Finsterloh - Charly Weller - E-Book

Finsterloh E-Book

Charly Weller

4,3

Beschreibung

Mord in einer Gießener Altenresidenz, mehrere Messerstiche in der Brust eines 92-Jährigen, neben der Leiche eine Botschaft: »Letzte Nacht in Finsterloh«. Wo sind die 30.000 Euro, die der Tote von seinem Sparbuch abgehoben hat? Was hat es mit der Blutwurst auf sich, die am Vortag für ihn abgegeben wurde? Worum drehte sich das Gespräch mit dem New Yorker Klezmer-Musiker? Ein Fall für Roman Worstedt, Kommissar mit manischen Wurzeln und hinter seinem Rücken gerne ›Worschtfett‹ genannt, denn bei ›Finsterloh‹ handelt es sich um eine ehemals manische Siedlung am Stadtrand von Wetzlar. Die Ermittlungen führen Roman Worstedt und seine Kollegin Regina Maritz durch ein Labyrinth von Intrigen in der Altenresidenz über familiäre Abgründe bis hin zur Fremdenlegion nach Algerien. "Charly Weller ist der neue Shootingstar unter den deutschsprachigen Krimiautoren ..." (Til Schweiger)

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Charly WellerFinsterloh

Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Eulenkopf

Charly Weller, geb. 1951 in Marburg a. d. Lahn, ist von Hause aus Filmemacher. Nach seiner Jugend in Gießen und Wetzlar studierte er zunächst Theologie, es folgte das Jura- und Publizistikstudium in Berlin. Zwischenzeitlich betätigte er sich als Fotograf, Journalist, Taxifahrer, Versicherungsvertreter und Kinobetreiber. Nach der Regieassistenz unter Peter Fleischmann drehte er erste eigene Filme und wurde ausgezeichnet u. a. mit dem »Prix du Jury« in Cannes und dem »Max-Ophüls-Förderpreis«. Er war Regisseur zahlreicher Folgen von TV-Krimi-Serien wie »Ein Fall für Zwei«, »Die Kommissarin«, »Im Namen des Gesetzes«, »Auf Achse« und anderen.

Sein erster Kriminalroman »Eulenkopf« wurde 2015 für den »Friedrich-Glauser-Preis« in der Sparte Debüt nominiert. Heute lebt er mit seiner Frau Ritchie als freier Autor und Regisseur in der Nähe von Gießen.

Charly Weller

FINSTERLOH

Kriminalroman

Originalausgabe© 2015 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheimwww.kbv-verlag.deE-Mail: [email protected]: 0 65 93 - 998 96-0Fax: 0 65 93 - 998 96-20Umschlaggestaltung: Ralf Krampunter Verwendung von:© mettus - www.fotolia.deRedaktion: Volker Maria Neumann, KölnPrint-ISBN 978-3-95441-259-4E-Book-ISBN 978-3-95441-272-3

für Carlo

Während sich der Abstand zwischen ihnen allmählich verringerte, erkannte Mondaugen, dass ihr linkes Auge künstlich war. Als sie seine Neugier bemerkte, nahm sie es entgegenkommend heraus, legte es auf ihre Handfläche und hielt es ihm entgegen. Eine durchscheinende Kugel, deren »Weißes« in der Augenhöhle seegrün schimmerte. Ein feines Netz fast mikroskopisch kleiner Risse überzog die Oberfläche. In ihrem Inneren waren die winzigen Räder, Federn und Unruhe einer Uhr, die von einem goldenen Schlüssel aufgezogen wurde, den Fräulein Meroving am Hals trug. Dunkleres Grün und goldene Flecken, die ungefähr als die zwölf Tierkreiszeichen zu erkennen waren, bildeten gleichzeitig Iris und Zifferblatt.

Thomas Pynchon, V

PROLOG

Alexander Lapuschkow, Ex-Fremdenlegionär, Marburg

El Meridj war die Hölle. Es war unser vierter Einsatz, vielleicht der fünfte. Jedenfalls ziemlich direkt nach der Grundausbildung. Die war in Mascara, im Norden von Algerien. Sechs Monate lang. Sechs verdammte Monate lang. Von Anfang an das Schlimmste, was ich bis dahin erlebt hatte, physisch wie psychisch. Dabei war ich damals super in Form, von meinem Radrenntraining her.

Jeden Morgen nach dem Wecken stand erst einmal ein »kleiner Lauf zum Wachwerden« auf dem Programm. Fünfzehn Kilometer in anderthalb Stunden. Mit vollem Marschgepäck von fünfunddreißig bis vierzig Kilo. Wer nicht in der Zeit blieb, durfte die Strecke gleich noch mal hinter sich bringen. Dann allerdings ohne Schultergurte. Die wurden zur Strafe ausgetauscht gegen Telefondraht. Und der hat sich unterwegs ins Schulterfleisch eingeschnitten und hinterher zu bösen Entzündungen geführt.

Den Rest des Vormittags über waren dann weitere körperliche Ertüchtigungen angesagt, nachmittags Einweisung in Nahkampf und Französisch und abends dann Waffenkunde mit Reinigen und Zusammensetzen des Gewehrs. Immer und immer wieder, zig tausendmal, irgendwann blind oder im Schlaf.

Und die Ausbilder allesamt Arschlöcher. Nur darauf aus, sämtliche Reste an eigenem Willen und Persönlichkeit in uns zu brechen, sämtliche Werte unseres bisherigen Lebens aus uns rauszuschleifen. Wenn es finanziell vertret- und medizinisch realisierbar gewesen wäre, hätten sie uns das Gehirn oder bestimmte Teile davon amputieren lassen, damit wir einzig und alleine für ihre Interessen funktionierten.

Einer unserer Ausbilder – Caporal Feuerbach, ich werde seinen Namen nie vergessen – war ein ganz besonders ausgemachter Drecksack. Ein Schweizer mit SS-Vergangenheit. Manchmal wache ich heute noch auf, schweißgebadet, wenn er mal wieder in einem meiner Träume aufgetaucht ist. Bei uns hieß er nur »Der Kippenbestatter«.

Wenn wir gegen Mitternacht völlig erschöpft Aufstellung genommen hatten zum Nachtappell und er seinen Blick über den Boden des Kasernenhofs wandern ließ, wussten wir, was uns bevorstand. Dann suchte er so lange, bis er irgendwo eine Kippe finden konnte. Und irgendwo lag immer eine herum. Wenn er die entdeckt hatte, wurde einer von uns zu ihm gerufen.

Ich höre heute noch sein »Engagé Volontaire Lapuschkoooowe!«, wenn ich an der Reihe war. Das hieß, im Laufschritt hin zu ihm und Aufstellung genommen. Dann ging es los.

»Was ist das Erste, was wir bei der Legion gelernt haben, Engagé Volontaire Lapuschkoooowe?«, brüllte er dann, und ich hatte zurückzubrüllen: »Das Erste, was wir bei der Legion gelernt haben, mon Caporal, ist, dass wir nichts und niemanden zurücklassen!«

»So, das ist also das Wichtigste, dass wir nichts und niemanden zurücklassen? Und warum, warum liegt dann diese arme Kippe hier?«

»Das weiß ich nicht, mon Caporal!«

»Du weißt es nicht? Soll das heißen, dass es dir egal ist, ob wir diese arme Kippe hier zurücklassen, oder was?«

»Nein, das ist mir nicht egal, mon Caporal!«

»Was, Engagé Volontaire Lapuschkoooowe, werden wir dann jetzt mit ihr machen, mit dieser armen Kippe?«

»Wir werden sie mitnehmen, mon Caporal!«

»Wir werden sie mitnehmen, aha. Und wozu werden wir sie mitnehmen, diese arme, tote Kippe?«

»Um sie mit all den militärischen Ehren zu bestatten, die jedem von uns auch zuteilwerden, wenn wir im Kampf getötet werden, mon Caporal!«

»Nun gut, wenn ihr das unbedingt wollt, dann soll es euch gestattet sein, obwohl es schon sehr spät ist und euer armer, geplagter Caporal einen anstrengenden Tag hinter sich hat und eigentlich nur noch endlich in sein Bett will – habt ihr das verstanden?«

»Ja, mon Caporal, das haben wir verstanden. Wir werden die Beisetzung so schnell und so ehrenvoll wie möglich durchführen, damit unser Caporal so bald wie möglich in sein Bett kommen kann!«

Dann hatten wir unseren Schaff, ein Grab mit den exakten Maßen von 2,20 Meter Länge auf 1,60 Meter Breite und 1,80 Meter Tiefe, in den steinigen Wüstenboden vor der Kaserne zu graben, um anschließend diese verdammte Kippe mit militärischer Grabrede, Fanfaren und Salutschüssen beizusetzen und zu guter Letzt das Loch hinterher wieder ordentlich zuzuschaufeln.

Entsprechend verkürzte sich unsere Nachtruhe um die drei bis fünf Stunden, die so ein Ritual jedes Mal in Anspruch nahm. Dieser Schlafentzug war eine systematische Strategie, um uns einer Gehirnwäsche zu unterziehen, an deren Ende wir nur noch als entmenschlichte Kampfmaschinen funktionieren sollten.

Manchmal hatten wir gerade mal zwei Stunden Schlaf, bevor es am nächsten Morgen wieder losging. Wir waren die ganzen sechs Monate lang nur müde und hungrig.

Irgendwann später habe ich gehört, dass ein Legionär, dessen Eltern in Auschwitz umgebracht worden waren, dem Caporal einen Trichter in den Hals gesteckt und ihn mit Nikotinwasser abgefüllt haben soll, bis er hinüber war. Anschließend sei er in einer Nacht-und-Nebel-Aktion neben seinen Kippengräbern verscharrt worden.

Womit wir ansonsten noch gleichermaßen ausgiebig wie sinnlos schikaniert wurden, war »Marschieren«: Stunden um Stunden stumm und tumb vor sich hin, unter sengender Sonne, meist einen Schritt vor der Besinnungslosigkeit, durch die Wüste zu marschieren.

Ich hätte es zuvor niemals für möglich gehalten, dass man angesichts des massiven Schlafentzugs, dem wir ausgesetzt waren, lernt, im Gehen zu schlafen. Dazu legt man seine linke Hand auf die rechte Schulter seines Vordermannes, um nicht auf seine Hacken zu treten, und stapft wie in Trance vor sich hin beziehungsweise hinter dem anderen her. Der Begriff »Schmerzen« erhielt in dieser Zeit eine völlig andere Bedeutung, weil wir unsere Körper zusehends weniger spürten.

Neben diesen unerbittlichen Strapazen waren unsere größten Feinde zu der Zeit die Sackratten, die wir mit Unmengen von Autan bekämpften. Bei uns hieß das Zeug nur »Sackrotan«.

Zum Ende der Grundausbildung stand ein Marsch von siebzig Kilometern mit vollem Marschgepäck auf dem Programm. Der musste innerhalb von achteinhalb Stunden absolviert werden. Wer den hinter sich gebracht hatte, wurde damit belohnt, fortan das Képi Blanc tragen zu dürfen. Als Zeichen dafür, fortan ein Légionnaire deuxième classe, ein Fremdenlegionär zweiter Klasse zu sein, was den untersten Dienstgrad in der Legion darstellte.

Wir hatten unsere Zeit bei der Legion im Fort St. Nicholas bei Marseille begonnen. Da waren wir eine Woche lang auf Herz und Nieren geprüft und über alles ausgefragt worden, was wir in der Vergangenheit hinter uns gebracht hatten. Von besonderer Wichtigkeit dabei war, dass man kein Mörder oder Vergewaltiger war, denn dann wäre man von der Legion abgelehnt worden. Den ganzen Rest, den man vielleicht angestellt hatte, interessierte kein Schwein.

Als wir diese Untersuchungen hinter uns hatten, wurden wir als Engagés Volontaires, als Fremdenlegionärs-Anwärter, von Marseille aus nach Nordafrika verschifft. Ich weiß noch genau, was das für ein Gefühl war, als wir da in den Hafen von Oran eingelaufen sind. Diese alles durchdringende erbarmungslose Hitze, die einem da entgegenschlug, dass man die Augen zusammenkniff. Diese Gerüche nach fremden Gewürzen, Schweiß, Ratten, Müll, Öl und Sperma, die da in der Luft hingen und in alles hineinkrochen, was man am Leibe trug.

Von Oran ging es dann mit LKWs vier Stunden lang weiter nach Sidi bel Abbès, wo das Mutterhaus der Legion in Algerien war. Dort fand die Aufteilung zu den Ausbildungsgarnisonen entsprechend der Kampfverbände statt. Ich hatte mich zu den »Paras« gemeldet, den Parachutistes, auf Deutsch: Fallschirmjäger.

Diese Entscheidung hatte ich getroffen, weil mein seinerzeit bester Freund, der Ludwig, auch dorthin wollte. Er sei schon im Zweiten Weltkrieg bei den Fallschirmjägern gewesen, hatte er gesagt. Außerdem bekam man dort ein wenig mehr Sold als bei den anderen Waffengattungen.

Im Anschluss an die Ausbildung, während der wir sechs Absprünge aus achthundert Metern Höhe absolvieren mussten, wurden wir ins Fort Ksar el Hirane in der Nähe von Leghouat versetzt, an den südlichen Rand des Atlas-Gebirges. Von dort aus fand dann auch unser Einsatz in El Meridj statt, einem Dreckskaff an der tunesischen Grenze: rissige Lehmstrohhütten, hässliche Gassen, dürre, von Ziegen angefressene Bäume.

Dort war eine Patrouille des REI, des Infanterieregiments der Legion, in einen Hinterhalt geraten und hatte innerhalb weniger Stunden sechs Kameraden verloren. Der Trupp hatte den Ort bereits passiert und nichts Besonderes beobachten können. Nur alte Frauen hatten vor den Eingängen gehockt und die Legionäre misstrauisch durch die Schlitze ihrer Schleier gemustert.

Dann, als die Infanteristen schon aus dem Ort heraus waren, wurde plötzlich von hinten auf sie geschossen, vier-, fünfmal. Zwei von ihnen hatte es sofort erwischt, beide tot. Es konnte nicht ausgemacht werden, woher die Schüsse gekommen waren.

Nachdem es in den nächsten Stunden weitere Kameraden von uns erwischt hatte und man immer noch nicht ausmachen konnte, von wo aus geschossen worden war, wurden wir angefordert.

Wir, die Paras vom 1. REP, dem Ersten Fallschirmjägerregiment der Fremdenlegion, waren generell dafür zuständig, anderen Einheiten zu Hilfe zu kommen, wenn die in Schwierigkeiten geraten waren. Wir galten gemeinhin als besser ausgebildet, schlagkräftiger und gefährlicher als die anderen Kampfverbände der Legion. Und letztendlich waren wir das auch.

Knapp anderthalb Stunden später, nachdem wir von Ksar el Hirane aus angefordert wurden, waren wir dreihundert Meter über El Meridj aus einer alten JU52 ausgestiegen. Noch im Niederschweben hatte es zwei von uns erwischt.

Und gleich nach unserer Gruppierung am Boden zog ein Samum auf, ein Sandsturm, der einem mit unerträglicher Hitze die Luft zum Atmen abschnürt und wie mit Fäusten auf die Augen schlägt, wodurch die Sicht nur noch für wenige Meter reicht.

Wir kämpften uns von einer der Lehmhütten zur nächsten, traten Türen ein und feuerten auf alles, was sich bewegte. Und zwischendurch peitschten immer wieder Feuerstöße durch den Ort, die nicht aus unseren halb automatischen MAS 49/56-Gewehren stammten, sondern nach russischen Kalaschnikows klangen.

Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie lange wir so zugange waren, bis auf einmal ein Fellagha, ein Aufständischer, vor mir stand. Ich hatte ihn zuerst gar nicht bemerkt, weil sein Kaftan farblich nicht von den Lehmhäusern und dem Sandsturm zu unterscheiden war. Er hatte sein Gewehr auf mich gerichtet, und ich wusste, dass ich keine Chance mehr hatte.

Es war mir in dem Moment klar wie Kloßbrühe, dass es nur noch das Krümmen seines rechten Zeigefingers brauchte, um mir den Garaus zu machen.

Meine Gedanken liefen Amok. Ich dachte an meine armen Eltern, wie sie reagieren würden, wenn sie von meinem Tod erfuhren, an meine Schwestern, an all das, was ich in meinem Leben noch erleben wollte, an den Flug hierher, daran, dass ich bis eben noch am Leben war, gleich aber tot sein würde. Tot für immer.

Und während diese Gedanken wie böse Tiere mein Hirn zerfraßen, bemerkte ich, wie sich in meiner Hose eine unangenehme, warme Nässe ausbreitete. Kein Zweifel, ich hatte mir vor Angst in die Hose gemacht, vorne und hinten. Und gleichzeitig begann ich auch noch so sehr mit den Knien zu zittern, dass ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte.

Dann erkannte ich plötzlich das Gesicht des Mannes in dem Kaftan. Er mochte knapp fünfzig gewesen sein, hatte einen schwarz-grauen Vollbart und musterte mich und meine ungewollte Entleerung, bis er plötzlich begann, mich zu beschimpfen. Ich konnte kein Wort von dem verstehen, was er da auf mich losließ. Aber der Tonfall seiner Schimpftirade ließ mich vermuten, dass er meinte, ich Grünschnabel solle mit meinen vollen Hosen gefälligst das Weite suchen.

Ich hatte keine Ahnung, was geschehen war. Hatte ich mehr Glück als Verstand gehabt oder wollte dieser Mann mich doch noch von hinten abknallen, wenn ich mich entfernen würde?

Nach drei, vier Schritten, bei denen ich irrsinnigerweise gedacht habe, wie gut es doch sei, dass die Gamaschen, die ich über meinen Schuhen trug, das Eindringen meiner Exkremente in die Schuhe verhinderten, vernahm ich hinter mir ein Geräusch, von dem ich meinte, dass es vom Hinfallen eines Getreidesacks hätte stammen können.

Als ich mich umgewandt hatte, stand dort aber der Befehlshaber unseres Einsatzes, Colonel Heidorn. Er hatte ein großes Opinel in der Hand, ein französisches Klappmesser, mit dem er ganz offensichtlich den Fellagha von hinten erstochen hatte. Der Mann lag tot am Boden. Aus seinem Mund rann Blut, und Colonel Heidorn streifte die Klinge seines Messers an dem Kaftan des Mannes sauber.

Ich schrie: »Warum denn das? Er hat mir doch gar nichts getan!«

»Ta gueule!«, schrie er zurück, was so viel hieß wie: »Halt die Fresse!« Dann fuhr er nach einer kurzen Pause erstaunlich ruhig fort: »Ich weiß, er war ein feiner Kerl.«

»Aber warum musste er dann sterben, warum konnten wir ihn nicht einfach gefangen nehmen?«

»Weil er es nicht verdient hätte«, entgegnete der Colonel, »wir hätten ihn zur Vernehmung ans Deuxième Bureau überstellen müssen. Du weißt, was da mit ihm geschehen wäre?«

Ich wusste, dass das Deuxième Bureau der Geheimdienst der französischen Armee war. Dessen Aufgabe war es seinerzeit, aus gefangen genommenen FLN-Mitgliedern Informationen herauszufoltern. Dies geschah in sogenannten »Räumen zur Informationsbeschaffung« oder »Laboratorien«. Die am meisten angewandten Foltermethoden waren der Chiffon und die Gégène.

Beim Chiffon wurde ein Lappen in einen Eimer mit Kot und Urin getränkt, um ihn dem Gefolterten in den Mund zu stecken, bevor er sodann mit Wasser vollgepumpt wurde.

Bei der Gégène wurde der Gefolterte auf eine Bank gefesselt und mit Wasser überschüttet, während man ihm an den Genitalien und anderen Extremitäten Kontakte anklemmte, um schmerzhafte Stromstöße durch seinen Körper zu jagen. Unterwegs im Feld wurde der Strom mit handbetriebenen Dynamos erzeugt, die auch für den Betrieb von Funkgeräten eingesetzt wurden.

Nach ausgiebigem Einsatz dieser beiden Foltermethoden wurden die Opfer dann zumeist mit den Händen nach oben derart an ein Rohr oder eine Wand gefesselt, dass ihre Füße knapp über dem Boden hingen. In dieser Position wurden sie dann zwischen acht und zwölf Tage lang ohne Essen und Trinken hängen gelassen, bis sie schließlich tot waren.

»Nur die wenigsten überleben ein Verhör des Deuxième Bureau, nur die allerwenigsten. Und die sind hinterher gezeichnet für den Rest ihres Lebens.«

»Ja, aber ...«, wollte ich sagen, aber der Colonel kam mir zuvor: »Kein Aber. Wenn du in die Hände der Fellagha gerätst, kann ich dir nur wünschen, dass du auch an jemanden gerätst wie mich; an jemanden, der dir ein Messer in den Rücken jagt, bevor sie dir dein Gemächt abschneiden und in den Mund stecken, bis du daran erstickst. Hast du mich verstanden, Legionär deuxième classe, Lapuschkoooowe?!«

»Oui, mon Colonel, ich habe Sie verstanden!«

Am Ende dieses Tages hatten wir fast zwei Dutzend unserer Kameraden verloren. Dem Ludwig hatten sie ein Auge weggeschossen, und einem von uns, einem Italiener namens Elio, der auf eine Mine geraten war, hatte es beide Beine weggefetzt. Und alles, was ihn hinterher interessiert hat, war, ob untenrum noch alles dran wäre bei ihm.

Ich weiß nicht mehr wie, aber irgendwann waren wir tatsächlich wieder zu Hause in unserer Kaserne und konnten auch mal wieder schlafen.

Ich erinnere mich noch genau an die erste Nacht nach dem Einsatz in El Meridj. Ich hatte von der Kaserne in Sidi bel Abbès geträumt, von der Kaserne und dem Spruch über dem Eingang: Legionär, du bist hier, um zu sterben.

GÖTZ’ GARTEN

Stefan Kolb, Polizeihauptmeister im Streifendienst, Gießen

Er war ein alter Mann, und er saß leblos in einem Ohrensessel. In seiner Brust steckte ein Messer, und neben ihm auf dem Boden lag ein Papierstreifen. Darauf stand: letzte Nacht in Finsterloh.

Das Messer in der Brust sah aus wie ein großes, französisches Opinel. Daneben waren Spuren von weiteren Einstichen zu sehen. Das hellblaue Hemd und alles um ihn herum war eingesaut mit Blut bis runter zu seiner schicken, beigefarbenen Manchesterhose.

Der Ohrensessel, auf dem er saß, war aus genopptem Rindsleder und hatte bestimmt mal eine schöne Stange Geld gekostet. Der Papierstreifen sah aus, als wäre er aus einem Text oder einem Brief herausgerissen worden. Die Wörter von Hand geschrieben, akkurat, mit leichter Schrägung nach rechts. Die blaue Tinte bereits verblasst – letzte Nacht in Finterloh.

Keine Frage, der Mann war tot. Sein Kopf nach hinten in den Nacken abgeknickt, sein leerer Blick zur Decke des Raums gerichtet, vor ihm im Fernsehen eine Dokumentation über Gorilla-Nachwuchs im Frankfurter Zoo.

Ich wollte auf Nummer sicher gehen und tastete nach seinem Puls, derweil mein Kollege, der Andreas Richling, den Raum mit seinem Smartphone abfotografierte. Eigentlich gehört das nicht zu seinen Aufgaben. Aber vor ein paar Wochen war ihm ein Fotoband mit dem Titel Feuerteich in die Hände gefallen. Das Buch war aus dem Jahr 1989 und enthielt Fotos, mit denen seinerzeit ein Polizist namens Fred Prase seine Arbeit im Frankfurter Bahnhofsviertel dokumentiert hatte.

Diese Fotos haben den Andreas so sehr beeindruckt, dass er angefangen hat, ebenfalls während seiner Arbeit zu fotografieren. Ich hatte ihm gesagt, er solle sich besser vorher das Einverständnis der Präsidiumsleitung einholen – nicht, dass es Ärger gab – aber er hat nur gemeint, so etwas würde erst anstehen im Falle einer Veröffentlichung.

Während ich das linke Handgelenk des Mannes abtastete, ging plötzlich die Tür zum Flur auf. Zum dritten Mal, seitdem wir den Raum betreten hatten. Wieder wollte sich jemand persönlich davon überzeugen, dass Roland Engel mit einem Messer in der Brust tot in seinem Sessel saß. Diesmal eine ältere Dame mit hochgesteckten, grauen Haaren und einem Morgenmantel mit aufgestickten Asia-Ornamenten.

Vom Flur aus rief eine Frauenstimme: »Geh da nicht rein, Margit, tu dir das nicht an!«

»Bleiben Sie draußen, bitte!«, rief ich zu der Frau.

»Oh Gott, nein ...!«, entfuhr es ihr, bevor der Andreas sie höflich, aber bestimmend zur Tür hinausbugsieren konnte.

Der Raum befand sich im dritten Stock der Seniorenresidenz Götz’ Garten, der ersten Adresse unter Gießens Altenheimen. Wer hier, in unmittelbarer Nähe des Schwanenteichs, seinen Lebensabend verbringt, der hat eine fette Altersversorgung im Rücken. Der Flur vor dem Raum war voll mit Bewohnern, die mitbekommen hatten, dass etwas mit Roland Engel geschehen war.

Die Nachricht, dass er möglicherweise ermordet wurde, hatte sich in dem Haus verbreitet wie ein Lauffeuer. Weil man nicht glauben wollte, dass so etwas in diesem Haus passiert sein könnte, waren einige Bewohner nicht davon abzuhalten, sich eigenmächtig Zugang zu Roland Engels Appartement zu verschaffen.

»Kümmer dich um sie«, hatte ich dem Andreas zugerufen, »und geh raus aufpassen, dass nicht noch jemand reinkommt!«

Der Andreas und ich, wir waren sozusagen die Vorhut. Die Einsatzleitstelle hatte uns hergeschickt, weil beim Notruf eine Meldung eingegangen war, dass es hier einen Toten gegeben habe. Der Anrufer war offenbar so durch den Wind gewesen, dass er sofort nach der Meldung aufgelegt hatte.

Weil es ja nun mal nichts Ungewöhnliches ist, dass in Altersheimen Menschen sterben – jedenfalls eher, als in anderen Häusern –, sollten wir erst mal die Lage sondieren, erst mal rauskriegen, was überhaupt passiert sei.

Als wir eintrafen, kam uns im Foyer schon der Hausmeister entgegen.

»Haben Sie uns gerufen?«, hatte ich gefragt.

»Ja, kommen Sie schnell«, hatte er geantwortet, »im dritten Stock, besser die Treppe hoch, nicht mit dem Fahrstuhl!«

So sind wir dann hinter ihm her hoch in den dritten Stock zu dem Appartement des Dr. Roland Engel. Das bestand aus zwei durch einen großzügigen Rundbogen miteinander verbundenen Räumen. Der größere der beiden war eine Mischung aus Büro und Wohnzimmer, der kleinere ein Schlafzimmer.

Auf dem Nachttisch im Schlafzimmer stand ein vergoldeter Bilderrahmen mit einem Foto des toten Mannes und einer eleganten Dame in seinem Arm, vermutlich seine Ehefrau. Beide freudig in die Linse lachend, der Kleidung nach mochte die Aufnahme zwanzig Jahre alt sein. Der Büroteil vollgestellt mit Regalen. Darin Bücher, Aufbewahrungskartons und Aktenordner ohne Ende. Daneben ein Akkordeonkoffer und an den Wänden rundherum irgendwelche moderne Kunst.

Am linken Rand des Durchgangs zum Schlafzimmer-Trakt eine mannshohe Glasvitrine mit drei eleganten Hüten darin. Auf kleinen Beschriftungsplaketten war zu lesen, dass es sich um einen Homburger von Stetson handelte, einem Heisenberg von Goorin und einen Pork-Pie von der ehemaligen Hutmanufaktur Bramm in Gießen.

In der Mitte der Vitrine befanden sich zwei aufgeklappte Holzschatullen, die mit blauem Samt ausgekleidet waren – mit jeweils fünf hochwertigen Armbanduhren darin.

Neben dem Schreibtisch eine Pinnwand aus Kork an der Wand. Daran befestigt Ansichtskarten, Quittungen, Fotos und übergroß ein Artikel aus der Frankfurter Rundschau. Überschrift: Alter schützt vor Kampflust nicht.

In den Textfluss eingebunden ein Foto von Roland Engel auf einer Demo mit einem Transparent: Wir sind alt und nicht doof. Darunter als Bildzeile: Ein engagierter Kämpfer für menschenwürdige Behandlung im Alter.

Ich rief mit meinem Handy die Einsatzleitstelle an: »So wie es aussieht: Mord«, meldete ich mich, »wir brauchen das volle Programm: Absperrung, Kripo, Spurensicherung, Rechtsmedizin, alles.«

AUFSTELLUNG

Melanie Pospyschil, Fahrstuhlprüferin, Frankfurt am Main

Du bist meine Tochter«, hatte er gesagt und mir seine Hand auf die linke Schulter gelegt.

Daraufhin bin ich aufgestanden und zu der Bühne in den vorderen Teil des Raums gegangen. Dort waren bereits seine Ex-Frau von ihm aufgestellt worden, sein Sohn, sein Bruder, seine Mutter, sein Vater und auch eine Person, die für ihn selbst stehen sollte.

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