Finsternis im Herzen - Julia Neumann - E-Book
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Julia Neumann

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Beschreibung

Kriminaloberkommissarin Eva Langenberg ermittelt in ihrem ersten Fall in der Düsseldorfer Mordkommission, der sie tief hinein führt in einen blutigen Konflikt in Afrika. Für alle Leser von Deon Meyer und Mike Nicol Der afrikanische Adoptivsohn eines Düsseldorfer Industriellenpärchens wird ermordet. Die einzige Zeugin, seine Schwester Rahima, schweigt. Die beiden Kinder wohnen erst seit wenigen Tagen in Düsseldorf und befanden sich bis vor kurzem in der Gefangenschaft kongolesischer Rebellen. Ist dort das Motiv für den Mord zu finden? Ihr erster Fall führt Kommissarin Eva Langenberg an die Grenzen ihrer heilen Welt. Sie findet sich bald in einem Geflecht aus Korruption, Lügen und Verrat wieder. Und je mehr Eva ermittelt, desto tiefer wird sie hineingezogen in einen der blutigsten und tragischsten Konflikte des schwarzen Kontinents.

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Inhalt

Cover & Impressum

Präambel

Demokratische Republik Kongo – 2006

Tomke Krieger versuchte …

Düsseldorf heute

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

Montag

2006

Dienstag

Nachwort

Weitere Informationen zum Thema

 

Tantal: Seltenes chemisches Element. Symbol Ta, Ordnungszahl 73. Benannt nach König Tantalos, dem Sohn des Zeus und der Pluto, der durch Habgier und Hochmut die Gunst der Götter verspielte. Zur Strafe musste er ewige Qualen erdulden, und seine Nachkommen wurden zu einem Leben voller Verbrechen und Gewalt verdammt.Hauptvorkommen: Zentralafrika

Demokratische Republik Kongo – 2006

 

Tomke Krieger versuchte, unauffällig zu gähnen, während er Obadele auf der Suche nach Berggorillas durch den kongolesischen Regenwald folgte. Er riss sich zusammen, schließlich wollte er einen möglichst guten Eindruck an seinem ersten Tag als Wildhüter hinterlassen. Bemüht, keine Geräusche zu machen, die die Tiere verschrecken könnten, schlich er hinter seinem neuen Chef durch den Virunga-Nationalpark.

Milchig weißer Nebel kroch die Hänge des Vulkans herauf. Schemenhaft erhoben sich die Wipfel der großen Akazien und Baumfarne aus dem dichten Gestrüpp von Bananen- und Kletterpflanzen. An klaren Tagen konnte man angeblich bis zu den schneebedeckten Spitzen des Ruwenzori-Gebirges sehen, die jenseits der Grenze in Uganda lagen. Jetzt reichte der Blick kaum zwanzig Meter in den Wald hinein. Es war definitiv nicht der beste Tag für eine Erkundungstour durch den Nationalpark. Aber Obadele war davon ausgegangen, dass Tomke darauf brennen würde, die Tiere zu sehen. Und Tomke wollte ihn in dieser Annahme nicht enttäuschen. Er hatte seinen Lebenslauf ein wenig aufpoliert, um überhaupt eine Chance auf die überraschend gut bezahlte Stelle bei der zoologischen Gesellschaft Frankfurt zu haben. Er musste dringend seine Reisekasse aufbessern, da konnte er wohl kaum zugeben, dass sich seine Erfahrungen mit Tieren auf wenige Wochen in einer Auswilderungsstation von Gibbon Affen in Thailand beschränkten. Und auch damals hatte er sich weniger für die Affen interessiert als für die Touristinnen, die viel Geld dafür bezahlten, eine Woche lang die Gehege ausmisten zu dürfen.

Obadele blieb plötzlich stehen, und fast wäre Tomke gegen ihn geprallt. Ein Schatten bewegte sich vor ihnen im Nebel. Allerdings war er erstaunlich klein. Sie mussten auf ein Jungtier gestoßen sein.

Zu Tomkes Überraschung hob Obadele sein Gewehr und rief etwas auf Suaheli. Kurz darauf standen vier abgemagerte Jungen in zerrissenen Kleidern vor ihnen.

»Refugees«, erklärte Obadele in brüchigem Englisch. Flüchtlinge.

Mit der Waffe im Anschlag ging Obadele auf die Jungen zu und durchsuchte sie. Ein paar abgebrochene Äste und ein rostiges Taschenmesser waren seine einzige Ausbeute. Tomke hatte Mitleid mit den Vieren, die ihn aus angsterfüllten Augen anstarrten. Obadele offensichtlich nicht.

»They want to eat monkeys«, sagte er mit düsterem Blick und deutete den Jungen mit seinem Gewehr an, vor ihnen herzugehen.

Kinder, die Affen essen wollten – wo war er hier nur gelandet?

Gemeinsam stolperten sie schweigend zurück durch den dichten Nebel Richtung Basisstation. Die abwesenden Gesichter der Jungen lösten in Tomke ein Gefühl des Verlorenseins aus, gegen das er sich nicht wehren konnte. Erleichtert atmete er auf, als die Umrisse des Camps zwischen den Bäumen im Nebel auftauchten.

Das Lager bestand aus einem guten Dutzend Strohhütten, die sich um einen Bürocontainer scharten. Ohne sonderlich großes Interesse nahmen die anderen Mitarbeiter des Camps die vier Flüchtlinge zur Kenntnis. Die Jungen stürzten sich auf den Maniokbrei, den die Köchinnen ihnen vorsetzten, als hätten sie seit Tagen nichts mehr gegessen – was vermutlich auch der Fall war. In kurzen Sätzen antworteten sie auf die Fragen des Dolmetschers, um keine Zeit zu verschwenden, die sie mit Essen verbringen konnten.

Sie seien aus einem Dorf am Fuße des Berges geflüchtet, das vor einigen Wochen von Rebellen der FDLR, den »Demokratischen Kräften zur Befreiung von Ruanda«, überfallen und angezündet worden war, übersetzte der Dolmetscher. Die Männer hätten auf jeden geschossen, der in ihren Augen wie ein Tutsi aussah. Sie hätten sich seitdem im Wald versteckt, erklärten die Jungs, und wüssten nicht, wo sie jetzt hingehen sollten.

Tomke hatte Schwierigkeiten, den Schilderungen Glauben zu schenken. Aber die anderen schienen nicht sonderlich überrascht zu sein. Dabei herrschte doch seit 2002 laut Internet offiziell Frieden im Kongo. Kein Wunder, dass er den Job so leicht bekommen hatte, dachte er bei sich. Vermutlich war er der einzige Bewerber gewesen.

 

Am Abend, nachdem die Mitarbeiter des Camps gemeinsam gegessen hatten, zog sich Tomke mit einer Flasche Tullamore Dew aus dem Duty-Free-Shop des Flughafens in seine Hütte zurück. Er überlegte, wie er wohl am schnellsten wieder aus dem Kongo herauskommen könnte. Für den Hinweg hatte die Zoologische Gesellschaft Frankfurt ihm eine Mitfluggelegenheit bei der UN für die Strecke von Kinshasa nach Goma organisiert. Dort hatte Obadele ihn mit dem Geländewagen des Camps abgeholt. Vollbepackt mit den Wocheneinkäufen, hatten sie den Rückweg über völlig zerstörte Straßen und überwucherte Waldwege angetreten.

Ihm würde nichts anderes übrig bleiben, als auf die nächste Einkaufstour nach Goma zu warten und zu hoffen, dass die UN so freundlich war, ihn auch wieder zurück in die Zivilisation zu fliegen. Das hieß, dass er eine Woche hierbleiben musste. Aber so würde er wenigstens die Berggorillas zu Gesicht bekommen und sich nicht völlig blamieren, wenn er in der nächsten Strandbar von seinem Kongoaufenthalt erzählte. Eine halbe Stunde später dachte er bereits darüber nach, wohin er als Nächstes wollte. Vielleicht zurück nach Indien? Da war das Leben immer noch unschlagbar günstig. Oder doch lieber Australien, überlegte er, als er – vom Whiskey betäubt – auf seiner harten Strohmatte einschlief. Ein Papagei kreischte direkt vor seinem Fenster laut auf, die Affen schrien im Urwald, aber Tomke bekam davon nichts mehr mit.

 

Wenige Stunden später wachte er plötzlich auf, weil die Geräuschkulisse des Urwalds mit einem Mal verstummte. Selbst die Riesengrillen hörten auf zu zirpen. Die Dunkelheit umschloss das Camp mit einer drückenden Wärme. Tomke brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Er wusste instinktiv, dass etwas nicht stimmte, noch bevor die Schüsse durch die Nacht peitschten. Immer noch vom Alkohol benebelt, stolperte er aus seiner Hütte. Obadele rannte ihm in verschlissenen Boxershorts mit seinem Gewehr in der Hand entgegen und rief, dass die Rebellen in ihre Richtung zogen.

Im Mondschein der sternklaren Nacht wirkte das Lager völlig irreal. Die unsanft aus dem Schlaf gerissenen weißen Camp-Mitarbeiter liefen kopflos auf der Suche nach ihren Wertgegenständen und Nottaschen durcheinander, während sich die schwarzen Männer bewaffneten. Tomke war für einen Moment unentschlossen, ob er den Afrikanern nicht beistehen sollte. Schließlich entschied er sich aber doch, dass ihn das alles nichts anging. Das hier war nicht sein Konflikt. Er verstand ihn noch nicht einmal. Und er hatte nicht das geringste Bedürfnis, für ihn zu sterben. Er half den Angehörigen der Waldhüter auf die Ladefläche des alten Toyota-Geländewagens. Erste Kugeln durchbohrten die Container der Forscher, die Rebellen waren unmittelbar davor, in das Camp einzudringen. Die Schüsse kamen immer näher. Schließlich sprang Tomke zu einer pensionierten Lehrerin, die immer noch ihr Nachthemd trug, und einem vollkommen hysterischen Wissenschaftler ins Führerhaus. Die beiden stritten darüber, ob sie die Gorillawaisen, die das Camp beherbergte, mitnehmen sollten. Der Forscher schuf Fakten und startete unter dem Protest der Lehrerin den Wagen. Tomke konnte durch das Rückfenster bereits erste Wildhüter sehen, die vor den anrückenden Rebellen zurück ins Camp flüchteten. Er roch Rauch, irgendwo brannte es. Entsetzt beobachtete er, wie einer der Männer von einer Kugel getroffen wurde und zusammenbrach. Der gellende Schrei einer Frau auf der Ladefläche fuhr ihm durch Mark und Bein. Er wurde unsanft gegen das Armaturenbrett geschleudert, als der Fahrer eine Vollbremsung hinlegte. Vor ihnen stolperte Obadele mitsamt seiner Frau und ihren sieben Kindern aus dem Wald. Hektisch versuchte der Fahrer, ihn mit Handzeichen aus dem Weg zu scheuchen. Doch Obadele weigerte sich, den Weg freizugeben, bevor seine Kinder nicht einen Platz auf dem Pick-up hatten. Tomke sprang aus dem Wagen und hob ein Kind nach dem anderen auf die bereits gut gefüllte Ladefläche, wo sie von den helfenden Händen der anderen Passagiere entgegengenommen wurden. Immer wieder schaute er nervös in die Richtung, aus der die Schüsse hallten. Als auch Obadeles Frau auf dem Pritschenwagen saß, trat der Wildhüter endlich zur Seite. Keinen Moment zu früh, erste Schüsse schlugen bereits in den Waldweg nur wenige Meter hinter dem Fahrzeug ein. Halbherzig versuchte Tomke, Obadele zum Mitfahren zu überreden, aber dieser schüttelte nur gefasst den Kopf. Er musste die Rebellen aufhalten, damit die anderen eine Chance hatten, zu fliehen. Eine Gewehrsalve aus Richtung der Maniokfelder machte eindringlich klar, dass die Männer jetzt auch dabei waren, von einer zweiten Seite aus anzugreifen.

»You look after my family«, sagte Obadele ernst. Du kümmerst dich um meine Familie.

Er schaute Tomke direkt in die Augen. Tomke nickte. »Yes.«

Dann verschwand der Wildhüter im Wald. Tomke sprang gerade noch rechtzeitig mit zitternden Knien auf die Ladefläche, als der Wissenschaftler wieder Gas gab.

Düsseldorf heute

Sonntag

Eva Langenberg und ihr Mann Lars hatten gekocht. Etwas Leichtes, Fischfilet mit Senfsauce, grünen Bohnen und Reis, weil sie danach noch etwas vorhatten. Sie wollten ein Baby machen. Eva war im letzten Monat 36 Jahre alt geworden, es wurde also langsam Zeit. Alle ihre Freunde hatten bereits Familien gegründet. Eva schob den halbvollen Teller von sich. Normalerweise liebte sie es, mit Lars zu kochen. Und danach gemütlich vorm Fernseher zu sitzen und seine Weinsammlung zu dezimieren. Für andere Hobbys ließ ihnen sein stressiger Klinikalltag auch kaum Zeit. Aber heute bekam sie ihr Essen einfach nicht herunter.

»Möchtest du einen Espresso?«, fragte Lars, der offenbar auch Zeit schinden wollte, bevor es zur Sache ging.

Eva nickte und beobachtete ihren Mann, der die beiden Teller in die Spüle stellte und sich an seinem heiß geliebten Edelstahlkaffeeautomaten zu schaffen machte. Ein Designerstück, das er sich selbst zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Mit geübten Bewegungen ließen seine Chirurgenfinger den Siebträger in seine Halterung einrasten. Er drückte auf Start und beobachtet die dampfende Flüssigkeit, die durch das Pulver in die Tassen gepresst wurde, als müsse sie dabei beaufsichtigt werden.

Eva wurde mulmig, wenn sie an das dachte, was sie gleich tun würden. Sie mochte Kinder. Keine Frage. Aber bei dem zahlreichen Nachwuchs ihrer Freunde hatte sie sich einen guten Eindruck davon verschafft, was auf sie zukommen würde, wenn sie die Verantwortung für einen neuen Menschen übernahm. Und sie war sich nicht sicher, ob sie das wirklich wollte. Trotzdem, manchmal konnte sie förmlich spüren, dass etwas in ihrem Leben fehlte. Sie hatte einen guten Job, einen Mann, um den sie jede Frau beneidete – rein objektiv ging es ihr so gut wie noch nie. Und doch spürte sie diese Leere tief in sich drin. Ein Kind würde diese Lücke füllen. Hoffte sie.

 

Lars zog die schweren Vorhänge im Schlafzimmer zu und zündete Kerzen an. Das hatten sie lange nicht mehr getan. Allerdings war es auch sehr lange her, dass sie sich überhaupt Zeit für Sex genommen hatten. Meistens fielen sie abends todmüde nebeneinander ins Bett und schliefen auf der Stelle ein. In letzter Zeit hatte sie manchmal sogar während des Akts auf den Wecker geschaut und die Stunden gezählt, die sie noch würde schlafen können. Aber war das nicht normal, wenn man so lange zusammen war?

Eva legte ihre Brille auf ihr Nachttischchen. Lars trat zu ihr ans Bett und küsste sie, ein wenig unbeholfen. Dann ließen sie sich auf das breite Bett sinken. Lars rollte sich zur Seite, um sein Hemd besser aufknöpfen zu können. Eva hatte es mit ihrem dünnen Pulli leichter. Mit geübten Bewegungen zogen sie sich aus. Eva hatte extra neue Unterwäsche gekauft, die unbeachtet auf dem Holzparkett landete. Jetzt waren sie beide nackt.

Lars drehte sich zu ihr, streichelte ihren Hals, ihre Brüste, während sie versuchte, sich zu entspannen. Doch es wollte ihr einfach nicht gelingen. Sie hielt seine Hand fest, die sich routiniert nach unten vorarbeitete. Er öffnete die Augen und schaute sie überrascht an.

»Alles in Ordnung?«

»Ja. Nein.« Direkt neben dem Bett stand Max, Lars’ alter Kater, der sie missbilligend anschaute. »Irgendwie hab ich mir das anders vorgestellt – romantischer«, erklärte sie.

»Das kriegen wir schon hin«. Lars deutete ihr an, sich auf den Bauch zu legen. Eva drehte sich um, und wie zufällig schubste sie dabei ein Kissen vom Bett, das auf dem Kater landete; mit einem beleidigten Maunzen trottete er davon. Lars begann ausgiebig, ihren Nacken zu massieren. Die Anspannung ließ langsam nach. Lächelnd drehte sie sich um und küsste ihn. Sie hatten sich seit Ewigkeiten nicht mehr richtig geküsst.

»Besser?«, fragte Lars.

»Allerdings.«

Das könnte der Beginn eines neuen Lebens sein, dachte Eva, als Lars in sie eindrang. Wenige Minuten später spürte sie, dass er kurz davor war, zu kommen. Für einen kurzen Moment zog sich etwas in ihr zusammen.

Da klingelte ihr Handy.

»Nicht jetzt, das darf nicht wahr sein«, erklärte Lars keuchend. »Ich hab Bereitschaft, ich muss drangehen«, erwiderte Eva, und Lars ließ sich frustriert auf den Rücken fallen. Eva griff nach ihrer Brille und lief durch den ewig langen Flur ihrer geräumigen Altbauwohnung ins Wohnzimmer, in dem ihr Telefon unermüdlich vor sich hin klingelte.

 

»Ich bin sofort da«, versprach sie ins Handy und notierte die Adresse.

»Ein Toter, in Kaiserswerth«, erklärte sie Lars, als sie auf dem Weg in ihren begehbaren Kleiderschrank am Bett vorbei kam. »Ankleidezimmer« nannte sie diesen Raum insgeheim.

Fertig angezogen, eilte sie zurück ins Wohnzimmer. Lars saß inzwischen vor seinem Laptop. Max lag zufrieden schnurrend neben ihm. »Versuch bitte, leise zu sein, wenn du zurückkommst. Ich muss morgen früh raus«. Er bemühte sich erst gar nicht, seinen Unmut zu verbergen.

Vor dem Fenster zerrten Windböen an den Ästen der Ginkgobäume und kündigten den ersten Herbststurm an. Bald würde es regnen. »Glaubst du nicht, dass ich den Abend lieber mit dir verbringen würde?«, fragte Eva ihren Mann.

»Warum tust du es dann nicht?«, antwortete er. Lars hatte nie verstanden, warum es ihr so wichtig war, noch befördert zu werden, bevor sie Kinder bekam. Er verdiente schließlich genug Geld für sie beide.

Eva seufzte, während sie ihre Walther P99 aus dem kleinen Tresor nahm und vorsichtig an ihrem Gürtel befestigte. Sie war zwar gesichert, aber Eva befürchtete trotzdem, dass sich irgendwann ein Schuss aus ihr lösen könnte.

Lars stand auf und trat zu ihr. »Ich will dich ja unterstützen. Aber ab und zu will ich dich auch sehen«, erklärte er und legte die Arme um sie. »Und dieses Ding passt einfach nicht zu dir«, fügte er mit einem Blick auf ihre Waffe hinzu.

Eva lächelte ihn an. »Sobald ich schwanger bin, lass ich mich wieder in den Innendienst versetzen. Versprochen.«

***

Vor der Villa in Kaiserswerth hatte sich bereits die lokale Presse versammelt. Ihre Autos blockierten sämtliche legalen und weniger legalen Parkplätze, sodass Eva ihren VW Passat ein ganzes Stück die Straße hinunter abstellen musste. Graue Wolken zogen über den Himmel, heute würde es schnell dunkel werden. Es roch nach Regen. Das Blaulicht eines Streifenwagens warf seinen flackernden Schein auf den Gehweg und die Bäume, die die breite Allee säumten. Kriminalhauptkommissar Carsten Dreier, Evas neuer Chef, stand vor einer hohen Mauer auf dem Bürgersteig und stritt sich mit einem Journalisten. Er gab einem uniformierten Kollegen ein Zeichen, die Tür in dem metallenen Tor zu öffnen, als Eva bei ihm ankam.

»Die werden immer dreister«, begrüßte er seine Mitarbeiterin. Sie zwängten sich durch den Spalt, den die Tür freigegeben hatte. Lautstark konkurrierten die Kameramänner und Fotografen um den besten Schuss auf das Grundstück. Nachdem sich die Tür wieder geschlossen hatte, herrschte mit einem Mal Ruhe. Eva hatte Mühe, mit Dreier Schritt zu halten, während sie durch den großzügigen, perfekt gepflegten Vorgarten der Villa eilten.

»Die anderen sind schon da«, sagte Dreier. Klang da ein leiser Vorwurf mit? Sie liefen um das zweigeschossige Gebäude herum, das im kühl eleganten Bauhausstil gehalten war: Glas und weiß gestrichene Backsteine. Das Grundstück war riesengroß, allein im Vorgarten hätte man bequem Fußball spielen können. Ein breiter Kieselweg führte sie in den hinteren Garten, der direkt aus einem Schöner-Wohnen-Magazin entsprungen zu sein schien. Eva war durch ihren Mann häufig Gast in repräsentativen Häusern gewesen, aber das hier war eine völlig andere Liga als die Vorstadtvillen der Chefärzte und der Mitglieder des Tennisclubs. Die Abendsonne hatte sich durch die dunklen Wolken gekämpft und hüllte die geschmackvoll arrangierte Pflanzenpracht in ein warmes Licht. Ein Meer farbenfroher Blumen und Sträucher zierten den Weg, der zu einer Holzbrücke über einen Teich mit bunten Fischen führte. Das rot-weiße Flatterband, mit dem die Kollegen von der Schutzpolizei den hinteren Teil des Gartens abgesperrt hatten, wirkte in dieser Idylle völlig fehl am Platz.

»Das Opfer ist sieben Jahre alt und heißt Abasi. Das Kind wurde vor drei Tagen von Hagen und Anna Seeger adoptiert, denen gehört das alles hier«, klärte Dreier Eva auf. Dann sah er sie kurz an. »Haare.«

Eva brauchte einen Moment, um zu verstehen. Glücklicherweise fand sie direkt in ihrer Handtasche ein Haargummi, mit dem sie versuchte, ihre braunen Locken zu bändigen. Was gar nicht so einfach war. Sie hatte sich ihre langen Haare auf Kinnlänge herunterschneiden lassen, um für ihren neuen Job seriöser auszusehen.

Sie waren bis auf wenige Meter an das Absperrband herangekommen. Jetzt erst sah Eva den Körper vor dem Busch am Rand des sauber gemähten Rasens. Ein Strahl der untergehenden Sonne traf direkt auf die klaffende Halswunde des kleinen Jungen. Eva blieb wie angewurzelt stehen, ihr Blick magisch angezogen von dem Grauen vor ihr. Unbewusst fasste sie sich an ihre Halskette, eine kleine rote Blüte aus Korallen. Sie hatte sich den Anhänger als Glücksbringer für den neuen Job gekauft, um die Stimmen in ihrem Inneren zu beruhigen, die regelmäßig Zweifel an ihrer Entscheidung, zur Mordkommission zu wechseln, äußerten. Einatmen, ausatmen, einatmen … befahl sie sich.

»Morelli, wir sind jetzt vollständig!«, rief Dreier einem Mitarbeiter zu, der neben der Leiche kniete und den toten Jungen sorgfältig betrachtete, während er sich mit einem Kollegen im weißen Ganzkörperoverall unterhielt. Er stand auf, streifte die Schutzüberzüge von seinen Turnschuhen und kam auf sie zu. Eva mochte Marius Morelli, einen nach Kaugummi riechenden Italiener, der jeden Tag in Jeans und Turnschuhen und überraschend gut gebügelten Hemden unter seinem Kapuzenshirt auf der Arbeit erschien. Der junge Kollege kam frisch von der Polizeischule und hatte sich bereits den Ruf eines Heißsporns eingehandelt. Die Geschichte, wie er einem Vergewaltiger beinahe an die Gurgel gegangen wäre, als dieser behauptete, sein Opfer hätte den Sex genossen, hatte im Präsidium schnell die Runde gemacht.

»Laut Pathologe ist er mit einem Schnitt durch die Kehle ermordet worden. Das Ganze ging vermutlich sehr schnell. Seine Schwester muss den Mörder gesehen haben. Die beiden haben zum Zeitpunkt der Tat zusammen im Garten gespielt«, informierte Morelli seine beiden Kollegen. Eva konnte ihm ansehen, dass ihm der Tod des Jungen ebenfalls naheging.

»Hat sie etwas gesagt?«

»Sie spricht nur Suaheli und ein paar Brocken Französisch.«

»Kümmert euch um einen Dolmetscher. Und befragt die Eltern. Ich versuch, mehr Leute zu organisieren«, erklärte Dreier. Er griff nach seinem Handy und ließ die beiden Kommissare allein. Die Wolken jagten immer schneller über den Himmel. Eine Bö kündigte an, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb, bis der Regen alle Spuren wegspülen würde. Die Spurensicherer in ihren weißen Schutzanzügen stellten Scheinwerfer auf, die den hinteren Teil des Gartens grell ausleuchteten.

»Alles in Ordnung?«, fragte Morelli, als Eva mit weichen Knien auf dem Weg zum Haus hinter ihm her stolperte.

»Ja, natürlich«, log sie. Sie kämpfte gegen die Übelkeit. Völlig geschockt von dem, was sie gesehen hatte. Am liebsten wäre sie auf der Stelle in ihr Auto gestiegen und zurück nach Hause gefahren. Was zum Teufel hatte sie sich dabei gedacht, sich auf eine Stelle in der Mordkommission zu bewerben?

 

Sie traten durch die Verandatür in ein geräumiges Wohnzimmer, das mit edlem Holzparkett ausgelegt war. Wenige weiße Möbel standen in einem viel zu hohen Raum. Alles darin sah exklusiv und teuer aus. Kein einziges Staubkorn auf dem dunklen Boden.

Ein schlanker Mittvierziger mit mittelblonden Haaren, die genauso wie sein Maßanzug außer Form geraten waren, schaute durch sie hindurch und starrte in den Garten.

»Herr Seeger, wir würden gerne mit Ihnen sprechen«, wandte sich Morelli direkt an ihn.

»Ich hab ihr gesagt, sie soll die Alarmanlage einschalten. Immer wieder. Aber sie wollte es einfach nicht«, sagte er.

»Hatten Sie denn Grund dazu, so etwas zu erwarten?«

Seeger schaute ihn überrascht an. »Natürlich nicht. Aber so ein Haus, das weckt Neid …«

Morelli nickte. »Ihre Adoptivtochter ist Zeugin des Mordes geworden. Können wir mit ihr sprechen?«

»Sie ist in ihrem Zimmer. Mit meiner Frau«. Seeger deutete auf eine Tür an der Galerie, die auf halber Höhe an der Kopfseite des Wohnzimmers entlangführte. »Aber sie sagt kein Wort.«

Morelli und Eva wechselten einen Blick, und ohne Worte vereinbarten sie, dass Eva sich um das Kind und Morelli sich um den Hausherrn kümmern würde. Sie griff zu ihrem Smartphone. Die Organisation eines Dolmetschers fiel damit in ihren Zuständigkeitsbereich.

 

Vorsichtig klopfte Eva an die Tür des Kinderzimmers, und als sie ein leises »herein« hörte, öffnete sie. Das Kinderzimmer war quietschbunt und mit viel Liebe eingerichtet. Zwei Bettchen, in Rot und Blau, standen über Eck vor dem Fenster, fabrikneue Stofftiere saßen auf Regalbrettern an der Wand. Zu Evas Erstaunen waren auch zwei alte Käthe-Kruse-Puppen und ein Steiff-Teddybär darunter, denen man deutlich ansah, dass sie bereits in die zweite Runde gingen. Vermutlich Spielsachen aus der Kindheit der Hausherrin. Anna Seeger kniete in vorsichtigem Abstand neben dem kleinen Mädchen auf dem Boden. Sie redete beruhigend in Französisch auf sie ein. Aber die Kleine hatte sich in eine Ecke verzogen, zwischen Kommode und Wand, die dünnen Beine eng an den Körper gezogen, den Kopf in den Händen verborgen. Es waren nur wenige geflochtene Haarbüschel zu sehen, die wie Antennen von ihrem Kopf abstanden.

Eva machte durch ein Räuspern auf sich aufmerksam. Anna Seeger stand auf und reichte der Kommissarin eine professionell manikürte Hand. Sie war eine zierliche Frau mit schulterlangen naturblonden Haaren, die sie achtlos zusammengebunden hatte. Mit hellblauer Bluse, beiger Stoffhose und weißen Perlenohrringen trug sie das Standardoutfit der weiblichen Düsseldorfer High Society. Nur dass ihre Bluse deutliche Blutspuren aufwies. Die Augen waren geschwollen, und die Nase war gerötet; sie hatte geweint.

»Sie versteht uns nicht«, erklärte Anna Seeger. »Sie muss den Mörder gesehen haben, aber sie sagt kein Wort. Vielleicht redet sie mit Tomke. Ich hab ihn schon angerufen.«

»Wer ist Tomke?«, fragte Eva Langenberg.

»Er hat sie hierhergebracht. Er arbeitet in dem Flüchtlingscamp der Kinder. Im Kongo.«

»Haben Sie irgendetwas gesehen?«

Verzweifelt schüttelte Anna Seeger den Kopf. »Die beiden sind nach dem Essen rausgegangen, um zu spielen. Ich hatte sie von der Küche aus die ganze Zeit im Blick. Aber da war ein Kratzer in dieser Schüssel. Ein Kratzer, ein dämlicher Kratzer«. Sie riss sich zusammen. »Ich hab versucht, ihn wegzupolieren. Ich hab es einfach nicht geschafft. Und als ich wieder zu den beiden geguckt hab …«, sie unterdrückte ein Schluchzen.

Eva hatte Mitleid mit der Frau. »Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen. Wer weiß, was passiert wäre, wenn Sie den Täter gesehen hätten.«

»Wer tut so etwas? Wer bringt einen kleinen Jungen um? Er hat doch niemandem etwas getan.«

»Das werden wir herausfinden«, versicherte die Kommissarin und ärgerte sich sofort darüber. Keine Versprechungen, so lautete die Devise in solchen Situationen.

»Sie muss ihn gesehen haben«, wiederholte die Frau und schaute auf Rahima.

Eva hockte sich vor das zierliche Mädchen. »Bonjour«, versuchte sie es auf Französisch. »Ça va?« Guten Tag. Wie geht es dir? Sie hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Das Mädchen hatte mit angesehen, wie ihr kleiner Bruder vor ihren Augen brutal ermordet worden war. Wie sollte es ihr da schon gehen? Aber sie war sich noch nicht einmal sicher, ob Rahima sie überhaupt gehört hatte. Die Kleine starrte unbewegt weiter vor sich auf den Boden, die Arme zogen ihre Knie noch ein wenig näher an den Körper. Eva fiel eine hässliche Narbe unter dem bunt gemusterten Oberteil auf.

»Je suis Eva«, sagte sie, ohne Erfolg. Ich bin Eva. Das Mädchen blieb weiterhin vollkommen reglos in seiner Ecke sitzen. Völlig unter Schock. Vorsichtig legte Eva ihre Hand auf Rahimas Arm. Das Kind zuckte weg, so heftig, als wäre es geschlagen worden. Eva zog die Hand zurück. »Excuse-moi«, erklärte sie. Entschuldige bitte. Sie konnte jetzt Rahimas schnellen Atem hinter ihren Knien hören. Sie hatte ihr Angst eingejagt. Vorsichtig entfernte sie sich ein Stück. Das Mädchen sollte sich nicht in die Enge gedrängt fühlen. Wie konnte sie es bloß zum Sprechen bringen?

»Vielleicht versuchen Sie noch einmal, mit ihr zu reden?«, wandte sie sich an Anna Seeger. Eine vertraute Person hatte vermutlich bessere Chancen, zu Rahima durchzudringen. Aber auch die Versuche der Adoptivmutter verliefen erfolglos. Das Mädchen reagierte weder auf Worte noch auf vorsichtige Berührungen. Nichts drang zu ihr durch, als hätte Rahima eine unsichtbare Mauer um sich herum aufgebaut. Hilflos schauten die beiden Frauen einander an. Eva ließ sich auf einen Kinderstuhl sinken.

»Ich glaube, sie kann nicht mit uns reden«, erklärte Anna Seeger. »Manchmal, wenn die Dinge, die man erlebt hat, zu schlimm sind, verbietet der Körper dem Geist, sich zu erinnern.«

Aber trotzdem musste sie an das herankommen, was tief im Inneren des kleinen Mädchens verborgen war. Angestrengt starrte Eva die Kleine an. Sie musste den Schlüssel zu ihrem Geheimnis finden. Die Türklingel durchbrach die Stille.

»Das muss Tomke sein«, erklärte Anna Seeger und verließ den Raum.

Eva schaute auf ihre Uhr. Sie zog ihr Smartphone hervor. Keine Nachricht. Sie blickte erneut zu dem zusammengekauerten Kind. Dann stand sie auf und rief das Präsidium an. Allerdings ohne Erfolg. Die Kollegen hatten weder eine Kinderpsychologin noch einen Dolmetscher auftreiben können. Eva warf einen letzten Blick auf Rahima, aber die hatte ihre Position nicht verändert.

 

»Was ist los?«, wollte Morelli wissen, nachdem Eva ihn aus seinem Gespräch mit Hagen Seeger geholt hatte.

Sie brachte ihn auf den neuesten Stand. »Die Kollegen versuchen gerade, eine Übersetzerin aus Bonn zu erreichen. Aber selbst wenn sie Erfolg haben und sie sofort losfährt, dauert es mindestens eine Stunde, bis wir sie vor Ort haben. Vielleicht kann uns dieser Entwicklungshelfer fürs Erste übersetzen.«

»Du brauchst einen offiziellen Übersetzer, wenn du willst, dass die Aussage anerkannt wird«, erklärte Morelli.

»Ich weiß. Aber nach einem Mord zählt jede Minute.«

Sie einigten sich darauf, die Befragung mithilfe des Entwicklungshelfers zu beginnen und dann später für das Protokoll noch einmal alles mit der Dolmetscherin durchzugehen. Aber das setzte natürlich voraus, dass das Mädchen überhaupt mit ihnen sprach.

 

Als Eva wieder in das Zimmer trat, sah sie, dass Anna Seeger den Entwicklungshelfer bereits zu Rahima gebracht hatte. Er hockte vor dem Mädchen und redete beruhigend auf Suaheli auf sie ein. Sie ärgerte sich, dass sie der Adoptivmutter nicht die Anweisung gegeben hatte, auf sie zu warten, bevor sie den Mann zu dem Mädchen ließ.

»Sie haben Rahima also nach Deutschland gebracht«, fragte sie den Mann und versuchte so, die Situation wieder unter Kontrolle zu bekommen. Tomke Krieger schaute auf. Eva schätzte ihn auf Mitte dreißig. Mit seiner braun gebrannten Haut und den ausgebleichten blonden Haaren hätte man ihn glatt für einen Surfer halten können, wenn er nicht so durch und durch ernst gewirkt hätte. Er stand auf und gab ihr die Hand.

»Tomke Krieger«, stellte er sich vor und hielt Evas Hand einen Moment länger als üblich.

»Könnten Sie vielleicht ein paar Fragen für mich übersetzen?«, bat Eva.

»Natürlich.«

Krieger setzte sich wieder neben Rahima und begann, mit ihr zu plaudern, als wäre er zufällig vorbeigekommen. Neben ihm sah das kleine Mädchen noch einmal viel zierlicher aus. Eva war beeindruckt davon, wie einfühlsam Krieger mit ihr umging. Er schien Erfahrung im Kontakt mit traumatisierten Kindern zu haben. Kein Wunder! Wo, wenn nicht in einem Flüchtlingscamp, lernte man so etwas. Doch Rahima reagierte ebenso wenig auf Kriegers Fragen auf Suaheli wie auf die zaghaften Versuche ihrer Adoptivmutter auf Französisch. Schweigend verbarg sie ihren Kopf auf den Knien und zeigte keinerlei Regung.

Nach einer halben Stunde gab Krieger auf.

»Sie will nicht reden. Und ich will sie nicht quälen«, erklärte er und erhob sich.

»Versuchen Sie es weiter. Sie ist unsere einzige Zeugin«, bat Eva Krieger. »Jemand hat ihren Bruder umgebracht. Ich weiß auch, wie traumatisiert sie sein muss, aber ihre Aussage ist im Moment unsere einzige Chance, den Mörder zu finden.«

»Es hat keinen Sinn.« Krieger schien es nicht recht zu sein, weiter auf das Mädchen einzuwirken.

»Wenn Sie sie nicht fragen, dann wird es unsere Dolmetscherin tun«, griff Eva unverblümt zu einer Erpressung.

Krieger musterte sie. Blickte ihr in die Augen, als versuche er, dort die Antwort zu finden, ob sie ihre Drohung ernst meinte. Dann nickte er. »Ein letzter Versuch.«

»Fragen Sie sie, wen sie gesehen hat.«

»Nani unaweza kuona?« Wen hast du gesehen?

Keine Antwort.

»Wer ihren Bruder umgebracht hat.«

»Ambao waliuawa ndugu yako?« Wer hat deinen Bruder umgebracht?

Krieger legte vorsichtig seine Hand auf die Rahimas. Ein leises Murmeln war zwischen Rahimas Knien zu hören, von dort, wo sie immer noch ihren Kopf versteckte. Die Erwachsenen gaben keinen Mucks von sich. Eva musste sich zwingen, ruhig zu bleiben.

»Ambao waliuawa ndugu yako?«, wiederholte Krieger vorsichtig die Frage. Wer hat deinen Bruder umgebracht?

»Maluco.« Offensichtlich kostete es das Mädchen große Mühe, zu antworten. Auch wenn sie kein Suaheli konnte, kritzelte Eva das Wort aufgeregt in ihren Notizblock. Der erste Eintrag des Abends.

»Maluco?«, fragte Krieger nach. Und Rahima nickte. Dann verbarg sie ihren Kopf noch sorgfältiger zwischen ihren Armen.

»Sie kann nicht«, erklärte er.

Sofort erwachte Evas Misstrauen. »Was hat Sie Ihnen gesagt?«, wollte sie wissen. Krieger schüttelte den Kopf.

»Ich habe es doch gehört. Maluco. Was bedeutet das? Ist das ein Name?«, fragte Eva eine Nuance schärfer. Es war ein Fehler gewesen, nicht auf einen offiziellen Übersetzer zu warten.

Tomke Krieger lächelte sie müde an. »Maluco ist der Geist des Wahnsinns. Sozusagen der schwarze Mann Afrikas, vor dem alle Kinder Angst haben. Sie wird reden, sobald sie es kann. Und so lange müssen wir warten.«

 

Anna Seeger erklärte die Befragung für beendet. Rahima würde nichts mehr sagen, und sie wollte das Kind nicht weiter dem Stress einer Befragung aussetzen.

»Jede Minute, die sie nicht mit uns redet, hat der Mörder ihres Bruders Vorsprung«, versuchte Eva, Anna Seeger unter Druck zu setzen. Sie sah, wie die Frau mit sich kämpfte. »Und solange wir sein Motiv nicht kennen, wissen wir nicht, ob Rahima nicht auch in Gefahr ist«, setzte sie nach.

»Aber Sie sehen doch selbst, dass sie nicht redet«, erklärte Anna Seeger kraftlos.

»Wir können ihr ein Beruhigungsmittel geben lassen, vielleicht redet sie dann.«

Aber offensichtlich hatte sie damit die Grenze überschritten. Vehement schüttelte die Adoptivmutter den Kopf. »Nein, wir lassen sie jetzt in Ruhe. Vielleicht gelingt es ihr, zu schlafen. Und dann machen wir morgen früh weiter.«

Eva wusste, dass sie verloren hatte. Sie griff nach ihrem Handy und ging hinaus auf die Galerie, um die wenig begeisterte Bonner Übersetzerin, die schon wenige Kilometer vor Düsseldorf auf der Autobahn war, auf den nächsten Tag zu vertrösten.

 

Nachdem sie ihr Telefonat beendet hatte, merkte sie erst, dass jemand hinter ihr stand.

»Was ist mit ihm passiert?«, wollte Tomke Krieger wissen.

Eva überlegte einen Moment, was sie ihm sagen durfte, entschied dann aber, dass er die Fakten früher oder später sowieso von Frau Seeger bekommen würde. »Jemand hat ihm die Kehle durchgeschnitten.« Krieger schloss für einen Moment die Augen und atmete tief ein. Dann hatte er sich wieder unter Kontrolle.

»Sie arbeiten für das Flüchtlingscamp, aus dem die beiden Kinder stammen?«

Krieger nickte. »Ich hab sie hierher begleitet. Ich wollte ihnen den Einstieg erleichtern. Ich dachte, sie haben vielleicht weniger Angst, wenn jemand dabei ist, den sie kennen. Der ihnen alles erklären kann.«

»Sie haben Erfahrung mit Adoptionen?«

»Nein, das war unsere Erste. Aber ich kenne ihre Kultur. Und unsere«, fügte er dunkel hinzu. Er schien nicht allzu viel von Deutschland zu halten, registrierte Eva.

»Wann haben Sie Abasi zum letzten Mal gesehen?«

»Heute Morgen.«

»Wie hat er da auf sie gewirkt?«

Krieger überlegte. »Normal. Still. Aber das war er immer. Ich hatte den Eindruck, dass er sich einlebt … Sogar besser als seine große Schwester. Er hatte gebadet und zum ersten Mal die Kleider angezogen, die Anna für ihn gekauft hatte«. Tomke Krieger lächelte bei der Erinnerung. Und Eva fiel auf, wie sympathisch er mit einem Mal wirkte. Ein warmes Leuchten schob sich in seine ernsten Augen. »Er hat sich die ganze Zeit im Spiegel betrachtet, als könne er nicht glauben, dass der Junge, der ihn da anschaute, wirklich er ist.«

»Haben Sie eine Idee, wer einen Grund haben könnte, den Jungen umzubringen?«

Krieger schüttelte den Kopf. Wieder vollkommen ernst. »Er ist ein wehrloses Kind. Es gibt einfach keinen Grund, warum ihm jemand etwas antun sollte.« Trauer sprach aus seinem Gesichtsausdruck. Aber noch etwas anderes. Pure Desillusion.

***

Die Polizisten versammelten sich für eine erste Besprechung des Falls in der zweiten Etage des Polizeipräsidiums am Jürgensplatz. Eva schaute auf ihre Armbanduhr. Kurz vor Mitternacht. Morelli wartete ungeduldig, bis Dreier sein Telefonat beendete hatte, begierig darauf, endlich auf den neuesten Stand gebracht zu werden.