ist eine tiefe, breite Kluft, ein Abgrund, und dort unten ist kein Platz für einen Menschen.

Johnny Cash

1

Die Stimme aus dem Polizeifunk klang irritiert.

»Philip Long ist nicht hier. Sie müssen ihn woanders hingebracht haben.«

Detective Macy Greeley hielt in einer Hand das Lenkrad, in der anderen das Funkgerät. »Vielleicht hat er sich befreit. Ihr müsst den Umkreis sichern und eine Suche starten. Irgendeine Ahnung, wo der Hauseigentümer ist?«

»Wir sind dran.«

»Ich bin kurz vor der Abzweigung. In fünf Minuten bin ich da.«

Am Horizont verschwamm das rote, weiße und blaue Flackern von Notarztwagen und Polizeiautos mit dem schwarzen Himmel. Macys Scheibenwischer schafften es kaum von einer zur anderen Seite, bevor sie wieder blind fuhr. Die Sicht auf die Strecke kam in Momentaufnahmen – eine Baumgruppe, ein einsamer Briefkasten, ein Farmhaus, ein Obststand am Straßenrand. Ein heftiger Windstoß schob sie auf die Gegenfahrbahn, und für einen kurzen Moment kam sie auf dem nassen Asphalt ins Schleudern. Es war spät im Frühling, aber in den Bergen der Whitefish Range fiel immer noch Schnee. Der Sommer schien in weiter Ferne.

Philip Longs Anruf hatte Macy vor einer halben Stunde geweckt. Sie hatte in der Einsatzzentrale auf dem Polizeirevier von Walleye Junction vor sich hin gedöst, wo die Behörden die eingehenden Anrufe auf Longs Festnetz überwachten. Vor drei Tagen war Philip Long an einer Tankstelle bei vorgehaltener Pistole entführt worden, und die Kidnapper hatten sich bis heute nicht gemeldet. Bisher gab es nur das Video einer Überwachungskamera, auf dem zu sehen war, wie zwei bewaffnete maskierte Personen ihn zu erschießen drohten, falls er sich weigerte, in einen dunkelblauen Lieferwagen zu steigen. Als Philip Long heute Nacht versuchte, seine Frau anzurufen, hatte Macy den Anruf entgegengenommen.

Macy erkannte seine Stimme sofort. Soweit sie wusste, war er der einzige Engländer, der in Montana eine Radiosendung hatte. Und wie es schien, besaß er die Gabe, die Menschen zum Zuhören zu bringen. Während des kurzen Telefongesprächs ging Macy jedes seiner Worte durch Mark und Bein.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich habe, sagte er.

Können Sie uns sagen, wo Sie sind?

Ich saß im Dunkeln, seit sie mich entführt haben. Ich habe wirklich keine Ahnung.

Sehen Sie sich um. Beschreiben Sie, was Sie sehen.

Es ist ein Wohnhaus. Vielleicht zwei Etagen mit Keller. Ich weiß nicht, wann sie zurückkommen. Ich muss hier weg.

Wie viele Entführer sind es?

Da sind Scheinwerfer zwischen den Bäumen. Jemand kommt die Auffahrt herauf.

Macy sah auf die Uhr am Armaturenbrett. Es war fast drei Uhr morgens. Seit dem Gespräch war eine halbe Stunde vergangen. Falls sie ihn nicht fanden, würde es jemand anders tun. Macy warf einen Blick auf das Navi. Die Polizei hatte Longs Anruf zu einer Adresse am Rand von Walleye Junction zurückverfolgt. Der erste Teil der Truppe war schon vor Ort.

Sie sah keine Spur von der Abzweigung, die sie nehmen musste. Über ihr zerrte der Wind an den dunklen Baumkronen und drückte die Äste so tief herunter, dass sie am Autodach kratzten. Der Abflussgraben, der an der Route 93 entlanglief, war überflutet. Schwarzes Wasser schwappte auf die Straße. Dann endlich entdeckte sie etwas, das wie eine Ausfahrt aussah, und blinkte.

Sie wurde langsamer, und im selben Moment sprang von rechts eine Person aus den Bäumen. Macy bremste scharf, riss das Lenkrad herum, und der Wagen geriet ins Schleudern. Ein bleiches Gesicht. Ein überraschter Blick. Dann flog Philip Long über die Windschutzscheibe und verschwand über das Dach, bevor sich der Wagen überschlug. Glas splitterte. Die Karosserie gab nach. Nach zweieinhalb Überschlägen blieb der SUV kopfüber auf dem Randstreifen liegen, das Heck über dem Abflussgraben balancierend.

Macys Schrei ging in einem Getöse von kreischendem Metall, Schmerz und Panik unter. Sie drehte den Kopf, um zu begreifen, was passiert war. Fest angeschnallt hing sie kopfüber vom Fahrersitz des SUV, die Hände gegen das Wagendach gestemmt. Ihr linkes Handgelenk schmerzte. Sie hielt es sich vor die Brust und blinzelte durch die Reste der Windschutzscheibe. Die Frontscheinwerfer beleuchteten eine regennasse Spur der Verwüstung, die der Wagen hinterlassen hatte, als er sich überschlug – Trümmerteile, Glassplitter, ein Notebook, eine leere Diet-Coke-Dose, Macys Holster mit der Pistole, Philip Long. Sie versuchte, sich zu bewegen, aber der Gurt war zu eng. Sie rüttelte am Gurtschloss. Es gab nicht nach. Mit den Beinen als Hebel stemmte sie sich nach oben in den Sitz und versuchte es noch einmal. Metall schleifte über Asphalt, als der Wagen ein Stück weiter in den Graben rutschte. Macy baumelte im Gurt, als das Dach unter ihr nachgab.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße.«

Der starke Wind trieb ihr den Regen ins Gesicht. Sie drückte sich die Fingerspitzen an die Augen und versuchte nachzudenken. Sie musste Ruhe bewahren. Hilfe war in der Nähe. Sie würden sie rechtzeitig hier rausholen.

Draußen tat sich etwas. Sie sah ungläubig auf. Philip Long lebte. Er kam schwankend auf die Beine und stand barfuß auf der leeren Straße. Das nasse graue Haar klebte ihm am Kopf. Er trat einen vorsichtigen Schritt auf sie zu, dann blieb er stehen. Im Hintergrund erfüllte das laute Röhren eines Motors die Nacht. Ein Fahrzeug näherte sich. Der einzelne Scheinwerfer traf Long genau zwischen den Augen. Er hob die Hand und wich zurück.

Macy schaltete das Innenlicht an und durchsuchte die Trümmer im Wagen. Das Kabel des Polizeifunkgeräts hatte sich unter dem Beifahrersitz verhakt. Sie konnte ihr Handy nicht finden.

Das Motorrad hielt außerhalb ihres Gesichtsfelds. Abgase wehten ihr ins Gesicht. Sie versuchte sich umzudrehen, um besser sehen zu können, aber sie konnte nur die schweren schwarzen Stiefel des Fahrers erkennen. Der Motor knatterte weiter, während der Fahrer die Straße überquerte. Die Scheinwerfer des SUV beleuchteten ihn von hinten. Der Regen strömte über seinen Helm und die eng anliegende Montur. Die Gestalt bückte sich nach Macys Waffe, dann ging sie auf die Stelle zu, wo Philip Long mit erhobenen Händen auf der Straße stand. Long rief etwas, aber die Worte wurden vom Wind und dem prasselnden Regen verschluckt.

Macys Gurt schnappte auf, und sie landete hart auf dem Wagendach. Alle Knochen taten ihr weh und fühlten sich schwer an. Sie rollte sich auf die Seite und kroch auf Händen und Knien durch die Trümmer. Als sie es halb aus dem Fenster geschafft hatte, fiel der erste von zwei Schüssen.

Bäuchlings robbte sie durch den feuchten Kies und die knirschenden Glasscherben. Sie riskierte einen letzten Blick. Philip Long lag mit offenen Augen und leicht geöffneten Lippen auf der Seite. Als der Mann sich zu ihrem Wagen umdrehte, glitt Macy in den Abflussgraben. Das Wasser war eiskalt. Sie tauchte unter und ließ sich von der schwarzen Strömung mitreißen.

2

Es war fast sechs Uhr morgens, und die Lampe über dem Küchentisch war das einzige Licht im Haus, doch nun schälte sich langsam der Garten draußen aus dem Dunkeln. Nach mehreren Tagen heftigem Regen war für die kommende Woche klarer Himmel angesagt. Macy legte die Hände auf den kühlen Granit der Arbeitsplatte und wartete, bis das Zittern aufhörte. In den vier Tagen seit dem Unfall hatte sie mehrere Alpträume gehabt. Der letzte hatte als getreue Wiedergabe der Nacht begonnen, in der Philip Long zu Tode gekommen war. Sie war in der reißenden Strömung des Abflusskanals untergegangen, und als sie aufwachte, war sie fest überzeugt, sie wäre tot.

Macy hielt die Hände ins Licht. Sie hatte Kratzer und Prellungen am ganzen Körper, doch ihre Hände erzählten die Geschichte am besten. Ihre Fingernägel waren abgebrochen, die Fingerspitzen aufgeschürft von den verzweifelten Versuchen, aus dem Kanal zu klettern. Doch die Wände waren zu steil, das Wasser zu schnell. Hätte sie die verknoteten Wurzeln einer Schwarzpappel nicht zu fassen bekommen, hätte Macy die Nacht vielleicht nicht überlebt. Aber sie hatte sich an den Wurzeln festhalten und auf den Randstreifen der Route 93 hieven können. In der Ferne hatte sie die Lichter der Rettungswagen gesehen. Obwohl sie vor Kälte fast ohnmächtig war, war sie auf die Lichter zugehumpelt. Sie erinnerte sich nur noch verschwommen, wie jemand sie in eine Decke gehüllt hatte. Macy blinzelte die Tränen weg und dachte an das, was sicher war: Es war sechs Uhr morgens, sie stand in der Küche ihrer Mutter in Helena, und sie war am Leben.

Macy kehrte an den Tisch zurück. Tatortfotos, Landkarten und Notizen bildeten ein ordentliches Raster. Sekundenlang betrachtete sie das Foto von Philip Long. Er war zweiundsechzig und besser in Form als viele, die halb so alt waren wie er. In der Biographie auf seiner Website stand, dass er bei gutem Wetter täglich acht Kilometer joggte. Im Winter machte er Langlauf. Macy hatte im Krankenhaus die meisten seiner jüngeren Artikel gelesen und stundenlang seine Radio-Talkshow gehört. Er hatte eine unbändige Begeisterung für das Leben gehabt. Es war schwer, ihn mit dem Mann zusammenzubringen, den sie in jener Nacht auf der Straße gesehen hatte. In ihrem Kopf stand Philip Long für immer taumelnd da, in Todesangst, mit aufgerissenem Mund. Je länger sie darüber nachdachte, desto überzeugter war sie, dass er ihr etwas sagen wollte. In ihren Alpträumen starrte sie die Bewegungen seiner Lippen an, doch es war immer nur das Trommeln des Regens und das Röhren des Motorrads, was sie hörte.

Philip Long hatte einunddreißig Verletzungen erlitten, von Prellungen über gebrochene Rippen bis zum Schädelbruch. Es war unmöglich, festzustellen, welche Verletzungen von dem Unfall und welche von einer Auseinandersetzung mit den Kidnappern stammten. Abgesehen von einem zertrümmerten Sofatisch und einer kaputten Lampe gab es in dem Haus keine Hinweise auf einen Kampf. Soweit es die Polizei sah, war Philip Long allein gewesen, als ihm die Flucht aus der 400-Quadratmeter-Villa an der Edgewood Road gelang.

Macy blätterte durch die Informationen, die ihnen über den Eigentümer des Hauses vorlagen. Ron Forester war ein im Flathead Valley ansässiger Steuerberater, der zurzeit eine Haftstrafe wegen sexueller Nötigung absaß. Er behauptete, die Entführer hätten sein Haus ohne sein Wissen benutzt. Als Macy im Krankenhaus lag, hatte sie die Videoaufnahme seiner Vernehmung gesehen. Er hatte die Hände gehoben und seine Unschuld beteuert.

Ich habe nichts damit zu tun.

Macy sah sich noch einmal die Festnetzverbindungen des Anwesens an der Edgewood Road an. Bis auf Philip Longs Anruf in der Mordnacht hatte es in den letzten drei Monaten keine ausgehenden Gespräche gegeben. Dazu passten auch die Aufzeichnungen der Strom- und Heizungszähler. Wenige Tage vor Philip Longs Entführung war der Verbrauch in die Höhe gegangen. Das Grundstück lag rund 800 Meter von der Route 93 entfernt. Es gab keine Nachbarn, und bisher konnte Macy auch keine Verbindung zwischen Philip Long und dem Eigentümer entdecken. Sie blätterte noch einmal die Aufzeichnungen durch. Ein örtlicher Sicherheitsdienst namens Mountain Security wartete die Alarmanlage. Laut den Kontoauszügen wurde der Dienst auch regelmäßig bezahlt. Wer immer eingebrochen war, musste den Code der Alarmanlage kennen. Macy nahm ein Foto von Ron Forester in die Hand. Der Mann war ein verurteilter Krimineller. Sie hatte keinen Grund zu glauben, was er sagte.

»Nichts damit zu tun. Dass ich nicht lache.«

Dann ging Macy die Fotos aus dem Innern der Villa durch. Die Entführer hatten die Hintertür aufgebrochen und einen Lagerraum im Keller ausgeräumt, wo sie Philip Long einsperrten. Man hatte Schachteln eines chinesischen Take-aways im Kühlschrank gefunden, eine Kanne mit warmem Kaffee und Geschirr, das in der Spüle einweichte. Bis jetzt hatte man zwei Paar unidentifizierte Fingerabdrücke sichergestellt.

Ein riesiger Schwarm Blauhäher sprenkelte den Morgenhimmel und ließ sich in der Krone einer Birke am Ende des Gartens nieder. Macy warf einen Blick auf die Uhr, die über dem Küchentisch hing, und seufzte. In einer Stunde kam eine Kollegin von der Highway Patrol, um sie abzuholen. Macy hatte protestiert und beteuert, sie könne selbst zurück ins Flathead Valley fahren, aber ihr Vorgesetzter hatte darauf bestanden, dass sie sich entweder fahren ließ oder weitere Tage aussetzte. Macy hatte nachgegeben. Wenn sie Philip Long aus ihren Träumen verbannen wollte, dann musste sie herausfinden, was auf jenem einsamen Abschnitt der Route 93 passiert war. Und zuerst musste sie sich das Haus ansehen, in dem er festgehalten wurde. Fotos reichten nicht aus.

Auf der Treppe waren leise Schritte zu hören, und Macy drehte sich um, als ihre Mutter Ellen in Bademantel und Hausschuhen herunterkam. Sie war nicht allein. Luke, ein von Natur aus vorsichtiges Kind, hielt sich an der Hand seiner Großmutter fest. Er war fast zweieinhalb und groß für sein Alter. Mit seinem zerzausten schwarzen Haar und der Höckernase war er das Ebenbild seines Vaters, des früheren Chiefs der State Police, doch wenn seine grünen Augen aufleuchteten, war er ein waschechter Greeley.

»Mommy!« Er breitete die Ärmchen aus und lief auf sie zu.

Macy lächelte den Schmerz weg, als sie sich bückte, um ihn hochzuheben. Der Gurt hatte Hämatome auf ihrer Brust hinterlassen, und ihr linkes Handgelenk war verstaucht. Ellen legte ihrer Tochter die Hand auf die Schulter.

»Wegen mir musst du dich nicht zusammenreißen. Ich weiß, dass dir alles wehtut. Hast du Ibuprofen genommen, als du heute Morgen aufgestanden bist?«

Ächzend setzte Macy Luke in den Hochstuhl.

»Ja, aber anscheinend zu wenig.«

»Du brauchst Zeit, das weißt du selbst. Wenigstens ist nichts gebrochen, und du bist bald wieder fit.«

Macy schnitt für Luke Grimassen. Er kicherte und griff nach ihrer Nase.

»Ich wünschte, ich hätte deine Zuversicht«, sagte Macy.

»Du bist stärker, als du denkst, Macy. Aber ich bin froh, dass sie dir einen Fahrer schicken. Du solltest auf keinen Fall Hunderte von Kilometern allein am Steuer sitzen.«

»Gina Cunningham von der Highway Patrol ist seit siebzehn Jahren im Dienst. Wahrscheinlich hört sie es nicht gern, wenn du sie als Fahrer bezeichnest.«

Ellen lachte. »Ich merke es mir für den Fall, dass ich sie kennenlerne.«

Macy hielt die Kaffeekanne hoch. »Ich habe frischen Kaffee gekocht. Möchtest du welchen?«

»Danke, das wäre fein.« Ellen ging durch die Zimmer im Erdgeschoss und machte überall Licht. »Warum sitzt du immer im Dunkeln? Das ist doch gruselig. Apropos, sind das Tatortfotos auf dem Küchentisch?«

»Tut mir leid. Ich räume sie gleich weg.«

Ellen warf einen kurzen Blick auf die Fotos. »Wenn ich mir diese Bilder ansehen müsste, würde ich im ganzen Haus Licht machen.«

»Ich versuche nebenbei, die Erde zu retten.« Macy öffnete den Kühlschrank. »Ich mache Rührei. Möchtest du welches?«

»Nein, danke. Ich esse nur eine Schale Cornflakes.« Ellen lächelte. »Dein neuer Haarschnitt gefällt mir. Er steht dir ausgezeichnet.«

Macy strich sich das Haar nach vorn, so dass es ihr Gesicht umrahmte. »Ich finde es irgendwie zu kurz. Ich fühle mich so nackt.«

»Sei nicht albern, Liebes. Es ist schulterlang. Außerdem hast du sowieso meistens einen Pferdeschwanz, wie vorher auch.« Ellen zupfte einen Fussel von Macys dunkelblauem Blazer. »Du siehst gut aus. Endlich hast du wieder ein bisschen Farbe im Gesicht.« Sie berührte Macys Wange. »Du hast sogar ein paar Sommersprossen. Es muss Frühling sein.«

Macy wandte sich vom ruhigen Blick ihrer Mutter ab. Ellen entging nichts, und Macy wollte nicht, dass sie sah, wie zerrissen sie sich fühlte. Man hatte ihr angeboten, eine verletzungsbedingte Auszeit zu nehmen. Damit hätte sie mehr Zeit mit Luke zu Hause gehabt. Es war Macys Entscheidung, ins Flathead Valley zurückzukehren, um die Ermittlungen zu Philip Longs Entführung und Ermordung weiter zu leiten. Wenn sie einen Fall einmal aufgenommen hatte, brachte sie ihn auch zu Ende. Sie speicherte jede Information, jedes Foto im Kopf, verfolgte jede Spur, bis der Fall gelöst war. Zu Philip Longs Lebzeiten hatte sie versagt. Jetzt würde sie wenigstens seinen Tod aufklären.

Macy beugte sich vor, um Luke auf gleicher Höhe anzusehen. Zu ihrem Glück war ihr Sohn weniger scharfsichtig als ihre Mutter, aber sie wusste, eines Tages würde sie ihm viel erklären müssen. Die meisten Mütter waren zum Abendessen zu Hause und hatten die Wochenenden frei. Bei Macy war es anders. Es war nicht das erste Mal, dass sie mehrere Tage hintereinander beruflich unterwegs war. In vielen Polizeidienststellen in der Provinz gab es keine Kriminalbeamten, und als Sonderermittlerin der Landespolizei wurde Macy immer dahin geschickt, wo sie gebraucht wurde.

Sie beschloss, das Thema zu wechseln, und zeigte auf die Yogamatte, die aufgerollt neben der Sporttasche ihrer Mutter an der Küchentür stand.

»Gehst du heute zum Yoga, Mom?«

»Ja. Ich bin froh, dass sich Luke bei der Kinderbetreuung dort wohlfühlt. Es tut ihm gut, mit anderen Kindern zu spielen.«

»Dir tut es auch gut, andere Leute zu sehen.«

»Ich habe mehr als genug Kontakte. Morgen Abend kommen meine Mädels zum Essen.«

Macy lächelte. Die »Mädels« waren Ende sechzig und spielten leidenschaftlich und mit allen Tricks Poker.

»Aber zum Yoga gehst du nicht mit den Mädels?«

Macy hatte den Verdacht, ihre Mutter hatte jemanden kennengelernt. In letzter Zeit legte Ellen mehr Wert auf ihr Äußeres, und sie hatte endlich wieder die Pfunde zugenommen, die sie verloren hatte, als Macys Vater starb. Neulich beim Einkaufen hatte Ellen Macy einem älteren Herrn namens Jeff vorgestellt, den sie im Supermarkt getroffen hatten. Offenbar war Jeff in Ellens Yogakurs. Ellen war so nervös gewesen, dass sie kaum ein Wort herausgebracht hatte.

»Ich bin dir so dankbar, dass du für Luke da bist«, sagte Macy. »Ohne dich ginge das alles gar nicht.«

»Es ist schön für uns alle. Ich bin froh, dass du und Luke bei mir seid.«

Macy wuschelte Luke durchs Haar und stellte ihm einen klein geschnittenen Apfel hin. Meistens war er eher still, doch es bereitete ihm diebische Freude, jedes interessante Wort, das er hörte, zu wiederholen – je unanständiger, desto besser. Was Macy manchmal vergaß und trotzdem fluchte. Wenn er sie dann nachäffte, fiel es ihr schwer, sich das Lachen zu verkneifen, aber Ellen verstand bei diesem Thema keinen Spaß.

Ermutige ihn nicht auch noch, warnte sie. Es ist kein bisschen niedlich, wenn ein kleines Kind Arschloch sagt.

Macy fand es herrlich, wie nüchtern das Wort aus dem Mund ihrer Mutter klang. Stimmt. Es ist viel niedlicher, wenn du es sagst.

Ellen griff nach einem Foto von Ron Foresters Wohnzimmer und hielt es ins Licht.

»Hübsche Einrichtung«, sagte sie.

»Kein Wunder. Die Villa gehört einem reichen Steuerberater.«

»Steuerberater müsste man sein.« Ellen zeigte auf die anderen Fotos. »Wo war er, als es passiert ist?«

»Er sitzt eine Haftstrafe wegen sexueller Nötigung ab.«

»Reizend.«

»Ich vernehme ihn morgen.«

Ellen zog die Braue hoch. »Wo sitzt er denn?«

Macy nahm eine Schüssel und schlug das erste Ei hinein. Sie wich dem Blick ihrer Mutter aus.

»Im Montana State Prison in Deer Lodge.«

»Da sitzt doch auch Ray Davidson.«

»Ich weiß.«

»Hattest du in letzter Zeit Kontakt mit ihm?«

»Nicht seit er versprochen hat, sich in allen Punkten schuldig zu bekennen.« Macy machte den Herd an und stellte die Pfanne auf die Platte. »Ich wollte ihm danken, dass er uns nicht alle vor Gericht gezerrt hat. Nicht dass es eine große Rolle spielt, nachdem unsere Affäre sowieso rauskam.«

»Es war keine Affäre. Es war eine Beziehung. Er hat von seiner Frau getrennt gelebt, als ihr zusammen wart.«

»Nicht beim zweiten Mal.«

»Ja, aber er hat dich angelogen, und alle anderen auch. Warum hast du mir nicht erzählt, dass du mit ihm Kontakt hattest?«

»Weil ich wusste, dass du nichts davon hältst.«

»Er mag hinter Gittern sitzen, aber sicher bist du vor ihm immer noch nicht. Ich weiß, dass du ihn noch nicht vergessen hast.«

Macy küsste Luke auf den Scheitel. »Es ist schwer, jemanden zu vergessen, an den man täglich erinnert wird.«

»Hör auf, dich so zu quälen. Luke sieht Ray ähnlich, aber in Wirklichkeit kommt er nach deinem Vater. Ich zeige dir die Kinderbilder von ihm, dann siehst du es selbst.«

»Mom, du verstehst das vielleicht nicht, aber es war wirklich wichtig für mich, Ray zu sagen, dass er das Richtige getan hat.« Sie gab Rührei auf einen Teller und stellte ihn auf die Arbeitsplatte. »Er hat etwas sehr Schlimmes getan, aber dafür lebt er jetzt in einem Alptraum … Sie lassen ihn nie wieder raus.«

»Hab bloß kein Mitleid mit diesem Mann. Er ist durch und durch verdorben. Seine Frau und seine Kinder sollten dir leidtun.«

»Seine Frau ist mit der Familie nach Chicago gezogen. Ich habe gehört, sie ist schon wieder verlobt, mit ihrem Jugendfreund aus der Highschool.«

»Kann man ihr vorwerfen, dass sie versucht, die Vergangenheit so schnell wie möglich hinter sich zu lassen?«

»Nein.« Macy setzte sich neben Luke und begann die Unterlagen wegzuräumen. »Manchmal wünschte ich, ich könnte einfach weglaufen.«

»Weglaufen hilft nicht. Es ist besser, zu bleiben und die Sache zu verarbeiten. Ich weiß, im Moment ist es schwer, aber wenn du weiter so erfolgreich bist, vergessen die Leute bald, was gewesen ist.« Ellen hielt inne. »Siehst du Aiden, wenn du oben im Flathead Valley bist?«

»Wir haben es vor. Es ist eine Weile her, dass wir Zeit miteinander verbracht haben. Ich freue mich darauf.«

»Ich bin zwar nicht dafür, die Dinge zu überstürzen, aber man kann es mit der Zurückhaltung auch übertreiben.«

Luke schob ein Stück Apfel in Macys Mund und prustete los, als sie eine Grimasse machte.

»Nach allem, was passiert ist, weiß ich nicht, ob es klug ist, mich wieder mit einem Kollegen einzulassen.«

»Wo willst du bei deinem Arbeitspensum sonst jemanden kennenlernen, geschweige denn regelmäßig sehen?«

»Stimmt auch wieder.«

Ellen lächelte sie über die Kaffeetasse an. »Oder du versuchst es mit Online-Dating. Ich habe gehört, es gibt Websites, die auf Single-Frauen mit einer Schwäche für Männer in Uniform spezialisiert sind.«

Macy lachte, und es tat weh.

»Ich tu so, als hätte ich das überhört.« Es klingelte. »Das wird meine Mitfahrgelegenheit sein.«

Gina Cunningham hatte einen kantigen Kurzhaarschnitt mit einem Muster aus blonden Strähnen, das Macy an Leopardenfell erinnerte. Auch ihre Persönlichkeit war eher extrovertiert. Gina war bekannt dafür, dass sie sagte, was sie dachte, und aus dem Grund war Macy froh, dass sie sich immer gut verstanden hatten. Gina hatte Macy nicht auf Ray Davidson angesprochen. Stattdessen erkundigte sie sich nach Luke und äußerte Besorgnis, dass Macy so schnell nach dem Unfall wieder arbeiten wollte. Wie gewöhnlich war Ginas Ausdrucksweise unverblümt: »Nimm’s mir nicht übel, Special Investigator Greeley, aber du siehst beschissen aus.«

Gegen neun Uhr erreichten sie die Ausläufer von Walleye Junction. Der Unfallort war geräumt worden. Ohne die provisorisch errichtete Gedenkstätte hätte man vorbeifahren können, ohne zu ahnen, was sich hier vor vier Tagen abgespielt hatte. Gina nahm den Fuß vom Gas, um besser sehen zu können. Auf dem Asphalt glitzerten noch vereinzelte Glasscherben. Die Bremsspuren sahen aus wie ein Fragezeichen. Die Zettel mit den Beileidsbekundungen flatterten jedes Mal auf, wenn ein Auto vorbeifuhr, und die Blumensträuße, von denen manche in Plastik verpackt und andere ganz aus Plastik waren, glänzten in der Morgensonne. Das Wachs der geschmolzenen Kerzen sammelte sich auf dem Asphalt, und der Aufsteller einer geschäftstüchtigen Kirche bot Menschen, die spirituelle Führung brauchten, kostenlose Trauerbegleitung an.

Philip Long mochte eine umstrittene Figur in Walleye Junction gewesen sein, doch er hatte auch viele Fans. Und selbst seine Kritiker hatten ihn anscheinend als würdigen Gegner betrachtet. Macy hatte sich die Kommentare der verschiedenen Nachrufe im Internet angesehen. Ein Bewunderer schrieb: Manchmal muss jemand von außen kommen, um auf unsere Probleme zu zeigen, worauf jemand geantwortet hatte: Auch wenn ich Long sehr geachtet habe, habe ich mich immer gefragt, warum er nicht nach England zurückgeht, wenn er hier alles so kritisch sieht.

Als sich eine Lücke im Verkehr auftat, zog Gina über die Gegenfahrbahn und blieb auf dem Randstreifen stehen. Sie ließ das Fenster herunter und lehnte sich hinaus, um die Beileidsbotschaften an Philip Longs Familie besser lesen zu können.

Macy verschränkte die Hände auf dem Schoß und starrte ins Leere. Es war ein heller Frühlingstag, und alles war frisch und gestochen scharf. Die Kirschbäume blühten, und leuchtend grüne Wälder bedeckten das Vorgebirge. Weiter oben strahlten die blendend weißen Gipfel der Whitefish Range.

Gina stammte aus Texas, und sie hatte ihren Südstaatenakzent nie ganz abgelegt.

»Bei uns gab’s mal einen Serienmörder, der an den Gedenkstätten am Straßenrand Hinweise hinterlassen hatte.«

Sie riss eine Tüte Doritos auf, und Macy schauderte, als ihr der Geruch in die Nase stieg. Ihr war kalt, und sie fühlte sich fiebrig. Sie fasste sich an die Stirn. Ihre Haut war feucht. Dann ließ sie ihr Fenster herunter und sah zu, wie über der Kirschplantage auf der anderen Seite der Bundesstraße ein Helikopter auf und ab flog. Er sah aus wie eine riesige Libelle. Gina stellte die Chipstüte auf die Mittelkonsole, damit Macy sich bedienen konnte.

»Ich wette, in dem Wassergraben war es scheißkalt, aber besser, als erschossen zu werden, oder?« Gina sah Macy an. »Alles in Ordnung?«

»Ich brauche nur frische Luft.«

Als Macy gerade die Tür öffnen wollte, donnerte ein mit Baumstämmen beladener Sattelschlepper vorbei. Er hupte, und Macy wich erschrocken in den Sitz zurück. Gina legte ihr die Hand auf die Schulter.

»Du zitterst ja.«

Macy nickte. Gina meinte es gut, und Macy wollte sie nicht vergraulen.

»Danke«, sagte Macy. »Wieder hier zu sein macht mich ein bisschen nervös, aber das war wahrscheinlich zu erwarten.«

Gina griff nach dem Funkgerät. »Gut zu wissen, dass du auch nur ein Mensch bist. Lass dir Zeit. Ich melde mich schon mal in Walleye und gebe unsere voraussichtliche Ankunftszeit durch.«

Macy ging am Randstreifen ein Stück nach Norden. Der kalte Wind der vorbeifahrenden Wagen zerrte an ihrem Haar. Sie band sich mit dem Gummi, das sie ums Handgelenk trug, einen Pferdeschwanz. Rechts von ihr donnerten Autos und Lastwagen die Route 93 hinunter. Links gurgelte das dunkle Wasser im Abflussgraben. Sie starrte ihr zitterndes Spiegelbild auf der Oberfläche an. Im Internet hatte sie eine topographische Karte der Gegend gefunden. Nur hundert Meter entfernt von der Stelle, wo sie sich aus dem Graben gerettet hatte, führte eine Überlaufrinne direkt in den Flathead River. Macy war sich bewusst, dass sie verdammtes Glück hatte, am Leben zu sein. Sie sah zurück zu der Stelle in der Mitte der Straße, wo Philip Long sein Leben gelassen hatte. Den Fall aufzuklären würde ihn nicht wieder lebendig machen. Sie hatte das dumpfe Gefühl, seine letzten Momente würden für immer ihre Träume heimsuchen.

Die provisorische Gedenkstätte befand sich am Fuß des Wegweisers zur Edgewood Road. Macy ging in die Knie und schob die Blumen mit einem Kugelschreiber beiseite, um die Karten lesen zu könnten. Da waren Kinderzeichnungen, Beileidskarten und kurze Botschaften. Bei einigen war die Tinte verlaufen, und die Feuchtigkeit löste das Papier zu Brei auf.

Asche zu Asche, Staub zu Staub.

Du wirst uns fehlen.

Gute Reise.

Macy richtete sich wieder auf und dehnte ihre Schultern. Die Wirkung des Ibuprofens ließ nach. Sie musste noch eine Tablette nehmen, aber nicht auf leeren Magen.

Als sie zurückkam, hielt Gina ihr durchs offene Fenster eine Tüte Bonbons hin. »Tu dir einen Gefallen und nimm welche. Du siehst aus, als klappst du mir gleich zusammen.«

Das Bonbonpapier knisterte in Macys Fingern. »Der Fall in Texas, von dem du gesprochen hast, wann war das?«

»Das ist ewig her … in den Siebzigern vielleicht? Am Ende kam raus, dass der Täter ein Fernfahrer war, der sich an Anhaltern vergriff. Die Leichen lud er am Straßenrand ab.«

»Der kommt hier wahrscheinlich nicht in Frage.«

»Nee, der hat gebrutzelt.«

Der Hubschrauber knatterte in der Nähe. Die Kirschplantage reichte bis zur anderen Seite der Bundesstraße, nur wenige Meter entfernt. Macy drehte sich um.

»Was zum Teufel macht er da?«, fragte sie.

»Wenn es geregnet hat, föhnen sie mit Hubschraubern die Kirschblüten trocken.«

»Davon habe ich noch nie was gehört.« Macy gab Gina die Bonbontüte zurück und warf einen Blick auf ihr Telefon. Aiden Marsh rief an. Sie gab Gina ein Zeichen, dass sie noch eine Minute brauchte, und stellte sich vor den Wagen.

»Hallo, Aiden«, sagte Macy. »Schön, deine Stimme zu hören.«

»Detective Greeley. Es freut mich, dass es dir besser geht.«

»Oh, das klingt, als würdest du dienstlich anrufen.«

»Leider ja«, sagte Aidan. »Wir haben in einem Gewerbegebiet zwischen Walleye Junction und Wilmington Creek zwei Leichen gefunden. Sieht nach Überdosis aus.«

»Interessant, aber warum rufst du mich deswegen an?«

»Zuerst dachte ich, es wäre Routine, aber in der Nähe steht ein dunkelblauer Van mit Kennzeichen aus Idaho. Er sieht aus wie das Fahrzeug auf dem Überwachungsvideo der Tankstelle, an der Philip Long entführt wurde.«

»Habt ihr die Kennzeichen überprüft?«

»Gestohlen. Die Spurensicherung hat Fingerabdrücke gefunden, die mit denen aus dem Haus übereinstimmen, in dem Long festgehalten wurde. Sieht aus, als hätten wir eure Kidnapper gefunden.«

»Konntet ihr sie identifizieren?«

»Carla und Lloyd Spencer aus Walleye Junction. Beide Junkies. Vielleicht brauchten sie Geld für Drogen.«

»Man kann leichter Geld auftreiben als mit einer Entführung. Schickst du mir die Adresse?«

»Wird gemacht. Wo bist du gerade?«

»Ich stehe vor dem berühmten Abflussgraben.«

Aidens Stimme wurde sanft. »Wie geht es dir?«

»Es geht.«

»Halt durch.«

Macy stieg ins Auto und bat Gina, nach Wilmington Creek zu fahren.

»Danke für die Information, Sheriff«, sagte Macy. »Wir sind in zwanzig Minuten da.«

Gina fädelte sich wieder in den Verkehr ein. »Wer war das?«

Macy zögerte. Sie und Aiden hatten seit fast einem Jahr eine Beziehung. Eigentlich gab es keinen Grund, das Verhältnis geheim zu halten, aber Macy hatte nur ihren engsten Freunden und ihrer Familie von Aidens Existenz erzählt, und selbst ihnen gegenüber war sie zurückhaltend. Im Lauf des letzten Jahrs hatte es so viel Aufruhr in ihrem Leben gegeben. Manchmal war sie sich nicht sicher, ob sie wirklich in Aiden verliebt war oder ob er nur ein Lückenbüßer war in einer schweren Zeit.

Macy griff in die Bonbontüte.

»Aidan Marsh«, erklärte sie und schob sich ein Bonbon in den Mund. »Der Sheriff von Wilmington Creek. Sie haben zwei Leichen gefunden. Sieht nach einer Überdosis aus. Die Fingerabdrücke passen zu den Entführern.«

Gina brummte: »Na dann – Fall erledigt.«

»Du klingst enttäuscht.«

»Meine Schwiegermutter ist gestern gekommen, um sich um die Kinder zu kümmern, während ich weg bin. Wäre besser gewesen, wenn es sich für sie und für mich gelohnt hätte. Ich habe für eine Woche gepackt.«

»Du hast mir wohl nicht zugetraut, dass ich den Fall so schnell löse.«

»Nein, ich brauchte nur eine Pause. Vollzeit arbeiten und Zeit für den Haushalt, meinen Mann und die Kinder zu finden ist anstrengend.«

Das kleine Gewerbegebiet lag inmitten von dunklen, frisch gepflügten Feldern. Die Leiterin einer Bäckerei hatte das Paar, Seite an Seite liegend, im hohen Gras entdeckt, als sie ihren Wagen an der üblichen Stelle parkte. Dass die beiden tot sein könnten, hatte sie erst gemerkt, als die Hupe sie nicht weckte. Sie war so entsetzt, dass sie im Wagen blieb, bis die Polizei eintraf.

Gina parkte den Wagen außerhalb des von der Spurensicherung abgesperrten Bereichs und bot Macy noch ein Bonbon an, bevor sie den Motor abstellte.

»Schätzchen«, sagte sie. »Bist du sicher, dass du schon bereit für so was bist?«

Macys Blick ruhte auf Aiden Marsh. Auch wenn sie es nie zugegeben hätte, ihre Mutter hatte recht. Macy hatte eine Schwäche für Männer in Uniform, und wie gewöhnlich war die von Aiden frisch gebügelt. Er sprach gerade mit Ryan Marshall, dem Rechtsmediziner, und winkte ihnen zu. Ryan trug einen weißen Ganzkörperanzug mit Kapuze, Handschuhe, Füßlinge und eine dunkle Sonnenbrille. Meistens war es schwer zu erraten, wie er eigentlich aussah. Wenn sie ihn in Zivil sah, hatte Macy sich angewöhnt, so zu tun, als würde sie ihn nicht erkennen. Er konterte mit absurden Flüchen, die er auf einer internationalen Rechtsmedizinerkonferenz aufgeschnappt hatte, wo er außerdem herausfand, dass seine britischen Kollegen noch mehr tranken als er.

Als Macy angefangen hatte, hatte man sie vor Ginas Kratzbürstigkeit gewarnt. Doch über die Jahre war ihr klar geworden, dass nur Männer dieser Meinung waren. Sie lächelte Gina zu und öffnete die Tür.

»Danke, dass du fragst, Gina. Es geht schon. Packen wir es an.«

Draußen hing das pappige Zuckeraroma aus den Bäckereiöfen in der Luft. Soweit Macy feststellen konnte, gaben die Leichen keinen Geruch von sich. Carla und Lloyd Spencer konnten noch nicht lange tot sein. Im hohen Gras waren sie fast unsichtbar. Nur die Schuhe waren zu sehen – ein Paar Turnschuhe, ein Paar Cowboystiefel. Vor dem Liefereingang der Bäckerei, in etwa fünfzehn Metern Entfernung, standen ein paar Frauen in Schürzen und rauchten.

Macy schüttelte sowohl Ryan als auch Aiden zu Begrüßung die Hand. Ryan grinste. »Warum so förmlich? Wir haben uns seit zehn Jahren nicht die Hand gegeben.«

»Vielleicht möchte ich noch einmal ganz von vorne anfangen.«

Sie zog sich Füßlinge und Handschuhe über und betrat die Wiese, um sich Carla und Lloyd Spencer aus der Nähe anzusehen. Beide Eheleute trugen Jeans und Kapuzen-Sweatshirts. Ihre Kleider hatten zwar keine Löcher, aber sie waren abgenutzt. Und trocken. Sie waren also nicht in dem Regen gestorben, der in der Nacht gefallen war. Carla Spencer war eine attraktive Frau, aber das Gleiche galt nicht für ihren Mann. Lloyd sah verbraucht aus. Tiefe Linien hatten sich in sein Gesicht gegraben, und seine Zähne und Finger waren tabakbraun.

»Was denkst du, Ryan?«

»Ich denke, wir haben die Kidnapper und können nach Hause gehen.«

»Woran sind sie gestorben?«

»Wahrscheinlich Heroin, oder sie haben sich aufbereitete Schmerzmittel gespritzt. Der Toxscreen wird uns mehr verraten. Der Mann war ein Junkie. Jede Menge Einstichstellen.«

»Und die Frau?«

»Nichts zu sehen bis auf die Einstichstelle der tödlichen Spritze. Sie schien viel fitter gewesen zu sein als er.«

Aiden räusperte sich. »Macy, ich habe sie überprüft. Carla nahm seit ein paar Monaten an einem Entzugsprogramm teil, und Lloyd steht auf der Warteliste.« Er sah Ryan an. »Kannst du was zum Todeszeitpunkt sagen?«

Macy sprach zuerst. »Falls die Leichen nicht hier abgelegt wurden, würde ich sagen, zwischen sechs und sieben Uhr früh.«

Ryan nickte bestätigend. »Nicht schlecht, Greeley. Mir scheint, du sägst an meinem Stuhl.«

Macy hätte Ryan fast die Zunge rausgestreckt, aber sie beherrschte sich.

»Ihre Kleider sind trocken«, erklärte sie. »Gegen sechs hat der Regen aufgehört, und die Chefin der Bäckerei kam um sieben. Ist sonst noch jemand hier gewesen?«

»Nein«, sagte Aiden. »Die Frau von der Bäckerei war die Erste. Sie hat erst den Lieferwagen bemerkt und dann die Leichen.«

»Haben Carla und Lloyd Spencer Familie in Walleye?«

»Police Chief Lou Turner müsste jeden Moment hier sein. Er sollte das wissen.«

»Ich unterhalte mich mal mit der Bäckerei-Chefin«, sagte Gina. »Vielleicht finde ich noch was raus.«

Aiden zeigte auf eine Frau mit Schürze und Baseballkappe. »Sie ist ziemlich mitgenommen. Seien Sie nett zu ihr.«

Ryan gähnte herzhaft. »Vielleicht können Sie mir ein paar Donuts und einen Kaffee mitbringen. Für einen Zuckergussdonut würde ich über Leichen gehen.« Er wandte sich ab. »Ich muss die zwei abholen lassen. Ich sorge dafür, dass sie sich mit dem Toxscreen beeilen.«

Macy sah sich Carla und Lloyd Spencer noch einmal genau an. Beide lagen mit an den Körper angelegten Armen da, die Handflächen zeigten nach oben. Da die Todesursache höchstwahrscheinlich Drogen waren, war schwer zu glauben, dass sie sich zum Sterben in genau die gleiche Position gelegt hatten. Macy bückte sich. Sie sah nichts, was auf einen Kampf schließen ließ. Sie hob Lloyds Cowboystiefel an. Kleine Steinchen hatten sich in die Rückseite des Absatzes gebohrt. An Carlas Turnschuhen waren keine zu sehen. Macy drehte sich um und warf einen Blick zu dem Lieferwagen. Er stand knapp zehn Meter entfernt.

»Ich glaube, sie sind im Wagen gestorben. Lloyd wurde über den Asphalt gezogen, Carla wurde getragen.«

»Du meinst also nicht, dass sie sich die Überdosis aus Versehen gesetzt haben?«, fragte Aiden.

»Ich schließe es nicht aus, aber die Leichen wurden bewegt. Was bedeutet, dass sie vielleicht früher gestorben sind. Auf jeden Fall war noch eine dritte Person im Spiel. Vielleicht war derjenige auch an Longs Entführung beteiligt.« Macy zog sich die Handschuhe aus. »Wir müssen den Obduktionsbericht abwarten.«

Als sie aufstand, wurde ihr schwindlig. Sie streckte die Hand nach Aiden aus, und er hielt sie fest.

Aiden sagte leise: »Alles in Ordnung? Du bist blass.«

»Ich will nicht lügen. Mir geht’s nicht so toll.«

Er half ihr auf die Beine, dann ließ er sie los. »Ich würde dich in den Arm nehmen, wenn ich dürfte.«

»Lieb gemeint.«

»Glaubst du wirklich, es war eine gute Idee, so schnell wieder zu arbeiten?«

Sie sah sich nach Gina um. »Keine Sorge, ich bin in guten Händen.«

»Muss ich eifersüchtig sein?«

»Unbedingt. Gina ist ein heißer Feger.«

»Falls ihr mich hier nicht mehr braucht, breche ich auf. Ich habe noch einen Termin.«

Macy brachte ihn zu seinem Wagen. »Also«, begann sie, als sie sicher war, dass ihnen niemand zuhörte, »sehen wir uns später?«

»Melde dich, sobald du Feierabend hast, dann hole ich dich am Hotel ab.«

»Willst du immer noch für mich kochen?«

»Ich bin gerade auf dem Weg zum Fluss. Hoffentlich fange ich uns etwas.«

»Ich dachte, du hättest einen Termin.«

»Eben. Ich gehe mit dem Bürgermeister angeln.« Dann sprach er lauter, damit die anderen ihn hörten. »Schön, Sie wiederzusehen, Detective Greeley.«

»Machst du Witze?«

Er beugte sich vor und flüsterte: »Bin ich kein guter Schauspieler?«

»Ich würde die Uniform noch nicht endgültig an den Nagel hängen.«

Police Chief Lou Turners Geländewagen fuhr auf den Parkplatz, als Macy gerade durch die Fenster des gestohlenen Lieferwagens spähte. Sie hatte gehört, dass Lou extrem witzig sein konnte und nichts lieber tat, als zu angeln und mit seinen alten Kumpels herumzuhängen. Macy konnte sich das immer noch nicht vorstellen. Seit sie ihn kurz nach Philip Longs Entführung kennengelernt hatte, hatte Lou kein einziges Mal gelächelt. Doch vielleicht hatte das mit den Umständen zu tun.

Lou erkundigte sich nach Macys Gesundheit, bevor er sich Carla und Lloyd zuwandte. Er starrte sie lange an, bevor er sich äußerte.

»Ich kann nicht sagen, dass ich überrascht bin, sie so enden zu sehen, aber Philips Entführung hätte ich ihnen nicht zugetraut.«

»Hatten die beiden Kinder?«

»Einen Jungen im Teenageralter aus Carlas erster Ehe und zwei kleine, die bei einer Pflegefamilie untergebracht sind. Es gibt zwar Onkel und Tanten, aber niemand konnte die Kinder aufnehmen.«

»Das ist traurig.«

»Carla wollte clean werden. Als ich das letzte Mal mit ihr gesprochen habe, war sie fest entschlossen, ihre Kinder zurückzubekommen.«

»Ich würde gern wissen, wo Carla Entzug gemacht hat. Vielleicht kann ihr Therapeut uns mehr sagen. Vielleicht hat sie dort jemanden kennengelernt, der nicht gut für sie war.« Macy nickte in Richtung des gestohlenen Lieferwagens. »Das Fahrzeug muss gründlich untersucht werden.«

»Ich habe gerade telefoniert. Die Spurensicherung schickt noch ein paar Leute.«

»Ich habe mir Philip Longs Sendungen angehört. In letzter Zeit hat er sich ziemlich entschieden über die wachsende Gefahr der Bürgerwehren in Montana geäußert. Meinen Sie, da könnte es eine Verbindung geben?«

Lou Turner seufzte. »Carlas und Lloyds einziger Auftritt im Rampenlicht war, als irgendein zweifelhafter Blog ihre Milizgruppe als potentielle terroristische Bedrohung bezeichnete, aber die Idioten hatten ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Jeder mit nur einem halben Gehirn hat die beiden so gesehen, wie sie waren. Carla und Lloyd hatten eine große Klappe, aber es war nichts dahinter. Ich sage nicht, dass Lloyd ein netter Kerl war, aber er reagierte sich in den eigenen vier Wänden ab. Er war ein Rowdy, kein Revoluzzer.«

»Philip Long hat viele Leute bewusst provoziert. Er hat sogar vor einem drohenden Bürgerkrieg gewarnt. Er nannte die Milizen den Dritten Staat und sagte, es sei seine Pflicht, die Separatisten bloßzustellen, bevor es zu spät sei«, erklärte Macy.

»Der Quotenfang gehörte zu Philips Geschäft, daher würde ich nicht alles, was er sagte, auf die Goldwaage legen. Klar gibt es in Flathead Leute, die etwas mit den Bürgerwehren zu tun haben. Manche davon gehören sogar zu meinem Freundeskreis. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass einer von denen fanatisch genug wäre, einen Mord anzuzetteln.«

»Kann sein«, sagte Macy. »Aber Philip Long hat in den letzten Wochen viele Hassmails bekommen.«

»Aber wozu die Entführung? Es gibt praktischere Methoden, jemanden zum Schweigen zu bringen, wenn einem nicht passt, was er sagt.«

Macy beschloss, einen anderen Kurs einzuschlagen.

»Lloyd und Carla Spencer sind vielleicht an einer Überdosis gestorben, aber es sieht so aus, als wären ihre Leichen bewegt worden. Am Absatz der Stiefel klebt Kies, und ihre Position wirkt künstlich. Wir müssen natürlich auf den Bericht der Spurensicherung warten.« Sie hielt inne. »Meinen Sie, Carla und Lloyd Spencer hätten Longs Entführung auf eigene Faust durchziehen können?«

Lou ging auf die Leichen zu, um sie sich genauer anzusehen. »Na ja, durchziehen ist was anderes. Philip wäre ihnen fast abgehauen, und jetzt sind beide tot. Aber wir sehen uns noch mal den Bürgerwehr-Ansatz an. Und wir gehen die Hassmails und die Kommentare auf der Website des Senders durch. Falls Carla oder Lloyd ihm gedroht haben, wissen wir es bald.«

»Fuhr einer von ihnen ein Geländemotorrad?«

»Gute Frage. Das müssen wir überprüfen.«

»Und wir müssen ihre Wohnung durchsuchen.«

Lou klopfte sich auf die Hemdtasche. »Der Durchsuchungsbeschluss ist schon da. Ich habe Leute hingeschickt, die das Haus im Auge haben. Sie warten nur auf Verstärkung.« Er nahm die Sonnenbrille ab und rieb sich die Augen. »Geld könnte ein Motiv gewesen sein. Philip Long war so was wie ein Star hier in der Gegend. Vielleicht dachten sie, er wäre reich. Wir müssen die Angehörigen vernehmen und uns Carlas und Lloyds finanzielle Situation ansehen, aber ich kann mir vorstellen, dass sie hoch verschuldet waren.«

»Gibt es eine Verbindung zwischen den Spencers und Ron Forester, dem das Haus gehört?«

»Bei dreihundert Dollar pro Stunde haben sie ihn wohl kaum als Buchhalter engagiert. Lloyd war arbeitsloser Dachdecker, und Carla hatte zwar mal eine Stelle bei einem Elektronikkonzern, aber letztes Jahr hat sie Pizzas ausgeliefert.«

»Morgen spreche ich mit Philip Longs Frau«, sagte Macy.

»Seine Tochter Emma ist heute angekommen.«

»Das hat eine Weile gedauert.«

»Ich habe kurz mit ihr gesprochen«, sagte Lou. »Sie sagte, sie hätte vom Tod ihres Vaters erst erfahren, als sie zu Hause anrief, um mit ihm zu sprechen, und stattdessen ihre Mutter am Apparat hatte.«

»Ihre Mutter hat ihr nicht Bescheid gesagt?«

»Nein.«

»Kommt Ihnen das nicht komisch vor?«

»Für Francine ist es eindeutig untypisch, aber Emma war immer ein spezieller Fall. Unter anderem hat sie den Ruf, von Beerdigungen wegzulaufen.«

»Klingt interessant. Ich werde sie danach fragen.«

Lou räusperte sich. »Übrigens haben wir Philips Toxscreen. Er hatte Heroin im Blut.«

»Bei all den Verletzungen lässt sich schwer sagen, was im Haus passiert ist. Vielleicht haben sie ihn mit Heroin sediert. Hat er eine Drogenvergangenheit?«

»Nicht dass ich wüsste, aber wer weiß? Solche Dinge behalten die Leute wohl eher für sich.« Lou Turner warf noch einen Blick auf die Toten. »Ich muss die Familie informieren und Vernehmungen organisieren.«

Gina kam dazu und schüttelte dem Chief die Hand, als Macy die beiden einander vorstellte. Gina hielt ihnen eine Schachtel Donuts hin, aber weder Macy noch Lou griffen zu.

»Die Leiterin der Bäckerei scheint nichts zu wissen«, sagte Gina.

Lou Turner zeigte auf die Kameras, die unter der Dachtraufe angebracht waren.

»Haben Sie nach den Überwachungsvideos gefragt?«

»Die Kameras sind nur Abschreckung. Die Inhaber haben den Wartungsvertrag schon vor Jahren gekündigt.«

Macy nahm die Sonnenbrille ab und putzte sie mit dem Hemdsaum. »Lou, wenn es Ihnen recht ist, fahren Gina und ich jetzt zu dem Haus, wo Long festgehalten wurde. Ich muss mir den Tatort selbst ansehen.«

Lou schrieb etwas auf einen Zettel, den er Macy reichte. »Das ist die Adresse von Carla und Lloyd Spencer. Treffen wir uns dort, wenn Sie mit Foresters Haus fertig sind, so gegen zwei?«

»Das passt. Bis später.«

3

Emma Long hielt am Schotterrand der Straße, die im Norden bis zur kanadischen Grenze führte, und warf einen Blick auf die Landkarte. Dann legte sie die zerknitterte Faltkarte aufs Lenkrad und spähte alle paar Sekunden über die Brille, um den Horizont zu mustern. In der Ferne erhob sich die einsame Silhouette ihrer Heimatstadt aus der Landschaft, und zu beiden Seiten der Straße erstreckten sich die Felder im Tal wie eine Patchworkdecke, die zu Füßen der hohen, kristallklaren Gipfel ausgebreitet war. Aber die alten Erinnerungen brachten ihren Ortssinn durcheinander. Irgendetwas stimmte nicht am Maßstab, und die Skyline von Walleye Junction wirkte wie ein schiefes Lächeln. In Emmas Abwesenheit hatte jemand dem Ort ein paar Zähne ausgeschlagen.

Einen Kilometer weiter begriff sie, was fehlte. Walleye Junctions höchste Kirche und der Eingangsturm des alten Filmpalasts waren verschwunden. Die beiden hohen Backsteingebäude hatten mit dem rostigen Wasserturm und dem Funkmast die bescheidene Skyline der Stadt gebildet, die sich ihr so tief eingeprägt hatte. Doch während der Jahre ihres Exils war Walleye Junction genau ein Mal in den nationalen Schlagzeilen gelandet: 2008 war auf der Main Street eine Gasleitung explodiert und hatte Jesus und die Traumfabrik gleichermaßen abgestraft. Die Kirche, in der sie als Kind heimlich geflucht hatte, und das Kino, in dem sie als Teenager ihre ersten zärtlichen Erfahrungen gesammelt hatte, waren von der Explosion dem Erdboden gleichgemacht worden.

Sie wollte gerade rechts auf einen Feldweg abbiegen, als ihr ein langbeiniger Hund vors Auto lief. Emma riss das Steuer herum, doch sie erwischte das Tier am Hinterteil. Es verschwand aus dem Sichtfeld, und der Wagen brach aus, bevor er nur Zentimeter vor einer endlosen Reihe von Kirschbäumen zum Stehen kam. Emma ließ den Kopf aufs Lenkrad sinken. Ein paar Sekunden konnte sie sich nicht rühren. Ihre Hände zitterten, als sie endlich den Rückwärtsgang einlegte und von dem seichten Graben, der die Obstplantage einfasste, zurücksetzte. Als sie aussteigen wollte, rumpelte ein Pritschenwagen der Winfrey Farm heran. Emma überfiel das alte Unbehagen, und sie musste sich konzentrieren, um keine weichen Knie zu bekommen. Mit einer zögerlich erhobenen Hand grüßte sie den Mann am Steuer. Streng genommen befand sie sich hier auf privatem Boden. Sie kannte den Besitzer zwar, aber sie standen nicht auf gutem Fuß miteinander. Der Mann im Pick-up blieb sitzen und telefonierte. Sie fragte sich, wie er reagieren würde, wenn er ihren Namen hörte.

Ein Lastwagen fuhr vorbei, hupte und wirbelte eine Staubwolke auf. Der Duft der Kirschblüten stieg aus den Feldern. Über dem Geschrei der Krähen konnte Emma das Ticken ihres Motors hören. Sie zeigte auf die Plantage und winkte den Mann heran. Er nickte und beendete das Telefonat, bevor er auf eine Art aus dem Wagen stieg, als wollte er sie absichtlich einschüchtern – mit geradem Rücken, ohne zu lächeln, den Blick aufs Telefon gerichtet, bevor er sich mit ihr befasste.

Im nächsten Moment klappte ihre gemeinsame Geschichte auf wie ein Buch. Emma hielt sich die Hand vor den Mund, und ihre aufgerissenen Augen sagten, was ihre Lippen nicht aussprechen konnten. Vor ihr stand Nathan Winfrey in Fleisch und Blut. Sein Blick war hinter der Pilotenbrille verborgen. Er musterte sie von oben bis unten, ohne die Miene zu verziehen. Es war ihr unangenehm. Sie konnte nicht sehen, was für eine Art Mensch er geworden war.

»Willkommen daheim«, sagte er, als wollte er im Schotter Wurzeln schlagen.

Emma fiel keine unkomplizierte Antwort ein. »Ich habe einen Hund angefahren«, stotterte sie und zeigte wieder auf die Plantage. »Er ist aus heiterem Himmel aufgetaucht.«

Emma spähte über den Rand des Grabens, bereit, beim kleinsten Blutstropfen die Augen zu schließen, während Nathan, ohne zu zögern, in die Rinne sprang. Er kniete bereits neben dem Hund, bevor sie überhaupt etwas sah.

Dann schüttelte er den Kopf und nahm mit einer tragischen Geste die Mütze ab. Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen. »Em«, sagte er sanft, indem er den Spitznamen benutzte, den sie früher gehasst hatte. »Du bist zwölf Jahre weg, und das Erste, was du tust, als du zurückkommst, ist, Calebs Hund zu überfahren.«

Das Wort Scheiße hing zwischen ihnen wie ein Schwarm Mücken. Emma wollte es nicht laut sagen, aber es ging nicht anders. Caleb Winfrey war kein Mensch, den sie wiedersehen wollte. Plötzlich stand der Hund auf, sah sich um, als hätte er sich verirrt, und machte ein paar vorsichtige Schritte auf die Straße zu.

»Wird er überleben?«, fragte sie hoffnungsvoll.

»Ja«, sagte Nathan und lockte den Hund zu sich. »Aber er wirkt ein bisschen angeschlagen. Ich bringe ihn vorsichtshalber zum Tierarzt.« Er strich sich die Haare aus dem Gesicht und setzte die Mütze wieder auf. »Ich sage Caleb, ich hätte ihn hier gefunden.«

»Du musst mich nicht in Schutz nehmen.«

»Du weißt, dass es besser so ist, also vergiss es einfach. Dieser bescheuerte Kamikaze-Hund spielt schon seit Jahren mit dem Tod.« Er drehte sich um, sah Emma an und nahm endlich die Sonnenbrille ab. »Aber es wäre schon komisch, wenn ausgerechnet du ihn ins Jenseits beförderst.«

Emma wischte sich eine Träne aus dem Auge. »Ich finde es nicht sehr komisch.«

Nathan legte den Kopf schief und wartete einen Moment. »Ich bin überrascht, dass du jetzt erst kommst.«

»Nicht so überrascht wie ich.« Sie wich seinem Blick aus. »Ich habe erst gestern erfahren, was passiert ist.«

»Das mit deinem Vater tut mir sehr leid. Philip war ein guter Mann.«

Sie starrte die Kirschblüten an. Das Sprechen fiel ihr schwer.

»Was macht dein Onkel?«, fragte sie.

»Caleb ist im Pflegeheim. Seit ein paar Jahren geht’s mit seiner Gesundheit bergab. Er hatte zwei Schlaganfälle.« Nathan sprach leiser. »Seine Erinnerung kommt und geht.«

»Wir waren nicht gut aufeinander zu sprechen, aber das tut mir leid. Wie geht es deinen Eltern?«

»Gut. Gut.« Er blinzelte in die Sonne. »Du weißt ja, hier draußen ändert sich nicht viel.«

Emma zeigte auf den Pick-up. »Sieht aus, als kümmerst du dich jetzt um die Farm. Nicht schlecht.«

»Zwangsläufig. Da Lucy ausfällt, musste einer das Geschäft übernehmen. Ich bin immer noch ein bisschen überrascht, dass Caleb mir die Leitung anvertraut hat.«

»Du warst wie ein Sohn für ihn.«

»Ja, ich schätze schon.«

»Ich dachte, du wolltest sowieso in die Landwirtschaft«, sagte sie.

Er blickte zum Horizont, als würde er nach dem Wetter sehen. »Du kennst ja das Sprichwort: Sei vorsichtig, was du dir wünschst.«

Emma lehnte sich an ihren Wagen. Wahrscheinlich sah sie schrecklich aus. Sie strich sich das braune Haar aus dem Gesicht und widerstand dem Drang, sich die Bluse zurechtzurücken. Ein Kaffeefleck verunzierte ihre Jeans. Sie war vierundzwanzig Stunden durchgefahren, gedopt mit Red Bull und Kaffee, in immer kürzeren Abständen. Es war eine Frage von Kilometern, bis sie zusammenklappte.

»Komisch, nach all den Jahren wieder hier zu sein. Die Entfernungen sind riesig, und doch fühlt sich alles so klein an.«

»Man gewöhnt sich dran.« Er ließ eine Pause. »Hast du schon mit der Polizei gesprochen?«

»Ich habe noch nicht mal mit meiner Mutter gesprochen. Hast du sie in letzter Zeit gesehen?«

»Ab und zu. Seit sie nicht mehr arbeitet, trifft meine Mutter sie öfter. Sie hilft ehrenamtlich in einer Obdachlosenunterkunft, die ihre Gemeinde organisiert hat.«

»In Walleye gibt es Obdachlose?«

»Nur ein paar. Soweit ich weiß, sind alle drogensüchtig.«

»Das hätte ich nicht gedacht.«

»Ich hab das Gefühl, seit es die Unterkunft gibt, kommen immer mehr. Ich weiß, es ist nicht sehr christlich, aber wenn du mich fragst: Ich finde, sie haben keine Hilfe verdient.« Er warf einen Blick auf den roten Kleinwagen. »Wo lebst du eigentlich? Jedes Mal, wenn ich frage, bist du woanders.«

»In San Francisco, aber nur vorübergehend.«

»Du wolltest immer weg von hier.«

»Nicht so sehr, wie du bleiben wolltest«, gab sie zurück.

»Ich könnte heute Abend vorbeikommen. Wir könnten reden. Da ist die Sache mit Lucy. Ich habe das Gefühl, es gibt ein paar Dinge, über die wir uns unterhalten sollten.«

Emma schürzte die Lippen. »Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee ist. Ich weiß nicht, wie es zu Hause ist. Kann ich dich anrufen und dir Bescheid sagen?«

»Schon gut, ich verstehe. Ein andermal vielleicht.«

»Ich will dich nicht abwimmeln, Nathan. Es ist nur, meine Mutter und ich haben seit Jahren ein ziemlich schwieriges Verhältnis. Ich habe keine Ahnung, was mich erwartet. Ich habe sogar überlegt, im Hotel zu übernachten.«

»Das kann nicht dein Ernst sein. Deine Mutter braucht dich jetzt. Ich weiß, dass sie dich vermisst.« Er zeigte auf die löchrige Skyline von Walleye Junction. »Fahr nach Hause. Sie wartet sicher schon auf dich.«

Zögernd zupfte Emma an einem losen Faden ihres Ärmels und sah zu, wie sich der Stoff unter ihren Fingern auflöste. »Ja, ich breche jetzt besser auf. Ich habe mich seit Spokane nicht mehr bei ihr gemeldet. Sie macht sich bestimmt schon Sorgen.«

Nathan legte ihr die Hand auf die Schulter und beugte sich vor, um ihr in die Augen zu sehen. »Bitte ruf an, wenn du irgendwas brauchst. Für dich ist es vielleicht lange her, aber die Leute haben dich nicht vergessen.«

Emmas Stimme wurde kühl. »Das wette ich.«

»Nicht, was du denkst. Sie trauern mit euch. Sie wollen dir und deiner Mutter beistehen.«

Emma kickte gegen einen Erdbrocken und nickte. Sie konnte nicht reden. Dann ließ sie Nathan am Rand des Feldwegs zurück und fuhr endlich in die Stadt.

Sie hatte Caleb zum letzten Mal auf Lucys Beerdigung gesehen. Damals war Emma noch keine achtzehn gewesen, und eine knappe Woche später hatte sie die Stadt verlassen. Sie blickte aus dem Fenster. Auf der einen Seite sah die Main Street noch genauso aus wie in ihrer Erinnerung. Der Futtermittelladen, der Diner, das Polizeirevier und die restlichen Geschäfte hatten sich kaum verändert. Doch die Explosion hatte die andere Straßenseite in Schutt und Asche gelegt, wo jetzt eine lange, hässliche Ladenzeile stand und ein moderner Komplex aus Glas, Stahl und Backstein, der einen ganzen Häuserblock einnahm. Die Straße war stark befahren, und überall parkten Autos. Gegen alle Vorhersagen ging es Walleye Junction wirtschaftlich gut. Emma bog an der Ampel links ab und folgte der Straße drei Kreuzungen weiter bis zu ihrem Elternhaus.

Das Haus stand blütenweiß auf einer leuchtend grünen Wiese und sah aus wie aus einem Aufklappbuch. Als Emma in der Einfahrt parkte, trat ihre Mutter gerade mit zwei Frauen auf die Terrasse, die Emma vage bekannt vorkamen. Sie begrüßten sie mit Umarmungen und verhaltenen Worten und gingen mit dem Versprechen, sich am nächsten Tag zu melden. Francine griff nach der Hand ihrer Tochter und ließ nicht mehr los, bis sie über die Schwelle des zweistöckigen Idylls getreten waren. Überall im Wohnzimmer standen Blumen, und auf dem Kaminsims stapelten sich Beileidskarten. Alles andere war wie früher, nur kleiner.

Emma widerstand dem Bedürfnis, den Kopf einzuziehen, obwohl zwischen ihr und der Decke ein guter halber Meter Platz war. Sie machte leise Schritte und flüsterte. Dann starrte sie den Sessel ihres Vaters an. Es war ihr unbegreiflich, dass etwas, was für sie nagelneu war, über Nacht alt geworden war. Sie wollte nichts sagen, aber die Gedanken mussten raus.

»Mom, warum hast du mich nicht früher angerufen?«

»Wie bitte?«

Emma sah ihre Mutter an. Francine klammerte sich an den Türrahmen, bis ihre Knöchel weiß wurden. Sie sah aus, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen.

»Mom«, sagte Emma mit sanfterer Stimme. »Komm, ich helfe dir.«

Francine murmelte in ihr zerknülltes Taschentuch, während sie sich zum Sofa führen ließ.

»Es war so schlimm. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.«

»Ich fühle mich schrecklich. Ich hätte bei dir sein und dir beistehen sollen.«

Francine schüttelte nachdrücklich den Kopf. Ihr Haar hatte sich aus den Klammern gelöst. Graue Strähnen fielen ihr ins Gesicht. Das Rouge auf ihren Wangen war nicht richtig verwischt, aber sie war sorgfältig angezogen, in einer hellgrauen Hose und einer blassblauen Strickjacke.

»Ich dachte, wir wären dir nicht mehr wichtig.«

»Sag so was nicht.«

»Ich sage, was ich denke.«

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