Fjordgrab - A. Hermanns - E-Book

Fjordgrab E-Book

A. Hermanns

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Beschreibung

Fjordgrab: Ein Magnus-Olsen-Thriller Ein Tod, der keine Spuren hinterlässt. Eine Waffe, die man nicht sehen kann. Und ein Geheimnis, das seit Jahrzehnten im kalten Wasser des Limfjords ruht. Am Ufer des rauen Limfjords, inmitten der rostigen Überreste einer verlassenen Werft, wird ein Mann tot aufgefunden. Er sitzt friedlich da, ein Lächeln auf den Lippen. Keine Gewalt, keine Wunden, nur eine winzige, rätselhafte Markierung an seiner Schläfe sowie eine unnatürliche Kälte, die selbst erfahrene Ermittler erschaudern lässt. Kommissar Magnus Olsen, der die Geister seiner eigenen Vergangenheit am Limfjord bekämpfen muss, wird an den Ort seiner tiefsten Wunden gerufen. Er spürt sofort, dass dies kein gewöhnlicher Mord ist. Es ist der Auftakt zu etwas Größerem, eine lautlose Hinrichtung, ausgeführt mit einer Technologie, die es nicht geben dürfte. Als ein zweiter Todesfall die Region erschüttert, beginnt ein Wettlauf gegen einen unsichtbaren Feind. Die Spur führt zu einem umstrittenen Bergungsprojekt, zur versunkenen "Nebelstern" aus dem Zweiten Weltkrieg und zu den dunklen Machenschaften eines skrupellosen Konzernchefs. Doch Olsen ahnt, dass die Wurzeln des Bösen viel tiefer liegen – in der Geschichte der alten Werft und dem verfluchten Erbe der Familie Mikkelsen. Ein exzentrischer Patriarch, der allein über die Ruinen wacht, scheint mehr zu wissen, als er zugibt. Und eine brillante, aber unsichtbare Drahtzieherin im Hintergrund scheint die Fäden zu ziehen. "Fjordgrab" ist ein hochspannender Nordic-Noir-Thriller, der auf beklemmende Weise Wissenschaft und alte Schuld verbindet. Atmosphärisch dicht, technologisch perfide und psychologisch abgründig ist dies der vierte und bisher düsterste Fall für Kommissar Magnus Olsen. (Kann ohne Vorkenntnisse der Reihe gelesen werden.) Sichern Sie sich jetzt den neuen Pageturner der Magnus-Olsen-Reihe – Hochspannung ist vorprogrammiert!

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Seitenzahl: 383

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Fjordgrab

MAGNUS OLSEN

NORDIC NOIR

PSYCHOTHRILLER

A.Hermanns

Magnus Olsen - Fjordgrab (Nordic Noir Psychothriller Reihe Teil 4)Hinweis: Jeder Band dieser Reihe erzählt eine abgeschlossene Geschichte und kann unabhängig von den anderen gelesen werden.

Liebe Leserin, lieber Leser,

Herzlich willkommen zu einem neuen Fall aus der Magnus-Olsen-Reihe, in der bereits viele Bände erschienen sind! Wir hoffen, dass Sie auch dieser Fall in Aarhus fesseln wird.

Wenn Ihnen das Buch gefällt, freuen wir uns über Ihre Bewertung nach der Lektüre. Sie hilft uns und anderen Lesern, die Serie zu entdecken. Wir wünschen Ihnen spannende Lesestunden und bedanken uns herzlich für Ihre Unterstützung!

© 2025 A.Hermanns

Verlagsangaben:only12books VerlagFünfhausenstraße 24a31832 [email protected]

Rechtliche Hinweise:Alle Rechte vorbehalten.Kein Teil dieses Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Haftungsausschluss:Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und ist nicht beabsichtigt.

Auflage 2025

Prolog

Der schwere Eichenschreibtisch fühlte sich unter meinen Händen vertraut an: kühl und glatt. Im warmen Lichtkegel der Messinglampe vor mir atmete die alte Seekarte des Limfjords Geschichte. Stundenlang hatte ich ihre vergilbten Linien verfolgt, versucht, ihr das Geheimnis der „Nebelstern” zu entreißen. Ein feines Kribbeln im Nacken und eine unbestimmte Vorahnung begleiteten mich schon den ganzen Abend. Die letzten zwei Minuten zerrissen die Stille nicht – sie vergifteten sie.

Ein Zittern lag in der Luft, erst fein, dann unheilvoll greifbar. Meine Haut kribbelte, ich bekam Gänsehaut, obwohl mir nicht kalt war. Mir stockte der Atem. Ich hob den Kopf, und der Silberstift fiel klirrend aus meiner zitternden Hand. Dann explodierte mein Herz, ein wilder, panischer Trommelschlag gegen meine Rippen. Er war so laut, dass er das Ticken der alten Standuhr im Flur verschluckte.

Oder war es das unerbittliche Zählen zu meinem eigenen, nahenden Ende? Ich lauschte, jeder Nerv ein gespannter Draht. Das ferne Brummen des Verkehrs, das Rascheln der Blätter draußen – plötzlich klang alles fremd und bedrohlich. Ich wollte aufspringen und fliehen, doch meine Beine waren wie Blei und mein Körper war wie ein Gefängnis. Eine eiskalte Welle der Panik schwappte über mich, heiß und kalt zugleich. Ich schmeckte Galle und Angst auf meiner Zunge. Ich presste die Lippen zusammen, um einen Schrei zu unterdrücken, der sich Bahn brechen wollte. Das Zittern wurde zu einem Summen, hoch und unerträglich, direkt in meinem Schädel, als würden sich glühende Nadeln in mein Gehirn bohren. Meine Gedanken waren ein chaotisches Knäuel aus Furcht. Die Karte vor mir, die Linien, die Symbole – sie tanzten und zerflossen zu grotesken Fratzen, die mich hämisch angrinsten. Ein Schleier legte sich vor meine Augen, die Ränder meines Sehfeldes verdunkelten sich, als würde schwarze Tinte meine Welt verschlingen. Ein glühender Punkt, präzise und unbarmherzig, bohrte sich neben meinem rechten Ohr in den Schädel, fremd und invasiv. Ich fuhr mit der Hand dorthin und tastete – doch ich spürte nur meine eigene, plötzlich eiskalte Haut und das rasende Pochen darunter.

Der Druck! Es war, als würde mein Kopf in einem unsichtbaren Schraubstock zerquetscht. Das Summen war nun ein infernalisches Dröhnen, das jede Vernunft zerfetzte. Panik schnürte mir die Kehle zu. Ich wollte aufspringen, doch meine Glieder gehorchten mir nicht. Die Seekarte wellte sich und die Farben leuchteten in giftigen Tönen. Ich bin in Gefahr! Jemand … etwas … ist hier! Es will mich! Ich versuchte zu schreien, öffnete den Mund, doch meine Zunge war taub, meine Stimmbänder wie gelähmt. Es kam nur ein heiseres, ersticktes Würgen heraus. Die Angst war wie ein Feuer in meinen Eingeweiden. Mein Herz raste nicht mehr, es stolperte und setzte aus – ein verzweifelter Tanz am Rande des Abgrunds. Die Luft in meinen Lungen wurde dünner, und jeder Atemzug wurde zu einem qualvollen Kampf. Die Welt drehte sich um mich herum, ein Strudel aus verzerrten Formen und schreienden Farben. Die Bücherregale und die Wände meines Zimmers neigten sich bedrohlich und schienen auf mich herabzustürzen. Ich krallte meine Hände in die Tischplatte und suchte Halt. Splitter bohrten sich unter meine Nägel, doch ich spürte es kaum.

Tief in meinem Inneren spürte ich, als würden unsichtbare Hände meine Organe zerquetschen, als würde mein Körper von innen heraus zerrissen. In meiner Brust war ein stiller Schrei, ein Schrei des Entsetzens und der absoluten Hilflosigkeit. Nicht Schmerz, sondern ein entsetzliches Auseinanderfallen. Mein Atem stockte, ein letztes, verzweifeltes Röcheln. Die Unfähigkeit, mich zu bewegen oder zu schreien, war die reinste Folter. Ich war gefangen in meinem eigenen Körper. Die dunklen Tiefen des Fjords. Die „Nebelstern“, ein rostiges Wrack, das nach mir griff. Schatten tanzten und flüsterten unhörbare Drohungen. Eine unendliche Schwere zog mich unaufhaltsam nach unten. Mein Kopf wurde zu Blei. Ich stemmte mich mit letzter, versagender Kraft dagegen, wollte nicht in diese Dunkelheit sinken. Leben! Ein verzweifelter Funke in der erlöschenden Glut meines Bewusstseins. Zu spät. Meine rechte Wange sank auf das Pergament der Karte. Kalt, rau, fremd. Der Staub der Jahrhunderte schmeckte bitter auf meinen Lippen.

Das Dröhnen in meinem Kopf wurde zu einem ohrenbetäubenden Nichts. Die Welt verschwand. Das Licht meiner Lampe war ein ferner, sterbender Punkt in einem Universum aus Schwärze. Die Schatten im Zimmer wuchsen und wurden zu lebendigen, gierigen Kreaturen, die mich mit kalten Fingern umfingen und erstickten. Eine alles durchdringende Kälte kroch aus dem Zentrum meines erlöschenden Seins. Meine Lippen bewegten sich noch einmal, ein unhörbares Flüstern. Ein Name? Eine Frage? Ein Fluch? Es spielte keine Rolle mehr. Ich schloss die Augen vor dem Entsetzen. Fallen. Ein endloses Fallen in ein schwarzes, schreiendes Nichts. Die Angst war das Einzige, was noch real war, eine letzte, brennende Empfindung. Ich hörte das Rauschen meines eigenen Blutes in den Ohren und ein fernes, verebbendes Meeresrauschen.

Warum? Dieser letzte, zuckende Gedanke. Dann: reine, absolute, schreckliche Stille. Und die D unkelheit. Man würde später sagen, ich hätte ausgesehen, als sei ich friedlich über meiner Arbeit eingeschlafen.

Ein Trugbild.

Eine Lüge.

Kapitel 1

Ein feuchtkalter Nordwestwind trug die markanten Gerüche des Meeres - Salz, das man auf der Zunge spürte, als käme es direkt von den grauen Wellen, der schwere, süßliche Aroma von verrottendem Tang, der sich am Ufer ausbreitete, und der scharfe, metallische Unterton von altem Maschinenöl - kräftig über das weite, verfallene Gelände des ehemaligen Schiffshebewerks von Sydhavn. Hier, wo einst laute Arbeitsgeräusche den Alltag bestimmten, herrschte nun tiefe Stille. Die Sonne, eine blasse Scheibe hinter einer dichten grauen Wolkendecke, versuchte schwach, den Dunstschleier zu durchbrechen. Ihr fahles, kaltes Licht fiel auf die Strukturen der Kräne, deren rostbraune Träger in den Himmel ragten, Zeugen einer vergangenen Industrieepoche. Es fiel auf die verwitterten Fassaden der Werfthallen, große, leere Gebäude, deren dunkle Fensteröffnungen in eine ungewisse Zukunft blickten.

In einer dieser Gebäude, einer sehr großen Halle aus Stahl und Glas, deren genietete Paneele von vielen Stürmen beschädigt waren und deren Industrieglasfenster nun zerbrochen und undurchsichtig den Elementen ausgesetzt waren, begann Jens Larsen seinen Arbeitstag. Achtundfünfzig Jahre war er alt, die meiste Zeit davon in der Uniform eines Sicherheitsdienstes, die letzte Zeit auf der „FjordPatrol“. Diese große Stahlhalle, einst der zentrale Maschinenraum für die Hebezeuge, war nun sein Revier, ein stiller Ort des einstigen Fortschritts. Sein Kontrollgang war Routine, ein geübter Wechsel von Vorsicht und leichtem Unbehagen.

Die Halle selbst war ein Ort großer Leere. Eine tiefe Ruhe erfüllte sie, eine Stille, die das Atmen erschwerte und jeden Laut zu ersticken schien. Nur das Pfeifen des Windes, der durch die zerbrochenen Fensterscheiben drang, und das gelegentliche und Quietschen des alternden Metalls durchbrachen die Stille. Es war, als würde die Stahlkonstruktion selbst unter dem Alter und der Verlassenheit noch Geräusche machen, ein leises, beständiges Knirschen. Larsen, in einen schweren, dunklen Mantel gehüllt, der den Geruch vieler kalter Morgen und Nächte angenommen hatte, und mit einer Maglite-Taschenlampe bewaffnet, deren Strahl die einzige Lichtquelle in dieser Finsternis war, bewegte sich mit der bedächtigen Langsamkeit eines Mannes, der diesen vereinsamten Ort nicht nur kannte, sondern auch auf eine unbestimmte, tief sitzende Weise fürchtete. Er fürchtete nicht die Dunkelheit oder die Einsamkeit an sich, sondern das, was sich dahinter verbergen mochte, die Bilder, die sich mit den rostigen Winkeln und ölverschmierten Schatten verbanden, die Vorstellungen, die ein solcher Ort hervorrief. Er spürte die Bürde der Vergangenheit, die hier auf allem lastete, eine unsichtbare Wirkung, die ihm manchmal die Luft zum Atmen nahm.

Sein Lichtkegel, ein unruhiger künstlicher Lichtstrahl, glitt über endlose Reihen stillgelegter Generatoren. Einst hatten sie die Kraft geliefert, tonnenschwere Schiffe anzuheben, nun standen sie da, unbeweglich und groß, von einer dicken Staubschicht bedeckt, ein Zeichen des Vergessens. Schaltpulte mit Reihen unbenutzter Knöpfe und Hebel, die seit Jahrzehnten unberührt schienen. Auf dem rissigen Betonboden hatten sich ölige, farbig schillernde Pfützen gesammelt, stille Wasserflächen inmitten des Verfalls. Jeder Schritt Larsens hallte gedämpft von den Wänden wider, ein einzelnes Geräusch in der großen Leere. Die Kälte des Morgens war intensiv, drang unter den Mantel, schmerzte in Nase und Ohren, machte die Finger, die die Taschenlampe umklammerten, steif.

Er dachte an das warme Bett, das er vor weniger als einer Stunde verlassen hatte, an den Duft des Kaffees, der ihm noch in der Nase zu hängen schien, an ein Gefühl von Geborgenheit in dieser unwirtlichen Umgebung. Solche Vorstellungen schenkten ihm kurze Momente der Wärme angesichts der Melancholie, die ihn auf diesen Korridoren oft zu überwältigen drohte. Er schüttelte den Kopf und versuchte, die düsteren Gedanken zu verdrängen. Das war sein Job, und er verwirklichte ihn so, wie er alles in seinem Leben erledigte: gründlich, pflichtbewusst, ohne viele Worte.

In der Mitte der Halle, dort, wo einst das Herzstück der Maschinenanlage gestanden haben musste, stand ein umgestürzter Werkzeugwagen, ein rostiges Gebilde aus verbogenem Metall. Und darauf, fast unscheinbar, als hätte sich die Person für eine Pause hingesetzt, entdeckte Larsen eine menschliche Gestalt. Sein Herz schlug kurz und unangenehm schnell. Sein erster Gedanke, geprägt von Erfahrung und einer gewissen Routine, war: Einer der Obdachlosen. Es kam vor, dass sie hier Unterschlupf suchten, angezogen von der Ruhe und dem Schutz vor dem Wind, den diese riesigen, verlassenen Hallen boten. Ein Ärgernis, normalerweise harmlos, aber heute, an diesem besonders unwirtlichen Morgen, verspürte Larsen einen Anflug von Ungeduld.

»Hallo?«, rief er, seine Stimme dünn und verloren in der Weite der Halle, gedämpft von der Stille, ohne eine Reaktion zu erhalten. »Hier spricht der Sicherheitsdienst! Sie haben hier keinen Zutritt!«

Keine Bewegung. Keine Reaktion. Nur das anhaltende Pfeifen des Windes und das Quietschen des Metalls, als gäbe die Halle selbst keine Antwort.

Ein ungutes Gefühl überkam ihn, ein schweres Unbehagen, das sich in seinem Bewusstsein ausbreitete. Langsam, den Lichtkegel fest auf die Gestalt gerichtet, trat er näher. Der Schein der Lampe zitterte leicht in seiner Hand, zeigte eine Spannung, die er sich nicht eingestehen wollte. Mit jedem Schritt wurde die Ahnung stärker. Die Haltung der Person, die unnatürliche Regungslosigkeit, die sie ausstrahlte - es war nicht die Ruhe eines Schlafenden.

Als er nur noch wenige Meter entfernt war, erkannte er die Wahrheit, und die Kälte, die ihn umgab, fühlte sich plötzlich anders an, intensiver. Sie drang tief in ihn ein, nicht von außen, sondern von innen. Der Mensch, ein Mann mittleren Alters, in strapazierfähiger Arbeitskleidung, an vielen Stellen verschlissen und ölverschmiert, war tot. Es war offensichtlich, unbestreitbar. Der Mann - viel später sollte er erfahren, dass er Lars Henriksen hieß und 48 Jahre alt war - saß leicht vorgebeugt da, die Hände locker im Schoß gefaltet, als hätte er sie dort abgelegt, bevor ihn eine plötzliche Müdigkeit überkam. Seine Augen waren geschlossen, und sein Gesichtsausdruck war das Auffälligste von allem: Er war seltsam entspannt, fast friedlich, als hätte ihn der Tod in einem Moment der Zufriedenheit ereilt. Ein leichtes Lächeln schien um seine Lippen zu spielen, oder war es nur eine Täuschung des fahlen Lichts und der Schatten?

Larsen zwang sich, näher zu treten, seinen professionellen Blick über den Körper gleiten zu lassen. Sein Verstand arbeitete schnell, registrierte Details, suchte nach Erklärungen. Keine sichtbaren Spuren von Gewalteinwirkung. Kein Blut, das den rostigen Werkzeugwagen oder den Betonboden darunter gefärbt hätte. Keine Unordnung, keine Kampfspuren, keine umgeworfenen Gegenstände, keine verzweifelten Kratzspuren. Nichts, was auf einen Kampf gegen den Tod oder einen Angreifer hindeutete. Der Fundort war seltsam sauber, fast steril.

Dann fiel sein Blick auf eine winzige Abweichung, ein Detail, das die scheinbare Ruhe des Bildes störte. An der rechten Schläfe des Mannes, kaum sichtbar im schütteren Haar, entdeckte er eine kleine, fast unmerkliche, kreisrunde Rötung. Sie war kaum größer als ein Zwei-Euro-Stück, eine leichte Verfärbung der Haut, als hätte dort etwas mit leichtem, aber anhaltendem Druck gewirkt. Ein Insektenstich? Eine alte Narbe? Nein, es wirkte frisch, aber nicht wie eine Wunde. Es war eher eine Markierung, präzise und seltsam unauffällig.

Larsen, ein Mann, der gelernt hatte, seinen Instinkten zu vertrauen, auch wenn er sie nicht immer erklären konnte, spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Der Raum war kalt, eine feuchte, intensive Kälte, die von den Stahlwänden auszugehen schien. Er zog einen seiner dicken Lederhandschuhe aus, zögerte einen Moment, streckte dann die Hand aus und berührte vorsichtig den Handrücken des Toten. Er spürte eine starke Kälte. Der Körper fühlte sich unnatürlich kühl an, kühler als die Umgebungstemperatur und die geschätzte Zeit seit dem Tod erwarten ließen.

Jens Larsen war, wie es seiner Lebenserfahrung entsprach, ein erfahrener Mann. Er hatte in seinen Jahren viel gesehen, Dinge, die andere kaum kannten. Er war an den Anblick des Todes gewöhnt, auch an den Gewaltsamen. Aber dies war anders. Es war die Stille, die Ruhe, die fast saubere Umgebung, gepaart mit diesem kleinen, rätselhaften Zeichen und der unnatürlichen Kälte, die ihn zutiefst beunruhigten. Sein Magen zog sich zusammen.

Ohne weiteres Zögern griff er nach seinem Dienstfunkgerät. Obwohl er einen dicken Handschuh trug, fühlte sich seine Hand taub an.

»FjordPatrol an Zentrale Aalborg, bitte kommen«, seine Stimme klang fester, als er erwartet hatte, eine professionelle Fassade für seine verwirrten Gedanken.

»Zentrale Aalborg hört FjordPatrol, bitte kommen.«

»Habe hier auf dem Gelände von Sydhavn, alte Maschinenhalle, Sektor vier, eine leblose männliche Person gefunden. Offensichtlich tot. Bitte Kriminalpolizei verständigen. Ich sichere den Bereich.«

Er beschrieb den Fundort und den Zustand der Leiche präzise, so wie er es gelernt hatte, und unterdrückte das Bedürfnis, seine eigenen unheimlichen Eindrücke zu schildern. Die Antwort kam prompt, professionell und unpersönlich: Er solle den Bereich absperren und niemanden hineinlassen, bis die Kriminalpolizei eingetroffen sei. Eine Standardanweisung, aber heute wirkte sie belastend.

Das Warten begann. Die Lautlosigkeit in der Halle schien intensiver zu werden, jeder seiner Atemzüge klang sehr laut. Noch einmal ging er langsam um den Toten herum, der reglos auf dem rostigen Gegenstand saß, ein stiller Anblick in der verfallenden Industriehalle. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe wanderte über den Betonboden, suchte, ohne genau zu wissen, wonach. Dabei bemerkte er etwas, das ihm beim ersten, flüchtigen Blick entgangen war. Staub. Überall in der Halle lag er zentimeterdick, eine graue, dicke Schicht, die alles bedeckte. Doch hier, direkt um den Werkzeugwagen herum, um den Toten herum, war der Staub kaum zu spüren. Es gab keine Schleifspuren, keine verwischten Abdrücke von mehreren Füßen, keine Anzeichen eines Kampfes oder einer Bewegung. Es war, als sei der Mann sorgfältig dort abgelegt worden, wie eine Figur in einem unheimlichen Szenario. Oder, noch unwahrscheinlicher, als hätte er sich selbst dort hingesetzt und wäre dann ohne die geringste Gegenwehr, ohne ein Zucken gestorben.

Die ganze Szene, dachte Larsen, während er fröstelte und versuchte, die Bilder aus seinem Kopf zu verbannen, wirkte bizarr und unwirklich. Eine stille, fast bedächtige Inszenierung des Todes inmitten des großen industriellen Verfalls. Ein unheimlicher Anblick an einem Ort des Vergessens. Die Identität des Toten war ihm ein Rätsel. Er kannte die meisten Gesichter, die sich regelmäßig auf dem Gelände oder in der Umgebung aufhielten, die Fischer, die Arbeiter der wenigen noch aktiven Betriebe, die gelegentlichen Vandalen. Dieser Mann gehörte nicht dazu.

Er zog sein kleines Notizbuch und einen Bleistiftstummel aus der Manteltasche. Seine Finger waren steif vor Kälte, aber er zwang sich, die Uhrzeit seines Fundes zu notieren: 06:17 Uhr. Eine kleine, gewöhnliche Handlung in einer ungewöhnlichen Situation. Die Minuten verstrichen langsam. Jeder Windstoß, der durch die Halle pfiff, klang jetzt sehr unangenehm. Larsen starrte auf den Toten, dann wieder in die Dunkelheit der Halle, dann wieder auf den Toten. Er fühlte sich klein und verloren.

Um 6.43 Uhr endlich das erwartete Geräusch von Fahrzeugen draußen. Blaulichter warfen unruhige Reflexe durch die zerbrochenen Scheiben. Die ersten uniformierten Streifenbeamten der Polizei Aalborg trafen ein. Junge Gesichter, ernst und angespannt. Larsen erstattete kurz Bericht und führte sie zum Tatort. Er sah die Mischung aus professioneller Routine und kaum verhohlenem Schock in ihren Augen, als sie den Toten erblickten. Sofort begannen sie, den weitläufigen Fundort abzusichern, eine Aufgabe, die sich, wie Larsen bereits geahnt hatte, als logistisch anspruchsvoll erwies. Die schiere Größe der Halle, die unzähligen dunklen Ecken, die vielen möglichen Zugänge und Fluchtwege - eine sehr schwierige Aufgabe für jede Spurensicherung. Die Beamten legten Absperrband aus, ihre Stimmen klangen gedämpft und respektvoll in der Gegenwart des Todes. Der Fundort wurde offiziell zum primären Tatort erklärt, die Spurensicherung angefordert.

Jens Larsen trat einen Schritt zurück und ließ die Spezialisten ihre Arbeit machen. Er war nur noch Zeuge, der erste, der diese stille Tragödie entdeckte. Er verspürte eine Mischung aus Erleichterung, mit diesem Anblick nicht mehr allein zu sein, und einer tiefen, anhaltenden Unruhe. Die Bilder des ruhig dasitzenden Toten, das kleine rote Mal an seiner Schläfe, die unnatürliche Kälte, der ungestörte Staub - all das würde ihn noch lange beschäftigen. Der kalte Nordwestwind, der noch immer heftig über das Werftgelände wehte, schien die Geheimnisse dieses Ortes, zwischen den rostenden Stahlkonstruktionen und verwitterten Mauern, weiter zu hüten. Kaum hatte der Tag begonnen, wurde Jens Larsen mit den Auswirkungen eines unfassbaren, stillen Ereignisses konfrontiert.

Kapitel 2

Der Anruf aus Aalborg erreichte die Spezialeinheit für außergewöhnliche Gewaltverbrechen in Kopenhagen gegen halb zehn Uhr morgens, zu einer Zeit, in der das Leben in der Stadt bereits wieder seinen gewohnten Gang nahm. In den Büros des Teams, hoch über den belebten Straßen, herrschte die konzentrierte Stille, die komplexen Fällen eigen ist. Das Summen von Computern, das leise Rascheln von Papier, das entfernte Geräusch einer Sirene - eine Geräuschkulisse der Routine, die plötzlich von der offensichtlichen Dringlichkeit eines eingehenden Anrufs unterbrochen wurde. Polizeidirektor Erik Madsen aus Aalborg war am Apparat, seine Stimme, auch durch die digitale Übertragung verändert, klang angespannt. Er sprach von unklaren Todesumständen, von einem Fundort auf einem riesigen, unübersichtlichen Werftgelände am Limfjord, von einer möglichen Komplexität, die die örtlichen Kräfte überfordere. Er bat um Unterstützung, um die Expertise der Spezialisten aus der Hauptstadt.

Lars Høgh, achtundfünfzig Jahre alt, Leiter der Sondereinheit und ein Mann, der in seiner langen Laufbahn schon viele schwierige Situationen erlebt hatte, um sich von Details beeindrucken zu lassen, hörte schweigend zu. Sein pragmatisch erfahrenes Gesicht blieb unbewegt. Kaum vernehmlich trommelte er mit den Fingerspitzen auf die glatte Oberfläche seines Schreibtisches, eine Gewohnheit, die seine Denkprozesse begleitete. Die Anfrage aus der Provinz war nicht selten, aber die Schilderung des Falles weckte in ihm eine leise Beunruhigung. Ein Todesfall ohne erkennbare Ursache an einem Ort, der selbst sehr heruntergekommen wirkte - das deutete auf mehr als einen unglücklichen Zufall hin. Nach einer kurzen, präzisen Rücksprache mit dem Gerichtsmediziner, dessen erste Einschätzung die Ungewöhnlichkeit des Falles unterstrich, traf Høgh seine Entscheidung. Er wusste, wen er für solche Angelegenheiten brauchte, für die subtilen Hinweise, die verborgenen Zusammenhänge. Kommissar Magnus Olsen und die Kriminaltechnikerin und Analytikerin Liv Dalgaard.

Magnus Olsen, dreiundvierzig Jahre alt, ein Mann, dessen wahre Stärke nicht in seiner körperlichen Erscheinung lag, sondern in einer tiefen, spürbaren Ruhe und einer außergewöhnlichen Intuition, nahm die Nachricht mit der ihm eigenen äußerlichen Gelassenheit auf. Sein Gespür für das Unausgesprochene, für die feinen Ungereimtheiten der Wirklichkeit war im Referat bekannt, oft bewundert, manchmal mit Vorsicht betrachtet, selten ganz verstanden. Er saß bereits am Steuer seines alten, dunkelgrauen Volvos 240 Kombi, ein Fahrzeug, das so unauffällig und funktional war wie er selbst, als Liv Dalgaard mit ihrer Tasche auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Das Auto war mehr als ein Transportmittel, es war ein Rückzugsort, ein stiller Raum auf Rädern, in dem Magnus‘ Gedanken oft abschweiften.

Die Fahrt von Kopenhagen nach Nordjütland würde knapp vier Stunden dauern, vier Stunden, die sich sehr lang anfühlen oder sehr schnell vergehen konnten, je nach innerer Verfassung des Reisenden. Magnus schwieg die meiste Zeit. Seine Augen, oft unruhig, als würden sie ständig die Umgebung prüfen, die Wirklichkeit nach verborgenen Hinweisen absuchen, waren jetzt auf die vorbeiziehende Landschaft gerichtet, aber seine Gedanken schienen weit weg zu sein, an einem Ort, den nur er kannte. Die flache, offene Weite Dänemarks, die sich vor ihnen ausbreitete, je näher sie dem Norden kamen, die zunehmende Nähe des Meeres, dessen salziger Geruch bereits in der Luft wahrnehmbar war, und die spärlichen Informationen über den Fundort in einer alten Werft - all das berührte den tiefsten, den schmerzlichsten Teil seiner Erinnerungen. Es war ein unglückliches Zusammentreffen von Elementen, die sein persönliches Trauma auslösten, den anhaltenden Schmerz über den Verlust seiner Frau Astrid und seines Sohnes Emil. Eine Sturmflut hatte sie ihm vor sieben Jahren genommen, hier oben, in seinem Heimatdorf Tornby, nicht weit von dem Fjord entfernt, zu dem sie jetzt unterwegs waren. Die Narbe über seiner rechten Augenbraue, das sichtbare Zeichen jenes Tages, an dem die Wellen ihn erfasst und verletzt, aber nicht getötet hatten, begann sich leicht zu spannen und zu röten, als erinnere sie an den Schmerz von damals. In seiner Brieftasche, sicher verwahrt und doch unzählige Male betrachtet, trug er wie immer das vergilbte Foto seiner Familie bei sich, ein Halt in seinen quälenden Erinnerungen.

Liv Dalgaard, achtunddreißig Jahre alt, Analytikerin und seit etwa drei Jahren Magnus‘ Partnerin, war das rationale Gegengewicht zu seinem oft instinktiven Vorgehen. Während Magnus in Gedanken versunken war, nutzte sie die Fahrt, um erste digitale Recherchen an ihrem Laptop durchzuführen. Ihre Finger bewegten sich flink und präzise über die Tastatur, ihr Blick war konzentriert, als sie Informationen über das Schiffshebewerk Sydhavn, die Sicherheitsfirma »FjordPatrol« und mögliche frühere Vorfälle auf dem Gelände sammelte. Ihre Arbeitsweise war methodisch, analytisch und datengestützt. Die gebürtige Schwedin lebte seit mehr als zehn Jahren in Dänemark und trug mit ihrer kühlen, sehr genauen Logik wesentlich zu den gemeinsamen Ermittlungen bei. Sie trug ein schlichtes, aber gut geschnittenes Vintage-Kleid in einem gedeckten Farbton und ihre üblichen schweren, aber eleganten Lederstiefel - eine Kombination, die ihre Persönlichkeit widerspiegelte: strukturiert und doch mit einem Hauch unkonventioneller Individualität. Ihre Beziehung zu Magnus war von tiefem professionellem Respekt geprägt, von einem stillschweigenden Verständnis für die Eigenheiten und die unsichtbaren Lasten, die jeder von ihnen mit sich trug. Sie wusste um seine Vergangenheit, um die inneren Spannungen, die ihn oft belasteten. Sie sprach es selten direkt an, denn sie wusste, dass Worte hier oft eher hinderlich als hilfreich waren. Ihre Anwesenheit war eine ruhige Konstante, eine diskrete Stütze.

Als sie gegen dreiviertel zwei am Schiffshebewerk von Sydhavn ankamen, hatte sich der Himmel weiter zugezogen. Der Wind zerrte an ihren Jacken, als sie aus dem Volvo stiegen, und trug ihnen den vielschichtigen Geruch von Salz, Verwesung und altem Öl entgegen, den Jens Larsen bereits beschrieben hatte. Kriminalkommissar Per Knudsen, zweiundfünfzig Jahre alt, der örtliche Einsatzleiter aus Aalborg, ein Mann von bodenständiger Statur mit wettergegerbtem Gesicht und wachem, prüfendem Ausdruck, nahm sie in Empfang. Seine Begrüßung war formell korrekt, ein kurzes Nicken, ein fester Händedruck. Aber in seinem Blick, in der Art, wie er die »Hauptstädter« musterte, lag eine deutliche Skepsis, die übliche Zurückhaltung der Einheimischen gegenüber den Experten aus Kopenhagen.

Knudsen führte sie ohne viele Worte in die riesige Maschinenhalle, zum bereits weiträumig abgesperrten Fundort. In der Halle herrschte auch Stunden nach dem Fund eine bedrückende, tiefe Stille. Das fahle Tageslicht, das durch die schmutzigen, zerbrochenen Fenster fiel, zeichnete undeutliche Muster auf den Betonboden und die Maschinen. Magnus nahm die Atmosphäre des Ortes mit allen Sinnen wahr, ließ sie auf sich wirken. Der Geruch von Rost, feuchter Erde, kaltem Öl und dem allgegenwärtigen Verfall, der spürbar in der Luft lag. Die Weite des Raumes, die Höhe der Decken, von denen rostige Ketten herabhingen, alles zeugte von vergangener industrieller Bedeutung, von menschlichem Ehrgeiz und schließlichem Scheitern. Er spürte den Stellenwert der Geschichte, die mit diesem Ort verbunden war, die unsichtbaren Spuren der Arbeit, der Anstrengung, vielleicht auch der Tragödien, die sich hier über Jahrzehnte angesammelt hatten. Seine Augen, diese ruhelosen Beobachter, suchten die Umgebung ab, verweilten selten lange an einem Punkt, nahmen Details auf, die anderen entgingen - eine verblassende Inschrift an einer Wand, die Art, wie sich das Licht auf einer öligen Pfütze spiegelte, das feine Netz von Spinnweben in einer vergessenen Ecke. Es war, als versuche er, die Geschichte des Ortes intensiv wahrzunehmen. Die Narbe über seiner Augenbraue war jetzt eine deutlich sichtbare rote Linie.

Liv Dalgaard hingegen begann sofort mit ihrer systematischen Arbeit, die in krassem Gegensatz zu Magnus‘ eher beobachtender Erfassung der Szenerie stand. Sie öffnete ihre Spezialausrüstung, eine Sammlung von Instrumenten und Behältern, die für einen Laien wie die Ausstattung eines modernen Labors aussehen mochte. Akribisch begann sie, den Tatort zu dokumentieren. Jeder Winkel wurde fotografiert, vermessen, jede Spur gesichert. Sie nahm Proben vom Boden, von den Oberflächen des Werkzeugwagens, aus der Luft. Ihre Bewegungen waren präzise, effizient, ihre Konzentration absolut. Sie suchte nach den kleinsten Spuren, nach Fasern, Hautpartikeln, chemischen Rückständen, die den ersten Ermittlern vor Ort vielleicht entgangen waren. Ihr geschultes Auge bemerkte sofort die fast sterile Sauberkeit um die Leiche herum, die seltsam intakte Staubschicht auf dem Boden, die schon Jens Larsen beobachtet hatte. Diese Details, so unbedeutend sie auch erscheinen mochten, unterstützten ihre erste Hypothese: die einer sorgfältigen Platzierung des Opfers oder einer sehr schnellen, widerstandslosen Tötung. Nichts deutete auf einen Kampf oder ein chaotisches Geschehen hin.

Der Leichnam von Lars Henriksen war inzwischen von der örtlichen Spurensicherung für den Abtransport vorbereitet worden, nachdem erste Fotos und Vermessungen gemacht worden waren. Eine weiße Plastikplane bedeckte ihn nun, eine letzte neutrale Abdeckung. Die Kriminaltechniker der Polizei Aalborg waren noch dabei, den Rest der Halle zu untersuchen, was angesichts der Größe des Gebäudes eine sehr langwierige Arbeit war.

Per Knudsen erläuterte kurz die bisherigen Maßnahmen. Der Gerichtsmediziner Dr. Anders Holm, dessen Name für Kompetenz und große Ruhe stehe, sei bereits auf dem Weg aus Kopenhagen. Er werde am späten Nachmittag erwartet. Er würde vor Ort eine erste gründliche Untersuchung vornehmen, bevor die Leiche zur Obduktion ins Institut nach Kopenhagen gebracht würde.

Magnus nickte nur. Seine Aufmerksamkeit war schon wieder in der Halle, diesem stillen, stählernen Raum, der ein tödliches Geheimnis barg. Die Kälte, die von den Wänden auszugehen schien, war mehr als nur das Fehlen von Wärme. Es war die Kälte des Todes, die Kälte einer unerklärlichen, fast methodischen Tat. Und tief in seinem Innern spürte er, wie sich die alten Lasten seiner eigenen Vergangenheit mit der Düsternis dieses Ortes verbanden, eine stille, unheilvolle Verbindung eingingen. Der Limfjord hatte ein weiteres Opfer gefordert, und es lag an ihm und Liv, herauszufinden, warum.

Kapitel 3

Am späten Nachmittag wurde der Himmel über dem Schiffshebewerk Sydhavn grau, als die Sonne sich hinter der Wolkendecke dem westlichen Horizont näherte. Es war etwa zwanzig nach vier, die Schatten in der riesigen Maschinenhalle wurden länger und fielen tiefer in die Ecken, als Dr. Anders Holm eintraf. Der zweiundsechzigjährige leitende Gerichtsmediziner der Kopenhagener Polizei war ein Mann, der für seine unerschütterliche Ruhe und wissenschaftliche Genauigkeit bekannt war. Magnus Olsen und Liv Dalgaard erwarteten ihn am Absperrband, das wie eine dünne Grenze zwischen Ermittlung und Unfassbarem wirkte. Kriminalkommissar Knudsen, dessen anfängliche Skepsis inzwischen professioneller Anspannung gewichen war, informierte Dr. Holm kurz über die bisherigen spärlichen Ergebnisse.

Dr. Holm war von eher unscheinbarer Statur, ein Mann, der in der Menge nicht weiter aufgefallen wäre. Dennoch strahlte er eine ruhige Kompetenz und die stille Autorität jahrzehntelanger Erfahrung im Umgang mit Todesfällen aus. Seine Augen hinter der unauffälligen Brille waren wachsam und prüfend, nichts schien ihrem scharfen Blick zu entgehen. Er nickte nur kurz zu Knudsens Ausführungen, sein Gesicht verriet keine Regung. Nachdem er sich mit methodischer Langsamkeit Schutzkleidung angelegt hatte - einen weißen Overall, Handschuhe, Überschuhe und eine Haube -, die ihn wie eine Person aus einem anderen, sterileren Bereich wirken ließ, ging er sofort zu Lars Henriksens Leiche. Der Tote saß noch immer auf dem umgestürzten Werkzeugwagen in der Mitte der riesigen Halle, eine lautlose Figur im Zentrum dieser Industriehalle.

Die Halle selbst hatte sich seit dem Morgen verändert. Mobile Scheinwerfer der Spurensicherung erhellten die Szenerie nun mit grellem, direktem Licht. Jeder rostige Träger, jede ölige Pfütze, jede verstaubte Maschine wurde taghell angestrahlt, was den unwirklichen, fast bühnenhaften Charakter des Fundortes noch verstärkte. Die Schatten waren kürzer, härter, die unklaren Aspekte der Stätte schienen sich unter des starken Scheins nur noch mehr zu verbergen. Für Magnus, der zuvor die Atmosphäre des Ortes in seiner dämmrigen Verlassenheit wahrgenommen hatte, wirkte diese künstliche Helligkeit fast unpassend, der Versuch, das Ungewöhnliche durch bloße Beleuchtung zu klären, machte es nur noch seltsamer.

Dr. Holm begann seine Untersuchung, indem er die Leiche und ihre unmittelbare Umgebung genau untersuchte, seine Bewegungen waren langsam, präzise, fast rituell. Mit einem knappen Nicken bestätigte er die Beobachtungen seiner Kollegen: keine offensichtlichen Abwehrverletzungen, die auf einen Kampf hindeuten würden, keine Kampfspuren in der näheren Umgebung, keine sichtbaren äußeren Verletzungen, die den plötzlichen Tod des Mannes erklären könnten. Die einzige Ausnahme, und hier verweilte sein Blick länger, war die kleine, kreisrunde Prellung an der rechten Schläfe des Opfers. Er beugte sich tiefer hinab und betrachtete sie genau mit einer Lupe, deren Glas das Licht der Scheinwerfer reflektierte. Mit der Makrofunktion seiner Kamera machte er einige Aufnahmen aus verschiedenen Blickwinkeln. Jede seiner Handlungen war von tiefer Konzentration geprägt.

Dann maß er die Kerntemperatur der Leiche. Magnus und Liv beobachteten ihn schweigend. Das digitale Thermometer bestätigte, dass die Temperatur auch Stunden nach dem Fund noch deutlich unter dem erwarteten Wert lag, was auf einen ungewöhnlich schnellen oder von außen beeinflussten Abkühlungsprozess hindeutete. Auf Dr. Holms ansonsten glatter und unbewegter Stirn bildeten sich tiefe Falten. Ein kaum wahrnehmbares Kennzeichen, aber für diejenigen, die ihn kannten, ein Zeichen beunruhigender Besorgnis. Mit behandschuhten Fingern, die eine erstaunliche Feinfühligkeit bewiesen, begann er vorsichtig Brustkorb und Bauch des Opfers abzutasten. Sein ohnehin ernster Gesichtsausdruck wurde noch undurchdringlicher, fast düster. Die routinierte Professionalität schien einer tieferen, beinahe persönlichen Betroffenheit zu weichen, nicht über den Tod an sich, sondern über die Art und Weise, wie er eingetreten sein mochte.

Langsam richtete er sich auf, sein Blick fiel erst auf Magnus, dann auf Liv. Mit einer knappen Geste forderte er sie auf, näher zu kommen. Als er zu sprechen begann, war seine Stimme wie immer ruhig, präzise, ohne dramatische Übertreibung, und doch hatte jede Erklärung Gewicht in der kalten, von Scheinwerfern erhellten Halle.

»Die äußeren Anzeichen sind minimal, fast nicht vorhanden«, begann er, und seine Worte schienen die ohnehin bedrückende Stille noch zu verstärken. »Aber ich stelle massive innere Verletzungen im Brust- und Bauchbereich fest. Es scheint, als wären die Organe einem extremen Druck ausgesetzt gewesen.«

Er machte eine kurze Pause, ließ die Worte wirken. Magnus spürte eine starke innere Anspannung. Die Narbe über seiner Augenbraue pochte dumpf. Liv stand reglos da, ihr Gesicht ein Ausdruck konzentrierter Analyse, doch ihre Augen verrieten die Intensität, mit der sie Holms Worten folgte.

»Multiple Rupturen kleinerer Gefäße«, fuhr Holm fort, »möglicherweise auch größere Einblutungen in die Organe selbst und in die Körperhöhlen. Das würde den schnellen Tod und auch die Blässe des Opfers erklären. Eine äußere Gewalteinwirkung, die solche inneren Schäden verursacht, hätte sichtbare Spuren hinterlassen müssen - Prellungen, Blutergüsse, Knochenbrüche. Hat sie aber nicht«.

Wieder eine Pause, in der nur das leise Summen eines der Scheinwerfer zu hören war.

Er deutete mit einem behandschuhten Finger auf den kleinen kreisrunden Abdruck an der Schläfe des Toten, der jetzt im grellen Licht besonders deutlich hervortrat.

»Dieser Abdruck hier«, sagte er, »könnte von einer Waffe stammen - vielleicht eine Art Waffe, die Schockwellen oder intensive Vibrationen erzeugt, die das Gewebe von innen heraus zerstören, ohne die Hautoberfläche wesentlich zu verletzen.«

Magnus sah Liv an. Ihre Miene war unbeweglich, aber er kannte sie gut genug, um zu wissen, wie intensiv ihr analytischer Verstand arbeitete. Eine Waffe, die tötet, ohne Spuren zu hinterlassen, eine Waffe, die von innen heraus zerstört. Das klang wie aus einem Science-Fiction-Roman, nicht wie etwas, das in einer verlassenen Werfthalle am Limfjord Wirklichkeit werden könnte.

»Das ist technologisch sehr anspruchsvoll«, fuhr Dr. Holm fort, seine Stimme immer noch ruhig, aber mit einem Unterton, der die Bedeutung seiner Aussage unterstrich. »Und es erfordert spezielles Wissen und entsprechende Geräte. Wir reden hier nicht von einer handelsüblichen Waffe.«

Ohne eine detaillierte Obduktion, ohne histologische und toxikologische Untersuchungen könne er keine definitive Aussage machen. Aber seine vorläufige Hypothese, die sich auf die Palpation, die ungewöhnlich niedrige Körpertemperatur und die rätselhafte Markierung an der Schläfe stützt, geht eindeutig in Richtung eines gezielten Angriffs mit einer bisher selten oder vielleicht sogar noch nie dokumentierten Methode. Die Vorstellung eines unsichtbaren Angriffs, einer stillen inneren Zerstörung, war erschreckend.

Dr. Holm ordnete den vorsichtigen Transport der Leiche in das gerichtsmedizinische Institut in Kopenhagen an. Er kündigte an, die Autopsie persönlich und mit höchster Priorität am nächsten Morgen durchzuführen. Er würde jede Faser, jedes Organ, jede Zelle untersuchen, um die Ursache dieses stillen Todes zu klären.

Für Magnus Olsen und Liv Dalgaard hatte sich die Natur des Falles mit Dr. Holms erster Einschätzung dramatisch verändert. Sie standen nicht nur vor der Aufgabe, einen Mörder zu finden, sondern einen Mörder, der nicht nur kaltblütig und präzise vorging, sondern auch technisch versiert und möglicherweise im Besitz einer einzigartigen, sehr ungewöhnlichen Waffe war. Ein Gegner, der ungesehen operierte, der die Grenzen des Üblichen überschritten hatte.

Magnus sah sich in der riesigen Halle um, die jetzt taghell war. Die rostenden Maschinen, die stillgelegten Generatoren, die Spuren vergangener menschlicher Arbeit - sie alle wirkten plötzlich noch bedrohlicher, als könnten sie selbst Teil dieser unsichtbaren technologischen Bedrohung sein. Die Stille des Ortes war nicht mehr nur die Stille des Verfalls, sondern das Schweigen nach einem geplanten, lautlosen Verbrechen. Die Narbe über seiner Augenbraue schmerzte leicht. Er dachte an Tornby, an die unberechenbare Gewalt der Natur. Aber das hier war etwas anderes. Das war menschliche Kaltblütigkeit, gepaart mit großer Intelligenz.

Liv stand neben ihm, den Blick auf den leeren Werkzeugwagen gerichtet, wo eben noch die Leiche gesessen hatte. Ihr Verstand war bereits dabei, die neuen Informationen zu verarbeiten, nach Zusammenhängen zu suchen, Hypothesen zu bilden. Möglicherweise eine Schallwaffe. Welches Wissen war dazu nötig? Wer hatte Zugang zu dieser Technik? Die Fragen häuften sich, komplex und beunruhigend.

Dr. Holm verabschiedete sich kurz und verließ den Raum, ein Mann, der nun die Aufgabe hatte, die Erkenntnisse des Toten in wissenschaftliche Fakten umzuwandeln. Zurück blieben Magnus und Liv, zwei Ermittler am Anfang eines Falles, der sie in unbekannte und gefährliche Gefilde zu führen schien. Der Wind pfiff noch immer durch die zerbrochenen Fenster der Maschinenhalle, doch sein Klang schien sich verändert zu haben, er hatte einen neuen, unheilvollen Ton. Der unsichtbare Angriff hatte nicht nur ein Leben ausgelöscht, sondern auch eine andersartige Klasse von Schrecken in die raue Gegend am Limfjord gebracht.

Kapitel 4

Die mobilen Scheinwerfer in der riesigen Halle des Schiffshebewerks von Sydhavn warfen noch ihr grelles Licht auf den Fundort, als Dr. Anders Holm seine beunruhigende erste Diagnose gestellt hatte und die Vorbereitungen für den Abtransport der Leiche von Lars Henriksen begannen. Die örtlichen Gerichtsmediziner bewegten sich mit der in solchen Momenten üblichen ruhigen Geschäftigkeit, wickelten den Leichnam sorgfältig ein und sicherten ihn auf einer Bahre. Das Geräusch ihrer Schritte, das leise Knistern der Schutzanzüge, das metallische Klicken der Verschlüsse an der Transportkiste - jedes Detail wurde von der besonderen Akustik der Halle eingefangen und war in der kalten, öligen Luft deutlich wahrnehmbar. Magnus Olsen und Liv Daalgard beobachteten das Geschehen aus einiger Entfernung, zwei schweigsame Menschen am Rande des beleuchteten Bereichs. Die Worte des Gerichtsmediziners - eine Waffe, womöglich auf Schallbasis, gezielter Energieeintrag, massive innere Verletzungen ohne äußere Spuren - hatten eine neue, beunruhigende Komplexität offenbart.

Als der Körper schließlich aus der Halle getragen wurde, ein stiller Transport hinaus in die langsam einsetzende Dämmerung am Limfjord, blieb eine seltsame Leere zurück. Der umgestürzte Werkzeugwagen, nun ohne den Leichnam, wirkte in der Weite des Raumes noch verlassener, noch sinnloser. Die Scheinwerfer beleuchteten ihn weiterhin mit kaltem, fast direktem Licht.

Magnus wandte sich langsam Liv zu. Kein Wort war nötig, um die Richtung ihrer nächsten Schritte zu bestimmen. Das Opfer. Wer war Lars Henriksen? Welche Umstände hatten ihn an diesen verlassenen Ort geführt? Ihre Blicke trafen sich, ein stilles Einverständnis, das auf jahrelanger Zusammenarbeit und einem tiefen, meist unausgesprochenen Verständnis für die Arbeitsweise des anderen beruhte. Die Konzentration verlagerte sich nun vom unmittelbaren Tatort, der vorerst die ersten Informationen geliefert hatte, auf das berufliche und private Umfeld des Mannes, dessen Leben hier so abrupt und rätselhaft geendet hatte.

Zurück in der provisorischen Einsatzzentrale, die die Aalborger Polizei in einem nahe gelegenen, weniger verfallenen Verwaltungsgebäude der alten Werft eingerichtet hatte, begann Liv Daalgard mit der ihr eigenen methodischen Präzision, den digitalen Spuren des Opfers zu folgen. Ihre Finger huschten schnell über die Tastatur ihres Laptops, während sie Datenbanken durchforstete, Firmenregister konsultierte, Nachrichtenarchive und soziale Netzwerke nach dem Namen Lars Henriksen durchsuchte. Magnus stand schweigend am Fenster und blickte hinaus auf das Wasser des Limfjords, das in der Ferne mit dem ebenso grauen Himmel zu verschmelzen schien. Dr. Holms Worte über die mögliche Waffe gingen ihm nicht aus dem Kopf und verbanden sich auf beunruhigende Manier mit der Wirkung des alten Werftgeländes, einem Ort, der an eine riesige, stillgelegte Maschine erinnerte, deren innere Teile nun auf tödliche Weise genutzt werden konnten.

Die ersten Ergebnisse von Livs Nachforschungen ließen nicht lange auf sich warten und bestätigten schnell, dass Lars Henriksen kein Unbekannter gewesen war, kein zufälliges Opfer, das zur falschen Zeit am falschen Ort war. Er spielte eine zentrale Rolle in einem Projekt, das in der Region für Aufsehen und heftige Kontroversen gesorgt hatte: »Operation Tiefsee-Erbe«. Durchgeführt wurde die Aktion von einer privaten Bergungsfirma namens »Nordic Salvage«, deren modernes Hauptquartier im Hafen von Aalborg in krassem Gegensatz zum heruntergekommenen Schiffshebewerk stand.

Der Name des Geschäftsführers tauchte unweigerlich neben dem Projekt auf: Morten Vestergaard, fünfzig Jahre alt. Die Informationen aus nicht geheimen Quellen beschrieben ihn als einen Mann von widersprüchlicher Natur. Auf der einen Seite der charismatische Visionär, der verlorenes maritimes Kulturgut bergen und der Nachwelt zugänglich machen wollte, auf der anderen Seite der rücksichtslose Geschäftsmann, dem Skrupellosigkeit und unbedingte Gewinnorientierung nachgesagt wurden. Seine öffentlichen Auftritte waren stets professionell, seine Argumente für das Bergungsprojekt von überzeugender Eloquenz.

Das offizielle Ziel der »Operation Tiefsee-Erbe«, so lasen Magnus und Liv in den aufwendig gestalteten Broschüren und Pressemitteilungen von »Nordic Salvage«, war die Bergung und wissenschaftliche Untersuchung mehrerer altertümlichen Schiffswracks. Diese Überreste vergangener Zeiten, einige aus der Ära des Zweiten Weltkriegs, andere noch älter, lagen jahrhundertelang auf dem Grund eines schwer zugänglichen und tiefen Abschnitts des Limfjords, verborgen unter dem trüben Wasser. »Nordic Salvage« argumentierte mit der Rettung des maritimen Kulturerbes, mit der einmaligen Chance auf historische Erkenntnisse, die diese Wracks bergen könnten. Ein lobenswertes Unterfangen, wie es schien.

Doch hinter diesem positiven Bild, das spürten sowohl Magnus‘ Intuition als auch Livs analytischer Verstand, verbargen sich große Probleme. Umweltverbände und lokale Fischereivereine protestierten seit Monaten heftig gegen das Projekt. Ihre Befürchtungen waren konkret: massive, irreversible Störungen der empfindlichen Ökosysteme am Fjordboden. Die von »Nordic Salvage« geplanten Bergungstechniken - die Anwendung von Schwerlastkränen, deren Greifarme den Meeresboden stark verändern würden, von ferngesteuerten Unterwasserrobotern, deren Bewegungen Sedimente aufwirbeln würden, und gerüchteweise sogar der Einsatz von Sprengungen, um festsitzende Wrackteile freizulegen - wurden als erhebliche Gefahr für die Meeresfauna und -flora angesehen. Die Fischer fürchteten um ihre Fanggründe, die Umweltschützer um das einzigartige und empfindliche Gleichgewicht des Limfjords.

Außerdem, und das war ein Punkt, der Magnus besonders aufhorchen ließ, gab es immer wieder Gerüchte, dass es bei der »Operation Tiefsee-Erbe« weniger um ideelle Werte und historische Neugier als vielmehr um handfeste, möglicherweise milliardenschwere finanzielle Interessen ging. Einige der zu bergenden Wracks, so erzählten es die alten Seemänner in den Hafenkneipen und die Lokalhistoriker in ihren Archiven, hätten brisante Fracht an Bord gehabt.

Vor allem ein Name fiel immer wieder, verbunden mit einer gewissen Rätselhaftigkeit und Gefahr: »Nebelstern«. Ein deutscher Frachter, der im Frühjahr 1945 unter bis heute nicht restlos geklärten Umständen gesunken war. Die »Nebelstern« sollte in den letzten, chaotischen Tagen des Dritten Reiches wertvolle Ladung aus Deutschland oder den besetzten Gebieten abtransportieren - von strategisch wichtigen Metallen und kriegswichtigen Industriegütern, die dem Zugriff der Alliierten entzogen werden sollten, bis hin zu geraubten Kunstschätzen oder gar Gold. Eine Fracht, die ihren Finder unermesslich reich machen konnte. Schon der Name »Nebelstern« deutete auf die undurchsichtigen Vorgänge und verborgenen Werte hin, die in den Tiefen des Fjords und der Geschichte vermutet wurden.

Und Lars Henriksen, das Opfer, dessen ruhiges Gesicht im Widerspruch zur Grausamkeit seines Todes stand? Als leitender Projektingenieur bei »Nordic Salvage« war er keine unbedeutende Person. Er war der technische Leiter, verantwortlich für die umfassende Planung und die komplexe Durchführung der Bergungsarbeiten. Aufgrund seiner Position hatte er zwangsläufig einen detaillierten Einblick in alle logistischen, finanziellen und - vielleicht noch wichtiger - historischen Aspekte des Projekts. Er kannte die genaue Lage der Wracks, die Schwierigkeiten ihrer Bergung und die Schätzungen über ihren möglichen Inhalt. In Fachkreisen, so ergaben Livs weitere Recherchen, genoss Henriksen den Ruf eines äußerst kompetenten Experten, eines Mannes, der mit viel Liebe zum Detail arbeitete, eines Perfektionisten. Und, was in diesem Zusammenhang von entscheidender Bedeutung sein konnte: Er war bekannt dafür, unbestechlich zu sein. Ein Mensch mit Prinzipien, mit einem ausgeprägten Sinn für Recht und Unrecht.

Diese Kombination aus detailliertem Wissen und persönlicher Integrität, das wurde Magnus und Liv schlagartig klar, machte Lars Henriksen potenziell zu einer großen Gefahr für jeden, der illegale beziehungsweise versteckte Ziele bei »Operation Tiefsee-Erbe« verfolgte. Wenn es bei dem Projekt tatsächlich um mehr ging als um alte Schiffsteile, wenn die Gerüchte über wertvolle Fracht oder dubiose Geldflüsse der Wahrheit entsprachen, dann war ein Mann wie Henriksen, der zwangsläufig auf Unregelmäßigkeiten stoßen musste und dessen Gewissen ihn vielleicht zum Handeln trieb, ein unkalkulierbares Risiko.

Die Konsequenz aus dieser Erkenntnis war unausweichlich. Henriksens Privatleben konnte Hinweise liefern, aber sein berufliches Umfeld schien die entscheidenden Informationen zu enthalten. Seine Wohnung in Aalborg und sein Büro bei »Nordic Salvage« wurden auf Anweisung von Liv Daalgard, die dies mit der örtlichen Einsatzleitung koordinierte, sofort von einem Team versiegelt. Für die nächsten Stunden wurde eine gründliche Durchsuchung beider Standorte vorbereitet. Jedes Dokument, jede Akte, jede scheinbar unbedeutende Notiz konnte den ausschlaggebenden Hinweis enthalten. Die Ermittler standen vor der zentralen Frage: War Lars Henriksen bei seiner Arbeit, bei seinen detaillierten Planungen oder bei seinen Recherchen zu den historischen Wracks auf Informationen gestoßen, die zu seinem Tod führten? Hatte er etwas so Brisantes entdeckt, dass jemand bereit war, ihn so grausam zum Schweigen zu bringen?

Magnus spürte, wie der Fall immer klarer wurde. Der kalte, industrielle Verfall des Schiffshebewerks, die rätselhafte Mordmethode, das umstrittene Bergungsprojekt mit seinen Gerüchten über verborgene Schätze und skrupellose Geschäftemacher - die Elemente fügten sich zu einem komplexen, düsteren Gesamtbild zusammen. Die »Nebelstern« und ihre vermeintliche Fracht aus den letzten Kriegstagen wirkten bis in die Gegenwart. Er erinnerte sich an die Worte des Wachmanns Jens Larsen über die »arrangierte Darstellung des Todes«. War Lars Henriksens Tod eine Warnung? Die Beseitigung eines unliebsamen Komplizen?

Die Kälte am Limfjord schien nun eine andere, bedrohlichere Qualität angenommen zu haben, eine Kälte, die nicht nur vom Wetter herrührte, sondern auch von menschlicher Gier und der Bereitschaft, dafür extreme Taten zu begehen. Die Wahrheit herauszufinden, das war Magnus und Liv klar, erforderte eine intensive Auseinandersetzung mit den unklaren Umständen des Bergungsprojekts und vielleicht noch mehr mit den schwierigen Aspekten der Vergangenheit.

Kapitel 5

Der späte Nachmittag senkte sich über den Limfjord. Während in der riesigen, von Scheinwerfern hell erleuchteten Maschinenhalle des Schiffshebewerks Sydhavn die Gerichtsmediziner noch immer geduldig und akribisch nach den kleinsten Spuren der unsichtbaren Todesursache suchten, lenkte Magnus Olsen seinen alten Volvo 240 Kombi durch die belebteren Straßen Aalborgs in Richtung Hafengebiet. Neben ihm saß Liv Daalgard, und das Schweigen zwischen ihnen trug die unausgesprochenen Implikationen von Dr. Holms Diagnose. Eine Waffe, die von innen tötete, eine Technologie, die mehr Fragen aufwarf, als sie beantwortete. Das Bild des toten Lars Henriksen, der friedlich da saß, hatte sich Magnus eingeprägt, zusammen mit der Vorstellung einer unsichtbaren, zerstörerischen Energie.

Die Fahrt führte sie weg von der bedrückenden Umgebung des industriellen Verfalls, hin zu einer anderen Seite des Lebens am Fjord: dem geschäftigen, modernen Treiben des Handels und der New Economy. Ziel war die Zentrale von »Nordic Salvage«, dem Unternehmen, für das Lars Henriksen gearbeitet hatte und dessen ehrgeiziges Projekt »Operation Tiefsee-Erbe« nun unweigerlich in den Ermittlungsfokus rückte. Schon von weitem war das Gebäude zu sehen, ein kühler, fast prunkvoller Bau aus Glas und Stahl, der hoch in den Himmel über dem Hafen ragte. Seine spiegelnden Fassaden warfen das fahle Licht des späten Nachmittags gebrochen auf die geschäftigen Kais und die ruhig im Wasser liegenden Schiffe. Der Kontrast zum düsteren, rostigen Erscheinungsbild des Schiffshebewerks hätte kaum größer sein können. Hier herrschte nicht der Geruch von Verfall und altem Öl, sondern eine kühle, von Ehrgeiz und Kapital geprägte Atmosphäre.

Sie waren mit Morten Vestergaard verabredet, dem fünfzigjährigen Geschäftsführer und Hauptaktionär des Unternehmens. Sein Name war schon bei den Ersten in Verbindung gebracht worden. Als Magnus und Liv die klimatisierte Lobby betraten, eine Halle aus poliertem Granit, Chrom und gedämpftem Licht, erschien ihnen die Umgebung sehr fremd. Leise, geschäftige Betriebsamkeit herrschte hier, junge Menschen in tadelloser Kleidung eilten durch die Gänge, ihre Gesichter zeigten den Ernst und die Wichtigkeit ihrer Aufgabe.

Vestergaard empfing sie in seinem Eckbüro im obersten Stockwerk. Der Raum war großzügig, fast verschwenderisch, mit einer Fensterfront, die einen beeindruckenden Panoramablick über den gesamten Fjord und die Stadt Aalborg bot. An den Wänden hing teure moderne Kunst, die Möbel waren aus dunklem Holz und kühlem Leder - alles sollte Erfolg und Macht repräsentieren. Vestergaard selbst passte perfekt in diese Umgebung. Er war eine große gestandene Person, dessen Maßanzug seine sportliche Figur betonte. Seine Haut war gebräunt, das Ergebnis sonniger Segeltörns oder exotischer Geschäftsreisen, sein Haar voll und sorgfältig geschnitten. Er bewegte sich mit der selbstsicheren Gelassenheit eines Mannes, der es gewohnt war, im Mittelpunkt zu stehen und Aufmerksamkeit zu erregen.