Finsterwelt 2. Die magische Meisterschaft - Katharina Herzog - E-Book

Finsterwelt 2. Die magische Meisterschaft E-Book

Katharina Herzog

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Beschreibung

In diesem Internat dreht sich alles um Märchen, Magie und Meisterschaft – und ein verwunschenes Buch.  Aufregende Neuigkeiten auf Schloss Rosenfels! Die Magische Märchenmeisterschaft steht an, und Leonies Schule wurde zum Ausrichtungsort der Spiele ernannt. Märchenschulen aus aller Welt reisen an. Und Leonie muss unbedingt gewinnen. Denn der Hauptgewinn, den die Scheherezade Schule stiftet ist eine Dschinn-Lampe, die Dinge verschwinden lassen kann. Wie geschaffen, um das verwunschene und zunehmend rebellische Buch "Finsterwelt" ein für alle Mal loszuwerden. Doch leider ist Tristan Leonie keine große Hilfe: Um keinen Preis will er bei den Märchenmeisterschaften mitmachen, denn seine Eltern haben ihm die Teilnahme strengstens verboten. Warum? Das darf er niemandem verraten – auch Leonie nicht.   "Finsterwelt" Band 2 birgt wieder jede Menge Geheimnisse und Verwicklungen plus extra viel Humor. - Magisches Schulabenteuer gespickt mit überschäumender Fantasie und zauberhaftem Charme. - Spannende Fortsetzung der wunderbaren Kinderbuchreihe aus dem Märchen-Internat – mit überraschendem Twist. - Grimms Märchen meets Internat: Folge Tristan und Leonie, die übrigens vom Froschkönig abstammt, in ihr neues Abenteuer. - Von Katharina Herzog, deren Unterhaltungsromane für Frauen bereits von vielen gefeiert werden und regelmäßig die Bestsellerlisten erobern.

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Über dieses Buch

Aufregende Neuigkeiten auf Schloss Rosenfels!

 

Die Magische Meisterschaft steht bevor, und Märchenschulen aus aller Welt reisen an. Leonie muss unbedingt gewinnen! Mit dem Hauptpreis, der aus einem Wunsch bei einem echten Dschinn besteht, könnte sie Finsterwelt endlich für immer loswerden. Doch jemand versucht, das Buch zu stehlen, und Leonie muss es schleunigst in Sicherheit bringen. Als die Spiele beginnen, wird es richtig gefährlich: Denn irgendwer scheint mit allen Mitteln verhindern zu wollen, dass Leonies Team gewinnt. Wer steckt nur hinter all dem Chaos?

 

 

 

Wenn du Märchenaugen hast, ist die Welt voller Wunder.

(Victor Blüthgen)

 

Prolog

Im Laufe ihres Lebens hatte Martha die unterschiedlichsten Schlüssel in der Hand gehalten: Gussschlüssel, die die Schlösser von Burgtoren öffneten, lange gotische Eisenschlüssel, schon ganz verwittert, goldene kunstvoll verzierte Schlüssel von Kirchenportalen … Doch keiner von ihnen hatte sich so schwer angefühlt wie dieser Schlüssel, der so klein und schmucklos wie der eines Gartentürchens war. Ferdinand hatte ihn ihr vor vielen Jahrhunderten gegeben, damit sie jederzeit Zutritt zur Märchenkammer von Schloss Rosenfels hatte.

Martha presste den Schlüssel an ihre Brust. Am liebsten hätte sie sich umgedreht und wäre in ihre Hütte zurückgelaufen. Doch das ging nicht! Der Zeitpunkt, vor dem sie sich schon so lange fürchtete, war gekommen: Sie musste Finsterwelt so schnell wie möglich von hier wegbringen! Auf dem Schloss war das Buch nicht mehr sicher.

Einen Moment lang lehnte Martha sich gegen das feuchte modrig riechende Mauerwerk. Sie war müde! Müde von der Bürde, die schon viel zu viele Jahre auf ihr lag. Warum hatte Ferdinand ausgerechnet sie darum gebeten, auf das Buch aufzupassen? Sie war doch nur eine einfache Märchenerzählerin, und die einzige magische Fähigkeit, die sie besaß, hatte sie einem Kraut zu verdanken.

Doch alles Jammern half nichts. Schon in ein paar Wochen würde die Magische Märchenmeisterschaft stattfinden, und dann würden sich ein paar der talentiertesten und fähigsten Magier der Märchengesellschaft mehrere Tage hier aufhalten. Die Gefahr war zu groß, dass jemand von ihnen Finsterwelt fand.

Martha holte noch einmal tief Luft, dann öffnete sie die Tür des Geheimgangs. Getarnt als eine einfache Holzplatte in der Täfelung, die das Mauerwerk im Aufenthaltsraum des östlichen Torturms verkleidete, war über Jahrhunderte hinweg niemandem aufgefallen, dass sich hier ein geheimer Weg befand, der Schloss und Finsterwald miteinander verband.

Martha ließ den Schein ihrer Taschenlampe aufblitzen, um sich zu orientieren, und huschte die Treppe des Ostturms hinauf. Oben angekommen, schaute sie sich noch einmal hastig um und schloss dann die Kammer auf.

Wie auch bei ihren letzten Besuchen war der kleine Raum bis in den letzten Winkel mit Märchenartefakten vollgestellt: mit dem fast deckenhohen Bett der Prinzessin auf der Erbse, dem Schneewittchenspiegel und ihrem Sarg, dem Brunnenstein des Froschkönigs samt goldener Kugel, dem Spinnrad, dessen Spindel Dornröschen einst zum Verhängnis geworden war, den ausgetretenen Stiefeln des Gestiefelten Katers, einer Truhe voller Sterntaler …

Martha quetschte sich an dem Bett vorbei, um zum Dornröschenzimmer zu gelangen.

Im Gegensatz zu der Kammer war dieser Raum vollkommen leer. Lediglich ein paar Spinnweben hingen von der Decke. Die winzige Fensterluke war mit Brettern zugenagelt worden, sodass nicht einmal bei Tag Licht hindurchfiel. Zaghaft näherte sich Martha dem losen Stein im Mauerwerk, hinter dem sich Finsterwelt seit Hunderten von Jahren befand. Etwas in ihr sträubte sich dagegen, das Buch wieder in die Hände zu nehmen. Die feuchte, schwarze Kälte, die von ihm ausging, brachte Martha jedes Mal zum Frösteln, ganz egal, wie dick sie angezogen war. Doch bevor diese Furcht zu stark werden konnte, umfasste sie den Stein fest mit ihren Fingerspitzen und zog ihn heraus. Ein erstickter Schrei entwich ihrer Kehle.

Der Raum hinter dem Stein, er war leer!

Einen Moment stand Martha wie erstarrt da und war zu keinem klaren Gedanken fähig, dann erst wurde ihr so richtig bewusst, was geschehen war. Sie verschränkte ihre zitternden Finger fest ineinander.

Nachdem ihre Gehilfin ihr mitgeteilt hatte, dass das Dornröschenzimmer geöffnet und nach allen Regeln der Zauberkunst von Dr. Finzi und Frau Rabenmeier durchsucht worden war, war sie natürlich sofort durch den Geheimgang ins Schloss gelaufen und hatte nachgeschaut, ob sich Finsterwelt noch in seinem Versteck befunden hatte. Das war Anfang des Jahres, also vor etwa zwei Monaten gewesen. Danach musste irgendjemand es gefunden und an sich genommen haben. Und das heimlich, sodass ihre Gehilfin nichts davon erfahren hatte. Aber wer könnte das gewesen sein?

Martha war gerade dabei, gedanklich nacheinander alle Lehrkräfte und alle Mitglieder des Hauspersonals durchzugehen, als ihr etwas einfiel. Kurz nach der Entdeckung des Dornröschenzimmers hatte sie ein Mädchen besucht und sich nach Ferdinand Grimm erkundigt. Angeblich, weil sie ein Referat über ihn schreiben wollte, und sie hatte ihr viele Fragen gestellt. Leonie. Konnte das Mädchen Finsterwelt an sich genommen haben? Martha nagte an ihrer Unterlippe. Sie musste unbedingt versuchen, sich einen offiziellen Zugang zum Schloss zu verschaffen. Und sie hatte auch schon eine Idee, wie.

1

Claudette war besser als jeder Wecker. Jeden Morgen pickte sie um Punkt sieben mit ihrem Schnabel an die Butzenfensterscheibe, um hineingelassen zu werden.

Tak! Taktak! Erst leise, dann zunehmend bestimmter! Taktaktaktaktak! Seit Leonie die zahme Taube vor ein paar Tagen völlig erschöpft im Schlosshof aufgefunden hatte, hatte sie kein einziges Mal mehr verschlafen. Denn im Gegensatz zu einem Wecker konnte man Claudette nicht ausschalten, und eine Snooze-Funktion hatte sie auch nicht.

»Sag dem Vogel, er soll abhauen!«, knurrte es vom Bett gegenüber, und Leonie atmete auf.

Marle! Sie war noch da! Seit den furchtbaren Ereignissen Anfang des Jahres war nicht ein einziger Morgen vergangen, an dem Leonie nicht mit klopfendem Herzen aufgewacht und ihr erster Blick sofort zu dem Deckenberg gegenüber geschweift war. Erst wenn eine wirre rotblonde Strähne hervorschaute, ein Arm, ein Bein, oder der Berg sich bewegte, war sie wieder beruhigt.

Taktaktak! Die Taube konnte wirklich ausgesprochen hartnäckig sein.

Leonie schwang ihre Beine aus dem Bett und öffnete das Fenster. Mit einem vorwurfsvollen Blick tippelte Claudette hinein, begleitet wurde sie von einem eisigen Lufthauch, und Marles mürrischem »Fenster zu!« Obwohl der Magische Tier- und Pflanzenkalender an der Wand bereits den zehnten April anzeigte, war es um diese Tageszeit immer noch ganz schön kalt.

»Guten Morgen!« Leonie kraulte Claudette das Köpfchen, das sie ihr huldvoll entgegenstreckte. Sie war eine ausgesprochen hübsche Taube mit ihrem glänzenden silbergrauen Gefieder und den munteren schwarzen Knopfaugen. Leonie griff in die Tüte mit dem Vogelfutter und streute ein paar Körner auf ihren Schreibtisch. Gierig pickte Claudette sie auf.

»Na toll! Du belohnst sie auch noch dafür, dass sie uns aufweckt«, schimpfte Marle. Vor dem ersten Kakao war sie zu nichts zu gebrauchen.

Leonie verdrehte die Augen. Dass nicht einmal die Aussicht auf die aufregende Zeit, die vor ihnen lag, ihre beste Freundin aus dem Bett brachte. Schließlich begann in wenigen Tagen für die Schülerinnen und Schüler der sechsten Klasse die Magische Märchenmeisterschaft. Verschiedene Märchenschulen traten dabei in fantastischen Prüfungen gegeneinander an. Jede Schule durfte eine Prüfung stellen, die letzte überlegte sich eine unabhängige Jury. Und das Allerbeste an der Magischen Märchenmeisterschaft: Zu gewinnen gab es nicht, wie sonst bei Wettkämpfen, irgendwelche langweiligen silbernen oder goldenen Pokale, sondern jede Märchenschule musste ihr Schulwahrzeichen als Wanderpokal stiften, und die Gewinner durften alle mit nach Hause nehmen. Seit den letzten Spielen befand sich deshalb die Original-Dornröschenspindel der Dornröschen-Schule in Dänemark, denn die Hans-Christian-Andersen-Schule hatte damals die Magische Märchenmeisterschaft gewonnen – und zwar das dritte Mal in Folge. Dazu durfte es in diesem Jahr auf gar keinen Fall wieder kommen. Das schärfte Herr Rost, ihr Sportlehrer, ihnen schon seit Monaten ein. Weil die Spiele das erste Mal seit vier Jahren endlich einmal wieder auf Schloss Rosenfels stattfanden, mussten sie diesen Heimvorteil unbedingt nutzen. Vor allem aber wollte Herr Rost gewinnen, weil er Mats Andersen, den dänischen Sportlehrer, überhaupt nicht ausstehen konnte. (Er nannte ihn nur den aufgeblasenen Trottel.)

Immerhin hatte die Alice-in-Wonderland-School in diesem Jahr abgesagt, sie hatten also einen Konkurrenten weniger. Aber leicht würde es trotzdem nicht werden! Papa, mit dem Leonie schon darüber gesprochen hatte, sah das genauso. Er war vor Jahren selbst Schüler auf Schloss Rosenfels gewesen. Schon damals hatten die Dänen bereits viele talentierte Magier in ihren Reihen gehabt. Und mit der Scheherazade-Schule aus dem Iran sollten sie sowieso rechnen, meinte er. Die Schule hatte nämlich einen unglaublich guten Ruf in der Märchenwelt. Schließlich mussten nicht nur Schülerinnen und Schüler, sondern auch die Lehrenden eine wahnsinnig harte Prüfung absolvieren, um dort aufgenommen zu werden.

Trotz dieser großen Konkurrenz verlangte Herr Rost nicht weniger als den Sieg von den vier Schülerinnen und Schülern, die die Dornröschen-Schule bei der Meisterschaft vertreten würden. Erst kurz vor der Eröffnungszeremonie am Samstag würde er verkünden, wer diese vier waren. Um die Motivation bis zuletzt bei allen hochzuhalten, hatte er ihnen erklärt. Leonie wurde schon ganz aufgeregt, wenn sie nur daran dachte. Seit Papa ihr das erste Mal von den Wettkämpfen erzählt hatte, träumte sie davon, selbst dabei zu sein. Genau wie er zu seiner Schulzeit!

 

Marle hatte sich inzwischen schon wieder die Decke über den Kopf gezogen, und Leonie wusste, dass sie schwerere Geschütze als die Aussicht auf die Magische Märchenmeisterschaft auffahren musste, wenn sie ihre beste Freundin an diesem Freitagmorgen aus den Federn bekommen wollte.

»Na gut, dann bleib halt liegen«, sagte sie deshalb betont gleichgültig. »Dann gehe ich jetzt halt allein zum Frühstück. Schließlich will ich mich vor Tier- und Pflanzenmagie unbedingt noch in Ruhe von Opal verabschieden.«

»Opal!« Marle schoss nach oben. »Stimmt! Der zieht ja heute wieder zu seiner Herde in den Finsterwald zurück.«

Leonie grinste. Sie hatte gewusst, dass dieser Trick funktionieren würde. Marle liebte Tiere, abgesehen von Wölfen und Hunden. Das kleine Einhorn, das seit Anfang des Jahres in Gestalt eines dicken grauen Ponys im Tierpark von Schloss Rosenfels wohnte, hatte es ihr besonders angetan. Genau wie Leonie. Sie freute sich schon darauf, über Opals struppiges Fell zu streicheln und seinen warmen Atem im Gesicht zu spüren. Wenn Opal erst wieder bei seiner Herde war, würde sie sicher nicht allzu oft die Gelegenheit dazu haben.

 

Leonie wartete, bis Marle im Bad verschwunden war, dann hob sie die obere linke Seite ihrer Matratze ein Stück hoch. Noch immer hatte sie kein besseres Versteck für das alte Buch mit dem nachtschwarzen Umschlag gefunden. Sie nahm es heraus. Claudette hüpfte auf ihre Schulter und betrachtete das Buch ebenfalls. Finsterwelt stand in kunstvollen blutroten Buchstaben darauf, und darunter Das wahre Märchenbuch. Diese Worte konnte man jetzt gerade aber nicht lesen, weil gleich zwei von Leonies Gürteln dafür sorgten, dass es geschlossen blieb und nicht noch einmal Unheil anrichten konnte. Der eine war ein bunt gestreifter Stoffgürtel, für den sie sich inzwischen sowieso viel zu alt fühlte. Der andere allerdings war ein schlichter schwarzer Ledergürtel, den sie zu einigen Hosen getragen hatte. Seit er half, das Buch verschlossen zu halten, saßen ihr die ein kleines bisschen zu locker auf den Hüften.

Leonie hatte Finsterwelt Anfang des Jahres im Dornröschenzimmer hinter einem losen Stein im Mauerwerk gefunden und den großen Fehler gemacht, es zu öffnen und ein paar seiner Geschichten zu lesen. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie verblüfft sie gewesen war, dass in den Märchen, die darin standen, nicht die Guten bis an ihr Lebensende glücklich waren, sondern die Bösen. Das erste Märchen, Wer hat Angst vorm bösen Wolf?, begann zum Beispiel mit den Worten: Es war einmal ein Wolf namens Isegrim, der schon seit Tagen nichts mehr gegessen hatte … Die Variante des Rotkäppchenmärchens endete damit, dass glücklicherweise ein namenloses Mädchen und dessen Großmutter seinen Weg kreuzten, er beide auffraß und sich so vor dem kläglichen Hungertod retten konnte.

Später hatten Leonie, Hans, Marle und Otto im nächtlichen Finsterwald genau diesem Isegrim gegenübergestanden und in seine glühenden Augen geschaut. Daraufhin war Marle, eine Nachfahrin von Rotkäppchen, auf einmal verschwunden gewesen! Und das war nur der Anfang der schlimmen Veränderungen gewesen, die Finsterwelt bewirkt hatte …

2

»Ich bin fertig.« Marle kam aus dem Bad heraus, und Leonie ließ die Ecke der Matratze wieder auf das Buch fallen. Finsterwelt protestierte gegen diese unsanfte Behandlung, indem es ein paarmal so heftig auf und ab hüpfte, dass das Bett wackelte.

Marle verdrehte die Augen. »Spielt das doofe Buch schon wieder verrückt? Ich verstehe echt nicht, wieso du es nicht einfach wegschmeißt. Lesen willst du es ja sowieso nicht, sonst hättest du es ja nicht wie ein Paket verschnürt.«

Leonie hatte den Mund bereits aufgeklappt, um zu einer Antwort anzusetzen, doch da schnitt ihr Marle das Wort ab. »Und jetzt fang nicht wieder mit der Geschichte an, dass ich verschwunden bin, nachdem du es geöffnet hast. Ich fand sie nämlich bereits beim ersten Mal nicht witzig, als du sie erzählt hast.«

»Wollte ich doch gar nicht.« Leonie zog sich an und ging auch ins Bad. Marle hatte ja recht! So konnte es nicht mehr weitergehen! Finsterwelt musste weg! Aber wohin? Am einfachsten wäre es sicher, wenn sie es in die Dornröschenkammer zurückbrachte. Aber Leonie hatte Angst, dass es sich in seiner Mauernische genauso wild aufführte wie gerade, es jemand hörte, herausholte und öffnete. Doch das Buch konnte auch nicht bis in alle Ewigkeiten unter ihrer Matratze bleiben. Seit sie es dort versteckt hielt, hatte Leonie nämlich keine einzige Nacht mehr durchgeschlafen. Dann war da auch noch dieses schreckliche Gefühl, ständig beobachtet zu werden. Nicht nur in ihrem Zimmer, auch auf dem Schloss kam es ihr in letzter Zeit so vor, als würde sie ein Augenpaar bei jedem ihrer Schritte begleiten.

 

»Guten Morgen, Opal!«, rief Marle, und sofort kam das Einhorn an den Zaun getrottet. Inzwischen wusste es, dass Leonie und sie ihm immer einen Leckerbissen mitbrachten. Manchmal war es ein Apfel, manchmal eine Möhre. Heute steckte ein Kanten getrocknetes Brot in Leonies Jackentasche.

Sie reichte Opal das Brot, und er schüttelte ein paarmal seine kurze dichte Mähne, als wollte er sich dafür bedanken. In seiner Einhorngestalt war diese sicher fast einen Meter lang, und sie funkelte, dass es aussah, als wäre sie aus Sternensplittern gemacht. Als Pony fand Leonie ihn aber auch hübsch.

»Ich freue mich zwar, dass er jetzt wieder mit seiner Familie zusammen sein kann, aber ein bisschen schade finde ich es trotzdem, dass er geht«, seufzte Marle und sprach Leonie damit aus der Seele. Auch sie hatte sich an das kleine Einhorn gewöhnt. Sie streichelte Opals grauen Hals. Vor ein paar Wochen noch hätte sie ihn an der Stelle, wo Isegrims Zähne ihn verletzt hatten, überhaupt nicht berühren können.

Leonie war sich sicher, dass das Auftauchen des Wolfs etwas damit zu tun gehabt hatte, dass sie Finsterwelt geöffnet hatte. Kurz darauf war dann auf einmal auch noch seine Gehilfin Gothel dagewesen. Die böse Hexe aus dem Rapunzelmärchen hatte jahrelang im Gefängnis gesessen, bis ihr auf einmal auf unerklärliche Weise die Flucht von dort gelungen war. Gut, dass die beiden verschwunden waren, nachdem es Leonie mit Tristans Hilfe gelungen war, das Buch wieder zu schließen! Der dunkelhaarige Junge mit den auffallend blauen Augen kam aus Schottland und besuchte die Dornröschen-Schule erst seit der Woche nach den Weihnachtsferien. Anfangs hatte Leonie ihn wegen seiner arroganten Art nicht leiden können, doch nach all den Abenteuern, die sie gemeinsam erlebt hatten, wusste sie, dass Tristan dahinter nur seine Unsicherheit verstecken wollte, und er war ein guter Freund für sie geworden.

 

Leonie hörte, wie sich helle Stimmen näherten. Ein Glück, dass Marle und sie sich so beeilt hatten, zu Opal zu kommen, denn Hans, Daniel, Cindy und Stella tauchten im Tierpark auf. Genau wie Marle und Leonie trugen sie Gummistiefel. Es hatte in den letzten Tagen nämlich tüchtig geregnet, und der Boden war ziemlich matschig. Blanche und Rosa dagegen, die als Nächstes eintrafen, hatten trotzdem ihre neuen blütenweißen Turnschuhe angezogen, und vor allem Blanche schimpfte laut vor sich hin, als diese schnell von Dreckspritzern gesprenkelt wurden. Die wunderschöne Nachfahrin von Schneewittchen achtete penibel auf ihr Äußeres. Robin begleitete sie.

Leonie beäugte die drei misstrauisch und suchte nach Anzeichen von außer Kontrolle geratener Märchenmagie. Waren Robins Haare gestern auch schon so lang gewesen? Dann schaute sie zu Rosa, die mit einem Taschentuch den Dreck von ihren Schuhen tupfte. Wirkte sie heute nicht besonders schläfrig? Und wo blieb Greta? Leonie sah lediglich ihren Bruder Hugo an dem Gehege der Dilldappen stehen – den lustigen Tierchen, die aussahen wie riesige Hamster auf zwei Beinen. Hugo hatte aber zumindest heute Nacht nicht zugenommen.

Zu ihrer Erleichterung erschien Greta schon bald im Tierpark, und nach und nach trudelten auch alle anderen aus Leonies Klasse ein. Nur Tristan fehlte. Aber das machte nichts, denn er war der Einzige, um den Leonie sich keine Sorgen machte. Schließlich war er nie wie Marle verschwunden gewesen, seine Haare hatten nicht auf einmal angefangen, unkontrolliert zu wachsen – so wie die von Robin – und er hatte nicht wie Rosa in einem komaähnlichen Schlaf gelegen. Sicher war er bei Dr. Finzi. Als einziger von allen Schülern auf Schloss Rosenfels bekam er nämlich von dem Schulleiter hin und wieder Einzelunterricht.

Inzwischen war auch Otto angelaufen gekommen. Der Zwerg unterrichtete nicht nur Tier- und Pflanzenmagie, sondern kümmerte sich auch um die Bewohner des Tierparks.

»Guten Morgen!«, begrüßte er sie und schaute dabei betreten auf seine matschverschmierten Stiefelspitzen. »Aus unserem Ausflug in den Finsterwald wird heute leider nichts, Kinder. Die Stunde fällt heute aus.«

»Warum das denn? Du hast uns doch versprochen, dass wir dabei sein können, wenn du Opal zurück zu seiner Herde bringst?«, rief Blanche empört.

»Weil, ähm, ja also … Es ist so, dass … dass Opal noch ein bisschen länger bei uns auf dem Schloss zu Gast bleiben wird.« Sein Gesichtsausdruck wurde ganz kummervoll. »Im Finsterwald ist leider wieder ein riesiger freilaufender Wolf gesehen worden. Der Jäger hat gesagt, er hätte die Größe einer Kuh gehabt. Es ist also sicherer, wenn unser Opalchen noch ein bisschen bei uns bleibt.«

Ein Wolf von der Größe einer Kuh! Leonies Herzschlag kam ins Stolpern.

Isegrim! Konnte er wieder da sein?

»Husch, husch!«, sagte Otto und wedelte mit seinen Händen. »Wir gehen jetzt alle besser ins Schloss zurück!«

3

»Denkst du, dass er es ist?«, flüsterte Hans Leonie zu, als sie den Tierpark verließen.

»Ich befürchte, ja«, flüsterte Leonie zurück. »Du hast Otto doch gehört. Der Wolf muss riesig sein.«

»Aber ich habe selbst gesehen, wie er und die verrückte Hexe verschwunden sind. Erst standen sie noch da, und dann waren sie von einem auf den anderen Moment einfach weg.« Hans ballte die rechte Hand zur Faust und öffnete sie wieder. »Puff! So als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Hast du heute Morgen schon nachgeschaut, ob Finsterwelt noch da ist?«

»Klar! Das mache ich immer direkt nach dem Aufwachen.«

»Kann es sein, dass jemand es geöffnet hat?«

»Nein, wie denn? Nachts schlafe ich darauf, und tagsüber ist unser Zimmer abgeschlossen.« Marle meckerte deswegen ständig herum. Sie hatte nämlich keine Lust, immer einen Schlüssel mitnehmen zu müssen.

»Okay, dann bin ich beruhigt! Wahrscheinlich gibt es einfach noch mehr solcher Wolfsmutanten. Hey, was ist denn heute hier los?« Hans zeigte auf die vielen Autos, die auf dem Schlosshof parkten.

Leonie zog die Augenbrauen hoch. Konnte das Thema wirklich so schnell für ihn abgehakt sein? Hans musste doch genauso große Angst vor Isegrim haben wie sie. Schließlich hatte auch er ihm nicht nur einmal von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden, sein riesiges Maul mit den langen, spitzen Zähnen gesehen, seinen fauligen Atem gerochen.

Sie blieben stehen, um einen kleinen Transporter passieren zu lassen. Es war das gleiche Modell wie das, das Onkel Philipp fuhr. Ein VW Caddy. Dieser hatte sogar die gleiche blaue Metallic-Lackierung. Und das gleiche Nummernschild.

»Was machst du denn hier?«, rief Leonie ihrem Onkel zu, als dieser aus dem Wagen stieg. Der schlanke Mann mit den silbergrauen Haaren war der ältere Bruder ihrer verstorbenen Mama, und sie hing sehr an ihm.

»Wie schön! Dann haben dein Vater und deine Schwester dir also nichts verraten.« Onkel Philipp lächelte. »Ich habe sie darum gebeten, weil ich dich überraschen wollte: Du wirst mich in der nächsten Zeit häufiger zu Gesicht bekommen. Ich sitze dieses Jahr nämlich in der Jury der Magischen Märchenmeisterschaft.«

»Cool!«, entfuhr es Hans.

»Freut euch nicht zu früh.« Onkel Philipp schmunzelte. »Ich werde absolut unparteiisch sein!«

Wow! Onkel Philipp in der Jury … Das war wirklich eine Überraschung! Auch wenn Leonie damit hätte rechnen können. Schließlich leitete Onkel Philipp nicht nur das Gebrüder-Grimm-Museum, das sich in ihrer Heimatstadt Steinau an der Straße befand, er war auch ein sehr bekannter Märchenforscher.

»Aber Sie werden uns doch sicher einen winzigen Hinweis geben können, welche Aufgaben in diesem Jahr gelöst werden müssen.« Hans klimperte mit seinen Wimpern.

Onkel Philipp lachte auf. »Nein, meine Lippen sind versiegelt.« Er tat so, als würde er sie mit einem unsichtbaren Reißverschluss verschließen.

Hans stieß einen Seufzer aus. »Schade!«

Das fand auch Leonie. Denn damit alle drei Mannschaften die gleichen Chancen hatten und niemand im Vorfeld üben konnte, erfuhren sie erst kurz vor der jeweiligen Prüfung, welche Aufgaben gelöst werden mussten.

Ein Kleinwagen mit einem ausländischen Kennzeichen kam über das Kopfsteinpflaster der Auffahrt gerumpelt.

»Ah! Da ist Mats Andersen! Sehr gut!«, rief Onkel Philipp.

»Was will der dänische Sportlehrer denn jetzt schon hier?«, erkundigte sich Hans. »Die Mannschaften reisen doch erst morgen an.«

»Er ist mit den Wanderpokalen schon einmal vorweggefahren.«

Onkel Philipp begrüßte Mats Andersen – einen schlaksigen Mann mit abstehenden Ohren und einem unfassbar großen Mund, der aufgeregt wie ein Gummiball auf und ab hüpfte und mit den Händen wedelte. Neben Onkel Philipp, der sich sehr aufrecht hielt und dessen Bewegungen immer sehr kontrolliert wirkten, sah der Sportlehrer aus wie eine zappelige Gliederpuppe.

Da fuhr noch ein Auto auf den Schlosshof. Heute war aber ganz schön viel los! Dieses Mal war es ein roter Mini Cooper. Er parkte neben dem dänischen Kleinwagen, und heraus stieg Martha.

Leonie hatte die Nachfahrin der berühmten Märchenerzählerin Dorothea Viehmann Anfang des Jahres in ihrer Hütte im Wald besucht. Der Direktor der Dornröschen-Schule, Dr. Finzi höchstpersönlich, hatte ihr den Tipp gegeben, bei ihr vorbeizuschauen, wenn sie mehr über Ferdinand Grimm, den Autor von Finsterwelt, in Erfahrung bringen wollte. Aber wirklich neue Erkenntnisse hatte ihr dieser Besuch nicht gebracht. Dabei war Leonie sich sicher gewesen, dass die hübsche Frau mit den silberblonden Haaren viel mehr wusste, als sie hatte zugeben wollen … Gehörte sie etwa auch zu der Jury? Es schien so, denn Onkel Philipp ließ Mats Andersen stehen, eilte auf sie zu und schüttelte ihr herzlich die Hand.

»Komm! Wir haben gleich Umgang mit magischen Gegenständen«, sagte Hans, und Leonie verzog das Gesicht. Sie mochte weder das Fach noch seinen Lehrer, Herrn Regulus. Außerdem war es gerade so spannend, was auf dem Schlosshof alles vor sich ging. Wie gerne würde sie einen Blick auf die Schulwahrzeichen erhaschen. Nur widerstrebend ließ sie sich von Hans mitziehen.

»Musst du zum Unterricht?« Überrascht drehte Leonie sich um. Martha stand vor ihr.

Leonie nickte. »Ja, leider.«

»Dann sehen wir uns beim Abendessen.« Martha strahlte sie an. »Da wird euch Dr. Finzi übrigens auch die anderen Jurymitglieder vorstellen. Ihr seid sicher schon ganz gespannt.«

Wir sehen uns beim Abendessen? Leonie zog die Augenbrauen zusammen. Martha tat gerade so, als ob sie Freundinnen wären. Dabei hatten sie sich bisher nur einmal getroffen.

 

Leonie hatte schon befürchtet, dass Hans und sie zu spät kommen würden. Doch Herr Regulus stand noch vor seinem Klassenzimmer. Zusammen mit Frau Rabenmeier, der strengen Lehrerin für Gestaltwandeln. Sie waren so sehr in ihr Gespräch vertieft, dass sie sie nicht bemerkten.

»Hat Rex dir denn überhaupt keinen Hinweis gegeben, wo er hingefahren ist?«, fragte Frau Rabenmeier gerade. »Bitte überleg doch noch einmal, Gerd!«

Herr Regulus schüttelte seine schulterlangen grauen Locken. »Rex hat ja nicht einmal darüber gesprochen, dass es ihm nicht gut geht. Und dann lag auf einmal dieser Brief bei Mutter im Briefkasten, in dem stand, dass er sich für ein paar Monate zurückziehen will, um wieder zu Kräften zu kommen.«

»Aus diesen paar Monaten ist inzwischen aber ein Jahr geworden. Hat er sich in all der Zeit denn wirklich nicht bei dir oder deiner Mutter gemeldet?«

»Nein, nichts! Nicht einmal eine Postkarte hat er geschickt. Inzwischen machen wir uns furchtbare Sorgen«, jammerte er. So richtig besorgt hörte er sich Leonies Meinung nach jedoch nicht an.

»Melde dich bitte sofort bei mir, wenn du etwas von ihm hörst! Auch wenn dir noch etwas einfällt, was uns einen Hinweis auf seinen Aufenthaltsort geben könnte. Mats Andersen bringt schon heute die Schulwahrzeichen vorbei, und mir ist nicht wohl dabei, solch wertvolle Märchenartefakte hier zu haben, wenn der Bannkreis rund ums Schloss das letzte Mal vor über einem Jahr erneuert worden ist.«

Schloss Rosenfels lag – wie der Name schon sagte – auf einem Felsen. Außerdem war das Internat von hohen Mauern und einem tiefen Wassergraben umgeben, und man gelangte nur durch das Eingangstor, wenn einen der sprechende Pferdekopf Fallada passieren ließ. Die Bewohner waren auf dem Schloss also besser geschützt als in einem Hochsicherheitsgefängnis. Dass es außerdem noch einen Schutzbann gab, um unerwünschte Eindringlinge abzuwehren, hatte Leonie schon immer etwas verwundert.

»Und dann ist da ja auch noch Balthazars Sohn, dem auf keinen Fall etwas passieren darf …«, fuhr Frau Rabenmeier nach einem tiefen Seufzer fort. »Von der Wolfsbestie, die sich schon wieder im Finsterwald herumtreibt, ganz zu schweigen. Ich habe mich selbst an einem Schutzzauber versucht, aber es ist nicht mein Fachgebiet, und der wahre Experte für solche Dinge ist nun einmal dein Bruder.«

Herrn Regulus’ Schultern sackten nach unten. »Genau wie in allen anderen Sachen«, hörte Leonie ihn murmeln.

Frau Rabenmeier sah aus, als würde sie zu einer scharfen Bemerkung ansetzen wollen, doch dann bemerkte sie Hans und Leonie, und ihr Unwille entlud sich stattdessen auf sie.

»Was steht ihr hier rum wie zwei Zinnsoldaten? Ihr solltet längst im Klassenzimmer sein!«

Hans zog den Kopf ein wie eine Schildkröte. »Wir … ähm … wir wollten Ihnen nur sagen, dass die Schulwahrzeichen gerade angekommen sind. Auf die warten Sie doch sicher«, stotterte er, doch das war das Falscheste, was er hätte sagen können.

»Ach!« Frau Rabenmeier kniff ihre Augen zu Schlitzen zusammen, und ihre Augen, schwarz wie ihr Haar und ihre Kleidung, funkelten bedrohlich. »Habt ihr uns etwa belauscht?«, fragte sie mit gefährlich ruhiger Stimme, und in Leonies Fingern fing es an zu kribbeln. Schnell breitete sich dieses Kribbeln aus: auf ihre Arme, die Schultern, Beine, Füße, ihren Kopf …

O nein! O nein, o nein, o nein! Das durfte einfach nicht passieren! Nicht jetzt so kurz vor dem Beginn der Magischen Märchenmeisterschaft. Sie würde doch nie in die Mannschaft aufgenommen werden, wenn …

Quak!

4

»Geht es dir wieder so gut, dass du zum Abendessen kannst?« Miss O’Fee schaute mitleidig auf Leonie in ihrem Krankenbett hinunter.

Leonie nickte, obwohl sie viel lieber den Kopf geschüttelt hätte. Wie so oft verfluchte sie sich dafür, dass sie bei all den coolen Märchenfamilien, von denen sie hätte abstammen können, ausgerechnet diesen doofen Froschkönig als Vorfahren erwischt hatte.

Neben Otto und Herrn Hauff, dem Lehrer für Märchengeschichte und Märchenkunde, war die Krankenschwester die Person, die Leonie am allerliebsten von allen Erwachsenen auf Schloss Rosenfels mochte. Zwar sah sie mit ihren flammend roten wilden Locken, den grünen Augen und den vielen Sommersprossen so ganz anders aus als ihre Mama, trotzdem erinnerte sie Leonie immer ein bisschen an sie. Weil sie genauso verständnisvoll und geduldig war und man sich schon allein durch ihre Anwesenheit viel besser fühlte als vorher.

Diese Wirkung konnte man Frau Rabenmeier leider so gar nicht zuschreiben. Die Lehrerin war schon nicht sonderlich gut gelaunt gewesen, als sie mit Herrn Regulus gesprochen hatte. So richtig mies war ihre Stimmung aber erst geworden, als Leonie es einfach nicht geschafft hatte, sich trotz der vielen Einzelstunden wieder zurückzuverwandeln – und es auch ihr selbst erst beim vierten Versuch gelungen war. Nach dieser Anstrengung war Leonie so schwindelig gewesen, dass sie von Hans zu Miss O’Fee auf die Krankenstation gebracht werden musste.

Dort war es, abgesehen von einem ekligen Schneckenschleim-Stärkungstrank, auch echt schön gewesen. Miss O’Fee stellte dort nämlich immer eine Duftlampe auf, die nach Milchschnitte roch, und aus einem Lautsprecher erklang leise Entspannungsmusik. Doch jetzt musste sie sich wieder der Realität stellen. Und dazu gehörten auch die doofen Sprüche ihrer Klassenkameraden über ihr Frosch-Problem. Deprimiert schlug Leonie die warme Bettdecke zurück und machte sich auf den Weg in ihr Zimmer, um vor dem Essen noch ihren Schulrucksack dort abzustellen.

 

Claudette hockte im Bücherregal und blinzelte verschlafen, als Leonie hereinkam. Aus einer alten Pudelmütze hatte sie der Taube ein gemütliches Bett gebaut. Leonie streichelte Claudette über das graue Köpfchen. Ihre Federn waren so unglaublich weich und zart und ihre Knochen so zerbrechlich.

Du müsstest nur deine Finger um ihren Hals legen und ein kleines bisschen fester zudrücken … Ist es nicht ein gutes Gefühl, die Macht über Leben und Tod zu haben?

Was? Leonie fuhr so jäh zurück, dass die Taube erschrocken zusammenzuckte und vorwurfsvoll gurrte. Leonies Herz fing an zu rasen. Diese Stimme, die kannte sie doch!

Wie auf Kommando fing das Buch an, in seinem Versteck so wild zu rebellieren, dass ihr ganzes Bett anfing zu wackeln.

»Pssst!«, zischte Leonie und klopfte auf die Matratze, doch Finsterwelt bewegte sich daraufhin nur noch heftiger. Mit einem lauten Geräusch krachte das Bett gegen die Wand.

Schnell setzte sich Leonie auf die Ecke der Matratze, unter der das Buch versteckt war, doch es machte unbeeindruckt von ihrem Gewicht weiter. O nein! So heftig hatte es sich ja bisher noch nie aufgeführt, dachte Leonie beklommen. Seit der Nacht in Immendorf hatte es auch nie wieder mit ihr gesprochen. Sie hatte schon angefangen zu hoffen, sich alles nur eingebildet zu haben. Selbst jetzt hoffte sie das noch! Ein Buch, das sich bewegte und das auf keinen Fall geöffnet werden durfte, war schließlich schon Herausforderung genug. Oder hatte das Buch gar nicht zu ihr gesprochen, sondern es waren nur ihre eigenen finsteren Gedanken gewesen?

Erneut ließ Finsterwelt das Bett gegen die Wand donnern, und dieses Mal so fest, dass Leonie fast nach hinten umkippte. Sie sprang auf. Wenn sie nicht wollte, dass jemand den Radau hörte und nachschauen kam, was los war, konnte sie Finsterwelt auf gar keinen Fall unter der Matratze lassen. Sie holte das Märchenbuch heraus und schaute sich im Zimmer nach einem anderen Versteck um. Dabei versuchte es immer wieder, sich aus ihrem Griff zu befreien. Es wirkte auf Leonie, als würde es irgendwo hinwollen. Aber wohin? Vielleicht würde es sich am wohlsten fühlen, wenn es die Gesellschaft von Artgenossen hatte. Leonie schob Finsterwelt zwischen zwei Märchenbücher, wo es unauffällig wirkte. Doch zwei schnelle Rechts-Links-Bewegungen sorgten dafür, dass nicht nur die Bücher aus dem Regal gefegt wurden, sondern auch Leonies Pudelmütze. Mit Claudette darin. Empört schlug die Taube mit ihren Flügeln und ließ aus Protest auch gleich noch ein Taubenhäufchen auf den Schreibtisch fallen. Ach Mensch! Es half alles nichts, sie musste das Buch mit zum Essen nehmen. Leonie stopfte es zu ihren Schulbüchern in den Rucksack. Offenbar waren die ihm als Gesellschaft lieber als die Märchenbücher, denn dort gab es überraschenderweise sofort Ruhe. Vielleicht konnte sie es im Rucksack auf dem Zimmer lassen? Doch Leonie hatte diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, da hüpfte der schon wieder herum. Dieses Buch machte sie wahnsinnig! Hoffentlich hatte es heute nur einen schlechten Tag. Während der Magischen Märchenmeisterschaft konnte sie es nämlich unmöglich die ganze Zeit mit sich herumschleppen. Wenn sie es doch nur irgendwie loswerden könnte!