Fischbrötchenmafia - Oliver G. Wachlin - E-Book

Fischbrötchenmafia E-Book

Oliver G Wachlin

4,6

Beschreibung

High Noon an der Waterkant: ein rasant-witziger Krimi rund um die norddeutsche Matjes-Mafia. Hauptkommissar Björn Oehler ist sauer: Direkt neben seinem penibel geputzten Hausboot "Swantje" hat "Störtebekers Futterkutter" festgemacht – und lockt mit seinem penetranten Geruch nach gebratenem Fisch jede Menge nerviger Touristen an. Als der Kutter dann plötzlich brennend im Barther Hafen versinkt, ist Oehler nicht besonders traurig darüber. Doch als es die erste Leiche gibt, wird klar: Hier tobt ein blutiger Krieg! Das organisierte Verbrechen hält Einzug an der idyllischen Ostseeküste, und der Kampf ums Fischbrötchen wird mit allen Mitteln geführt.

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Oliver G. Wachlin, Jahrgang 1966, lebt und arbeitet seit über zwanzig Jahren hauptberuflich als freier Autor und Dramaturg in Berlin. Er schrieb zahlreiche Texte, Konzepte und Drehbücher für Film und Fernsehen sowie diverse Image- und Werbekampagnen.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2017 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: shutterstock.com/Eskemar

Umschlaggestaltung: Franziska Emons, Tobias Doetsch

Lektorat: Lothar Strüh

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-292-2

Küsten Krimi

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literaturagentur

Behrens & Richter GbR, Berlin.

Prolog

Am Anfang war die Angst.

Ich fürchtete mich schon vor dem Betreten des Bootes. Ich fürchtete mich vor dem Ablegen. Am allermeisten fürchtete ich mich vor dem Setzen der Segel.

Der Wind war immer eine unberechenbare Größe. Eben noch kaum spürbar, konnte er im nächsten Augenblick als fauchende Böe in den Tüchern stehen und mit eiserner Faust das Schiff derart auf die Seite drücken, dass einem der Atem stockte.

Heilige Scheiße, das ging aber gleich dramatisch los heute! Die Wanten sirrten ihre Todesmelodie, die Segel knatterten wie Gewehrschüsse, die Steuerbordseite meines Bootes lag komplett unter Wasser. Kübelweise schwappte die Flut ins Cockpit, und ich klammerte mich am Süllrand fest, um nicht über Bord zu gehen. Wenn ich den Untergang verhindern wollte, sollte ich vielleicht das Groß etwas fieren und anluven. Oder besser abfallen? Keine Ahnung, ich kam ohnehin weder an die Winsch noch an das Ruder heran, da ich mich mit beiden Händen festhalten musste und mir dabei beinah in die Hosen machte. Ich war die Elemente halt noch nicht gewohnt.

Mit dem Segelpatent ist es wie mit dem Führerschein, beides ermächtigt uns zum Fahren, befähigen kann uns nur die Routine.

Ich war seit drei Wochen stolzer Besitzer des Sportbootführerscheins See und seitdem jeden Tag auf dem Wasser. Trotz meiner Versagensängste. Trotz aller Befürchtungen, das Boot nicht zu beherrschen und gnadenlos zu scheitern. Ein Schiffbrüchiger wegen Unfähigkeit. Eine Lachnummer! Doch noch schwamm das Boot, noch war ich an Bord, wenn auch nicht Herr des Geschehens. Aber ich spürte das Leben. Und nur darauf kam es an.

Zwei Jahre war ich jetzt in Pension. Zwei Jahre, in denen ich mir immer öfter die Frage gestellt hatte: Sollte das alles gewesen sein? Nach einem langen Arbeitsleben gelangweilt dem eigenen körperlichen Verfall zusehen bis zum Tod?

Nein, niemals! Neue Herausforderungen mussten her. Und da ich an der Ostseeküste meinen Altersruhesitz aufgeschlagen habe, in der idyllischen Boddenlandschaft zwischen Mecklenburg und Vorpommern, dachte ich mir, ein Segelschein wäre nicht schlecht. Zumal der olle Hennings ein paar Häuser weiter sein Folkeboot günstig verkaufen wollte. Knapp achttausend Euro für etwas über sieben Meter skandinavische Lärche, geklinkert und gut in Schuss. Ein schönes Boot, wirklich. Wurde mal für die Ostsee entworfen, also sollte man damit auf dem Barther Bodden keine Probleme bekommen. Leider hat es kein selbstlenzendes Cockpit. Wenn es vollläuft, muss man es mit einem Eimer wieder leer schöpfen, sonst säuft der Kahn irgendwann ab.

Insofern: Bekämpfe deine Angst, old boy. Sei stark! Werde ein Seemann, ein echter Salzbuckel, ein Bezwinger der Meere!

Vorsichtig ließ ich mich vom Süll heruntergleiten und löste die Großschot, damit der Druck aus dem Segel und die Schlagseite aus dem Boot genommen wurden. Dann kümmerte ich mich um das Ruder, drehte den Bug des Bootes näher an den Wind heran und holte das Segel wieder dicht.

Ah, jetzt kam Fahrt in den Kahn. Er legte sich moderat auf die Seite und pflügte mit einer Leichtigkeit durchs Wasser, die man dem doch recht schweren Holzboot nie zugetraut hätte. So war’s recht. Allmählich bekam ich die Sache in den Griff und mittels Schöpfeimer auch das Wasser aus dem Boot. Ich war wieder Herr der Lage. Großartig! Gewisse Momente der Glückseligkeit stellten sich ein, ein Gefühl von Freiheit. Fortbewegung allein durch die Kraft des Windes. So bewegte sich der Mensch seit dreitausend Jahren, ohne irgendwelche Schadstoffe in die Luft zu blasen oder fossile Rohstoffe zu verbrauchen. Vergesst das Automobil, Leute! Lernt Segeln!

Achtung, die nächste Böe zog heran. Am Kleinen und am Großen Werder musste man besonders aufpassen, da pfiff es immer wie durch eine Düse. Gespannt sah ich auf den Verklicker. Das ist so eine kleine Fahne oben am Mast, die einem zeigt, woher der Wind gerade weht. Große Yachten haben dort eine Windex. Erfahrenere Segler brauchen beides nicht. Die spüren den Wind am Ruderdruck oder haben das irgendwie anders im Blut, aber ich musste immer hoch in den Mast gucken. Mit äußerster Konzentration und manchmal stundenlang. Ein Hans Guck-in-die-Luft, der mit steifem Nacken und verspannter Rückenmuskulatur sein Schiff am Wind zu halten suchte. Aber immerhin klappte das schon ganz gut, diese Böe wetterte ich ab wie ein Altmeister. Zumindest fast, denn plötzlich brüllte ein scharfer Ruf über den Bodden.

»Raum, verdammt noch mal! Raum!«

Irritiert sah ich mich um. Was war denn jetzt? Eine kleine Segelyacht näherte sich mit ordentlicher Krängung, am Steuer ein aufgeregter Herr mit hochrotem Kopf. Seine Gesten signalisierten mir, dass ich umgehend Platz zu machen hätte für sein schickes Acht-Meter-Schiffchen. Irre. War hier nicht genug Raum für uns zwei? Ich hob fragend die Arme und deutete auf die riesige weite Wasserfläche um uns herum.

Aber der Kerl schien es ernst zu meinen. Mit vollen Segeln pflügte er auf direktem Kollisionskurs heran, als wolle er mein Boot durch zwei teilen. »Raum«, brüllte er wieder, »mach Raum, du Schwachkopp!«

Na, beleidigen ließ ich mich nicht. So ein Idiot, kann der nicht einfach um mich herumfahren? Kopfschüttelnd überlegte ich, was zu tun war, um den Kurs entsprechend zu ändern. Denn jede Ruderbewegung muss von einer Anpassung der Segelstellung begleitet werden, und dabei war ich gerade so schön in Fahrt. Weiter anluven konnte ich nicht, und wenn ich abfallen wollte, müsste ich die Segel entsprechend …

Inzwischen jedoch verlor der rotgesichtige Herr die Nerven. Denn natürlich wollte er seine flotte kleine Yacht nicht kaputt fahren. Kurz bevor es zum sicher verheerenden Zusammenstoß mit meinem Folkeboot kommen konnte, riss er sein Steuer herum, um mir anschließend wütend mit geballten Fäusten zu drohen: »Du Arschloch! Ich häng dir die Eier in den Großbaum, du Sack!«

Gott, war der Kerl unentspannt. Und Umgangsformen schienen auch nicht seine Stärke zu sein. Ich lächelte freundlich zurück, zeigte ihm den Mittelfinger und merkte mir den Namen seines Bootes. »Batavia«, interessant. Offenbar ein Südseefreund. Na warte, du Baströckchen, das kriegste zurück. Irgendwann.

Denn bekanntlich traf man sich ja immer zweimal im Leben.

1     SEELUFT MACHT APPETIT. Wenn Kriminaloberkommissar Björn Oehler von einem ausgedehnten Strandspaziergang aus der ersten Frühlingssonne kommt oder einen Vormittag lang in den endlosen Schilfgürteln am Bodden die Kraniche auf ihrem Vogelzug beobachtet hat, stellt sich bei ihm immer ein Hungergefühl ein. Und dann gibt es nichts Herrlicheres als Matjes zu einem kühlen Barther Küstenbier. Und das schenkt Moppi im »Vinetablick« seit Jahren zu durchaus günstigen Preisen aus.

Insofern ist »Störtebekers Futterkutter«, der seit Anfang des Monats im Barther Innenstadthafen liegt, völlig überflüssig. Es gibt genug Fisch in Barth, hier wurde bislang noch jeder satt. Da muss nicht auch noch im Stadthafen gebrutzelt werden, nicht direkt neben Oehlers »Swantje«! Die ist bald achtzig Jahre alt, und keine Sau kann sich vorstellen, was das für Arbeit gekostet hat, die alte Dame wieder flottzumachen. Siebzehn Meter Kambala-Teak auf Eichenspanten. Wurde 1938 auf der legendären Dawartz-Werft in Tönning als Logger für die Fischerei in der Nordsee gebaut. Danach Dienst in der Kriegsmarine als Vorpostenboot im Zweiten Weltkrieg und anschließend vierzig Jahre lang Versorger und Postschiff für die Insel Hiddensee. So sah die gute »Swantje« dann auch aus, nach der Wende, als sie außer Dienst gestellt wurde. Typisch DDR, mehr Wrack als Schiff. Aber was kann man sich schon groß kaufen, wenn man nur Kriminalbeamter ist? Immerhin, die Substanz der »Swantje« war gesund. Ein schönes Schiff war das mal gewesen, das sollte man doch wieder hinbekommen, nicht wahr. Ein Zweimaster, ein echter Segler mit Hilfsmotor. Ein Traum für jeden Seemann eigentlich. Und dann hat Oehler zehn Jahre lang jeden Pfennig in die Erfüllung dieses Traumes investiert. Zehn Jahre lang hat er sich kaputtgeackert nach dem Dienst, hat gehobelt und gefräst, Planken eingepasst und Spanten ausgetauscht, die Tanks erneuert, die Masten ersetzt. Zehn Jahre lang lief er in seiner Freizeit nur mit Blaumann und Werkzeugen herum. Da war nix mit Erholung, der Aufbau der »Swantje« forderte vollen Einsatz. Und bei der Werft Rammin steht Oehler bis heute in der Schuld. Die haben ihm gezeigt, wie das geht, weil er sich professionelle Handwerker nicht leisten konnte, und ihm einen Platz zum Herumfrickeln gegeben. Jann Giehrling war ihm auch eine große Hilfe. Der kannte sich als ehemaliger Hochseefischer mit Schiffen aus und hat für vier oder fünf – vielleicht waren es auch zehn – Kästen Barther Küstenbier die ganze Elektrik neu verlegt, eine neue Dieselheizung eingebaut und den richtigen Lack ausgesucht, damit das Holz darunter atmen kann und nicht fault. Und es war auch Giehrlings Idee, auf das Vordeck Holzbänke zu schrauben. Für die Passagiere. Denn nur mit dem Sold eines Oberkommissars kann sich Oehler den Unterhalt für seine schmucke »Swantje« nicht leisten.

Deshalb schippert er in der Saison nebenberuflich Sommerfrischler über den Bodden, im Herbst und Frühjahr kommen die beliebten Kranichfahrten dazu. Und weil er als Schiffsbesitzer nicht noch Miete zahlen will, wohnt Oehler auch an Bord.

In seiner gemütlichen Koje hinter dem hübschen kleinen Salon mit voll ausgestatteter Pantry, Pütt und Pann und allem Drum und Dran. Nie wird man hier Staub auf den Teakboarden finden, alles ist gewienert und poliert, die Wäsche frisch, die Messingleisten glänzen.

Und nun das: »Störtebekers Futterkutter«! Direkt nebenan!

Nee, das muss doch nicht sein, dass Oehler fortan den ganzen Tag den Geruch von Räucherfisch in der Nase hat und im Ohr das oberflächliche Gequatsche der Touristen. Wirklich nicht!

Schon am frühen Morgen können diese ortsfremden Urlauber Unmengen von Fischbrötchen in sich reinstopfen. Die sind gerade angekommen am Bahnhof oder mit dem Auto und haben nichts Besseres zu tun, als umgehend zum Futterkutter zu rennen. Als hätten sie bei sich zu Hause nichts zu essen. Letztens hatten sie es sich sogar auf der »Swantje« gemütlich gemacht! Auf dem blitzblank geschrubbten Deck des Oberkommissars! Und haben alles mit ihren fettigen Räucherlachs- und Backfischbrötchen eingesaut! Herumgekrümelt, als wäre seine »Swantje« die Fressterrasse des Futterkutters! Na, denen hat Oehler erst mal Bescheid gegeben. Da kann er sehr ungemütlich werden. Sollen die Urlauber doch zu Moppi gehen! In den »Vinetablick«! Das ging doch früher auch. Da stören sie wenigstens niemanden.

Das ist ja auch eine Frage der Legalität, nicht wahr. Das kann ja nicht sein, dass Hinz und Kunz plötzlich überall Hering verkaufen können, wo es ihnen passt. Da kann nicht Hein-Piet sein oller Fischkahn einfach kommen und sagen, jetzt verkauf ich mal meinen Fang hier neben Oehlers »Swantje«. Das geht nicht, dafür braucht man eine entsprechende Genehmigung, eine Konzession! Und daran hakt’s dann. Fast immer. Meistens jedenfalls. Zu neunundneunzig Prozent ist sich der Oberkommissar sicher, dass »Störtebekers Futterkutter« keine Konzession hat. Als er nämlich mal ganz amtlich nebenan vorbeigeschaut hat, um Einsicht in die entsprechenden Papiere zu nehmen, war da nur so eine kleine Chinesin und verstand kein Wort. Wollte ihm aber sofort »Läuchelaal« verkaufen und »Bismalckheling«.

Heiliger Klabautermann! Die sind inzwischen überall, diese Chinesen! Die Volkswerft in Stralsund haben sie auch schon aufgekauft. Da kann man nur hoffen, dass sie dort nicht anfangen, Futterkutter in Serie zu bauen, um die ganze Küste mit ihren schwimmenden Garküchen zuzupflastern. Das ist hier schließlich nicht der Hafen von Shanghai, nicht wahr. Das ist die Vinetastadt Barth, und hier herrscht Ordnung. Jedenfalls solange Oberkommissar Björn Oehler höchstpersönlich über die Einhaltung der Gesetze wacht. »I’m the sheriff from Barth, you know?«

Aber Englisch konnte die kleine Chinesin auch nicht. Stattdessen: »Ich haben auch Klabben ganz flisch. Du hunglig auf Klabben?«

Irgendwie drollig. Oehler musste jedenfalls grinsen. Und die kleine Chinesin lächelte aus ihren hübschen Mandelaugen zurück. Da wurde ihm ganz warm ums Herz.

Na, und deshalb hat er dann doch ein »Klabbenblötchen« gegessen und der Chinesin die Bedeutung des »R« für die deutsche Sprache erklärt. Denn beim Grillen und Braten entsteht Rauch, nicht Lauch. Mit Lauch kann man später den gebratenen Fisch eventuell anrichten, aber da ist dann der Rauch schon zum Schornstein raus, »you know?«.

Verstand sie natürlich nicht. Wie auch? Das Chinesische ist von unseren zivilisierten europäischen Sprachen Lichtjahre entfernt. Das speichert man nicht von heute auf morgen. Da muss man Geduld haben. Jedenfalls ist Oehler dann gegangen und war irgendwie mit der Situation versöhnt. Die Chinesin kann ja auch nichts dafür, dass sie hier Fisch verkaufen muss. Müssen ja alle von irgendwas leben, nicht wahr. Auch die Chinesen. Nur dass sie es direkt neben seiner »Swantje« tun müssen, das schmeckt ihm gar nicht. Da sollte eine andere Lösung her.

Doch im Amt Stralsund, wo Oehler als Nächstes vorsprach, konnte man ihm auch nicht helfen. Obwohl er extra einen halben Tag mit der Wartemarke in der Hand dafür verplempert hatte. Die Konzession für den Futterkutter konnten sie ihm jedenfalls nicht zeigen. Was Oehlers Verdacht weiter dahingehend erhärtete, dass es gar keine gab. Hartnäckig insistierte er: Nach welchen Kriterien werden derartige Verkaufsgenehmigungen erteilt? – Wer ist für die Konzessionsvergabe zuständig? – Gilt das auch für Chinesen? – Und so weiter und so fort, doch spätestens als das Wort Chinese fiel, wurden die Beamten nervös. Dafür sei der Herr Matthiesen zuständig, der stellvertretende Amtsleiter, und der sei derzeit leider, leider krankgeschrieben. Da könne man nichts machen.

Krankgeschrieben? Da könne man nichts machen? – Ha, diese Amtsschimmel kennen Oberkommissar Björn Oehler nicht! Der hat sich noch nie von Krankheitsfällen abhalten lassen. Schon gar nicht, wenn er illegalen Machenschaften auf der Spur ist. Na, diesen Amtsleiter wird er sich noch vornehmen, selbst wenn der die Cholera hat. Gleich morgen wird er den Mann in die Mangel nehmen, und wenn der dann nicht klipp und klar erklären kann, wie diese Chinesin auf »Störtebekers Futterkutter« zu ihrer Konzession gekommen ist, wird er umgehend an die Kette gelegt. Also der Futterkutter, nicht der Amtsleiter. Das kann ja so nicht weitergehen.

Selbst in seiner gemütlichen Kajüte unter Deck hat Oehler schon den Geruch von Frittenöl und Bratfisch in der Nase, obwohl die Chinesin nebenan längst Feierabend gemacht hat. Aber den kriegt man ja so schnell nicht raus, diesen Geruch. Wenn sich der erst mal festgesetzt hat, in Oehlers maritimen Polstern zum Beispiel, dunkelblau mit kleinen goldenen Ankern drauf, oder in den weißen Gardinen vor den Bullaugen, die mit den hübschen aufgestickten Rettungsringen – ein Geschenk zu seinem dreißigsten Dienstjubiläum –, also wenn dieser fettige Frittengeruch da erst mal überall drin ist, hilft nur noch waschen. Und zwar mehrmals täglich. Himmel, Arsch und Zwirn, der Oberkommissar wird ein Abo für Melittas Waschsalon brauchen, sollte »Störtebekers Futterkutter« zu einer dauerhaften Institution werden. Nee, das gilt es unbedingt zu verhindern.

Natürlich könnte sich Oehler auch einen anderen Liegeplatz für seine »Swantje« suchen. Aber sollte er wirklich zu den arroganten Freizeitkapitänen in den Nautischen Yachtclub ziehen? Zu den feinen Herren mit ihren Clubsakkos und den herausgeputzten Yachten? Das ist kein Zuckerschlecken dort, diese Hobbysegler sind Zicken, total hysterisch und viel schlimmer als Weiber. Das meint jedenfalls Jann Giehrling, und der muss es wissen. Ist schließlich inzwischen schon lange Yachtwart an der Happy-Charter-Basis da drüben bei den Nautikern …

Moment mal!

Oehler schnuppert und atmet tief durch. Das ist doch kein normaler Frittengeruch mehr. Hat diese Chinesin etwa einen Brathering auf dem Grill vergessen? Das stinkt total verbrannt.

Mensch, da muss er mal nachschauen gehen. Oehler springt auf und tappt, buchstäblich immer der Nase nach, an Deck.

Draußen glüht dramatisches Abendrot. Das denkt Oehler im ersten Augenblick. Im zweiten bemerkt er dichten Rauch. Und dann stellt er fest, dass nicht eine viel zu späte Sonne den Nachthimmel erhellt – es ist immerhin schon bald Mitternacht –, sondern hoch auflodernde Flammen. Der Futterkutter nebenan brennt lichterloh, und das Feuer droht bereits auf seine geliebte »Swantje« überzuspringen.

Verflucht noch mal! Hastig springt der Oberkommissar ins Ruderhaus und glüht den Diesel vor. Der Motor ist gut fünfzig Jahre alt, sehr zuverlässig, ein robuster Marinediesel aus den sechziger Jahren. Aber es dauert immer einen Moment, bis er anspringt. Endlich tuckert er los. Oehler stürmt wieder an Deck, löst die Festmacherleinen und spürt die Hitze des Feuers vom Futterkutter. Die Flammen fressen sich schon an den Masten hoch, nee, da ist nichts mehr zu retten. Jeder Löschversuch sinnlos. Wichtig ist jetzt allein, seine »Swantje« aus der Gefahrenzone zu bringen.

Schweißgebadet hantiert Oehler mit dem Bootshaken, um das Schiff von der Kaikante wegzukriegen. Gott, ist das heiß hier! Die vorderen Fender schmelzen schon weg, das ist nicht zu fassen. Oehler verbrennt sich die Finger, rennt fluchend wieder zurück ins Ruderhaus und lässt die Maschine kurz rückwärtslaufen. Dann legt er das Ruder hart Steuerbord und gibt etwas Schub voraus. Langsam dreht die »Swantje« von der Kaikante weg, kommt aber dem brennenden Futterkutter erneut gefährlich nahe.

Das knistert und kracht überall, ein Höllenfeuer, und die Funken stieben herum. Weg hier, nur weg! Nicht dass ihm der Futterkutter noch um die Ohren fliegt, weil die Petroleumtanks explodieren.

Oehler hantiert fluchend mit dem Maschinenhebel, vor, zurück, wieder vor, bis die »Swantje« weit genug gedreht ist, um auf den Bodden hinauszulaufen. Vollen Schub jetzt. Der alte Marinediesel wummert auf, dass das ganze Schiff vibriert. Der Propeller hinten produziert ordentlich Schraubenwasser. Na endlich: Die »Swantje« läuft zwischen den Fahrwassertonnen auf den Bodden hinaus.

Gerettet, denkt Oehler erleichtert und greift nach dem Funkgerät, um das Feuer im Hafen zu melden. Meine Güte, das hätte auch in die Hose gehen können. Brände auf Schiffen sind immer eine Katastrophe. Aber seine »Swantje« ist davongekommen, und den Futterkutter ist er jetzt wohl los.

Nur um die kleine Chinesin tut es ihm leid. Aber die wird auch einen neuen Job finden.

Der Oberkommissar sucht sich einen geeigneten, vor Wind und Schwell geschützten Platz vor dem Zingster Ufer und geht dort vor Anker. Er ist völlig erschöpft, aber an Schlaf ist nicht zu denken. Von der Barther Boddenseite her hört man die Sirenen der Feuerwehr. Na, die kommen jetzt auch zu spät.

Oehler köpft sich ein Bier und schaltet dann das Deckslicht an, um nach etwaigen Brandschäden auf seiner »Swantje« zu suchen. Wer nicht schlafen kann, muss sich beschäftigen. Da kann kommen, was will.

2     DEN REST DES TAGES verbrachte ich in einer Flaute. Kein Wind mehr, nirgends.

Aber so war das beim Segeln, es gab nie perfektes Wetter. Entweder man hatte zu wenig Wind oder zu viel, und er wehte grundsätzlich von der falschen Seite. Man musste viel Demut haben, um trotzdem vorwärtszukommen, guten Scotch und einen Motor.

Ich warf meinen Fünf-PS-Yamaha-Außenborder am späten Nachmittag an, weil ich hungrig geworden und der Whisky ausgetrunken war. Nachschub gab es nur an Land, und deshalb ertrug ich das lärmende Geröhre des Außenborders, auch wenn ich nicht verstand, dass man im zweiten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends noch immer nicht in der Lage war, leise, ja lautlose Verbrennungsmotoren zu bauen. Wir konnten mit Drohnen die Araber ins Jenseits bomben, aus der Atomkraft aussteigen und Forschungsroboter zum Mars schießen, während unsere Kinder drahtlos per Smartphone in alle Welt kommunizierten – aber unsere Außenbordmotoren klangen immer noch wie zu Zeiten von Carl Benz.

Wer ein Boot besitzt, braucht auch einen Liegeplatz dafür. Zwar war ich stolzer Pächter eines direkt am Bodden gelegenen Grundstücks, und dort gab es sogar einen Steg. Für den Angelkahn hatte der immer gereicht, doch nun war ich Besitzer eines Folkebootes mit einem Meter zwanzig Tiefgang. Und das war zu viel. An alles hatte ich gedacht beim Kauf des Bootes, nur an den Tiefgang nicht. Wieso auch? Es gab einen Steg, und es gab ein Boot – das sollte doch passen! Tat es aber nicht, denn als ich an meinem Steg zum ersten Mal anlegen wollte, blieb ich gut dreißig Meter davor im Schlick stecken. Näher kam ich nicht heran, da half alles nichts. Der Bodden ist berühmt für seinen modrigen Schlick. Man kann darin nicht stehen, aber eben auch nicht schwimmen.

Tja, Pech gehabt. Aus der Traum vom eigenen Boot vorm Haus. Ich brauchte einen anderen Liegeplatz. In Barth gab es dafür zwei Möglichkeiten. Entweder man ging in die Marina am »Vinetablick«, doch dort zahlte man fast zweitausend Euro pro Saison. Günstiger wäre ein Liegeplatz in einem der vielen Segelvereine von Barth, doch dafür musste man Vereinsmitglied werden. Zwar boten viele Vereine auch Gastliegeplätze an, doch die waren dann wieder teurer – da könnte man sich dann auch gleich in die Marina einmieten.

Nun war ich noch nie der große Vereinstyp. Zu meiner Zeit in Berlin hatte ich es mal in einem Poolbillard-Club versucht und war dort grandios gescheitert, weil ich mich nur bedingt an diverse Satzungen halten wollte und den Sinn des Beitragssystems nicht verstand. Zudem gingen mir die Vereinsoberen mit ihrer Wichtigtuerei auf den Sack – ja, wenn wenigstens passable Billardspieler darunter gewesen wären. Aber die wirklich spannenden Typen fand man vor allem in dunklen, rauchigen Kneipen weit außerhalb des Clubs. Echte Zocker, die ihren Gegner in einem Durchlauf über die Bande in den totalen Ruin spielen konnten. Ein paar von denen hätte ich gerne in unserem Club untergebracht, doch daraus wurde nichts. Im Gegenteil, ich wurde gleich mit rausgeschmissen. Im Berliner Poolbillard-Club wollten sie nicht zocken, sondern spielen.

Jetzt war ich drauf und dran, wieder Vereinsmitglied zu werden. Obwohl man mich gewarnt hatte: »Segler sind schlimmer als Kleingärtner!«

Aber mit derlei Sprüchen konnte ich nichts anfangen. Weder war ich jemals Kleingärtner, noch kannte ich welche. Ich fing gleich mit den Seglern an.

Nennenswerte Wirtschaft gab es in Barth seit der Wende nicht mehr, weshalb ich den alten Wirtschaftshafen ansteuerte, wo zwischen den alten Ziegelspeichern neben der Bootswerft Rammin und der Happy-Charter-Basis der Nautische Yachtclub seinen Sitz hatte. Ein gemeinnütziger Verein, der sich der Tradition des Segelsports verpflichtet fühlte und daher besonders stolz auf seine Jugendabteilung zur Förderung des Nachwuchses war.

Schon weit vor der Hafeneinfahrt sah ich die Optis der Jüngsten auf dem Wasser, streng beaufsichtigt von Paula, einer stets braun gebrannten, drahtigen Mittzwanzigerin mit wippendem Pferdeschwanz, die in Greifswald Sportmedizin studierte und mit einem Megafon bewaffnet in ihrem Motorschlauchboot die kleinen weißen »Optimisten-Jollen«, wie die Kindersegelbötchen genannt wurden, umkreiste wie ein Schäferhund seine Herde.

Aufgabe der Jüngsten war, diverse Bojen in einem zuvor festgelegten Kurs zu umfahren, was aber wegen des schwachen Windes nur bedingt möglich war. Die meisten der Kinder, allesamt zwischen sechs und zwölf Jahre alt, flachsten herum, übten Kenterungen und bespritzten sich mit Wasser, ohne sich groß um Paulas knarzende Lautsprecherbefehle zu kümmern.

»Willy: auf die Ruderstellung achten! – Caja: das Segel dichter! – Luca: Wenn du deinen Kurs so beibehältst, muss du an der Tonne Malte ausweichen und verlierst wertvolle Sekunden!«

Ich drosselte den Motor etwas und winkte Paula mit weit ausladenden Armbewegungen zu. Das war wichtig, denn als ich meinen Antrag auf Mitgliedsanwartschaft im Nautischen Yachtclub stellte, wurde mir ein längerer Vortrag gehalten, in dem Kameradschaft, Hilfsbereitschaft und sportliches Verhalten gleich mehrfach angemahnt wurden.

»Wie damals die Likedeeler, haben Sie das verstanden?«

Aber waren das nicht Piraten?

Wie auch immer, ein betont maritimer Gruß an die Jugendtrainerin konnte nicht schaden: »Moinsen, Paula! Und immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel, was?«

»Schwarzer Kegel, Spitze nach unten«, brüllte sie zurück.

Bitte? Ich verstand nicht gleich.

»Wenn Sie die Segel oben haben und trotzdem motoren, müssen Sie den Kegel setzen.« Sie fuhr mit ihrem Schlauchboot heran. »Sonst erkennt man nicht, dass Sie ein Motorfahrzeug sind.«

»Ich denke, man hört es. Der Motor macht ja so einen Lärm, dass …«

»Das tut nichts zur Sache«, unterbrach sie mich streng, »so sind nun mal die Schifffahrtsregeln.«

»Vielen Dank.« Ich lächelte freundlich. »Beim nächsten Mal denke ich dran.«

»Und setzen Sie Ihr Segel richtig durch, die Falten im Vorliek müssen raus.« Sie hob die Hand zum Gruß und gab wieder Gas. »Wiederschaun.«

»Wiederschaun.« Ich starrte aufs Segel. Was war jetzt noch mal das Vorliek? – Egal! Ich nahm die Pinne wieder in die Hand und konzentrierte mich aufs Anlegemanöver.

Der Nächste war Jann Giehrling. Den kannte ich schon. Der Yachtwart und Hafenmeister saß immer auf seiner Bank vorn an der Pier vor der Charterbasis und wartete auf einlaufende Boote. Dann rannte er wie der Blitz los und half beim Anlegen. Was mir völlig recht war, allein hätte ich so meine Schwierigkeiten damit.

»Kein Wind draußen, was?«, erkundigte er sich.

»Entweder nichts oder echte Hammerböen«, erwiderte ich, »ich hatte manches Mal gut zu kämpfen.«

»Das ist gar nichts.« Jann Giehrling setzte sich mit abgeklärter Seemannsmiene zu mir an Bord. »Das ist ein Fliegenschiss gegen das, was ich da draußen schon mitgemacht hab. In meinen aktiven Jahren, meine ich.«

Ich wusste gar nicht, dass Jann Giehrling auch mal aktiv gewesen war. »Was haben Sie denn gemacht?«

»Na, ich bin zur See gefahren«, er steckte sich eine Zigarette an, »Hochseefischerei, zu DDR-Zeiten damals. Und da sind wir vor den Färöern mal in eine weiße Böe geraten … Die Hölle, sag ich Ihnen! Wellen wie Hochhäuser. Unser Kahn lag minutenlang auf der Backbordseite. Neunzig Grad, der Wasserdruck hat uns drei Luken weggesprengt. Da fing sogar unser kommunistischer Parteisekretär wieder an, gen Himmel zu beten. Ja, wer so was mal erlebt hat, der weiß, was eine Hammerböe ist.« Er sah neugierig in meine Kajüte. »Sagen Sie mal, haben Sie kein Bier da?«

»Nee«, bedauerte ich. »Ich hatte Whisky. Aber der ist alle.«

»Na, so geht das aber nicht.« Giehrling rang um Fassung. »Man muss immer ein Anlegebier an Bord haben. Grundsätzlich! Das ist so ’ne Art Gesetz unter Seeleuten. Alles andere wäre unanständig.«

Das wollte ich auf keinen Fall sein. »Ich spendiere uns eins. An Ihrem Kiosk, okay?«

»Das ist kein Kiosk«, belehrte er mich, »das ist mein Hafenbüro, in dem ich auch Bier verkaufe, weil so Landratten wie Sie ständig vergessen, was nach dem Anlegen zu tun ist.«

Bier trinken. Ich verstand und erhob mich. »Na denn: Auf geht’s!«

»Da kann ich Ihnen gleich noch die Geschichte von den drei Kaventsmännern vor Island erzählen.« Giehrling stand ebenfalls auf. Prüfend sah er mich an. »Sie wissen, was Kaventsmänner sind?«

Ich überlegte. »Große Wellen?«

»Wellen?« Er lachte dröhnend auf. »Brecher sind das, riesengroß! Die können Ihnen den Frachter komplett zertrümmern. Vor Schottland hat so ’n Ding mal eine ganze Bohrplattform versenkt. Mit Mann und Maus. Die haben es noch nicht mal geschafft, rechtzeitig ihren Hubschrauber zu starten. Das Einzige, was von denen übrig geblieben ist, waren ein paar Rettungswesten, die später an die norwegische Küste getrieben sind.«

»Und Sie hatten gleich drei von diesen …?«

»Drei gewaltige Kaventsmänner.« Giehrling nickte bedeutungsvoll. »Der erste zerschmetterte das Ruderhaus und knickte die Masten wie Streichhölzer. Nach dem zweiten fiel der Motor aus. Wir waren manövrierunfähig und schlugen sofort quer. Dann kam der dritte, so ein Monstrum hatte ich noch nie gesehen. Bestimmt vierzig Meter hoch, und das Ding machte einen Lärm, dass wir unsere eigenen Angstschreie nicht mehr hören konnten. Denn wir hatten die Hosen tüchtig voll, das können Sie sich ja vorstellen …«

Lieber nicht. Ich hörte ohnehin nicht mehr zu, denn ich hatte ein paar Stege weiter die »Batavia« entdeckt. Und den rotgesichtigen Herrn, der mir die Eier in den Großbaum hängen wollte. – Na warte!

»Hey«, rief Giehrling mir nach, »wollen Sie nicht hören, wie wir die dritte Welle überstanden haben?«

»Gleich«, ich marschierte auf die »Batavia« zu, »ich muss nur kurz was klären.«

Der Eier-Mann wirkte durchtrainiert, war aber nicht besonders groß. Klein von Wuchs oder ein Dreikäsehoch, wie man früher bei uns zu Hause sagte. Er trug einen altmodischen Strohhut und sportliche Segelkleidung. Gut sichtbar prangte ein Henri-Lloyd-Logo auf der Brust seines marineblauen Polohemds, dessen Kragen er, wie es in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts cool war, hochgeschlagen hatte. Ansonsten war der Typ eher blass, mit teigiger Haut, die die Sonne schlecht vertrug. Er stand im Cockpit seiner Yacht hinter dem Großbaum und versuchte, sein Segel zusammenzulegen. Eine Falte links, eine Falte rechts. Dabei half ihm eine kleine Frau, die ich auf dem Wasser gar nicht bemerkt hatte. Sie war schwarzhaarig, ein asiatischer Typ, Thailänderin oder so, und schien sich an Bord der »Batavia« nicht so recht wohlzufühlen. Was damit zusammenhängen konnte, dass sie permanent zusammengebrüllt wurde.

»Rechts! Links! Rechts! Ist das so schwer zu begreifen?«, regte sich der kleine Mann auf, mit schon wieder sehr rotem Kopf. »Rechts, habe ich gesagt, RECHTS, verdammt noch mal!«

Das Problem war, dass sich die zwei gegenüberstanden. Er im Cockpit, sie vorn am Großmast, und daher rechts und links jeweils zwei Paar Schuhe waren. Im Augenblick hatten beide die Falte des zusammenzulegenden Segels in der rechten Hand – das konnte so nicht funktionieren.

»Entschuldigen Sie!« Ich trat an das Boot heran und wandte mich an den Herrn: »Ich wollte Sie auf Ihr Verhalten mir gegenüber auf dem Bodden ansprechen. Aber offenbar brüllen Sie alle Leute so an. Ich finde das – gelinde gesagt – ziemlich unsportlich.«

Er starrte mich aus seinen blassgrauen Augen an, sagte aber nichts. Entweder er wusste nicht, wovon ich redete, oder er verstand mich nicht. Vielleicht war der Kerl Russe, denn irgendwie erinnerte mich der Dreikäsehoch an Wladimir Putin. Da es aber unwahrscheinlich war, dass der russische Präsident hier segelte, und der Kerl die kleine Thailänderin akzentfrei auf Deutsch anschrie, machte ich ebenfalls auf Deutsch weiter.

»Haben Sie nichts dazu zu sagen?«

Offenbar nicht. Er wandte sich schweigend ab und wieder seinem Großsegel zu. So, als wolle er mich ignorieren. Die Thailänderin lächelte mich eingeschüchtert an, sagte aber ebenfalls nichts.

Allmählich spürte ich eine leichte Wut in mir hochsteigen. Für wen hielt dieser laufende Meter sich eigentlich? Captain Cook? Admiral Nelson? Napoleon? Früher hätte man Satisfaktion verlangen können und so einen Typen einfach zum Duell herausgefordert. Natürlich könnte man ihm eins auf die Fresse geben und gut. Aber das kam auch nicht in Frage, denn ich wollte in diesem Verein ja noch Mitglied werden. Also blieb mir nur die Gelassenheit. Es würde sich schon noch eine Gelegenheit ergeben, dem Kerl mal die Meinung zu geigen. Kommt Zeit, kommt Rat. Ich atmete tief durch und wollte schon gehen, als er plötzlich doch etwas sagte. Sehr leise und ohne sich mir zuzuwenden.

»Unsportlich ist die Missachtung der Ausweichregeln.«

»Bitte?« Ich drehte mich wieder zu ihm um. »Was haben Sie gesagt?«

»Lee vor Luv«, der Dreikäsehoch nestelte an seinem halb zusammengelegten Großsegel herum, »Sie waren vor mir am Wind und hätten ausweichen müssen.«

»Entschuldigen Sie, aber da war doch genug Platz.« Ich lachte künstlich auf. »Ich meine, wir waren die einzigen Boote da draußen.«

»Darum geht es aber nicht.« Er entschied sich endlich, mir ins Gesicht zu schauen, wenn er mit mir sprach. »Ich nehme an, Sie sind ein vollwertiges Mitglied unserer Gesellschaft. Sie sehen jedenfalls so aus, ich vermute mal: Beamter?«

»Pensionär.«

»Na, sehen Sie.« Seine blassgrauen Augen blieben seltsam ausdruckslos. »Und wie überall in unserer zivilisierten Gesellschaft gibt es eben auch auf dem Wasser Gesetze und verbindliche Regeln, deren Einhaltung den reibungslosen – na, Sie wissen schon – gewährleisten sollen. Genau wie im Autoverkehr. Sie haben praktisch eine rote Ampel überfahren.«

»Kein Grund, mir die Eier in den Großbaum zu hängen.« Auch ich konnte amtlich werden. »Juristisch ist damit der Straftatbestand der Bedrohung erfüllt. Sie haben Glück, dass ich das nur als Beleidigung auffasse.«

»Wollen Sie mich anzeigen?« Seine Augen funkelten mich an. »Sind Sie ein Mädchen? Heulen Sie gleich?«

Der Typ wollte offenbar wirklich eins aufs Maul. Unwillkürlich ging ich in Kampfstellung über. Schaun wir mal, wer als Erstes heult.

»Ich will Ihnen nur ausdrücklich und unmissverständlich klarmachen, dass auf See ein rauerer Ton herrscht, als Sie es aus Ihrem Amtszimmer offenbar gewohnt sind.« Er zerrte an seinem Segel herum. »Und trotzdem gehen wir kameradschaftlich miteinander um. Was halten Sie davon, wenn ich Sie mit den Ausweichregeln auf See vertraut mache? Zum Beispiel bei einem gemeinsamen Segeltörn.«

»Mit Ihnen?« Ich konnte es nicht fassen.

»Warum nicht? Sie könnten einiges lernen.« Er ließ sein Segel los und kletterte in die niedrige Kajüte, um kurz darauf mit zwei großen Anderthalb-Liter-Magnumflaschen wieder herauszukommen. »Nehmen Sie die!« Er drückte mir die Flaschen in die Hand. »Sie sind dem Yachtwart noch das Anlegebier schuldig. Wir sehen uns später.« Damit wandte er sich wieder seinem Segel und der Thailänderin zu. »Wissen wir jetzt, wo rechts ist? Oder soll ich es dir aufmalen?« Offenbar war das Gespräch mit mir für ihn beendet.

»Pyraser Landbier«, stellte Jann Giehrling wenig später auf seiner Bank vor der Charterbasis anerkennend fest. »Nie gehört. Wahrscheinlich aus so einer kleinen Privatbrauerei, was? Nobel geht die Welt zugrunde.«

»Ich hab’s nicht bezahlt«, gab ich zu. »Hat mir der Mann von der ›Batavia‹ gegeben.«

»Na, von dem halten Sie sich mal besser fern. Ist ein Zugereister. Aus Bayern.«

Was Giehrling nicht davon abhielt, das Bier zu probieren. Er ließ seine Flasche aufploppen und trank in großen Schlucken. »Normalerweise haben wir ja hier immer unser Barther. Aber das gibt’s nicht in Anderthalb-Liter-Flaschen.«

»Ich bin auch ein Zugereister«, erklärte ich entschieden. »Aus Berlin.«

»Aber Sie haben kein Hotel hochgezogen«, erwiderte Giehrling. »Ohne Baugenehmigung. Im Naturschutzgebiet. Damit hat er sich nicht nur bei Umweltschützern unbeliebt gemacht.«

Verstehe. Der laufende Meter ist beruflich ein Immobilienhai. So eine Art Provinz-Donald-Trump. »Ohne Baugenehmigung? Geht das denn?«

Giehrling machte eine Handbewegung, die Geldzählen signalisierte. »Wenn man die richtigen Leute schmiert, schon. Da soll in ein paar Tagen feierliche Eröffnung sein.«

Er setzte die Flasche an und nahm wieder einen ausgiebigen Schluck. Ich tat es ihm nach. Die Magnumpulle hatte ein Gewicht, dass ich sie mit beiden Händen zum Mund führen musste wie ein Baby seine Nuckelflasche. Aber sie wurde schnell leichter, denn das Bier war gut. Ziemlich kräftig, wie ich fand. Dazu noch ein guter Malt Whisky, und der Abend wäre perfekt geworden.

»Also, der dritte Brecher war der größte.« Giehrling kam auf sein Seeabenteuer zurück. »So was hatte ich noch nicht gesehen. Wir lagen manövrierunfähig quer, und das gewaltige Ding rollte von der Steuerbordseite auf uns zu. Wir hatten eigentlich keine Chance, und es sah aus, als würde uns dieser Kaventsmann einfach verschlingen, doch dann …«

»Runter vom Deck«, hörte man den Dreikäsehoch seine Thailänderin anschreien, »wer zu dämlich ist, ein Segel zusammenzulegen, hat auf meinem Schiff nichts zu suchen!«

»… doch dann geschah so etwas wie ein Wunder.« Giehrling machte eine Kunstpause und trank noch ein paar Schlucke. »Da wir das Schleppnetz draußen hatten, drehte sich das Heck unseres Kahns im Sog auf die Monsterwelle zu. Und das war unsere Rettung.«

»Geh mir aus den Augen, Weib«, gellte es von der »Batavia« herüber, »ich mach das allein. Weg! Weg! Geh mir aus den Augen!«

»Ist so ’n physikalisches Ding. Ich kenne mich damit nicht aus, aber das Heck konnte sich nun mit der Welle anheben und ganz einfach darüber hinweggleiten.« Giehrling sah mich versonnen an. »Fast sanft, kann man sagen. Also, was man unter diesen Umständen sanft nennen darf. – Das Bier ist gut, was?«

»Sehr gut.«

»Wenn der Schreihals das Zeug in seinem Hotel auch anbietet, werd ich wohl mal hingehen.« Giehrling seufzte. »Aber nur, wenn es nicht so teuer ist. Soll ich Ihnen noch die Geschichte von dem Riesenkalmar erzählen?«

Das Seemannsgarn ging ihm offenbar nicht aus.

»Ein Riesenkalmar?«

»Ein Krake. Mit Armen wie Baumstämme. So dick!« Er zeigte es mir. »Diese Viecher können jedes Schiff in die Tiefe reißen.«

Ja, das Meer ist voller Gefahren. Aber Jann Giehrling schien sie alle überlebt zu haben. Ich hob meine Bierflasche und prostete ihm zu. »Dann erzählen Sie mal!«

3     VERDAMMT, DIE »SWANTJE« hat doch was abbekommen.

Seit Stunden hockt Oehler auf den Knien und schleift vorsichtig kleinere Brandspuren aus seinem Deck. Überall haben sich Funken ins Teakholz gebrannt, die offenbar beim Feuer auf dem Futterkutter entstanden waren: kleine braune Flecken, die nun mühsam mit Schmirgelpapier entfernt werden müssen, ohne dass es Dellen gibt, in denen sich später Regenwasser oder Dreck sammeln kann. Anschließend behandelt der Oberkommissar die geschliffenen Stellen vorsichtig mit Teak-Öl. Ein Mist, das alles! Keine große Katastrophe, aber mühsam.

»Wette, diese Chinesin ist nicht mal anständig versichert. Das kennen diese Asiaten doch gar nicht, ein ordentliches Assekuranzwesen, so was ist denen völlig unbekannt. Verdammte Globalisierung, nee, nee, das kann nicht gut gehen. Niemals kann es das!«

Während er so vor sich hin moniert, nähert sich dem Kutter ein schnelles Motorboot. Da braucht er gar nicht aufzusehen, das hört er am Klang, dass das die Lütte ist. Anfang des Jahres wurde dem Kommissariat eine Glastron spendiert, ein schneller Gleiter – für Einsätze auf dem Wasser. Finanziert aus EU-Mitteln, wie es hieß.

Auch so eine Superidee! Jedenfalls kann sich der Kriminaloberkommissar nicht an einen Fall in seiner langen Dienstzeit erinnern, wo er einen derartigen Flitzer gebraucht hätte. Aber die Lütte, die hat damit ihren Spaß, das ist ohnehin mehr was für junge Leute.

Schon turnt Kriminalhauptmeisterin Maike Hansen an Deck. Fit wie immer, in engen Jeans, T-Shirt, Bikerlederjacke, das blonde Haar verwühlt vom Wind. »Moin, Chef!«

»Holen Sie mir mal das Sikaflex«, gibt Oehler zurück, denn er hat einen Schaden in einer Fuge entdeckt. »Steht auf der Backskiste hinterm Ruderhaus.«

Und zack, hat er die Dose auch schon in der Hand. Fix ist sie ja, die Lütte. Immer voller Elan. Und hübsch, früher hätte man so ein Mädel einen flotten Feger genannt. Aber das ist vorbei. Oehler ist mit seinen achtundfünfzig Jahren mehr als doppelt so alt, und meistens fühlt er sich auch so, ob er das nun will oder nicht.

»Was ist denn mit Ihren Händen?« Maike Hansen hat Oehlers notdürftig bandagierte Finger entdeckt.

»Verbrannt«, erklärt er. »Als ich ablegen wollte.«

»Schlimm?«

»Geht so. Ich hab Kühlgel raufgetan.«

»Mhm.« Interessiert schaut Maike Hansen über das Deck und streicht sich eine lange Haarlocke aus der Stirn. »Sonst hat Ihr Kahn aber nicht so viel abgekriegt, was?«

»Es reicht.« Oehler kratzt mit einem feinen Messer die beschädigte Fugenmasse heraus. »Bin noch rechtzeitig weggekommen.«

»Und?« Die Lütte hockt sich gespannt neben ihn. »Schon einen Verdacht?«

»Nö. Wieso?«

»Na, da hat doch einer gezündelt.«

»Ach!« Vorsichtig drückt Oehler Sikaflex in die Fuge. »Wer sagt das?«

»Ist doch klar.« Bevor er danach greifen kann, reicht ihm die Lütte den kleinen Spachtel. »So ein Fischbrötchenkutter brennt ja nicht einfach so ab.«

»Das wird ein Kurzschluss gewesen sein.« Er streicht die Fugenmasse mit dem Spachtel glatt.

»Sie glauben an einen technischen Defekt?«

»Oder Fahrlässigkeit. Herd nicht ausgemacht, vielleicht wurde ein Hering auf dem Grill vergessen. So was in der Art. Nichts Vorsätzliches jedenfalls.«

»Die Staatsanwaltschaft geht aber genau davon aus.«

»Tut sie das?« Oehler wischt sich die Hände an einem Putzlappen ab. »Haben wohl Langweile in Stralsund.«

»Angeblich soll es anonyme Drohungen gegeben haben.«

»Angeblich versteckt der Osterhase Eier.« Oehler erhebt sich ächzend. »Das hätte mir die Chinesin doch erzählt.«

»Welche Chinesin?«

»Na, diese Fischbrötchenverkäuferin!« Manchmal ist die Lütte wirklich schwer von Begriff. »Das war doch eine Chinesin oder so. Eine Asiatin, das muss Ihnen doch aufgefallen sein, Hansen.«

»Nee.«

»Nee? Gucken Sie die Leute nicht an, wenn Sie Fisch kaufen?«

»Ich kaufe keinen Fisch«, erklärt Maike Hansen entschieden. »Ich ernähre mich ausschließlich vegetarisch.«

»Ach was!« Das muss ja ein ganz neuer Spleen sein. »Meine Bratkartoffeln haben Sie letztens noch begeistert gefeiert!«

»Ihre Bratkartoffeln sind ja auch lecker, Chef!«

»Die sind vor allem mit Speck!«

»Den habe ich aussortiert.«

Stimmt. Das war Oehler aufgefallen. Hat er sich noch gewundert, aber nicht weiter nachgefragt. Trotzdem, von wegen vegetarisch: »Zum Frühstück haben Sie immer Käsebrötchen dabei und trinken ein großes Glas Milch! Alles tierische Produkte, Hansen.«

»Für Milch und Käse muss auch niemand sterben.«

»Für Fisch auch nicht.«

»Doch! Der Fisch.«

»Das gilt doch nicht.« Oehler öffnet sich ein Bier. »Fisch ist ein Nahrungsmittel wie Milch auch. Und sehr gesund. Wegen der Elektrolyte, verstehen Sie? Gut für den Wasserhaushalt, genau wie Bier.«

»Das ist bestimmt nicht gesund.« Maike Hansen rümpft die Nase. »Nicht morgens um neun.«

»Bei mir ist es sehr spät abends«, erklärt Oehler gelassen, »denn ich habe die ganze Nacht an meinem Deck gewerkelt. Und nach getaner Arbeit«, er hebt seine Flasche, »tut so ein Bierchen besonders gut.«

»Na denn, prost!«

»Wollen Sie auch eins?«

»Nein.«

»Ich frag ja nur.« Er trinkt in gierigen Schlucken.

Maike Hansen zieht ihr Smartphone aus der Tasche und tippt geschäftig darauf herum. »Wann haben Sie denn mit der Fischverkäuferin gesprochen?«

»Vor ein paar Tagen.« Oehler unterdrückt einen Rülpser. »Wegen der Konzession, Sie wissen schon.«

»Stimmt.« Die Lütte kratzt sich nachdenklich am Kinn. »Sie mochten den Kutter ja nicht besonders.« Fragend sieht sie ihn an. »Dann sind Sie ja jetzt sicher froh, dass er weg ist, oder?«

»Ich bin nicht traurig darüber«, gibt Oehler zu und stellt die leere Bierflasche weg. »So! Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich jetzt gerne zurück an meine Kaikante fahren und mich in die Koje legen.«

»Daraus wird nichts, Chef.« Maike Hansen steckt ihr Smartphone wieder weg. »Die Kaikante ist jetzt ein Tatort und für Schiffe aller Art gesperrt. Auch für die ›Swantje‹.«

»Und wo soll ich hin?« Tatort – so ein Quatsch. Dem Staatsanwalt müssen sie ins Hirn geschissen haben. »Das gibt’s doch nicht.«

»Suchen Sie sich einen anderen Liegeplatz. In der Marina ist sicher noch ein Gastlieger frei.«

Na, die Lütte ist gut. Und wer soll das bezahlen?

»Nun lichten Sie mal den Anker, Chef.« Ungeduldig sieht sie auf die Uhr. »Die Staatsanwältin erwartet uns.«

»Was?« Oehler schrickt auf. »Eine Frau?«

»Frau Dr. Annetta Kilius«, antwortet die Lütte.

»Kilius? Nie gehört.« Oehler wackelt verwundert mit dem Kopf. Und dann auch noch eine Frau. Nee, das kann nichts werden. Frauen in Führungspositionen, ohgottogottogott! Die wollen dann immer sein wie Männer. Aber das sind sie eben nicht, verdammich noch mal!

»Was ist mit Joost?« Mit dem alten Oberstaatsanwalt kam Oehler immer gut zurecht.

»Zur Kur in Bad Oeynhausen«, weiß Maike Hansen. »Drei Wochen noch. Die Kilius vertritt ihn bis dahin. Kommt aus Lübeck und soll sehr ehrgeizig sein.«

Na klar, das sind Frauen immer. Sieht man ja an der Lütten.

Ach, das klingt alles nicht gut: Oehler allein unter Frauen. Dabei ist er so übermüdet von der durchwachten Nacht. Aber Schlaf kann er unter diesen Umständen wohl vergessen.

Eine knappe halbe Stunde später liegt die »Swantje« für ein Heidengeld sicher vertäut am Kopfsteg der Marina am »Vinetablick«, und Oehler sieht sich unvermittelt zwei Frauen gegenüber, die mit einem riesigen schwarz-weißen Hund an einem Volvo Kombi auf dem Parkplatz warten.

»Sie hatten mir nur eine Dame angekündigt, Hansen«, zischt er die Lütte nervös an, »und was wollen die mit der Kuh an der Leine?«

»Die Kuh ist eine Deutsche Dogge«, erwidert Maike Hansen gelassen. »Und die andere Frau wird eine Praktikantin sein oder so.«

Na prima, ein Weiberteekränzchen mit Wauwau.

Oehler zwingt sich zu einem grimmigen Grinsen und stiefelt auf die drei los. »Einer von Ihnen ist der Staatsanwalt, nehme ich an!« Demonstrativ wendet er sich der Dogge zu. »Ich darf mich vorstellen: Kriminaloberkommissar Björn Oehler, ich leite die Barther Dienststelle hier. Na, gib Pfötchen!«

Er hält dem Hund die Hand hin, und die Dogge legt auch brav die Tatze drauf.

»Na, so ist’s fein«, freut sich Oehler und stellt die Lütte auch gleich mit vor. »Kriminalhauptmeisterin Hansen wird es ein Vergnügen sein, Ihnen bei einer Gassirunde unsere Ermittlungsergebnisse mitzuteilen.« Er richtet sich wieder auf und wendet sich nun kühl den beiden Frauen zu. »Sofern es etwas zu ermitteln gibt. – Sind Sie die Assistenten des Hundchens?«

Die junge Frau kichert albern, und die ältere lächelt. »Ja, das spiegelt die Realität ziemlich genau wider.« Sie reicht Oehler die Hand. »Kilius mein Name, die Vertretung von Oberstaatsanwalt Joost. Und das ist meine Tochter Leonie.«

»Der Hund heißt übrigens Gonzo«, setzt Leonie, noch immer kichernd, hinzu.

»Gonzo, aha.« Oehler starrt die beiden Frauen an. Scheint hier so was wie ein Familientreffen zu sein. Dabei sieht die Jüngere gar nicht aus wie eine Tochter. Jedenfalls nicht wie die Tochter der Älteren.

Leonie wirkt irgendwie südländisch brünett mit dunkelbraunen langen Locken und fast schwarzen Augen. Ein hübsches Mädchen, aber ganz anders als die Mutter, die eher so der nordische Typ ist. Blond und hellhäutig.

»Nehmen Sie Tochter und Hund immer zur Arbeit mit?«

»Leonie hat heute ihren sechzehnten Geburtstag«, erklärt Frau Dr. Kilius feierlich. »Den soll sie nicht allein verbringen. Außerdem interessiert sie sich für Kriminologie. Und Gonzo freut sich über jeden Auslauf.«

»Gratuliere«, knurrt Oehler.

Frau Dr. Kilius sieht sich geschäftig um. »Ja, wir würden uns dann gerne mal den Tatort ansehen!«

»Sofern der Tatort ein Tatort ist«, entgegnet Oehler, »denn momentan deutet noch nichts auf ein Verbrechen hin.«

»Der Kriminaloberkommissar glaubt grundsätzlich an das Gute im Menschen«, setzt die Lütte fast entschuldigend hinzu. Als sei er ein bisschen mall in der Birne. »Und geht daher immer erst mal von einem Unfall aus.«

»Es gibt keinen einzigen Hinweis auf Brandstiftung, Hansen«, entgegnet er scharf, bekommt aber sofort Widerspruch von der Staatsanwältin.

»Es soll Drohungen gegen ›Störtebekers Futterkutter‹ gegeben haben.«

»Soll oder hat es?«

»Anonyme Anrufe«, präzisiert die Staatsanwältin. »Man hat uns entsprechende Tonbandaufzeichnungen zugespielt. Sonst wären wir nicht so schnell aktiv geworden.«

»Na denn!« Oehler deutet missmutig in eine Richtung. »Wollen wir mal. Ist nicht weit.«

4     NUR DIE VERKOHLTEN MASTEN des Futterkutters ragen noch aus dem Wasser. Der Rest ist im Hafenbecken versunken. Am Ufer ziehen Streifenpolizisten mit Flatterbändern weiträumige Absperrungen, und die Lütte spielt schon wieder mit ihrem Smartphone herum.

Diese jungen Leute, was würden die nur machen ohne ihre elektronischen Spielzeuge?

»Wer hat Ihnen denn die Aufzeichnungen zugeschickt?« Oehler sieht die Staatsanwältin an.

»Es gab keinen Absender«, erklärt Frau Dr. Kilius. »Wir hätten dem auch nicht so viel Bedeutung beigemessen, wenn jetzt nicht prompt was passiert wäre.«

»Prompt?« Oehler schaut zu, wie Leonie mit dem Hund herumtollt. »Wieso prompt?«

»Na, es gibt eine Ankündigung, und zwei Tage später passiert genau das.«

Oehler will gerade sagen, dass er sich diese Tonbänder gerne einmal anhören würde, als ein ohrenbetäubender dumpfer Ton vom Bodden herüberdröhnt. Es ist die Sirene des Bergungsschleppers »Lukas«, der mit Volldampf auf den Hafen zuläuft und einen gewaltigen Schwimmkran hinter sich herzieht.

»Na endlich!« Die Lütte steckt ihr Smartphone wieder weg. »Das wurde ja Zeit.«

»Mensch, Hansen«, knurrt Oehler missmutig. »Ging’s nicht ein paar Nummern kleiner?«

»Die ›Herkules Zwo‹ war am schnellsten«, antwortet die Lütte. »Der Schwimmkran gehört einer Stralsunder Bergungsfirma, die sich auf das Heben von Wracks spezialisiert hat. Die haben auch erstklassige Taucher an Bord und arbeiten viel für Versicherungen. Insofern dürfte sich die Frage Vorsatz oder nicht rasch klären.«

»Für dieses ganze Bohei muss jetzt der Steuerzahler aufkommen.«

»Oder der Verursacher. Mal schauen, was die herauskriegen.« Sie ruft die Tochter der Staatsanwältin heran. »Leonie, schon mal Polizeiboot gefahren?«

Natürlich nicht. Begeistert kommt das Mädchen mit dem Hund angerannt. »Wollen die den Kutter heben?«

»Ja, damit wir ihn untersuchen können. Komm, wir schauen uns das vom Boot aus näher an.« Und schon hüpft sie mit der jungen Leonie und dem Hund in die Glastron, schaltet das Blaulicht ein und rast über das Wasser auf den Schlepper zu.

»Na, die haben jetzt ihren Spaß«, freut sich Frau Dr. Kilius.

»Könnten Schwestern sein, was?« Das immerhin hat Oehler mit der Staatsanwältin gemein. »Meine Lütte ist ja auch noch nicht so lange volljährig.«

»Ach, das ist Ihre Tochter?«

»Nein«, erwidert Oehler rasch. »Ich habe keine Kinder, na, das hätte mir noch gefehlt! Aber man fühlt sich ja doch verantwortlich für die jungen Kollegen, nicht wahr? Die haben noch keine Erfahrung, wollen immer mit dem Kopp durch die Wand. Und dann sorgt man sich natürlich.« Er seufzt und sieht der Glastron nach. Maike Hansen hat das Boot aufgestoppt und weist aufgeregt gestikulierend den Bergungsschlepper ein.

»Ja«, nickt die Staatsanwältin nachdenklich. »Die Sorgen sind am schlimmsten.«

»Wieso? Macht sie viel Ärger?«

»Leonie?« Die Anwältin winkt lachend ab. »Nein, eigentlich nicht.« Dann wird sie wieder ernst. »Aber als Kind wurde sie mal entführt, und seitdem bin ich …«

»Was, Ihre Tochter wurde entführt?« Oehler reißt entsetzt die Augen auf. »Von wem denn?«

»Von ihrem Vater. Er ist Pakistaner.« Die Staatsanwältin lacht nervös. »Ein gut aussehender Mann, und ich war jung und verliebt. Aber er wollte halt immer unbedingt in sein Heimatland zurück.« Sie wird wieder ernst. »Ich war mal mit ihm dort, aber das wäre nichts für mich gewesen.« Sie seufzt. »Ja, irgendwann haben wir uns getrennt. Und dann hat er Leonie aus dem Kinderladen abgeholt und nach Islamabad gebracht. Ich habe vier Jahre gebraucht, um das Mädchen zurückzubekommen.«

Jetzt versteht Oehler. »Deshalb nehmen Sie sie überallhin mit. Damit sie Ihnen keiner mehr wegnehmen kann.«

»Sie wird flügge«, entgegnet die Staatsanwältin. »Und sie fragt oft nach ihrem Vater. Ewig werde ich sie nicht festhalten können.«

Am Kai ist der graue Bulli der Kriminaltechnik aufgetaucht. Und ein Wagen der Brandermittler von der Feuerwehr. Offenbar hat die Lütte das ganze Programm geordert.

Maike Hansen steuert das Boot zurück an die Kaikante und springt behände an Land. »Moin, die Herren! Wie ich Ihnen schon telefonisch mitgeteilt habe, ist hier im Hafen ein Fischbrötchenkutter nach Feuer an Bord gesunken. Ein vorsätzlicher Anschlag ist nicht ausgeschlossen, es besteht der begründete Verdacht auf Brandstiftung …«

»Björn, na so was«, unterbricht einer der Kriminaltechniker den Redefluss der Lütten, als er den Oberkommissar mit der Staatsanwältin herankommen sieht. »Lange Nacht gehabt?«

»Kann man so sagen.« Oehler schüttelt entschuldigend Hände. »Tut mir leid, aber die Lütte war wieder einmal etwas übereifrig. Ich hätte euch nicht aus den Betten geholt.«

»Wer leitet die Ermittlungen?«

»Frau Dr. Kilius von der Staatsanwaltschaft in Stralsund.« Oehler gähnt. »Sofern es was zu ermitteln gibt.«

»Uns sind vor ein paar Tagen anonyme Drohungen gegen den Kutter zugespielt worden«, mischt sich die Staatsanwältin ein. »Deshalb sollten wir genauer hinschauen.«

»Wenn es Brandstiftung war, kriegen wir das raus«, versprechen die Brandermittler. »Wie lange wird die Bergungsfirma brauchen?«

»Ein, zwei Stunden.« Maike Hansen hat einen knallroten Kopf bekommen. »Ich klär das gleich genauer ab.«

»Sie ermitteln erst mal die Betreiber von dem Kutter«, widerspricht Oehler und schiebt die Lütte entschieden in Richtung Absperrungen. »Die müssen ja im Gewerbeamt von Stralsund registriert sein. Falls nicht, gibt’s auch keine Konzession, und dann befragen Sie dazu gleich mal den stellvertretenden Amtsleiter. Der soll krankheitsbedingt zu Hause sein, aber fassen Sie den trotzdem nicht mit Samthandschuhen an. Um den Rest hier kümmere ich mich. – Danke, Hansen. Abtreten!«

Maike Hansen will empört etwas erwidern, doch Oehler hat sich schon von ihr abgewendet und lächelt Frau Dr. Kilius an.

»Lust auf einen Kaffee? Bis die hier alle so weit sind, könnten wir schön was frühstücken, nicht wahr? Und bei Moppi gibt’s frischen Fisch und richtig guten Kaffee.«

Die Staatsanwältin sieht ihre Tochter an. »Klingt gut, oder, Schatz?«

»Was ist mit Maike?«

»Die muss jetzt arbeiten, Leonie«, antwortet Oehler. »Und Geld für ihre Miete verdienen. Aber ihr könnt euch ja privat mal verabreden. – Auf geht’s«, fügt er aufmunternd hinzu. »Ich lade Sie beide ein. Aber nur, weil Leonie heute Geburtstag hat.«

Maike Hansen bleibt allein zurück. Sie ist noch roter geworden. Und mächtig sauer.