Finsterwelt 3. Die märchenhafte Zeitreise - Katharina Herzog - E-Book

Finsterwelt 3. Die märchenhafte Zeitreise E-Book

Katharina Herzog

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Beschreibung

Was ist nur mit Finsterwelt los? Das Buch hat auf einmal einen freundlich blauen Einband, duftet nach Blumen, und versprüht Glitzer und Sterne. Und auch der Finsterwald sieht auf einmal so bunt aus wie ein Feenparadies. Leonie und Tristan ist klar: Hier stimmt etwas ganz und gar nicht. Als eine Exkursion ins Märchenzeitalter ansteht, sehen die beiden ihre Chance, dem Märchenspuk ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Doch dann wird Tristan entführt, und seine Entführer fordern Finsterwelt als Lösegeld. Leonie braucht nun all ihren Mut und Einfallsreichtum, um ihren Freund zu retten - und die gesamte Märchenwelt.

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Über dieses Buch

Märchenwelt in Gefahr

 

Was ist nur mit Finsterwelt los? Das Buch hat auf einmal einen freundlich blauen Einband, duftet nach Blumen und versprüht Glitzer und Sterne. Und auch der Finsterwald sieht plötzlich so bunt aus wie ein Feenparadies. Leonie und Tristan ist klar: Hier stimmt etwas ganz und gar nicht. Als eine Exkursion ins Märchenzeitalter ansteht, sehen die beiden ihre Chance, dem Märchenspuk ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Doch dann wird Tristan entführt, und seine Entführer fordern Finsterwelt als Lösegeld. Leonie braucht nun all ihren Mut und Einfallsreichtum, um ihren Freund zu retten – und die gesamte Märchenwelt.

Prolog – Toni

»Eins, zwei, drei …«, zählte Leonie, und Toni rannte los. Bis zwanzig hatte sie Zeit, sich zu verstecken, und sie wusste auch schon, wo. Dieses Mal würde Leonie sie nicht finden.

Damit ihre große Schwester das Ächzen und Stöhnen der Holztreppe nicht hörte, schlich Toni hinauf in den ersten Stock des Fachwerkhäuschens, in dem sie wohnten. Von dort führte eine Stiege auf einen dunklen, unheimlichen Dachboden. Lange hatte Toni gedacht, dass dort eine Hexe wohnen würde, und war deswegen niemals freiwillig allein nach oben gegangen. Aber inzwischen war sie sogar schon einmal einer echten Hexe begegnet, Frau Hausmännin, und die war total nett zu ihr gewesen.

Langsam drückte Toni die Klinke der Tür zum Dachbodenaufgang hinunter, um ihr kein Geräusch zu entlocken – in dem alten Haus knackte und quietschte wirklich alles. Dann öffnete sie die Tür, und ihre Finger tasteten nach dem Lichtschalter. Doch schon im nächsten Moment zog sie ihre Hand wieder zurück. Wenn Licht brannte, wusste Leonie ja ganz genau, dass sie sich dort oben versteckte. Aber ganz allein im Dunkeln sitzen … Das einzige Fenster auf dem Dachboden war jedenfalls so schmal und schmutzig, dass kaum Licht hineinfiel.

Blöderweise war es mittlerweile zu spät, um sich ein anderes Versteck zu suchen, denn inzwischen war Leonie schon bei der Dreizehn angekommen. Also huschte Toni mit klopfendem Herzen hinauf. Oben angekommen, atmete sie erleichtert auf. Da draußen die Sonne schien, war es lange nicht so dunkel wie bei ihrem letzten Besuch auf dem Speicher. Das war an Weihnachten gewesen, und sie hatte mit Papa den Christbaumschmuck heruntergeholt. Seitdem hatte sich nichts verändert. Tonis altes Dreirad stand in einer Ecke, genau wie das Puppenhaus, mit dem sie früher so gerne gespielt hatte, der Kaufladen, den Papa selbst gebaut hatte, der Metallständer mit Mamas Kleidern … Mama hatte eine durchsichtige Tüte über sie gezogen, damit sie nicht staubig und schmutzig wurden. Sie war Kostümbildnerin am Theater gewesen und hatte so viele Kleider besessen, dass nicht alle in das Schlafzimmer gepasst hatten. In Tonis Hals bildete sich ein Kloß. Obwohl Mama jetzt schon so lange tot war, machte sie der Gedanke an sie immer noch traurig. Und noch trauriger machte es sie, dass Papa jetzt mit dieser blöden Agatha zusammen war! Hätte er sich nicht eine nette Freundin suchen können, so wie Miss O’Fee? Toni liebte Feen, und Miss O’Fee war ganz besonders toll. Leonie und sie hatten sogar schon Pläne geschmiedet, wie sie sie mit Papa verkuppeln konnten. Doch dann war auf einmal Agatha aufgetaucht …

»Ich kommeeeee!«, rief Leonie, und Toni zuckte zusammen. Sie musste sich so schnell wie möglich verstecken! Am besten hinter dem Metallständer. Die Kleider hingen so tief, dass ihre große Schwester sie dahinter nicht sofort entdecken würde. Auf Zehenspitzen schlich Toni zu ihrem Versteck und schob sich hinter die schweren Kleidersäcke.

Aua!

Etwas Spitzes hatte sich in Tonis Po gebohrt. Sie drehte sich um. Es war die Ecke einer weißen Holztruhe, die mit bunten Blumen bemalt worden war. Sie gehörte Leonie, die ihre liebsten Erinnerungsstücke darin aufbewahrte. Toni öffnete sie. Ein Strampelanzug befand sich darin, genau wie ein Paar winzige Schuhe und Pops, Leonies alter Teddybär.

Der Arme! Bestimmt langweilte er sich so ganz allein in der dunklen Truhe. Mitfühlend holte Toni ihn heraus. Dabei spürte sie eine Bewegung unter ihren Fingerspitzen.

Uuuh!

Gerade noch so schaffte sie es, einen Schrei zu unterdrücken. Eine Maus!, war ihr erster Gedanke. Aber dazu hatte es sich zu hart angefühlt – und zu wenig fellig. Toni schob eine rote Pappmappe und ein Türschild mit Winnie Puuh und Ferkel darauf zur Seite. Darunter lag ein altes Buch. Ein Buch, das mit zwei Gürteln zusammengebunden war. Es hüpfte auf und ab und machte einen ganz schönen Krach dabei. Sicher war es ein magisches Buch, und Leonie hatte es von Schloss Rosenfels mitgebracht. Tonis Herz klopfte vor Aufregung fest gegen ihre Rippen. Wie aufregend! Prüfend hob sie den Kopf und spähte in den Speicher hinein, lauschte angestrengt. Von ihrer Schwester war immer noch nichts zu sehen und zu hören. Sie konnte das Buch also ruhig herausholen – aber vorsichtig! Bei magischen Gegenständen konnte man schließlich nie wissen. Nicht, dass das Buch sich auf einmal in ihren Händen in Luft auflöste, davonflog oder ihr auf den Kopf schlug. Doch ihre Sorgen waren unbegründet, denn kaum hatte Toni ihre Finger um den Einband geschlossen, hörte das Buch sofort damit auf, sich unruhig hin und her zu bewegen, und sie konnte es in Ruhe betrachten. Finsterwelt stand da. Das wahre Märchenbuch. Ein gewisser Ferdinand Grimm hatte es geschrieben. Moment mal, Ferdinand? Jacob und Wilhelm Grimm kannte Toni natürlich, von ihnen stammten all ihre Lieblingsmärchen. Wenn der Autor dieses Buchs den gleichen Nachnamen trug wie die berühmten Brüder Grimm, war er wahrscheinlich ein Verwandter von ihnen. Aber da Toni noch nie von ihm gehört hatte, waren seine Märchen wahrscheinlich nicht besonders gut.

Ach, schade!

Toni war richtig enttäuscht, denn sie hatte auf ein Zauberbuch gehofft; mit coolen Zaubersprüchen darin. Es wäre so total super, wenn auch sie Stifte und Radiergummis herumfliegen lassen könnte, so wie Leonie. Aber das seltsame Buch war bloß ein Märchenbuch – und nicht einmal ein hübsches. Im Gegenteil! Es war sogar richtig hässlich. Die Seiten sahen aus, als hätte sie jemand angekokelt, und der Einband war ganz kaputt. Toni fuhr über einen Riss und spürte ein Kribbeln unter den Fingerspitzen. Überrascht zuckte sie zurück und starrte auf das Buch. Denn nicht nur durch ihre Finger schien Magie geströmt zu sein: Der Riss – sie blinzelte, weil sie ihren Augen nicht traute –, er hatte sich geschlossen. Oder war an dieser Stelle doch gar keiner gewesen? Vorsichtig und mit einem erneuten Kribbeln in den Fingern, berührte Toni eine andere kaputte Stelle. Auch sie wurde wieder ganz. Genau wie die dritte, vierte, fünfte, die sechste. Das war aber noch nicht alles! Toni keuchte. Kaum hatte sich der letzte Riss geschlossen, fing das Buch wie eine Lichterkette zu leuchten und zu funkeln an, und dann änderte es auch noch seine Farben. Das Pechschwarz des Einbands wurde mitternachtsblau, das Blutrot der Buchstaben pink.

Öffne mich!

Toni zuckte so heftig zusammen, dass ihr das Buch aus der Hand glitt und mit einem Poltern auf die staubigen Dielenbretter des Speicherbodens fiel. Mist! Sicher hatte Leonie das gehört. Erschrocken lauschte Toni in die Dunkelheit. Doch von der leisen, zischenden Stimme war nichts mehr zu hören. Toni atmete auf. Sie musste sie sich eingebildet haben.

Doch da war sie schon wieder. Los! Jetzt öffne mich doch schon! Das Leuchten und Funkeln des Buches verstärkte sich, und es wackelte hin und her. Schnell nahm Toni es hoch, damit es nicht noch mehr Krach machte, und betrachtete es unentschlossen. Sie wusste ganz genau, dass Leonie mit ihr schimpfen würde, wenn sie sie hier oben mit dem Buch in der Hand entdeckte. Schließlich musste es einen Grund haben, wieso ihre große Schwester das Buch in einer Truhe in der hintersten Ecke des Speichers versteckt – und es außerdem noch mit zwei Gürteln zugebunden hatte. Trotzdem musste sie einfach einen Blick hineinwerfen. Zumindest einen kurzen.

Obwohl Toni ganz allein auf dem Dachboden war, schaute sie sich noch einmal nach allen Seiten um, bevor sie sich an der Schnalle des schwarzen Gürtels zu schaffen machte. Die Ecken des Buches bogen sich nach außen, und die Seiten flatterten. Beeil dich!, zischte es ihr zu.

»Jaja«, murmelte Toni. Es war gar nicht so leicht, den schwarzen Gürtel durch die Schnalle zu ziehen, denn das Leder war ziemlich fest und unbeweglich. Den Stoffgürtel dagegen hatte sie ruckzuck geöffnet.

Huch!

Das Buch sprang auf, und eine Wolke aus Glitzer und kleinen Sternen schlug Toni entgegen. Sie roch nach Zuckerwatte und Blumen und kitzelte sie in der Nase. Toni wedelte mit den Händen den Sternenglitzer weg. Erst jetzt erkannte sie, dass die Buchstaben in dem Märchenbuch nicht gedruckt, sondern mit der Hand geschrieben worden waren – und welche Geschichte nun aufgeschlagen vor ihr lag. Die Dreizehnte Fee stand in einer gut lesbaren Schrift oben auf der linken Seite.

Oh! Feen mochte Toni von allen Märchenwesen am allerliebsten! Außerdem hatte sie die Figur der Dreizehnten Fee schon fasziniert, als Papa ihr das erste Mal das Märchen Dornröschen vorgelesen hatte. War es nicht unglaublich gemein von Dornröschens Eltern, dem König und der Königin, gewesen, dass sie die Dreizehnte Fee als einzige von allen Feen nicht zur Taufe ihrer Tochter eingeladen hatten? Und das nur, weil kein goldener Teller mehr für sie übrig gewesen war. Die Dreizehnte Fee hätte sicher auch von einem ganz normalen gegessen.

Es war einmal eine wunderschöne Fee, die glücklich und zufrieden in ihrem Feenreich lebte, bis sich eines Tages ein junger blonder Mann dorthin verirrte, las Toni. Von Zeile zu Zeile wurden ihre Augen größer, und als sie am Ende angekommen war, musste sie ein paarmal tief durchatmen. Dieser schreckliche König! Toni wusste jetzt, wieso sie Dornröschens Vater noch nie hatte leiden können. Und nach allem, was er ihr angetan hatte, wunderte es sie auch nicht mehr, dass die Dreizehnte Fee so böse geworden war. Toni knabberte auf einer Haarsträhne herum, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte. Ob die Geschichte wohl wahr war? So erzählt, ergab sie für Toni jedenfalls viel mehr Sinn. Auch wenn sie es ganz furchtbar fände, wenn wirklich alle Bewohner des Dornröschenschlosses an einer Seuche gestorben wären.

»Toni!«, hörte sie Leonie von unten rufen.

Toni erschrak. Die letzten Minuten war sie so von der traurigen Geschichte der Dreizehnten Fee gefangen genommen worden, dass sie an ihre große Schwester gar nicht mehr gedacht hatte. Schade, dass sie jetzt aufhören musste! Sie hätte gerne noch ein bisschen in dem seltsamen Märchenbuch weitergelesen und herausgefunden, welche Geschichten noch alle darin standen. Schweren Herzens klappte sie das Buch zu, doch es wehrte sich noch heftig dagegen. Sobald sie es geschlossen hatte, sprang es schon wieder auf. O nein! Toni wurde ganz elend. Was sollte sie denn jetzt machen? Das seltsame Märchenbuch musste doch in die Truhe zurück.

Natürlich! Die beiden Gürtel! Deshalb hatte Leonie sie darumgebunden.

Toni kniete sich auf das Buch, damit es sich nicht selbstständig machte, und suchte mit den Augen den Boden nach ihnen ab. Doch dort, wo sie die Gürtel hingeworfen hatte, lagen auf einmal nur zwei Rosenranken.

»Toni! Toooni! Wo bist du denn nur? Komm raus, du hast gewonnen!«, schallte es die Treppe hinauf. Dieses Mal aber viel ungeduldiger.

Tonis Herz schlug schneller. Lange konnte es jetzt nicht mehr dauern, bis Leonie auf die Idee kam, auf dem Speicher nach ihr zu suchen, denn ihre Stimme war jetzt schon viel näher als vorher. Doch das Buch bewegte sich weiterhin heftig unter ihren Knien hin und her. So würde sie es nicht wieder in die Truhe zurückbringen. In ihrer Verzweiflung griff Toni nach der einen Rosenranke. Ihr blieb gar nichts anderes übrig, denn was anderes zum Zubinden gab es rund um sie herum ja nicht. Und vielleicht würden sie sich ja auf magische Weise in Gürtel zurückverwandeln?

Das taten sie zwar nicht, aber zu Tonis Erleichterung waren die Ranken immerhin viel biegsamer und weicher, als sie gedacht hatte, und die Dornen überhaupt nicht spitz. Sie hob ihre Knie etwas an, um eine Ranke unter das Buch zu schieben, und band beide Enden zu einem Knoten. Genauso verfuhr sie mit der anderen Ranke. Sie schienen zu halten, denn das Buch wackelte zwar immer noch – aber es blieb geschlossen. Das war knapp gewesen! Toni atmete auf. Blöderweise sah es nur, abgesehen von seinem Titel, überhaupt nicht mehr aus wie vorher. Aber da es ein magisches Buch war, würde Leonie sich vielleicht darüber gar nicht so sehr wundern!

»Tschüss, Buch, bis hoffentlich bald!«, flüsterte Toni und legte es in die Truhe zurück. Dann platzierte sie mit schnellen Handgriffen die Mappe und Pops wieder auf dem zitternden Einband.

Tschüss, kleine Fee!, meinte sie noch, zu hören, bevor sie den schweren Holzdeckel schloss, aber das hatte sie sich bestimmt wirklich nur eingebildet. Wieso schließlich hätte das Buch sie kleine Fee nennen sollen?

Toni lief zur Speichertür und spähte durch einen Spalt.

»Toni, ich werde langsam echt sauer!«, hörte sie Leonie im Erdgeschoss schimpfen. »Ich habe dir doch gesagt, dass du gewonnen hast.«

»Hier bin ich!« Toni schlüpfte hinaus. Doch bevor sie noch ein Stockwerk tiefer zu ihrer Schwester lief, blieb sie kurz stehen, um sich zwischen ihren Schulterblättern zu kratzen. Irgendetwas juckte dort ganz furchtbar.

1

Agatha Schwefel war eine Teufelin! Das hätte sich Leonie natürlich schon aufgrund ihres Namens denken können, aber dass die neue Freundin ihres Vaters wirklich vom Teufel abstammte und außerdem noch eine Verwandte von Dr. Finzi war, hatte sie dann doch überrascht. Genauso wie das, was Agatha Papa, Toni und ihr gerade beim Mittagessen verkündete.

»Ich werde mit zur Schule fahren.« Sie tupfte sich mit einer Serviette den Mund ab, der genauso knallrot war wie das Kleid, das sie trug.

Was? Leonie, die sich gerade eine Pommes in den Mund geschoben hatte, verschluckte sich und fing an, zu husten, sodass Papa ihr fest auf den Rücken klopfen musste, damit sie wieder Luft bekam.

»Alles wieder gut?«, fragte Toni besorgt über den Tisch hinweg, und Leonie nickte. Dabei hätte sie am liebsten den Kopf geschüttelt. Denn gar nichts war gut. Reichte es nicht, dass Agatha zu Hause ständig bei ihnen rumhing?

Auch Papa war überrascht. »Das kommt jetzt aber plötzlich. Du hast gar nicht erwähnt, dass du darüber nachdenkst.«

»Ich bin nun einmal sehr spontan.« Agatha legte ihre Finger mit den spitzen dunkelrot lackierten Fingernägeln auf seinen Arm. »Aber wenn ihr lieber allein fahren wollt, verstehe ich das natürlich.«

Ja, wollen wir! Papa, sag, dass sie zu Hause bleiben soll!, versuchte Leonie, ihn zu beschwören, aber Gedankenübertragung gehörte leider nicht zu ihren magischen Fähigkeiten.

»Natürlich kannst du mitkommen. Wir würden uns freuen.« Papa drückte Agathas Hand.

Na toll!

»Wunderbar!« Die Teufelin strahlte ihn an. Als Toni Leonie das erste Mal von ihr erzählt hatte, hatte sie gesagt, dass ihr Mund so groß war, dass sie einen ganzen Schokokuss auf einmal hineinstecken könnte. Aber auch ihre Zähne waren riesig. Und ihre Haare so unglaublich blond, dass sie unmöglich echt sein konnten. Gerade strich sie sich geziert eine Locke hinter das Ohr. »Die Gelegenheit ist zu günstig. Ich möchte unbedingt Leviathan kennenlernen. In unserer Familie ist er eine Legende.«

»Weiß er, dass du ihn heute besuchen willst?«, erkundigte sich Papa.

Agatha schüttelte ihre blonden Locken. »Ich möchte ihn überraschen.«

»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist«, warf Leonie ein. Vielleicht konnte sie ihren Besuch auf Schloss Rosenfels doch noch verhindern. »Am ersten Tag nach den Ferien hat Dr. Finzi immer wahnsinnig viel zu tun.«

Doch Agatha winkte ab. »Ich will ihn ja gar nicht aufhalten, sondern nur einmal kurz Hallo sagen.« Sie blickte auf ihre Uhr. »Wann fahren wir los?«

»In einer Stunde«, antwortete Papa. »Hast du eigentlich inzwischen schon gepackt?«, fragte er Leonie.

»Nein. Aber ich schaffe das!« Sie stopfte sich den letzten Bissen ihres Hamburgers in den Mund. Da sie es hasste, zu packen, schob sie das immer bis zur allerletzten Sekunde auf.

»Ich helfe dir.« Auch Toni stand auf. »Hätte sie Dr. Finzi nicht in den Ferien besuchen können?«, murrte ihre kleine Schwester leise, kaum dass sie das Esszimmer verlassen hatten. »Überall muss sie dabei sein.«

Ja, es war schrecklich! »Ich kann echt nicht verstehen, wieso Papa sich ausgerechnet sie als Freundin ausgesucht hat.«

»Bestimmt liegt es daran, dass sie immer über seine Witze lacht«, meinte Toni. »Sogar über die, die gar nicht lustig sind.«

Leonie vermutete eher, dass sie ihn mit einem Liebeszauber verhext hatte. Aber das sagte sie Toni nicht. Im Gegensatz zu ihr wohnte ihre kleine Schwester ja noch zu Hause, und sie sollte keine Angst vor ihr haben.

 

In Leonies Zimmer sah es aus, als wäre eine Bombe explodiert. Überall lagen Kleider, Süßigkeitenverpackungen und Flaschen herum. Aufräumen hasste Leonie nämlich genauso sehr wie Packen, aber inzwischen fühlte selbst sie sich in dem Zimmer nicht mehr wohl.

»Mir fällt gerade ein, dass ich für die Fahrt auch noch ein paar Sachen zusammensuchen muss«, sagte Toni, und Leonie konnte es ihr nicht verdenken, dass sie beim Anblick dieses Chaos keine Lust mehr hatte, ihr zu helfen. »Aber ich kann deinen Koffer vom Dachboden holen, wenn du magst«, bot ihre kleine Schwester an.

»Hast du keine Angst mehr vor der Hexe, die dort oben wohnt? Oder vor den Mäusen und Spinnen?«, neckte Leonie sie.

»Vor Mäusen und Spinnen hatte ich noch nie Angst«, entgegnete Toni empört. »Und vor Hexen auch nicht mehr, seit ich Frau Hausmännin kenne. Also, darf ich?« Sie schaute Leonie schon fast flehend an, doch die musste ablehnen.

»Ich räume schnell auf und hole ihn dann selbst.«

»Okay!« Leonie sah ihrer Schwester die Enttäuschung deutlich an. Bestimmt hatte sie den Gang nach oben als Mutprobe angesehen. Doch es war nicht nur der Koffer, den Leonie vom Dachboden holen musste, sondern auch Finsterwelt.

Das Buch hatte sie nämlich in der Truhe versteckt, in der sie ihre Erinnerungsstücke aus der Baby- und Kinderzeit aufbewahrte. Leonie war immer noch unglaublich stolz auf dieses Versteck. Toni hatte sich bisher nämlich nicht getraut, allein auf den Dachboden zu steigen, und auch Papa ging nur hinauf, wenn es unbedingt sein musste. Im Dachgeschoss hingen schließlich noch immer eine ganze Menge Kleider aus Mamas Theaterfundus, und deren Anblick machte ihn immer traurig. Das Einzige, was Leonie Sorgen gemacht hatte, war, dass Finsterwelt in der Truhe so einen Radau veranstalten könnte, dass Papa dachte, dass sie dort oben ein Tier versteckt hielt. Oder Toni, dass ihr Dachboden wirklich die Wohnung einer Hexe war. Bisher hatte sich das Märchenbuch jedoch zum Glück ganz ruhig verhalten. Und es war auch nicht auf magische Weise während des Mittagessens mitten auf dem Esstisch aufgetaucht, oder an sonst einem Platz, der Leonie in Erklärungsnöte gebracht hätte.

Hoffentlich war das nicht die Ruhe vor dem Sturm, schoss es Leonie durch den Kopf, während sie den Müll in den Papierkorb steckte. Die letzten Monate waren turbulent genug gewesen, und sie sehnte sich echt in die Zeit zurück, in der ein Besuch bei den Einhörnern im Finsterwald das Aufregendste gewesen war, was in ihrem Leben geschah. Wenn sie Finsterwelt doch nur endlich los wäre! Vor den Ferien wäre es doch schon fast so weit gewesen.

Als Sieger bei den Magischen Märchenmeisterschaften hatte Leonie mit ihrer Mannschaft nämlich unter anderem einen Wunsch von einem echten Dschinn gewonnen. Dem aus Aladins Wunderlampe. Leonie hatte sich von ihm gewünscht, dass er Finsterwelt verschwinden ließ, was er auch getan hatte. Aber noch vor der großen Abschlussgala war das Buch wieder in ihrem Zimmer aufgetaucht. Es war zum Verrücktwerden! Denn wenn nicht einmal der mächtige Dschinn der bösen Magie des Märchenbuchs etwas entgegensetzen konnte, wer dann? Zu gern hätte Leonie es einfach in der Truhe gelassen und es nicht zurück zur Schule mitgenommen, aber das Risiko konnte sie leider nicht eingehen. Das Buch hatte in der Vergangenheit immerhin bereits mehrmals bewiesen, wie unberechenbar es war.

 

Nachdem Leonie fertig aufgeräumt und gepackt hatte, lief sie mit einem flauen Gefühl im Magen auf den Dachboden. Obwohl sie sich vorgenommen hatte, jeden Tag nach Finsterwelt zu sehen, war sie seit Beginn der Ferien nicht mehr hier oben gewesen. Sie hatte nicht auch noch in den Ferien ständig an das Buch denken wollen. Es reichte schon, dass sie es während der Schulzeit ständig tat. Nun war Leonie sich jedoch nicht sicher, ob das klug gewesen war. Nicht, dass es dem blöden Buch in der Zwischenzeit gelungen war, sich auf und davon zu machen! Inzwischen traute Leonie Finsterwelt alles zu.

 

Als Leonie ein wenig später in den Speicherraum trat, atmete sie erleichtert auf: Die Truhe stand unversehrt an ihrem Platz. Leonie hatte sie hinter den Ständer mit Mamas Kleidern geschoben. Papa hatte es bisher noch nicht geschafft, sich von ihnen zu trennen, und sie hoffte, dass das auch so bald nicht der Fall sein würde. Denn hin und wieder befreite sie sie heimlich von ihrer Schutzhülle, ließ die Stoffe durch ihre Finger gleiten und stellte sich vor, wie Mama ausgesehen hatte, wenn sie sie getragen hatte. Als sie noch gelebt hatte, hatte Leonie es geliebt, sich mit ihnen zu verkleiden. Nicht nur an Fastnacht, sondern auch zu Halloween und zu allen Kindergeburtstagen. An Leonies letztem Geburtstag, bevor ihre Mama gestorben war, hatte Mama ein schilfgrünes Kleid mit einem ganz bauschigen Rock getragen und war in schillernde Flügel geschlüpft. Alle ihre Freundinnen hatten gemeint, dass sie wie eine echte Fee aussehen würde.

Leonie schob die Kleider beiseite und zog ihre Truhe hervor. Mit einem Ruck öffnete sie den Deckel – und hätte ihn fast wieder fallen gelassen. Denn darin leuchtete etwas so stark, dass es sie blendete. Leonie blinzelte, um wieder klarer sehen zu können. Das Leuchten war dunkelblau mit einem Hauch Rosa darin, und es kam vom Boden der Truhe. Außerdem roch es, als hätte jemand ein ganzes Fläschchen Rosenöl darin ausgekippt. Was das wohl war? Leonie schob die rote Pappmappe mit ihren Kinderzeichnungen beiseite.

Im nächsten Moment stieß sie einen erstickten Schrei aus. Denn es war Finsterwelt, das so intensiv leuchtete, und nicht nur das: Das Buch sah vollkommen verändert aus! Sein Einband war blau statt schwarz, die ehemals blutroten Buchstaben waren pink, statt Leonies Gürteln hielten zwei Rosenranken es verschlossen, und bei jeder seiner Bewegungen stiegen Glitzer und Sternchen von ihm auf.

»Bist du bald fertig?«, hörte sie Papas Stimme. »In fünfzehn Minuten ist Abfahrt.«

»Ich komme«, krächzte Leonie.

Vorsichtig nahm sie das Märchenbuch aus der Truhe. Der Rosenduft, der von ihm ausging, war so stark, dass sie würgen musste. So weit es ihre Arme zuließen, hielt sie es von ihrem Körper weg und lief auf wackeligen Beinen zu ihrem Koffer. Gerade, als Leonie Finsterwelt hineinlegen wollte, machten sich die Blumenranken, die um den Einband geschlungen waren, plötzlich selbstständig und hefteten sich wie Kletten an ihre Hände und Handgelenke. Ganz so, als wollten sie sich an ihr festklammern. Völlig perplex zerrte Leonie die Pflanzenstränge von ihren Armen und schaffte es endlich, das Buch im Koffer zu verstauen. Was war denn nur mit Finsterwelt passiert?

2

Toni, Agatha und Papa warteten schon am Auto, als Leonie mit dem Koffer, ihrem Schulrucksack und einer Sporttasche nach unten kam.

»Huhu!«, begrüßte sie Agatha. Sie rief immer Huhu zur Begrüßung, und wie alles an ihr ging Leonie auch das gehörig auf den Keks. Sie drängte sich an ihr und Toni vorbei zum Kofferraum, um ihr Gepäck hineinzuhieven.

»Iiieh! Wie riechst du denn?« Toni verzog das Gesicht.

»Das ist … mein Parfüm.« Leonie spürte, dass sie rot wurde. Die letzten fünf Minuten vor der Abfahrt hatte sie damit verbracht, Finsterwelt in der Luft herumzuwedeln (wobei so viel Glitzer aus dem Buch herausgekommen war, dass es auf Leonies Zimmerboden ausgesehen hatte, als hätte sie gebastelt). Sie hatte auch probiert, das Buch aus dem Fenster zu halten und es sogar zu föhnen, um den Geruch abzumildern. Aber es schien alles nichts genutzt zu haben.

»Parfüm, soso«, schmunzelte Papa, woraufhin Leonies Kopf sich gleich noch heißer anfühlte. Sicher dachte er jetzt, sie hätte das für einen Jungen getan, womöglich sogar für Tristan.

»Ich finde, es riecht gut. Ich liebe Rosen«, sagte Agatha.

Typisch, dass sie ihren Senf dazugeben musste! Papa musste doch auch merken, wie nervig Agatha war. Doch er schien sie wirklich zu mögen. Todsicher war bei ihrem Kennenlernen ein Liebeszauber im Spiel gewesen. Sonst wäre es Agatha doch nie so schnell gelungen, sich in ihre Familie zu schmuggeln. Schließlich war es noch nicht einmal einen Monat her, dass Papa und Toni sie in der Teufelshöhle getroffen hatten. Leonie verdrehte die Augen. Und hätte sie sich nicht noch umziehen können, bevor sie losfuhren? Agatha trug immer noch das gleiche enge Kleid wie beim Mittagessen. Sie sah aus wie eine überdimensionale Klatschmohnblüte. Jeder auf der Schule würde sie darin anstarren.

»Hopp, hopp! Jetzt aber los! Sonst kommen wir noch zu spät.« Papa klatschte in die Hände.

»Ich wünschte echt, ich könnte auch auf Schloss Rosenfels zur Schule gehen«, seufzte Toni, nachdem sie eingestiegen waren. »Dann hätte ich nicht nur so langweilige Fächer wie Mathe und Deutsch.«

Leonie zog eine Grimasse. »Würdest du das auch wollen, wenn die Voraussetzung dafür wäre, dass du dich hin und wieder aus Versehen in einen Frosch verwandelst?«

»Bei mir muss sich die Froschkönig-Magie doch gar nicht so äußern. Mir könnte ja zum Beispiel eine Krone wachsen. Das fände ich cool!«

»Das wäre auch cool!« Agatha lachte laut.

Nein, das wäre es nicht!, dachte Leonie genervt. Denn auch eine Krone, die wie aus dem Nichts auf Tonis Kopf auftauchte, würde für einige Verwirrung sorgen und könnte sie in Gefahr bringen. Das sollte Agatha als Mitglied der Magischen Märchengesellschaft eigentlich wissen. Nicht-magische Menschen standen Vorkommnissen, die sich nicht mit dem Verstand erklären ließen, nämlich im Allgemeinen nicht besonders aufgeschlossen gegenüber. Deshalb war es ja so wichtig, dass Leonie und all die anderen Kinder auf Schloss Rosenfels lernten, ihre Magie zu kontrollieren.

Jedoch war es verschwendete Energie, Toni zu erklären, dass das Leben mit magischen Kräften auch echt viele Nachteile hatte, denn für ihre kleine Schwester war Leonies Leben auf Schloss Rosenfels im wahrsten Sinne des Wortes ein einziges Märchen. Mit Fächern wie Gestaltwandeln, Kräuterkunde, Tier- und Pflanzenmagie, einer ganzen Kammer voller magischer Dinge wie fliegenden Teppichen, Tarnkappen und Sieben-Meilen-Stiefeln und Einhörnern, Wölfen und Dilldappen als Schultiere. In der Brüder-Grimm-Grundschule von Steinau gab es nur Rennmäuse und einen Axolotl.

»Ist Opal eigentlich noch auf Schloss Rosenfels, oder hat Otto ihn schon wieder in den Finsterwald zurückgebracht?«, wollte Toni wissen. Das Einhorn gehörte nämlich eigentlich nicht in den Tierpark, sondern es war nur dort gesund gepflegt worden, nachdem Isegrim es verletzt hatte. Isegrim, der riesige, bösartige Wolf aus dem Rotkäppchen-Märchen, der hoffentlich endlich ein für alle Mal das Weite gesucht hatte. Genau wie Gothel, die Hexe, die zusammen mit ihm aufgetaucht war, nachdem Leonie Finsterwelt das erste Mal geöffnet hatte.

»Wir können Otto ja mal fragen. Wenn Opal noch da ist, darfst du ihn sicher besuchen«, antwortete Leonie, und ein glückliches Lächeln ließ das Gesicht ihrer kleinen Schwester strahlen. Zwar hatte sie Mamas rote Haare nicht geerbt, sondern war blond, aber ansonsten sah sie ihr mit ihrem herzförmigen Gesicht, den vielen Sommersprossen und den vollen Lippen so ähnlich, dass es Leonie manchmal richtiggehend wehtat, sie anzuschauen. Hoffentlich hatte Mamas Erbe nicht nur in Tonis Aussehen durchgeschlagen! Im Gegensatz zu Papa stammte sie nämlich von keiner Märchenfamilie ab, und insofern bestand noch die Hoffnung, dass Toni sich nicht in eine grüne, glitschige Amphibie mit Schwimmhäuten verwandelte, wenn sie aufgeregt war. Oder ihr eine Krone wuchs. Sosehr sie sich das jetzt auch wünschte.

»Kannst du Dornröschen anmachen?«, bat Toni Papa. Da das Schloss früher tatsächlich der Stammsitz der Dornröschenfamilie gewesen war, wollte sie sich das Hörspiel immer auf der Fahrt dorthin anhören.

Es waren einmal ein König und eine Königin, die wünschten sich nichts sehnlicher als ein Kind, schallte es kurz darauf aus den Lautsprechern des Autos. Am Anfang hörte Leonie auch noch zu, denn das war früher auch immer eines ihrer Lieblingsmärchen gewesen. Doch bereits an der Stelle, an der die Dreizehnte Fee aufgrund eines fehlenden dreizehnten Tellers nicht zur Taufe der kleinen Prinzessin eingeladen worden war, schweiften ihre Gedanken wieder zu Finsterwelt. Obwohl das Märchenbuch nun viel, viel hübscher aussah als vorher, kam es ihr mehr denn je wie eine Zeitbombe vor, die jederzeit explodieren konnte. Verzweifelt überlegte sie, was denn die Ursache dafür sein könnte, dass das Buch auf einmal vollkommen anders aussah, aber ihr fiel nicht eine einzige ein. Ob sie doch einem Erwachsenen von Finsterwelt erzählen sollte? Aber wem? Vor der Magischen Meisterschaft hatte Leonie versucht, sich Onkel Philipp anzuvertrauen. Als Märchenforscher waren ihm schließlich vielleicht schon öfter solche magischen Bücher begegnet. Doch bevor sie ihm das Märchenbuch hatte zeigen können, war es Gothel gelungen, mit ihrem Flugstaubsauger Heinrich den Schutzbann, der Schloss Rosenfels umgab, zu durchbrechen, und ein Alarm in Form eines Feuerwerks war losgegangen. Alle mussten sich umgehend im Speisesaal versammeln, und danach hatte es keine Gelegenheit mehr gegeben, mit Onkel Philipp über das Märchenbuch zu sprechen. Außerdem hatte Leonie immer noch große Angst davor, was passieren würde, wenn er oder jemand anderes das Buch öffnete, um es zu untersuchen.

Erst Tonis Stimme brachte Leonie wieder in die Gegenwart zurück. »Oh, wie schön! Hier sieht es ja aus wie bei Barbie Elfinchen!«

Barbie Elfinchen? Leonie musste zweimal hinschauen, um sich zu vergewissern, dass ihre Augen ihr keinen Streich spielten. Papa war gerade in den Finsterwald gefahren, und das Waldgebiet, das Schloss Rosenfels umgab, sah vollkommen verändert aus. Viel heller und freundlicher. Farbenfrohe, überdimensional große Schmetterlinge flogen durch die Luft, Kaninchen tollten herum, und die Bäume waren nicht mehr von Efeu bedeckt, sondern von wilden Rosen. Die Luft war erfüllt vom Gesang der Vögel. Leonie zwickte sich in den Arm, um ganz sicherzugehen, dass sie nicht träumte.

»Ich hatte den Wald viel finsterer in Erinnerung«, sagte Agatha.

»Ich auch«, murmelte Papa.

»Können wir aussteigen?«, bettelte Toni. »Vielleicht lassen sich die Kaninchen ja streicheln.« Sie wirkten wirklich sehr zutraulich, ansonsten würden sie sich auch wohl kaum so dicht an der Straße zeigen.

Papa schüttelte den Kopf. »Erst will ich wissen, was es mit dieser Veränderung auf sich hat. Wir fahren weiter zum Schloss.«

»Schade!«, murrte Toni enttäuscht, aber Leonie war froh, denn auch sie wollte so schnell wie möglich zur Schule, um zu erfahren, wieso der Finsterwald auf einmal so feenhaft aussah.

Doch auch auf Schloss Rosenfels wartete eine Überraschung auf sie: Da das Internat leicht erhöht auf einem Felsen lag, war es stets schon von Weitem zu sehen. Heute erblickte Leonie nur die vier Schlosstürme, die in den Himmel ragten, denn das Mauerwerk war von einer dichten Hecke bedeckt. Einer Rosenhecke!

»Wie in Dornröschen!«, rief Toni begeistert, und Leonie wurde ganz übel.

Stimmt! Wie in Dornröschen. Und das war gar nicht gut, denn die letzten beiden Male, als um das Schloss eine Hecke gewachsen war, hatte es zuvor ein großes Unglück gegeben.

»Schnell, fahr weiter!«, bettelte Leonie.

Zum Glück hatte irgendjemand bereits ein Loch in die Rosenhecke geschlagen, sodass sie kurz darauf die Zugbrücke problemlos überqueren konnten.

»Was ist denn hier los?«, rief Papa Fallada zu, dem braunen Pferdekopf, der über dem inneren Tor hing und den Eingang des Schlosses bewachte.

»Wenn ich das nur wüsste!« Fallada schaute zu der Hecke hinüber und seufzte schwer. »Als ich heute Morgen aufgewacht bin, war sie auf einmal da, und bisher hat es noch niemand für nötig gehalten, mich aufzuklären.«

»Sind wir die Ersten?«, fragte Leonie.

»Nein, ein paar andere Familien sind auch schon da, und ausnahmslos von jeder wurde ich gefragt, wo diese verflixte Hecke auf einmal herkommt.« Er schnaubte. »Wie soll ich denn bei dieser Informationslage meine Arbeit anständig ausführen?«

3

Der Schulhof war voll von Kindern und deren Eltern, und alle sprachen aufgeregt miteinander.

»Können wir Otto fragen, ob er mit mir zu Opal geht?«, bettelte Toni.

»Oh! Den würde ich auch gerne sehen!« Agatha klatschte in die Hände, und Leonie verdrehte die Augen. War ja klar!

»Wir schauen mal, ob wir Otto finden.« Papa nahm Toni bei der Hand. »Vielleicht weiß er, was es mit dieser Hecke auf sich hat.«

Während die drei in Richtung Tierpark liefen, brachte Leonie ihr Gepäck auf das Zimmer. So penetrant wie Finsterwelt selbst in ihrem geschlossenen Rucksack roch, wollte sie sich nicht dem Gespött ihrer Mitschüler aussetzen. Marle war offenbar auch schon angekommen. Ihr Koffer stand bereits vor dem Kleiderschrank.

Nachdem Leonie ihren danebengestellt hatte, machte sie sich auf die Suche nach ihrer besten Freundin. Sie fand Marle vor dem östlichen Torturm. Dort stand sie mit Cindy und Stella, die wie immer vollkommen gleich angezogen waren. Heute trugen sie mal wieder Latzhosen mit Ringelshirts darunter. Auch Hans war bei ihnen.

»Wisst ihr, was passiert ist?«, fragte Leonie.

Marle schüttelte den Kopf, dabei wusste sie sonst immer alles. »Wir rätseln auch schon die ganze Zeit herum.«

»Vielleicht nimmt Schloss Rosenfels ja an einem Wettbewerb teil«, mutmaßte Stella. »Ihr wisst schon, so was wie Unser Dorf soll schöner werden. Nur eben als Schloss.«

»Oder Frau Hausmännin hat in ihrem Labor mit Zaubertränken herumexperimentiert, die Sache ist außer Kontrolle geraten, und nun will sie es nicht zugeben.« Dieser Tipp kam von Hans.

»Ich weiß nicht …«, zweifelte Leonie.

Frau Hausmännin, ihre Lehrerin im Fach Braukunst, unterliefen fast nie Fehler. Schließlich war sie nicht Herr Regulus, der Umgang mit magischen Gegenständen auf der Dornröschen-Schule unterrichtete. Was ein echter Hohn war, denn Leonie kannte niemanden, der seine Magie weniger unter Kontrolle hatte als er. Dabei stammte er vom König vom goldenen Berg ab, und sein Bruder war der mächtigste Magier dieser Zeit. Das wurde jedenfalls immer behauptet.

»Unheimlich ist es ja schon, dass die Dornenhecke auf einmal da ist!« Cindy schüttelte sich.

»Aber hübsch sieht sie aus mit all den weißen und rosa Röschen, findet ihr nicht?«, sagte Stella.

»Na ja!«, brummte Hans. »Sie macht halt alles ziemlich düster im Schloss.«

Tatsächlich warf die Hecke einen langen Schatten auf Teile des Hofs. »Meint ihr, dass sie bleibt?«, fragte Leonie.

»Das kann ich mir nicht vorstellen.« Tristan tauchte zwischen Hans und Marle auf. Seine blasse Haut hatte in den letzten zwei Wochen ein wenig Farbe bekommen, wodurch seine blauen Augen noch mehr leuchteten als sonst, fiel Leonie auf. Und obwohl sie sich wirklich dagegen wehrte, konnte sie nicht verhindern, dass ihr Herz bei seinem Anblick ein bisschen schneller schlug.

»Wieso nicht?«, fragte Marle.

»Weil es heute Morgen wegen der Hecke einen ganz schönen Tumult gab. Madame Monique hat so laut geschrien, dass ich davon wach geworden bin.« Im Gegensatz zu den meisten Schülern war Tristan die Ferien über auf dem Internat geblieben. Warum, das hatte er nicht verraten wollen. Aber inzwischen hatte Leonie sich damit abgefunden, dass Tristan um einige Dinge ein Geheimnis machte, wie zum Beispiel darum, von welcher Märchenfamilie er abstammte. »Frau Rabenmeier hat auch alle möglichen Zaubersprüche ausprobiert, um sie wieder zum Verschwinden zu bringen. Aber keiner davon hat funktioniert. Genauso wenig wie die Zaubertränke von Frau Hausmännin«, fuhr er fort.

Leonie wurde immer unruhiger, während sie ihm zuhörte. Sie hätte alles darum gegeben, jetzt mit ihm allein sein und ihm erzählen zu können, dass nicht nur der Finsterwald und das Schloss anders aussahen, sondern auch Finsterwelt.

»Oh, da ist ja Claudette!« Marles Zeigefinger stach in die Luft.

Claudette! Seit Leonie die Taube vor ein paar Wochen völlig entkräftet auf dem Schlosshof gefunden und sie aufgepäppelt hatte, war sie so etwas wie ihr Haustier geworden. Sie hielt ihren Arm nach oben, und Claudette ließ sich darauf nieder.

Zärtlich strich sie der Taube über das weiche graue Gefieder, während Claudette zufrieden gurrte und dann anfing, an Leonies Nase zu knabbern. Leonie musste lachen.

»Ohhh! Wie zahm sie ist! Darf ich sie auch mal anfassen?«, fragte Cindy, und Leonie senkte den Arm. Doch bevor ihre Klassenkameradin die Hand ausstrecken und die Taube berühren konnte, ertönte ein Donnern – so laut, dass Leonie zusammenzuckte und Claudette erschrocken davonflatterte.

 

Völlig perplex schaute Leonie in den Himmel, um zu sehen, ob ein Gewitter aufzog, doch er war so blau wie schon den ganzen Tag.

Dr. Finzi musste für das Geräusch verantwortlich sein, denn gerade erschien er im Eingangsportal des Schlosses.

»Huch, was ist der heute dramatisch!«, spottete Hans.

Für gewöhnlich griff der Schulleiter der Dornröschen-Schule nicht zu solch aufsehenerregenden Maßnahmen, um sich Gehör zu verschaffen. Und wahrscheinlich wären sie auch gar nicht nötig gewesen, denn es wollten ja sowieso alle hören, was Dr. Finzi zu sagen hatte. Augenblicklich war es auf dem Hof so still, dass selbst das Schnurren von Giacomo, dem dicken Schlosskater des Internats, wie eine Lärmbelästigung gewirkt hätte.

»Herzlich willkommen zurück auf Schloss Rosenfels, liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Eltern!« Dr. Finzis Stimme war so laut, als würde er durch ein Mikrofon sprechen. Leonie hatte sich schon öfter gefragt, ob er sie bei solchen Anlässen vielleicht mit einem Zauberspruch verstärkte. »Sicher fragt ihr euch, wieso der Finsterwald auf einmal gar nicht mehr finster aussieht und wieso das Schloss von einer Hecke umgeben ist.«

»Ja! Schön, dass uns endlich jemand aufklärt!«, rief eine schlanke Frau von mittlerer Größe, die Leonie aufgrund ihrer langen, dunklen Haare, der makellosen Haut und den auffallend blauen Augen auch dann als Mutter von der Schneewittchen-Nachfahrin Blanche ausgemacht hätte, wenn ihre Tochter nicht neben ihr gestanden hätte. Ihr langes Kleid erinnerte mit der geschnürten Korsage und dem weiten, langen Rock in einem dunklen Violettton an ein historisches Gewand.