Flagschiff Nescafé - Nestlés Aufstieg zum grössten Lebensmittelkonzern der Welt - Thomas Fenner - E-Book

Flagschiff Nescafé - Nestlés Aufstieg zum grössten Lebensmittelkonzern der Welt E-Book

Thomas Fenner

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Beschreibung

Nescafé, Nestea, Nesquik: Rund um den Globus trinken Menschen in zunehmend dieselben Markenprodukte. Thomas Fenner geht diesen globalen Transformationsprozessen exemplarisch am Beispiel von Nestlé und Nescafé nach. Er dokumentiert erstmals die Geschichte des Nescafés als wertvollste Marke der Schweiz und bedeutendste Kaffeemarke weltweit. Über Markenprodukte wie Nescafé, Nestea und Nesquik verbindet er Nestlés Aufstieg zum grössten Lebensmittelkonzern der Welt mit dem Wandel unserer Konsumgewohnheiten.

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Seitenzahl: 731

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Inhalt

Vorwort

Einleitung

Einführung und Fragestellung

Vorgehen und theoretische Einbettung

Markengeschichte als Unternehmensgeschichte aus der Produktperspektive

Multinationale Unternehmen als Antriebskräfte der Globalisierung

Wettbewerbsvorteile als Grundlage multinationaler Grosskonzerne

Marken als Kennzeichen von Qualitätsprodukten

Markenprodukte als kulturelle Konstrukte

Marken als Kapital der Konzerne

Forschungsstand zu Nestlé und seinen Pulvergetränken

Quellenlage und Quellenkritik

Aufbau der Arbeit

Kolonialwaren und Kondensmilch – weshalb Nescafé von einem Schweizer Milchunternehmen entwickelt wurde (1866–1937)

Vom Süden in den Norden – Kolonialwaren werden zu Industrieprodukten

Die Verbreitung und kulturelle Aneignung von Kaffee, Tee und Kakao

Die Eingliederung der drei Heissgetränke in die Alltagskultur des 19. Jahrhunderts

Die ersten Formen von löslichem Kaffee, Tee und Kakao

Vom Norden in den Süden – Die Nestlé & Anglo-Swiss entwickelt sich zum globalen Milchunternehmen

Kondensmilch, Kaffeekonserven und die Anfänge der Nestlé & Anglo-Swiss

Der Konkurrenzkampf auf dem Kindernahrungsmittel-Markt

Verpasste Chancen und die Fusion zur Nestlé & Anglo-Swiss

Mit Schweizer Milch und Milchschokolade zum Weltkonzern

Der Erste Weltkrieg und die Krise in der Nachkriegszeit – Nestlé schlittert knapp am Konkurs vorbei

Kondensmilch, Kaffee und Kakao an der Kriegsfront

Nestlés gewagte Expansionsstrategie zur Sicherung seiner Marktstellung

Vom Krieg in die Krise

Dapples’ Strategie – Nestlé findet mit neuen Konzepten aus der Krise

Die Neuorientierung des Unternehmens unter Louis Dapples

Die Rückkehr zu starken Marken

Nestlés geografische Reorganisation und Produktdiversifikation

Die Entwicklung neuer Produkte im Kindernahrungsmittel-Segment

Vom Milch- zum Kaffeepulver – Nestlé bringt Nescao, Milo und Nescafé hervor

Nestlés erste Schritte mit Milchpulver und pulverisierter Kindernahrung

Nescao und der Einstieg in den Bereich der Kakao- und Malzgetränke

Milo und Ovomaltine teilen sich den weltweiten Malzgetränkemarkt

Max Morgenthaler und die Erfindung des Nescafés

Aufbau, Lancierung und Etablierung – wie Nescafé zum Hauptprodukt des Unternehmens heranwuchs (1938–1953)

Kaffee statt Kondensmilch – Nescafé wird zum neuen Flaggschiff des Unternehmens aufgebaut

Die Überzeugung des Managements

Die Positionierung der Marken Nescafé und Nescoré

Qualität dank Neutralität

Zwischen Wirtschaftskrise und Weltkrieg – eine Lancierung in stürmischen Zeiten

Die Markteinführung in der Schweiz

In drei Jahren um die Welt: die rasche internationale Verbreitung

Die zwiespältige Bilanz im Zweiten Weltkrieg

«Pure Coffee» versus «Carbohydrates» – die verlorene Werbeschlacht in Amerika

Der Kampf der Kaffeeverfahren

Die leise Wende zum reinen Instantkaffee

Die technische Weiterentwicklung mit Nescafé Nr. 37 goût Espresso

Flaggschiff und Flotte – Nestlés Expansion auf dem Gebiet der

Die Erfindung und Einführung von Nestea

«Iced Tea» und «Iced Coffee»

Von «Nescasol» über Nes-Quik zu Nestlé’s Quik

Maggi und Milchpulver

Handelsschranken und unterschiedliche Kaffeekulturen – die Rückkehr des Nescafés nach Europa

Nescafé etabliert sich als ökonomisches Hauptprodukt des Unternehmens

Akzeptanzprobleme in Italien und Frankreich

Die kleinen Helfer Ricory, Ricoré und Racori

Der Durchbruch des Nescafés zwischen lokaler Kaffeetradition und amerikanischer Konsumkultur – wie Nestlé unter der Führung der Instantgetränke zum grössten Lebensmittelkonzern der Welt aufstieg (1954–1971)

Steigende Marktanteile und wachsende Konkurrenz – die Verbreitung des Instantkaffees mit der amerikanischen Konsumkultur

Wirtschaftswachstum, steigender Wohlstand und vorgefertigte Lebensmittel

Der Instantkaffee-Boom in Nordamerika

Der Kampf um die Vorherrschaft auf dem britischen Kaffeemarkt

Instant- oder Bohnenkaffee? In Deutschland eine Frage des Preises

Die Öffnung der europäischen Märkte nach amerikanischem Vorbild

Globale Marke, lokale Vermarktung – der grosse Vorteil gegenüber der US-Konkurrenz

Skalenerträge versus Marktadaption

Nescafé in Frankreich und der Schweiz

Nescafé in Asien und Australien

Nescafé in Südafrika und Argentinien

Nescafé in den Kaffee produzierenden Ländern Lateinamerikas

Weltmarke und Weltkonzern – Nestlé und die Verbreitung seiner Instantgetränke

Eine starke Weltmarke kommt selten allein

Nestea, das Gegenbeispiel zu Nescafé

Die Verbreitung von Nesquik, Milo und Nescao

Schwankendes Flaggschiff, gefährdetes Unternehmen? – Nestlé reagiert mit Diversifikation und Innovation

Die zwiespältige Unternehmenssituation zu Beginn der 1960er-Jahre

Die Diversifikation ins Konserven- und Tiefkühlgeschäft

Röstkaffee, Rationalisierungen und eine verpasste Gelegenheit

Das Aromatisierungsverfahren und die Modernisierung der Marke Nescafé

Gefriertrocknung und «Short Cell»-Extraktion

Der Durchbruch mit Nescafé Gold – Nestlés Entwicklung zum grössten Lebensmittelkonzern der Welt

Die Lancierung von Nescafé Gold

Die Verbreitung von Nescafé Gold in Europa

Der ausserordentliche Erfolg von Nescafé Gold

Die Entwicklung in Amerika: der agglomerierte Nescafé und Taster’s Choice

Nestlé wird zum grössten Lebensmittelkonzern der Welt

Die Individualisierung und Emotionalisierung der Marke Nescafé – Krisen Marken und Unternehmen (1972–1990er-Jahre)

Vom standardisierten zum individuellen Markenprodukt – Wirtschaftskrise und Gesellschaftswandel führen zu neuen Konsumbedürfnissen

Eine neue Generation bricht mit traditionellen Werten

Brasilianische Billigmarken und neue Kundenwünsche erweitern die Auswahl

Wachsender Umsatz dank grösserem Angebot auf dem schrumpfenden US-Markt

Softdrinks beeinflussen Nestlés Instantgetränke und schaffen neue Segmente

Abflauende Konjunktur, ausfallende Kaffee-Ernten und scharfe Kritik – die Krisen in den 1970er-Jahren und ihre Folgen für Nestlé und Nescafé

«Ölpreisschock», «Schwarzer Frost» und steigende Kaffeepreise

Die Rückkehr der Surrogate und der Durchbruch von Nescafé in Lateinamerika

Nestlé und Nescafé geraten in die öffentliche Kritik

Nescafé wird neu lanciert – die Reorganisation von Marke und Unternehmen

Emotionale statt technische Vermarktung

Von der Stagnation der Instantgetränke zur Reorganisation des Unternehmens

Renovation und Reorganisation der Marke Nescafé

Die Probleme auf dem US-Markt

Die Herkunft und Mischung der Kaffeebohnen als neue Qualitätsmerkmale – die Integration von Nescafé in die «Welt des Kaffees»

Die Renaissance des Röstkaffees

Den individuellen Charakter des Kaffees entdecken: Nescafé Alta Rica und Nescafé

Wachstum dank speziellen Marktbedingungen in Japan und Grossbritannien

Die spontane Kaffeewahl mit Nescafé – die Erweiterung von Marke und Unternehmen

Nescafé öffnet sich neuen Kaffeetrends

Das kalte Kaffeevergnügen mit Nescafé Frappé und Dosenkaffee

Nescafé Cappuccino: mit italienischem Flair zu neuem Wachstum

Flexibilität und Individualität als zeitgemässe Vorteile des Instantkaffees

Die Ausweitung der Marken Nestea, Nesquik und des Nestlé-Konzerns

Neue Werte und Wachstumsmärkte in einer globalisierten Welt – warum sich Nescafé zu einer holistischen Marke entwickelt (1990er-Jahre bis heute)

«Popularly Positioned Products» – Nescafé in den neuen Wachstumsmärkten des Ostens

Traditioneller Tee, moderner Kaffee

Thailand und die Philippinen

China, Südkorea und Indien

Russland und die ehemaligen Ostblockstaaten

«Whenever, wherever, however» – der individuelle Kaffee aus der Maschine

Die Verlagerung des Kaffeekonsums in den öffentlichen Raum

Kaffeeautomaten, Kooperationen und kalte Kaffeegetränke

Das Kapselsystem als neue Schlüsseltechnologie

«Open up» – die Globalisierung der Weltmarke Nescafé

Nestlés Aufbruch zu einer globalen Marken- und Unternehmensstrategie

Nestlé stärkt Nescafé durch Renovation und Innovation

Globale Verschiebungen der Fabrikationsstandorte

Die ersten weltweiten Werbekampagnen für Nescafé

«Creating Shared Value» – Nestlés gemeinsame Wertschöpfung mit Kaffeebauern

Nachhaltigkeit und ethische Verantwortung als neue Werte im Kaffeegeschäft

Das Ende des Kalten Kriegs und der Beginn der Kaffeekrise

Nestlés Zusammenarbeit mit Kaffeebauern

Nachhaltige Entwicklung und Nescafé Partners’ Blend

«Nutrition, Health and Wellness» – Nestlés Expansion im Gesundheitsbereich

Nestlés verstärkte Ausrichtung auf Ernährungs-, Gesundheits- und Wellness-Aspekte

Gesunder Kaffeegenuss mit Nescafé Green Blend

Mit dem Aufbau neuer Geschäftsbereiche zu einem Gleichgewicht der Aktivitäten

Schlusswort

Marktdurchdringung – wie sich Nescafé und seine Vermarktung veränderten

Internationalisierung – wie sich Nestlé und Nescafé weltweit verbreiteten

Diversifikation – wie Nestlé neue Produkte ins Unternehmen integrierte

Anhang

Tabellen

Nestlés Umsatz mit Instantkaffee in ausgewählten Absatzmärkten

Einführung von Nescafé in den bedeutendsten Märkten (1938–1953)

Beginn der Nescafé-Produktion in Nestlés bedeutendsten Instantkaffee-Fabriken

Abkürzungsverzeichnis

Quellennachweise

Quellennachweise von Bildern

Quellennachweise der eigenen Darstellungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

Quellen

Gedruckte Quellen

Zeitungen und Zeitschriften

Literatur

Vorwort

Nescafé zählt zusammen mit Coca-Cola und McDonalds zu den bedeutendsten Marken im Lebensmittelbereich. Über ihre Geschichte war bisher jedoch nur wenig bekannt. Dies brachte den Nestlé-Archivar Albert Pfiffner, Christophe Stern aus der Marketing-Abteilung und mich im Herbst 2009 auf die Idee, die Geschichte im Hinblick auf das 75-Jahre-Nescafé-Jubiläum hin aufzuarbeiten. Das Ziel war ein historischer Basistext als Auftragsarbeit für Nestlé, den das Unternehmen einerseits für das 75-Jahre-Jubiläum von Nescafé verwenden durfte und der der Publikation «Over a Cup of Coffee. The passion, the stories, the brand» als Grundlage diente, andererseits von mir für meine Dissertation genutzt werden konnte. Daraus ergab sich die einmalige Gelegenheit, die Geschichte der Marke Nescafé bis in die Gegenwart nachzuzeichnen. Gleichzeitig werden aufgrund der Schutzbestimmungen von Personendaten mit Ausnahme von Max Morgenthaler keine Namen von Mitarbeitern genannt, und zur Wahrung von Unternehmensgeheimnissen wird die Periode ab 1983 nicht mehr in der gleichen Tiefe behandelt.

Trotzdem möchte ich hier einige Personen erwähnen, die mir bei meiner Arbeit sehr behilflich waren und denen an dieser Stelle mein Dank gebührt: vorab Albert Pfiffner, der mir bei diesem Projekt stets zur Seite stand, sowie Tanja Aenis, Lisane Lavanchy und Sabine Effinger, die mir bei meinen Recherchen im Nestlé-Archiv behilflich waren. Spezieller Dank gehört auch Christophe Stern, Anne-Lise Borboën und Mélanie Colanero für die Unterstützung von Seiten der Marketing-Abteilung. Für die Begleitung im Wander-Archiv bedanke ich mich bei Heinz Dürr, und in den «Archives de la Ville de Neuchâtel» stand mir Olivier Girardbille hilfreich zur Seite. Sehr gewinnbringend waren auch die Gespräche mit Erol Toker von der Agentur Doriane und zahlreichen Mitstudentinnen und Mitstudenten.

Bedanken möchte ich mich auch bei Prof. Dr. Jakob Tanner und Prof. Dr. Tobias Straumann für die Betreuung sowie bei meiner Familie und meinen Freunden für die Unterstützung in diesem langen Projekt.

Für die grosszügigen finanziellen Beiträge an die Herstellungskosten dieser Publikation bedanke ich mich sowohl bei der Nestlé S. A. als auch beim Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Ebenso danke ich Madlaina Bundi, Regula Bühler und Simone Farner vom Verlag Hier und Jetzt für die Betreuung, das sorgfältige Lektorat und die Gestaltung.

Bern, im Juli 2015Thomas Fenner

Einleitung

Einführung und Fragestellung

Seit der Kaffee im 17. Jahrhundert in die Hände europäischer Handelsgesellschaften geraten ist,1 verbreitet sich das ursprünglich aus dem Orient stammende Genussmittel in einem Zusammenspiel von kapitalistischer Produktion und soziokultureller Aneignung auf der ganzen Welt.2 Heute beginnen jeden Morgen Millionen von Menschen rund um den Globus ihren Tag mit einer Tasse Kaffee, deren Bedeutung weit über ihre physische Funktion als weckenden Durstlöscher hinausgeht: Der aus der Tasse aufsteigende Dampf gehört ebenso zum sinnlichen Erlebnis wie der Duft der frisch gerösteten Kaffeebohnen. Darüber hinaus ist das Kaffeetrinken zu einer symbolischen Handlung des behaglichen Beisammenseins, der Kommunikation und der menschlichen Nähe geworden.3 «Sich auf einen Kaffee verabreden» oder «zusammen einen Kaffee trinken» haben sich in diesem Zusammenhang längst als gängige Formulierungen etabliert.4

Neben der gesellschaftlichen Einbettung in unsere Alltagskultur trug nach dem Zweiten Weltkrieg auch die vereinfachte Zubereitung mit Kaffeepulver und Kaffeemaschinen wesentlich zur Popularisierung des Kaffees bei.5 Laut dem Wirtschaftshistoriker Geoffrey Jones konnten multinationale Grosskonzerne durch die Betonung der einfachen Zubereitung ihren Einfluss im Kaffeegeschäft erheblich erweitern, indem sie von Skalenerträgen6 profitierten und weltweit bekannte Marken aufbauten.7 Heute lässt sich die Anzahl der Unternehmen, welche über zwei Drittel des Kaffees verarbeiten, an einer Hand abzählen: Nestlé, Kraft General Foods, Jacobs Douwe Egberts, Procter & Gamble und Tchibo.8

Die Geschichte des Kaffees verbindet somit die moderne, technisch vereinfachte Zubereitungsart mit dem steigenden Stellenwert von Marken und multinationalen Unternehmen, deren wachsender Einfluss sich in den letzten Jahren unter anderem darin manifestierte, dass rund um den Globus zunehmend dieselben Markenprodukte getrunken wurden, die grössten global agierenden Konzerne gemessen an ihrer Wirtschaftsleistung zahlreiche Nationalstaaten übertrafen9 und Marken sich zu Identifikationsmerkmalen entwickelten, welche die heutige Kultur und Gesellschaft prägen.10 Oft wird in diesem Zusammenhang von einer weltweiten Vereinheitlichung der Alltagskultur in einer «globalisierten Welt»11 gesprochen, die von Weltmarken und den dahinter stehenden multinationalen Konzernen gesteuert wird.12

Exemplarisch für diese globalen Transformationsprozesse steht das Schweizer Lebensmittelunternehmen Nestlé, welches unter der Marke Nescafé die schnelle und bequeme Kaffeezubereitung mit löslichem Pulverkaffee oder Instantkaffee popularisierte. Mit rund 339000 Mitarbeitern und 442 Produktionsstätten in 86 Ländern gehört Nestlé zu den grössten13 und globalsten14 Unternehmen der Welt.15 Der Konzern mit Sitz in Vevey erzielt heute einen Umsatz von etwa 100 Milliarden Schweizer Franken pro Jahr16 und ist von diesem Gesichtspunkt her seit 1971 Branchenleader.17 Dies ist insofern erstaunlich, als 1973 fast 90 Prozent der grössten Lebensmittelkonzerne der Welt ihren Sitz in den Vereinigten Staaten oder Grossbritannien hatten,18 wo sie aufgrund der grossen Binnenmärkte günstige Wachstumsbedingungen vorfanden,19 Nestlé dagegen in einem Kleinstaat wie der Schweiz ansässig ist.

Gleichwohl nehmen Nestlés Marken in vielen Ländern und Lebensmittelbereichen eine bedeutende Stellung ein. Nescafé stellt heute mit einem jährlichen Umsatz von rund zehn Milliarden Schweizer Franken die bedeutendste Kaffeemarke der Welt und die wertvollste Marke der Schweiz20 dar. Jede sechste Tasse Kaffee, die weltweit konsumiert wird, ist eine Tasse Nescafé. Die Marke ist insofern einzigartig in der Kaffeewelt, weil sie sich auf das Geschäft mit Pulverkaffee konzentriert und diesen Markt mit einem weltweiten Anteil von etwas über 50 Prozent auch beherrscht.21 In Grossbritannien zum Beispiel ist Nescafé für viele Menschen der Pulverkaffee schlechthin.22 Ähnliche Verhältnisse herrschen ebenfalls auf den Tee- und Kakaopulvermärkten, wo Nestlé im Bereich der Kakao- und Malzgetränke mit Marken wie Nesquik, Milo und Nescao weltweit führend ist,23 während Nestea 2006 neben Nespresso zu den am stärksten wachsenden Milliardenmarken des Grosskonzerns zählte.24

Wie gelang es Nestlé, weltweit bedeutende Marken wie Nescafé aufzubauen und damit Produktsegmente zu dominieren? Wie stieg das Schweizer Unternehmen zum grössten Lebensmittelkonzern der Welt auf, und welche Zusammenhänge gibt es zwischen dieser ausserordentlichen Unternehmensentwicklung und der Herausbildung von Weltmarken wie Nescafé?

Obwohl über das Unternehmen am Genfersee und seine Marken viel geschrieben und berichtet wird, ist über die Gründe für Nestlés aussergewöhnliches Wachstum und die historische Entwicklung bedeutender Marken wie Nescafé, Nestea oder Nesquik bisher wenig bekannt. Diese Forschungslücke soll in der vorliegenden Arbeit geschlossen oder zumindest beträchtlich verringert werden, indem anhand von firmeneigenen Quellen erstmals aufgezeigt wird, wie Nestlé und Nescafé so gross und bedeutend werden konnten.

Im Zentrum steht dabei die Markengeschichte von Nescafé, die als Schnittpunkt zwischen Unternehmens-, Konsum- und Produktgeschichte das Wachstum des Schweizer Grosskonzerns mit den weltweiten Veränderungen der Konsumkultur verbindet. Vergleichend und ergänzend dazu werden die mit dem Pulverkaffee verwandten Produkte des Unternehmens wie Nestea oder Nesquik sowie Schweizer Unternehmen in ähnlichen Geschäftsfeldern (insbesondere die Firma Wander mit Ovomaltine) beigezogen, um die besondere Entwicklung von Nestlé und Nescafé hervorzuheben oder erst verständlich zu machen.

Vorgehen und theoretische Einbettung

Markengeschichte als Unternehmensgeschichte aus der Produktperspektive

Nestlés Aufstieg zum grössten Lebensmittelkonzern der Welt wurde bisher vor allem auf erfolgreiche Fusionen und Übernahmen zurückgeführt:25 «Das enorme Wachstum von Nestlé ist zu einem grossen Teil mit durchwegs erfolgreichen Fusionen und Akquisitionen bewerkstelligt worden – was angesichts der Tatsache, dass solche Zusammenschlüsse oft scheitern, bemerkenswert ist […]»,26 beschrieben beispielsweise Gerhard Schwarz und James Breiding 2011 die erstaunliche Entwicklung des Unternehmens. Wenig beachtet wurde dagegen, dass Nestlé mit seinen Markenprodukten auch ein starkes internes Wachstum aufwies, obwohl das Unternehmen aus Vevey immer wieder betonte, dass dem internen Wachstum der strategische Vorrang gegeben werde.27

Darstellung 1: Trotz den drei «Fusionspeaks» von 1971 (Ursina Franck), 1985 (Carnation) und 1988 (Buitoni/Rowntree) verlief Nestlés Unternehmenswachstum zwischen 1950 und den 1990er-Jahren erstaunlich konstant, was auf ein starkes internes Wachstum hinweist.

Kennzeichnend für diese innere Unternehmensdynamik steht die Marke Nescafé in der Geschäftseinheit der löslichen Pulvergetränke oder Instantgetränke, die sich mit der Herstellung von Kaffee-, Tee- und Kakaopulver beschäftigt. Als Nestlé in den 1970er-Jahren zum weltweit grössten Lebensmittelkonzern aufstieg, erwirtschaftete sie etwa einen Drittel des Umsatzes und über die Hälfte des Unternehmensgewinns.28 Pulvergetränke waren damit sowohl die umsatzstärkste als auch die gewinnbringendste Produktgruppe innerhalb des Konzerns, wobei Nescafé etwa drei Viertel zu dieser aussergewöhnlichen Bilanz der Abteilung beisteuerte.29 Aus dieser Erkenntnis leitet sich die Hypothese der vorliegenden Arbeit ab, dass die aussergewöhnliche Unternehmensentwicklung von Nestlé in bedeutendem Masse mit Nescafé als sehr gewinnbringendes Hauptprodukt oder «Flaggschiff» des Unternehmens zusammenhängt.

Diesen Überlegungen folgend, wird Nestlés Geschichte aus der Produktperspektive von Nescafé dargestellt und das Wachstum des Schweizer Unternehmens anhand seiner Markenprodukte erklärt. Die Sichtweise verbindet die Unternehmensgeschichte über das Markenprodukt mit der Konsumgeschichte und positioniert die Marke am Schnittpunkt zwischen Wirtschaftsund Kulturgeschichte. Zentral sind dabei die Fragen, wie sich Nescafé und dessen Vermarktung im Lauf der Zeit veränderten, warum sich die Marke weltweit verbreiten konnte und welche Verbindungen zwischen Nestlés Produkten bestehen.

Eine solche Unternehmensgeschichte aus der Produktperspektive kann nur dann wissenschaftlich fruchtbar sein, wenn sie interdisziplinär und theoriegeleitet vorgeht.30 Während die Geschichte und Theorie der multinationalen Unternehmen seit den 1980er-Jahren vor allem im angelsächsischen Raum vorangetrieben wurde,31 stellt die Marke in den Geschichtswissenschaften ein noch wenig erforschtes Gebiet dar. Immerhin sind in den letzten Jahren im Bereich der Marketing-Geschichte verschiedene Publikationen32 erschienen, die grundsätzlich zwei Zugänge zur Markengeschichte erkennen lassen: auf der einen Seite ein eher unternehmensgeschichtlicher Zugang, wie ihn beispielsweise Robert Fitzgerald in seiner Publikation über Rowntree33 einnimmt oder die Darstellung zur Geschichte der Toblerone zu ihrem 100-jährigen Jubiläum,34 welche anhand von Marketing-Strategien des Unternehmens die Markengeschichte des süssen Dreizacks nachzeichnet. Andererseits näherten sich verschiedene Autoren dem Gegenstand auch von der kulturgeschichtlichen Seite an. Erwähnenswert sind hierzu Roman Rossfelds Arbeit zur kulturellen Konstruktion der «Schweizer Schokolade»35 oder die zur Jahrtausendwende erschienenen Publikationen zu Werbebildern als Abbilder des Konsum- und Gesellschaftswandels.36

Aufbauend auf diesen Erkenntnissen werden Marken und multinationale Unternehmen in der vorliegenden Arbeit sowohl mit wirtschaftswissenschaftlichen Konzepten (Transaktionskosten, Grössenvorteilen, Produktlebenszyklus) als auch mit kulturwissenschaftlichen Ansätzen untersucht, die im Folgenden kurz vorgestellt werden.

Multinationale Unternehmen als Antriebskräfte der Globalisierung

Die Globalisierung wird in öffentlichen Debatten oft als allumfassender Sachzwang beschrieben, der quasi von selbst abläuft.37 Sie scheint – ganz nach der klassischen Wirtschaftstheorie von Adam Smith – von einer «unsichtbaren Hand des Marktes» gelenkt zu werden. In diesem Wirtschaftsmodell funktioniert der Markt als ein sich selbst regulierendes Zusammenspiel von Anbietern und Nachfragern, die als gleichrangig betrachtet werden. Durch den Marktmechanismus festgelegte Gleichgewichtspreise sind das einzige Koordinationsinstrument, wobei davon ausgegangen wird, dass die wirtschaftlichen Prozesse unter Bedingungen perfekt funktionierender Märkte ablaufen, das heisst, dass sich alle Marktteilnehmer rational verhalten, freien Zugang zu allen relevanten Informationen besitzen, der Marktablauf keine Kosten verursacht und überall vollständige Konkurrenz herrscht.38 Unter diesen Bedingungen lassen sich weder Marken noch Unternehmen – geschweige denn multinationale Grosskonzerne – erklären: Da in diesem Modell alle notwendigen Marktinformationen vorhanden sind, wären Marken und Werbung ebenso überflüssig wie Unternehmen als Koordinationseinheiten.39

Empirisch betrachtet, gab es diesen vollkommenen Markt der klassischen Ökonomie allerdings nie. Märkte waren und sind immer in soziokulturelle, politische und rechtliche Strukturen eingebunden, weshalb die Wirtschaft gleichermassen auf Markt- und Machtbeziehungen zwischen Akteuren basiert.40 Neben der «unsichtbaren Hand des Marktes» scheint die Weltwirtschaft also auch von «sichtbaren Händen»41 gesteuert zu werden. Entscheidende Ansätze zu einer solchen Theorie entwickelten in den 1930er-Jahren Joseph Schumpeter in seiner «Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung»42 sowie Ronald Coase in seinem Aufsatz «The Nature of the Firm» (1937). Während bei Schumpeter Unternehmer mit ihren strategischen Entscheidungen bedeutende Wachstumsschübe in der Wirtschaft auslösen,43 widersprach Coase der bisherigen Annahme, dass alle Entscheidungssubjekte die gewünschten Informationen augenblicklich und kostenlos erhalten und verbreiten können, und wies auf die Wichtigkeit von sogenannten Transaktionskosten hin, die bei Austauschprozessen auf Märkten anfallen.44

Ausgehend von der Grundfrage, ob eine Volkswirtschaft zentral oder dezentral gesteuert werden soll, stellte er fest, dass es nicht nur eine, sondern zwei Formen des wirtschaftlichen Handelns gibt: auf der einen Seite die zentralistische, hierarchische Struktur des Unternehmens, auf der anderen Seite die dezentrale Struktur des Marktes. Um die beiden parallel zueinander existierenden Organisationsformen zu erklären, setzte Coase Transaktionskosten als Analyseinstrument ein: Unternehmen existieren, weil bei Austauschprozessen Informations-, Vertrags- und Überwachungskosten45 entstehen. Der Vorteil der Internalisierung dieser Austauschprozesse innerhalb des Unternehmens liegt darin, dass Unternehmen in einem chaotisch funktionierenden Marktsystem durch ihre festen Strukturen Ordnung schaffen und damit Unsicherheiten reduzieren. Umgekehrt fallen bei der firmeninternen Organisation Kosten hierarchischer Koordination an. Mit wachsender Grösse wird es daher für ein Unternehmen immer schwieriger, den Überblick über seine Aktivitäten zu behalten und die Produktionsfaktoren effizient einzusetzen. Ein Unternehmen kann sich deshalb nur so lange ausdehnen, bis die hierarchischen Koordinationskosten den Vorteilen der Informations- und Vertragskosten entsprechen.46

Folglich lassen sich Grossunternehmen dadurch erklären, dass innerhalb dieser Unternehmen Güter gehandelt werden, die hohe Transaktionskosten verursachen. Dies gilt insbesondere für unternehmensspezifische Wettbewerbsvorteile, die nur schwer oder mit grossen Risiken auf Märkten gehandelt werden können. Sie werden daher unternehmensintern ins Ausland transferiert, wodurch sich multinationale Unternehmen herausbilden, die für Geoffrey Jones als wichtigste Förderer von Investitionen, Handel und Wissen über nationale Landesgrenzen hinaus die zentralen Antriebskräfte des Globalisierungsprozesses sind.47 Um die Ursachen der Globalisierung zu verstehen ist es daher wichtig, diese nicht nur als makroökonomische Waren- und Finanzströme zu betrachten, sondern auch mikroökonomisch aus der Sicht multinationaler Unternehmen zu begreifen.48

Wettbewerbsvorteile als Grundlage multinationaler Grosskonzerne

Warum entstehen multinationale Unternehmen überhaupt, und was treibt sie zu Wachstum an? Aufbauend auf den Theorien von Schumpeter und Coase entwickelte Alfred D. Chandler in seinen Werken «The visible Hand»49 und «Scale and Scope»50 die heute bedeutendste Erklärung für Grossunternehmen, während John H. Dunning die Wettbewerbsvorteile von multinationalen Unternehmen weiter spezifizierte und damit einen wichtigen Beitrag zum Verständnis multinationaler Grosskonzerne lieferte.

In «Scale and Scope» begründete Chandler den Erfolg von Grosskonzernen mit sogenannten Grössenvorteilen, die er in drei Komponenten teilt: Erstens «Economies of Scale» oder Skalenerträge, welche die Produktionskosten pro Einheit senken, weil die Fixkosten mit steigender Ausstossmenge auf immer mehr Einheiten verteilt werden. Zweitens «Economies of Scope» oder Verbundsvorteile, die eine bessere Auslastung bestehender Kapazitäten ermöglichen, indem Produkte mit verbindenden Elementen wie gemeinsamen Rohstoffen, Verfahren und Vertriebsstrukturen auf denselben Produktionsanlagen hergestellt werden. Drittens reduziert die vertikale Internalisierung des Ressourcenflusses die Transaktionskosten. Grosse Fabriken können dadurch ihre Produkte billiger produzieren als kleine Produktionsanlagen.

Um diese Kostenvorteile im Bereich der Produktion zu nutzen, muss das Verkaufsvolumen allerdings mit dem Produktionsvolumen Schritt halten. Deshalb bauten Grossunternehmen internationale Verkaufs- und Vermarktungsapparate auf. Auch hier können wiederum «Economies of Scale» und «Economies of Scope» erzielt werden, indem bei steigenden Stückzahlen die Fixkosten von Handelsniederlassungen sinken, die Produkte rationell über grosse Warenhäuser oder Supermärkte verkauft werden und verschiedene Produkte dieselben Distributionskanäle nutzen. Die Massenproduktion führte zu Massenvertrieb und Massenkonsum, der wiederum durch Vermarktungsmassnahmen sichergestellt werden musste.51

Bei der Harmonisierung der Produktion und Distribution betonte Chandler die Bedeutung der Manager, die innerhalb des Unternehmens als «sichtbare Hand» die Koordinationsfunktion von Märkten übernehmen. Laut Chandler entwickelten sich moderne Grossunternehmen dadurch zu den stärksten Institutionen und Entscheidungsträgern der Wirtschaft. Sie veränderten Strukturen und begannen Wirtschaftssektoren zu dominieren,52 was schliesslich zu Oligopolen führte: Branchen wurden von wenigen Grosskonzernen beherrscht, die ihre Produkte gegenüber der Konkurrenz kontinuierlich verbesserten, Unternehmen im gleichen Marktsegment aufkauften (horizontale Integration), vorgelagerte oder nachgelagerte Verarbeitungsprozesse ins Unternehmen integrierten (vertikale Integration), in andere Länder expandierten und ihre Produktpalette diversifizierten. Dabei stellte Chandler fest, dass die ersten Unternehmen in diesem Prozess gegenüber später folgenden Vorteile besassen, die er «First-Mover-Advantages» nannte.53

Gleichzeitig stehen diesen Managern und multinationalen Unternehmen Konsumenten gegenüber, die keine beliebig beeinflussbaren Marionetten sind, sondern als Akteure mit eigenen Geschmacks- und Konsumpräferenzen das Marktgeschehen mitbeeinflussen.54 Multinationale Grosskonzerne werden daher nicht nur durch Managementstrategien hierarchisch von oben nach unten, sondern durch Marktbedingungen, Produkteigenschaften und Konsumpräferenzen ebenfalls von unten nach oben gesteuert. Dunning begründet multinationale Grosskonzerne deshalb nicht nur mit der globalen Verwertung von Wettbewerbsvorteilen wie Grössenvorteilen, einer überlegenen Technologie oder stillem Wissen, die er als «Owner-specific Advantages» bezeichnet, sondern auch mit dezentral an einen Ort gebundenen «Local-specific Advantages» wie lokalen Marktkenntnissen oder lokalen Produktionsstätten, mit denen sich Handelshemmnisse umgehen lassen.55 In diesem Spannungsfeld zwischen globalem Unternehmen und lokalen Marktbedingungen steht das Markenprodukt, an dem sich sowohl die globalen Wettbewerbsvorteile multinationaler Unternehmen als auch die Adaption an die lokalen Konsumentenwünsche spiegeln, auf denen multinationale Unternehmen gründen.

Marken als Kennzeichen von Qualitätsprodukten

Globalisierung, Marken und multinationale Unternehmen stehen in einem engen Verhältnis zueinander: Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bildeten sich im Zuge des Freihandels und des weltweiten Kapitalverkehrs überregionale Märkte aus.56 In Folge dieser ersten «Globalisierungswelle»,57 welche die bisherigen Strukturen der Agrargesellschaft aufriss und zum Übergang von der weitgehenden Selbstversorgung hin zur Fremdversorgung über Märkte führte,58 entstanden – insbesondere ab 1880 – die ersten multinationalen Unternehmen, die bis heute überdauert haben.59 In die gleiche Zeitspanne fallen auch die ersten Markenschutzgesetze, denn durch die Ausbildung einer überregionalen oder sogar globalen Wirtschaft veränderte sich die Beziehung zwischen Konsumenten und Produzenten grundlegend: Der Kunde stand nun nicht mehr in direktem Kontakt mit dem Hersteller und konnte die Qualität der überregional vertriebenen Waren nicht mehr unmittelbar beurteilen. Dies führte insbesondere bei der Lebensmittelversorgung sofort zur brisanten Frage nach der Qualität der Produkte, denn nicht selten waren die ersten industriell abgepackten Lebensmittel verdorben oder sogar gesundheitsgefährdend.

Als Antwort auf die Anonymisierung der Marktabwicklungen, welche mit einem erheblichen Betrugsrisiko einherging, entwickelten die Hersteller Markenprodukte. Dabei verbürgte der Produzent mit einem Markenzeichen – meist sogar seinem eigenen Namen – für die Qualität des von ihm hergestellten Produkts. Die Marke stellte die Beziehung zwischen Kunden und Produzenten auf eine neue Vertrauensbasis: Sie sollte den Kunden einerseits vor Fälschungen oder minderwertiger Ware schützen, andererseits ging der Produzent mit seiner Garantie das Risiko ein, dass das Ansehen seiner Produkte im Falle gravierender Qualitätsmängel dauerhaften Schaden nahm. Die Marke versprach dem Kunden damit überall und zu jedem Zeitpunkt eine immer gleichbleibende Qualität des Produkts.60 Die Warenkenntnis des Kunden wurde dadurch zunehmend von der Markenkenntnis abgelöst.61

Damit haben Marken und Werbung unter der Annahme unvollständiger Information auf Märkten eine marktkonstituierende Funktion: Sie erleichtern dem Kunden die Suche nach einem Produkt, das seinen persönlichen Wünschen entspricht. Während die Werbung den Konsumenten über die Vorteile der Produkte informiert,62 werden Marken für ihn zur Orientierungshilfe im unübersichtlichen Warenangebot. Sie bringen Transparenz und Zuverlässigkeit in einen ansonsten nur schwer durchschaubaren Markt.63

Während Marken die Transaktionskosten der Kunden senken, fallen für den Produzenten zusätzliche Kosten an: Einerseits musste er über Agenten oder permanente Vertretungen die Absatzwege sicherstellen, um die Versorgungssicherheit und die Qualität seiner Markenprodukte gegenüber dem Kunden zu gewährleisten.64 Andererseits sah er sich gezwungen, einen Teil seines Einkommens in eine aktive Vermarktung des Produkts zu investieren, die zwei zentrale Aufgaben hat: Erstens erforscht sie die Bedürfnisse der Verbraucher, um die Markenprodukte den Konsumentenwünschen anzupassen. Zweitens versuchen Unternehmen mit geschicktem Marketing, die Nachfrage zugunsten der eigenen Markenprodukte zu beeinflussen.65

Markenprodukte als kulturelle Konstrukte

Sowohl die Transaktionskostentheorie als auch Chandlers Theorie der Grössenvorteile sehen sich mit der berechtigten Kritik konfrontiert, dass sie allein mit dem marktwirtschaftlichen Effizienzprinzip argumentieren und andere Einflüsse wie Machtverhältnisse, gesellschaftliche Normen und staatliche Gesetze ausblenden.66

Ökonomisches Handeln ist aber immer auch in kulturelle Sinnkonstruktionen eingebettet.67 So beruhen unsere Vorstellungen von Produkten und ihrem Wert nicht nur auf ihrem physischen Gebrauchszweck oder ihrer effektiven Wirkung,68 sondern ebenso auf ihren soziokulturellen Bedeutungen, die ihnen in einem Kulturkreis zugeschrieben werden. Die Symbolik der Produkte dient dabei sowohl der sozialen und kulturellen Differenzierung als auch der Identitätsbildung einer Gesellschaft.69 So waren Kolonialwaren wie Kaffee, Tee und Kakao lange Zeit nicht nur Genussmittel, sondern auch Statussymbole der Reichen und Mächtigen.70 Ausserdem können Produkte je nach Weltregion sehr unterschiedlich wahrgenommen werden: Auf den Britischen Inseln beispielsweise wurde das kakaohaltige Malzgetränk Ovomaltine abends zum Einschlafen getrunken, in Kontinentaleuropa dagegen morgens konsumiert, um wach und gestärkt in den Tag zu gehen.71 Produkte sind also immer auch kulturelle Konstrukte, die Machtverhältnisse72 widerspiegeln und mit Bedeutungen aufgeladen sind.73

Diesen Sachverhalt machen sich multinationale Unternehmen bei der Vermarktung ihrer Markenprodukte zunutze, indem sie diesen neben ihrer funktionalen, materiellen Dimension – dem Versprechen immer gleichbleibender Qualität – eine immaterielle, soziologisch oder psychologisch erklärbare Dimension geben. Der zusätzliche Nutzen für den Konsumenten besteht bei dieser immateriellen Komponente darin, dass er sich durch den Konsum des Produkts in seiner Vorstellung jene immateriellen Werte aneignet, welche in der Werbung mit dem Markenprodukt in Verbindung gebracht werden.74 Marketing-Experte Hans Domizlaff beschreibt Marken daher als Ideen, die ein Eigenleben führen.75 Aus ihnen erklärt sich schliesslich die emotionale Ausstrahlung oder «Aura des Markenprodukts». Seit den 1950er-Jahren gewann die immaterielle Dimension von Marken zunehmend an Bedeutung, indem sich Marken zu einem Ausdruck des persönlichen Lebensstils entwickelten.76

Marken als Kapital der Konzerne

Marken als Bündel von funktionellen und emotionellen Eigenschaften verursachen zwar einerseits Marketing- und Vertriebskosten,77 verschaffen dem Produkthersteller andererseits über das Exklusivrecht auf den Markennamen aber auch Vorteile:78 Er kann seine Position gegenüber dem Handel verbessern, indem die Kunden immer wieder nach seinem Produkt fragen und der Händler sich gezwungen sieht, seine Marke zu führen.79 Der Wiedererkennungswert einer Marke und das Vertrauen in sie führen dazu, dass Kaufentscheidungen von den Kunden nicht nur aufgrund des Produktpreises getroffen werden. Ein Hersteller von Markenprodukten muss die Konkurrenz deshalb nicht unbedingt im Preis unterbieten, sondern kann sich darauf konzentrieren, den Markennamen zu propagieren und damit die Aufmerksamkeit der Kunden auf die Qualität zu lenken, die ihnen zuvor nicht wichtig oder nicht bewusst gewesen war.

Markennamen erwerben sich dadurch mit der Zeit das Wohlwollen und Vertrauen des Kunden. Theoretisch kann der Nachfrager zwischen allen Produkten auswählen, de facto hat er sich jedoch auf eine Marke festgelegt.80 Das Ziel der Vermarktung besteht deshalb darin, eine Monopolstellung der eigenen Marke in der Psyche des Verbrauchers zu erwerben und damit die Loyalität des Kunden sicherzustellen.81 Der Markenwert ist dabei umso höher, je stärker die Marke die Präferenzen und Entscheidungen der Konsumenten dauerhaft beeinflussen kann. Dadurch können Marken einem Unternehmen langfristig höhere Erlöse generieren, weil starke Marken mehr Kunden anziehen und diese bereit sind, höhere Preise zu bezahlen.82 Eine starke Marke ist damit ein wichtiger Wettbewerbsvorteil und wird zum Vermögensgegenstand oder Kapital eines Unternehmens.83

Die Margen oder Gewinne, die sich mit Markenprodukten erzielen lassen, werden in der Betriebswirtschaftslehre unter anderem mit dem Produktlebenszyklus erklärt. Die Genese eines Produkts wird dabei in vier Phasen unterteilt: Einführung, Wachstum, Reife und Schrumpfung. Idealtypisch durchläuft die Umsatzentwicklung dabei eine S-Kurve.

In der Einführungsphase steht die Markterschliessung im Zentrum: Durch intensive Vermarktung wird das Produkt dem Publikum bekannt gemacht. Als erster Anbieter kann das Unternehmen in dieser Phase zwar Pioniergewinne realisieren, aufgrund der hohen Einführungskosten und der geringen Umsatzzahlen sind diese jedoch marginal. Zum Teil müssen sogar Verluste in Kauf genommen werden. Die Neuheit wird zu diesem Zeitpunkt nur auf dem Heimmarkt produziert und von dort aus teilweise ins Ausland exportiert.

In der Wachstumsphase erreicht das Produkt steigende Marktakzeptanz: Es gelingt dem Unternehmen, die anfängliche Skepsis des Publikums gegenüber dem Produkt abzubauen. In diesem Stadium wird die Gewinnzone erreicht. Methoden der Massenproduktion und eine Standardisierung des Produkts sowie eine steigende Nachfrage im Ausland mit einer Auslagerung der Produktion in andere Länder sind dabei typische Merkmale. Gleichzeitig dringen nachahmende Konkurrenten in den florierenden Markt ein, welche die bisherige Monopolstellung des Pionierunternehmens gefährden. Der Preiswettbewerb setzt ein.

In der Reifephase können die absoluten Umsatzzahlen weiter gesteigert werden, die Wachstumsraten beginnen aber zu sinken. Der steigende Verdrängungswettbewerb lässt die Renditen auf der Anbieterseite sinken. Die Preise fallen, bis die Gewinnmargen dahingeschmolzen sind und das Marktpotenzial schliesslich gänzlich ausgeschöpft ist. Die zusätzliche Nachfrage verlagert sich in dieser Phase hauptsächlich in die Entwicklungsländer.84

Wird der Produktlebenszyklus in diesem Stadium durch geeignete Marketing-Massnahmen wie eine Neulancierung des Produkts nicht verlängert,85 tritt eine Sättigung ein, welche zu schrumpfenden Umsatzzahlen führen kann. In der Degenerationsphase wird das bisherige Produkt schliesslich durch ein neues Produkt ersetzt, das den Kundenanforderungen besser entspricht.86 Laut der Produktlebenszyklustheorie durchlaufen Produkte damit einen «Prozess schöpferischer Zerstörung», indem alte Produkte und Technologien durch neue abgelöst werden.87

Neue Technologien und Konsumbedürfnisse beeinflussen also den Produktlebenszyklus eines Markenprodukts, und dieser wiederum hat Auswirkungen auf den Umsatz und den Gewinn – und damit das Wachstum – eines Unternehmens. Da die Gewinnmarge im Verlauf des Produktzyklus sinkt, müssen Unternehmen ihre Markenprodukte stetig den Konsumbedürfnissen anpassen oder sich neuen, Profit versprechenden Geschäftsfeldern zuwenden, um den Unternehmensgewinn aufrechterhalten zu können. Damit spiegeln Markenprodukte nicht nur Konsumbedürfnisse wieder, sondern beeinflussen auch die Entwicklung von multinationalen Konzernen.

Forschungsstand zu Nestlé und seinen Pulvergetränken

Über Nestlé und seine Markenprodukte sind zahlreiche Publikationen erschienen, die sich grob in drei Gruppen unterteilen lassen:

Eine erste Kategorie bilden die firmeneigenen Darstellungen des Unternehmens wie «This is your Company»,88 die beiden Jubiläumspublikationen von Jean Heer89 sowie deren Fortsetzung «Wandel als Herausforderung» von Albert Pfiffner und Hansjörg Renk,90 die als Überblickswerke eine nützliche Orientierungsgrundlage sind.

Zweitens häuften sich ab den 1970er-Jahren kritische Schriften über Nestlé sowie Gegendarstellungen des Westschweizer Unternehmens im Zusammenhang mit der Publikation «Nestlé tötet Babys»91 und der Diskussion um die Verantwortung multinationaler Konzerne. Zu den prominentesten unter ihnen zählen «L’Empire Nestlé» von Pierre Harrisson92 sowie die kürzlich von Attac Schweiz veröffentlichte Darstellung «Nestlé: Anatomie eines Weltkonzerns»,93 welche politisch gefärbt sind und eine einseitige Haltung gegen Nestlé einnehmen. Umgekehrt nehmen Publikationen wie «Nestlé. Macht durch Nahrung»94 und «Gemeinsam Werte schaffen»95 von Friedhelm Schwarz oder die firmeneigenen Darstellungen zu Nestlé in den Entwicklungsländern96 einen sehr entgegenkommenden Standpunkt gegenüber dem Unternehmen ein.

Als dritte Gruppe sind schliesslich zahlreiche historische Lizenziats- und Doktorarbeiten über Nestlé zu nennen, deren Interesse geschichtswissenschaftlich motiviert war: Zu ihnen zählen die Geschichte des Unternehmers Henri Nestlé von Albert Pfiffner,97 die Lizenziatsarbeiten über die Anglo-Swiss Condensed Milk Company von Manuel Fischer und Alain Bolomey sowie die darauf aufbauende Publikation «George Page. Der Milchpionier»,98 aber auch die Darstellungen über die Nestlé & Anglo-Swiss im Ersten Weltkrieg und die nachfolgende «Krisenreaktionsstrategie» des Unternehmens.99 Jüngst erschienen zudem Publikationen zur Geschichte von Nestlé am Bosporus,100 über den Milchpulverskandal «Nestlé tötet Babys» als Medienereignis101 sowie eine Begleitpublikation des Museums Alimentarium zu einer Ausstellung über die Anfänge der Schweizer Lebensmittelindustrie, die sich stark an Nestlé orientiert.102 Bei dieser Übersicht fällt auf, dass vor allem die Anfänge des Unternehmens bis zum Ersten Weltkrieg erforscht sind, während eine Aufarbeitung der Unternehmensentwicklung in der Zeitspanne zwischen 1921 und 1971, in der die Marken Nescafé, Nestea und Nesquik begründet wurden und Nestlé zum grössten Lebensmittelkonzern der Welt aufstieg, mit Ausnahme von Heers Jubiläumsschrift und Martin Lüpolds Studie zu den Krisenjahren noch weitgehend fehlt.

Ähnliches gilt für die Geschichte des Pulverkaffees, die in verschiedenen Publikationen zwar gestreift, aber nie wirklich aufgearbeitet wurde.103 Zu Nescafé sind vorwiegend die Anfänge erforscht: Neben den Jubiläumsschriften von Jean Heer haben sich Malia Ukishima in ihrer Lizenziatsarbeit «Le succès et la recette du Nescafé»104 sowie Albert Pfiffner in seinem Artikel «A real winner one day»105 vertieft mit den Anfangsjahren der Marke zwischen 1930 und 1945 auseinandergesetzt und die Geschichte der Entdeckung und Lancierung des Nescafés damit auf eine solide Basis gestellt. Über die weitere Entwicklung der Marke ist dagegen wenig bekannt: Abgesehen von kurzen Erwähnungen im Bericht der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg (UEK)106 über Geschäfte und Zwangsarbeit existieren einzig populärwissenschaftliche Darstellungen in Marken-Büchern.107

Noch marginaler untersucht ist die Geschichte des Tee- und Kakaopulvers. Während Instanttee nicht einmal in Ukers’ «All about tea»108 grössere Erwähnung findet und die Marke Nestea erst jüngst in der Dissertation «Ready to Eat» von Eva Von Wyl109 wissenschaftlich erforscht wurde, war die Geschichte des Kakaos bis anhin vor allem von der essbaren Schokolade geprägt. Über Kakaopulver dagegen ist – abgesehen von der Erfindung des «Dutching-Verfahrens» – wenig bekannt.110 Eine erfreuliche Ausnahme bildet diesbezüglich das kakaohaltige Malzgetränk Ovomaltine der Schweizer Firma Wander, dessen Geschichte relativ gut erforscht ist.111

Quellenlage und Quellenkritik

Die Quellenlage zur Geschichte von Nestlé und Nescafé ist allgemein gut, wobei es starke Unterschiede zwischen den einzelnen Zeitperioden gibt. Die grösste Sammlung an Quellen befindet sich in den Archives Historiques Nestlé (AHN) in Vevey. Daneben verfügen gewisse Tochtergesellschaften und Nestlés strategische Geschäftseinheiten (SBU) über kleinere Archive.

Die vorliegende Arbeit stützt sich vorwiegend auf Quellen aus den Archiven in Vevey. Der Blickwinkel beschränkt sich dadurch auf Vorgänge, die für den Hauptsitz relevant waren. Der Fundus gibt aber trotzdem eine ausgezeichnete Globalübersicht. Neben den öffentlichen Jahresberichten wurden in dieser Arbeit vier verschiedene Quellensammlungen ausgewertet, welche die Geschichte von Nestlé und Nescafé aus der Innensicht des Unternehmens beleuchten:

Die erste Quellensammlung bilden die Berichte an den Verwaltungsrat (Rapports au Conseil d’Administration). Sie sind im Untersuchungszeitraum zwischen 1921 und 1980 – mit einigen Ausnahmen in der Zwischenkriegszeit – durchgängig vorhanden. Sie geben wichtige Anhaltspunkte über die allgemeine Geschäftslage des Unternehmens, gehen aber oft nicht über einen groben Überblick hinaus. Für die Zeit zwischen 1921 und 1945 stellen die Verwaltungsratsberichte die wichtigste interne Informationsquelle dar. Der Grund dafür liegt darin, dass bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs Teile des Nestlé-Archivs einerseits in die Vereinigten Staaten transferiert wurden und von diesen nur ein Bruchteil wieder zurück kam, andererseits ein Teil als Vorsichtsmassnahme vor einer Invasion der Deutschen vernichtet wurde. Bereits 1950 stellte ein Nestlé-Mitarbeiter fest, dass die Nestlé-Akten aus den 1930er-Jahren unvollständig seien.112

Quellen mit detaillierteren Informationen findet man erst nach dem Zweiten Weltkrieg in den Dossiers der Generaldirektion (SG), wobei in der unmittelbaren Nachkriegszeit zwischen der Generaldirektion der Unilac in Stamford und derjenigen in Vevey unterschieden wird. Die Dossiers der Generaldirektion sind nach einzelnen Ländern und Themenbereichen geordnet und enthalten Korrespondenzen zwischen den einzelnen Abteilungen des Hauptsitzes in Vevey und den weltweit verteilten Tochtergesellschaften des Unternehmens sowie Berichte über die Marktverhältnisse in den einzelnen Ländern. Sie geben wichtige Aufschlüsse über Probleme, mit denen das Unternehmen auf den einzelnen Märkten zu kämpfen hatte. Abgesehen von einigen Aktien, die aus Platzgründen vernichtet wurden, sind die Dossiers der Generaldirektion durchgehend bis in die 1980er-Jahre erhalten geblieben.

Eine wichtige Quellensammlung ist ebenfalls diejenige der Marketing-Zirkulare (Circulaires Continent, Circulaires Export und Communication Marketing). Über diese Schriften leitete die Marketing-Division in Vevey Marktinformationen weiter: Erfahrungen aus einem bestimmten Land wurden mit ihnen auch den Nestlé-Tochtergesellschaften in anderen Ländern zur Verfügung gestellt. Die Marketing-Zirkulare enthalten wichtige Informationen zur konkreten Vermarktung der einzelnen Markenprodukte und vermitteln Beispiele und Ideen von erfolgreichen Werbeaktionen aus verschiedenen Ländern. Aus historischer Sicht ist mit diesen Quellen insofern kritisch umzugehen, als sie vorwiegend positive Beispiele erwähnen und deshalb zu einer ausgewogenen Betrachtung oft einer kritischen Ergänzung bedürfen.

Stark verbunden mit der Vermarktung ist ebenfalls die Werbemittelsammlung. Sie dokumentiert Nestlés Werbekampagnen zwischen den 1930er-Jahren und 1990. Ab den 1990er-Jahren wurde diese Werbesammlung nicht mehr zentral in Vevey, sondern dezentral in den einzelnen Archiven der Tochtergesellschaften oder denjenigen der strategischen Geschäftseinheiten abgelegt. Dies führte zusammen mit der Tatsache, dass durch den zunehmenden elektronischen Informationsaustausch immer weniger Fakten auf Papier festgehalten werden, zur paradoxen Situation, dass die Vorgänge in den letzten 20 Jahren oftmals schwerer zu rekonstruieren waren als in den Jahren zuvor. Trotzdem liess sich anhand von Akten im Archiv der «Strategischen Geschäftseinheit Getränke» (SBU) und Interviews mit Angestellten die jüngere Geschichte der Marke Nescafé in groben Zügen nachzeichnen. Sie wird aber – auch aufgrund der Archivschutzfrist von 30 Jahren – weniger eingehend dargestellt werden können.113

Um die interne Sicht zu kontrastieren, wurden zudem auch externe Quellen beigezogen: dazu zählen Zeitungsartikel über Nestlé aus dem Schweizerischen Wirtschaftsarchiv in Basel (SWA) sowie Quellen aus den Unternehmensarchiven der Wander AG und den Archives de la Ville de Neuchâtel (AVN), welche die Sicht der Konkurrenz dokumentieren.

Ergänzt werden die qualitativen Quellen durch quantitative Daten, mit welchen sich das Ausmass von Veränderungen erst richtig einschätzen lässt. Die Angaben über Umsätze und Marktanteile sind allerdings mit der nötigen Vorsicht zu handhaben.114 Zudem geben Nestlés Geschäftsberichte aufgrund der komplexen Unternehmensstruktur, teilweise fehlender Informationen während des Zweiten Weltkriegs sowie der minimalistischen Berichterstattung bis etwa 1970 nur bedingt Einblick in den tatsächlichen Zustand des Unternehmens. Nestlé weigerte sich noch in den 1960er-Jahren standhaft, konsolidierte Konzernbilanzen vorzulegen – ganz zum Ärger der Aktionäre: Laut dem US-Magazin «Forbes» war Nestlé gegenüber der Öffentlichkeit «so informativ wie ein Grammophon ohne Schallplatte!».115 Das Schweizer Lebensmittelunternehmen konnte sich diese Informationspolitik jedoch leisten, da ihre Finanzpolitik abgesehen von der Kapitalerhöhung 1959 von einer strikten Selbstfinanzierung geprägt war.116

Aufbau der Arbeit

Die Wachstumsdynamik von Nestlé und Nescafé wird in fünf Kapiteln chronologisch nachgezeichnet, wobei jedes Kapitel eine neue Entwicklungsstufe des Instantkaffees und eine neue Wachstumsphase des Unternehmens markiert.

Das erste Kapitel schildert die Entstehung von Nescafé und der Nestlé & Anglo-Swiss anhand des weltweiten Warenaustauschs und der Mischung von Milch mit Kaffee: Während multinational agierende Handelsgesellschaften Kolonialwaren wie Kaffee, Tee und Kakao aus Afrika, Asien und Lateinamerika nach Europa brachten, ging die Schweizer Milch Ende des 19. Jahrhunderts den umgekehrten Weg von Norden nach Süden. Die Passage zeigt, wie dies nicht nur zum Aufstieg der Nestlé & Anglo-Swiss zu einem global agierenden Milchunternehmen führte, sondern auch zu neuen Produkten wie der Milchschokolade und ersten Formen von Instantkaffee- und Kakaogetränken wie Nestlés Cocoa & Milk und Coffee & Milk, die als wichtige Vorläufer des in den 1930er-Jahren entwickelten Nescafés gesehen werden können.

Das zweite Kapitel beschreibt, wie die Marke Nescafé während des Zweiten Weltkriegs und in der unmittelbaren Nachkriegszeit aufgebaut, lanciert und positioniert wurde und sich bis Mitte der 1950er-Jahre als ökonomisches Hauptprodukt des Unternehmens etablierte. Ein besonderes Augenmerk wird dabei zwei technischen Aspekten geschenkt: einerseits der Weiterentwicklung des Nescafés zu einem Instantkaffee, der nur aus Kaffeebohnen hergestellt wurde. Andererseits der Übertragung dieses technischen Wissens auf weitere Pulverprodukte wie Nestea oder Nesquik.

Im Mittelpunkt des dritten Kapitels steht der Durchbruch des Instantkaffees und der Zweikampf zwischen Nescafé und der US-Marke Maxwell House während des Wirtschaftsaufschwungs in den 1950er- und 1960er-Jahren und der Verbreitung des «American Way of Life» in Europa. Besondere Beachtung erhalten dabei die internationale Ausbreitung und lokale Anpassung von Nestlés Pulvergetränken, die qualitative Verbesserung des Pulverkaffees mit dem Gefriertrocknungsverfahren (Nescafé Gold) sowie die Gründe für Nestlés Wachstum zum grössten Lebensmittelkonzern der Welt.

Das vierte Kapitel ist im ersten Teil geprägt von Krisen und dem soziokulturellen Gesellschaftswandel in den 1970er-Jahren, die zu hohen Kaffeepreisen und massiver Kritik an Nestlés Geschäftspraktiken führten und den Ruf nach einer grösseren und individuelleren Produkteauswahl laut werden liessen. Der zweite Teil schildert die Verschmelzung dieser Forderungen mit der Rückkehr zu einem konservativeren Lebensstil, die eine Renaissance des Röstkaffees und eine wachsende Anzahl hochwertiger Kaffeespezialitäten (Espresso, Cappuccino, Caffè Latte und aromatisierte Kaffeesorten) zur Folge hatte. Spezielle Aufmerksamkeit wird dem steigenden Einfluss von Süssgetränken (Softdrinks) auf die Konsumgewohnheiten von Kaffee, Tee und Kakao, aber auch der Reorganisation und der nachfolgenden Erweiterung des Markensortiments beziehungsweise Diversifikation des Unternehmens geschenkt.

Das letzte Kapitel reicht vom Fall des Eisernen Vorhangs 1989 bis in die Gegenwart. Es beleuchtet das rasante Wachstum von Nescafé in Asien und Osteuropa und die Automatisierung der Kaffeeherstellung mit Kaffeekapseln (Nescafé Dolce Gusto) in den Industrieländern. Ein weiterer Fokus liegt ausserdem auf der zunehmenden Aufladung von Marken mit Wertehaltungen: Die Frage, wie ein Produkt hergestellt wird (gerechter Handel und nachhaltige Produktion) und welche Werte es vertritt, wurde in den letzten Jahren immer wichtiger und führte dazu, dass Marken holistische Züge annahmen. Zugleich erhielten Gesundheitsaspekte mit dem Wandel des Nestlé-Konzerns in Richtung einer Wellness-Company eine zentrale Position innerhalb des Unternehmens, das sich in den letzten Jahren in vielen Bereichen der Lebensmittelindustrie eine führende Stellung verschaffte und heute breit abgestützt ist.

Kolonialwaren und Kondensmilch – weshalb Nescafé von einem Schweizer Milchunternehmen entwickelt wurde (1866–1937)

Vom Süden in den Norden – Kolonialwaren werden zu Industrieprodukten

Die Verbreitung und kulturelle Aneignung von Kaffee, Tee und Kakao

Kaffee, Tee und Kakao zählen heute zu den weltweit am meisten konsumierten Getränken.1 Gemeinsam ist ihnen, dass sie aus Früchten2 oder Blättern3 von Pflanzen gewonnen werden, die zwischen dem nördlichen und dem südlichen Wendekreis heimisch sind4 und zum Selbstschutz vor pflanzenschädigenden Pilzen, Bakterien und Insekten Koffein enthalten.5

Ursprünglich stammen die drei Heissgetränke aus drei verschiedenen Kontinenten: Während die Kaffeepflanze vermutlich zuerst auf dem afrikanischen Kontinent im südlichen Äthiopien beheimatet war und von dort aus auf die arabische Halbinsel nach Jemen gelangte,6 wurde Kakao bei den Hochkulturen der Maya und Azteken in Mittelamerika konsumiert.7 Die Anfänge der asiatischen Teepflanze liegen im heutigen Grenzgebiet zwischen Myanmar, Thailand, Indien und China.

Von diesen Ausgangsorten aus begannen sich die drei koffeinhaltigen Getränke überregional auszubreiten. Während der Teeanbau neben China auch in Japan kultiviert wurde,8 kam der Kaffee durch die Eroberung der jemenitischen Tiefebene durch die Türken bald im ganzen Osmanischen Reich und Mittleren Osten in Mode, wo er in öffentlichen Kaffeehäusern und von Strassenhändlern angeboten wurde.9 Im 17. Jahrhundert gelangte das orientalische Getränk über venezianische Kaufleute und die Ostindischen Handelskompanien auch nach Europa und Nordamerika, wo um 1650 erste Kaffeehäuser eröffnet wurden.10

Nachdem es der niederländischen Ostindischen Kompanie 1616 trotz striktem Ausfuhrverbot gelungen war, einen Kaffeestrauch aus Jemen in die Niederlande zu schmuggeln,11 begann die weltweite Ausbreitung und Kultivierung des Kaffeeanbaus als «ein von europäischen Interessen diktierter Prozess»,12 wie Ulla Heise schreibt. Die niederländischen Kaufleute importierten die Kaffeepflanze in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in ihre asiatischen Kolonien. Über Frankreich fand die afrikanische Pflanze 1715 den Weg nach Amerika und von dort unter dem Deckmantel der Diplomatie 1727 nach Brasilien. Die Spanier brachten den Kaffeebaum schliesslich in ihre Kolonien auf den Philippinen (1740) und Kuba (1748) sowie nach Mexiko und Kolumbien (1790).

Um 1800 waren damit wesentliche Anbaugebiete, die sich heute als Kaffeegürtel zwischen den beiden Wendekreisen um den Erdball ziehen, durch die europäischen Handelsgesellschaften und Kolonialmächte erschlossen worden.13 Dadurch formte sich ein vielfältiges Angebot an Kaffeesorten aus verschiedenen Regionen aus, denn ähnlich wie beim Wein bilden auch die Kaffeebohnen je nach Anbaugebiet und Kaffeesorte einen unterschiedlichen Geschmack aus: Die im Hochland angebaute Coffea Arabica l. entwickelt einen sehr differenzierten, aromareichen Geschmack, während sich mit der in tieferen Regionen angebauten Coffea Canephora l. ein scharfer und stark koffeinhaltiger Kaffee gewinnen lässt, dem allerdings im Vergleich zum Arabica-Kaffee die feine Geschmacksdifferenzierung fehlt.14

Trotz den wachsenden Anbauflächen auf den Kaffeeplantagen der europäischen Kolonien blieb der weltweite Kaffeekonsum in der frühen Neuzeit im Vergleich zu heute allerdings relativ gering.15 Dafür gab es im Wesentlichen drei Gründe:

Erstens wurde der Kolonialwarenhandel von mächtigen Akteuren wie Nationalstaaten und multinational agierenden Handelsgesellschaften16 geprägt: Während die britische Ostindienkompanie (EIC) im 17. Jahrhundert den Teehandel mit China zu dominieren begann,17 besass die niederländische Ostindienkompanie (VOC) im Kaffeegeschäft eine bedeutende Stellung,18 und die Seefahrernationen Spanien und Portugal entwickelten sich zu den wichtigsten Protagonisten im internationalen Kakaohandel.19 Dabei zeigten die staatlich privilegierten Handelsgesellschaften ein monopolistisches Marktverhalten,20 und die europäischen Nationalstaaten belegten die Kolonialwaren mit so hohen Steuern, dass sie für den Verbraucher Luxuswaren darstellten.21 Der Kaffee- und Teegenuss blieb daher der Ober- und Mittelschicht vorbehalten, während das Schokoladegetränk nur für die aristokratische Minderheit erschwinglich war.22 Ausserdem war der Konsum von Kaffee und Tee in vielen deutschen Ländern verboten, weil die Staaten aus merkantilistischen Wirtschaftsüberlegungen einen Abfluss grosser Geldmengen ins Ausland verhindern wollten.23

Zweitens gestaltete sich die Kaffeezubereitung im 17. und 18. Jahrhundert noch wesentlich zeitaufwendiger und komplizierter als heute. Die Kaffeebohnen mussten zuerst in Röstzylindern geröstet und anschliessend mit Kaffeemühlen zerkleinert werden.24 Das Kaffeerösten erforderte dabei grosses Fingerspitzengefühl: Der Kaffee war schnell verbrannt, was zu einem unangenehmen Geruch und auch einem schlechten Geschmack führte. Bei zu kurzer Röstung dagegen blieben die Bohnen im Innern roh, liessen sich kaum mahlen und hatten weder Geschmack noch Aroma,25 weil die hellgrüne Kaffeebohne ungeröstet noch praktisch geschmacklos ist.26 Kaffee wurde deshalb vorwiegend in der höfischen Aristokratie – wo Bedienstete vorhanden waren – und auswärts im öffentlichen Kaffeehaus konsumiert.27

Drittens war die physiologische Wirkung des Kaffees auf den menschlichen Körper umstritten,28 und das schwarze Getränk schmeckt für den Konsumenten, der mit ihm nicht vertraut ist, unangenehm und bitter. Erst der regelmässige Konsum sensibilisiert für seinen Geschmack, weshalb in der Wissenschaft auch von einem «angeeigneten Geschmack» gesprochen wird.

Entscheidend für die weltweite Verbreitung und Beliebtheit des Kaffees waren daher weniger sein Geschmack oder seine Physiologie, sondern vielmehr seine kulturelle Aneignung und Funktion:29 «Jede Nation hat fast ihre eigene Art, den Kaffee zu trincken»,30 vermerkte Krünitz im späten 18. Jahrhundert in seiner Ökonomischen Enzyklopädie. Während die Türken und Araber beispielsweise den Kaffee nach dem Rösten, Mahlen und Aufgiessen normalerweise samt dem Kaffeesatz zu sich nahmen, wurde im europäischen Raum der gefilterte Kaffee bevorzugt.31 Eine weitere Form der kulturellen Aneignung stellten Kaffeesurrogate wie der Zichorienkaffee dar. Aufgrund der Tee- und Kaffeeverbote wurde seit den 1770er-Jahren in verschiedenen deutschen Ländern aus den Wurzeln der Wegwarte ein geröstetes Pulver hergestellt, das in heissem Wasser einen ähnlichen Geschmack und Geruch wie Kaffee entfaltete.32 Sinnbildlich weist das Warenzeichen der ersten Zichorienfabrik in Braunschweig auf die wirtschaftspolitische und medizinische Begründung für den Konsum von Zichorienkaffee hin: «Ohne euch gesund und reich» stand auf einem Spruchband, während ein deutscher Landmann im Vordergrund Zichoriensamen aussäte und im Hintergrund ein mit teurem Kolonialkaffee beladenes Schiff vor einer Palmenlandschaft im Meer trieb.33 Dabei stellte der Zichorienkaffee eine Neuinterpretation des bereits existierenden Zichoriengetränks dar, dem man in jedem Fall Milch beigab, um den bitteren Geschmack zu mildern.34 Vielfach wurden solche Produkte von medizinischen Erörterungen begleitet, welche die schädliche Wirkung des koffeinhaltigen Bohnenkaffees darlegten und stattdessen das Surrogat als «Gesundheitskaffee» empfahlen.35 Analog dazu entwickelten sich Teesurrogate wie Früchte- oder Kräutertees, die ebenfalls zu Heilzwecken oder aus Gesundheitsgründen verwendet wurden.36

Kaffee- und Teesurrogate trugen wesentlich dazu bei, dass sich der Genuss von Kaffee und Tee als Statussymbol der Reichen und Mächtigen auch in den unteren Bevölkerungsschichten auszubreiten vermochte, indem die beiden Kolonialprodukte zur Verbilligung mit Zusatzstoffen gestreckt wurden. Bis Ende des 18. Jahrhunderts fand der Zichorienkaffee im Gebiet des heutigen Deutschland, in den Niederlanden, der Schweiz sowie in Frankreich und Grossbritannien Verbreitung.37

Die bedeutendste und offensichtlichste kulturelle Anpassung war jedoch, dass dem Kaffee, Tee und Kakao im europäischen Raum Milch und Zucker beigemischt wurde, um die Heissgetränke zu süssen und ihre Bitterkeit zu mildern.38 Ursprünglich tranken die Chinesen den Tee nämlich als Grüntee und ohne die Beigabe von Milch und Zucker. Als China im 17. Jahrhundert jedoch den aus Zentralasien einfallenden Mongolen in die Hände fiel und diese den Tee mit Milch mischten, erhielt der Schwarztee immer mehr Zuspruch. Da sich der Schwarztee auf den langen Seefahrten besser konservieren liess als Grüntee, bevorzugten auch die Engländer später die vollständig fermentierte Sorte mit Milch.39 Die mongolische Gewohnheit wurde also von den europäischen Chinareisenden nach Europa übertragen: «[…] schon um die Mitte des 17. Jahrhunderts genossen etwa die Franzosen ihren Tee ‹à la Chinoise›, was bedeutete, dass Milch nach der Art der Mongolen hinzugefügt wurde»,40 schreibt Martin Krieger. Die Empfehlung, Tee und Kaffee mit Milch zu mischen, findet sich ebenfalls in den Briefen der Marquise de Sévigné Ende des 17. Jahrhunderts wieder. Da unverarbeitete Milch rasch verdirbt, wurde sie damals wohl noch als Sauermilch beigegeben.41

Ebenso scheint die bittere Trinkschokolade nach aztekischer Art – bei welcher der Kakao zusätzlich mit Gewürzen gemischt wurde – den spanischen Kolonisten wenig geschmeckt zu haben. Nur zögerlich begannen sie das mittelamerikanische Getränk zu konsumieren. Erst als ihm süsser Zucker, Zimt und Vanille beigegeben wurde, erhielt die Trinkschokolade grösseren Zuspruch. Weil sie einen hohen Fettgehalt aufwies, der oft Verdauungsprobleme verursachte, wurde ihr gegen Ende des 17. Jahrhunderts ebenfalls warmes Wasser oder Milch beigegeben, damit das Getränk bekömmlicher wurde.42

Erst mit Milch und Zucker gemischt, konnten die drei aus den Tropen stammenden Getränke in Europa und Amerika grössere Verbreitung gewinnen.43 Seither existiert eine starke Verbindung zwischen der Milch und den drei Heissgetränken Kaffee, Tee und Kakao, welche die weitere Entwicklung der vier Produkte prägte.

Die Eingliederung der drei Heissgetränke in die Alltagskultur des 19. Jahrhunderts

Bereits in der Frühen Neuzeit verzeichnete der Kaffeehandel beachtliche Zuwachsraten. Aber erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts erlangte der Kaffee breitere Popularität,44 als die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozesse im Zuge der ersten Globalisierungswelle zusehends dynamischer wurden.45 Das Prinzip der Selbstversorgung, welches für eine agrarisch dominierte Gesellschaft kennzeichnend war, wurde mit der einsetzenden Industrialisierung zugunsten einer räumlichen Spezialisierung der Wirtschaft aufgegeben.

Die Lebensweise in Europa und Nordamerika veränderte sich dadurch tiefgreifend: Die Arbeit in der Fabrik führte zu einer immer grösseren Nachfrage nach vorgefertigten und haltbaren Lebensmitteln, denn durch die langen Arbeitszeiten fehlte die Zeit für die Nahrungszubereitung zu Hause. Auf dieser Grundlage entfaltete sich die Lebensmittelindustrie,46 durch die sich der Kaffee in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert endgültig vom Luxusprodukt zum Alltagsgetränk wandelte.47 Im Wesentlichen gab es drei Ursachen für die wachsende Beliebtheit des Heissgetränks:

Erstens verbilligte sich der Kaffee auf der Angebotsseite durch die Liberalisierung der Handelsverträge, den Abbau von Schutzzöllen sowie die Aufhebung der Navigationsakte, mit welcher 1851 die Handelsmonopole der Ostindienkompanien auf Kaffee fielen. Ebenso konnten mit neuen Transportmitteln wie der Eisenbahn und Dampfschiffen die Transportkosten wesentlich reduziert werden. Durch den Bau von Eisenbahnen ins Landesinnere wurde der Provinzstaat São Paulo zum wichtigsten Kaffeeanbaugebiet Brasiliens und Santos zum grössten Kaffeeausfuhrhafen der Welt.48 Die starke Ausweitung der Kaffeeproduktion in Lateinamerika und der Aufstieg Brasiliens zum weltweit bedeutendsten Kaffeehersteller – um 1900 wuchsen in Brasilien drei Viertel der gesamten Kaffee-Ernte – stellten eine wichtige Voraussetzung für den Siegeszug des Kaffees dar.49

Das südamerikanische Land reagierte dabei nicht einfach nur auf die Nachfrage auf dem Weltmarkt, sondern trug zur Schaffung dieser Nachfrage massgeblich bei. Denn durch die enormen Produktionsmengen sanken die Preise, und Kaffee wurde für immer grössere Bevölkerungskreise erschwinglich.50 Ausserdem führte die steigende Kaffeeproduktion in Lateinamerika zu einem wachsenden Kaffeekonsum in den Anbauregionen selbst, welcher dort traditionelle Getränke wie die Trinkschokolade oder Mate zu verdrängen begann.51

Zweitens gliederte sich der Kaffee auf der Nachfrageseite in verschiedenste Bereiche der europäischen Alltagskultur ein: Im Gegensatz zum berauschenden Bier wurde der Kaffee als ernüchterndes Getränk angesehen, das die Verständigkeit erhöht und Wahrnehmungsvorgänge beschleunigt.52 Nicht zuletzt aufgrund dieser Zuschreibung entwickelte sich der Gedankenaustausch bei einer Tasse Kaffee zu einer bürgerlichen Freizeitbeschäftigung, zu der sich die Männer ins öffentliche Kaffeehaus begaben. Die Frauen dagegen hielten das gemeinsame Kaffeekränzchen als exklusiv weibliche Angelegenheit im privaten Umfeld. Der Kaffeekonsum etablierte sich dadurch als Symbol und Habitus einer bürgerlichen Lebensführung.53

Drittens wurde der Kaffee parallel dazu in den industriellen Rhythmus der Städte integriert,54 indem das koffeinhaltige Getränk als leistungsförderndes Mittel in der modernen Arbeitswelt seinen Platz fand:55 Kaffeepausen unterbrachen die langen und monotonen Arbeitsgänge der Arbeiterschaft, wodurch das anregende Heissgetränk zu einem Medium der proletarischen Geselligkeit und zu einem Elixier der kurzfristigen Erholung wurde.56 Bei vielen Industriearbeitern verwandelte die Tasse Kaffee zudem eine kalte Mahlzeit in eine warme. Es gab Arbeiterfamilien, die tagelang nicht ordentlich zu Mittag assen, aber drei- bis viermal täglich Kaffee tranken. Das vorwiegend aus Zichorienkaffee bestehende Getränk war dabei nicht nur billiger, sondern auch zeitsparender als andere Lebensmittel und unterdrückte den Hunger und die Müdigkeit. Kartoffeln, Kaffee und Branntwein stellten laut Roman Sandgruber die Trilogie der Arbeiternahrung dar.57

Einzig im Britischen Empire, in Asien und Russland, wo Tee getrunken wurde, sowie in Spanien, wo das Schokoladegetränk sehr beliebt war, hatte der Kaffee geringen Erfolg.58 In Grossbritannien wurde der Kaffee im 18. Jahrhundert zunehmend durch den Tee verdrängt und ersetzt.59 Als 1833 schliesslich die Monopolstellung der englischen Ostindienkompanie (EIC) beseitigt wurde und das Zeitalter des britischen Freihandels begann, fielen in Grossbritannien die Teepreise. Der Teekonsum nahm daraufhin rasch zu und liess England ab 1850 zu einer Teetrinkernation werden. Entscheidend für den grossen Zuspruch auf der Insel war zudem, dass unter der britischen Krone in Ceylon und Indien neue Teeanbaugebiete entstanden und dieser Tee wesentlich günstiger war als derjenige aus China.60 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts brachten die Engländer die asiatische Pflanze auch nach Süd- und Ostafrika. Schliesslich fand der Teeanbau auch in Lateinamerika sowie im Kaukasus Verbreitung,61 wo Russland und die Türkei ihren Teekonsum durch eigene Produktion zu decken versuchten.62

Analog zum Kaffee vergesellschaftete sich der Teekonsum auch im Britischen Empire in den Anbauländern, dem Bürgertum und der Arbeiterschaft: Mit den britischen Teepflanzungen begannen auch die Inder selber Tee zu konsumieren, der dort mit der Milch gekocht und mit viel Zucker und Gewürzen gemischt wird. Gleichzeitig sickerte im Mutterland die aristokratische Tradition der «Tea Time» als Mittelpunkt des geselligen Beisammenseins in die bürgerliche Öffentlichkeit durch, wie die Verbreitung der öffentlichen «Tea Rooms» ab den 1870er-Jahren zeigt.63 Da Tee neben Wasser das preisgünstigste Getränk in Grossbritannien darstellte, erreichte er im 19. Jahrhundert auch die ärmsten Bevölkerungsschichten, wo das anregende Getränk zusammen mit Kartoffeln und Speck zur Arbeitermahlzeit gehörte.64

Der dritte Katalysator, der den Kaffee-, Tee- und Kakaokonsum antrieb, war schliesslich die industrielle Vorfertigung, welche das Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag bei der Zubereitung wesentlich verbesserte.65 Ab dem späten 18. Jahrhundert wurde die teure und mühsame Handarbeit bei der Kakaoherstellung durch Röst- und Knetmaschinen ersetzt.66 Der Kakao entwickelte sich dadurch langsam von der aristokratischen Luxusware zum alltäglichen Nahrungs- und Genussmittel.67

Auch die Kaffeezubereitung wurde durch die industrielle Vorfertigung wesentlich vereinfacht. Die Kaffeesurrogatindustrie verbreitete sich dabei wesentlich früher als die Röstkaffeeindustrie. Bereits um 1800 existierten in Braunschweig – dem Zentrum der deutschen Zichorienindustrie – 25 Fabriken.68 Bis um 1900 hatte sich die Ersatzkaffee-Industrie zu einem bedeutenden Geschäft entwickelt:69 Es darf angenommen werden, dass Ende des 19. Jahrhunderts über ein Drittel aller Kaffeeprodukte im Deutschen Reich in Form von Zichorien- und anderem Ersatzkaffee verkauft wurden, der gegenüber dem Bohnenkaffee etwa viermal billiger war.70

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts setzten Grossröstereien auch dem mühsamen Kaffeerösten von Hand ein Ende, indem die gerösteten Bohnen direkt beim Händler bezogen werden konnten.71 Entscheidend für diese Entwicklung waren die Erfindung der selbstentleerenden Röstmaschine durch Jabez Burns (1864) und der Sezessionskrieg (1861–1965), welcher der Kaffeeindustrie in den Vereinigten Staaten zum Durchbruch verhalf.72 In den folgenden Jahrzehnten entstanden in den Vereinigten Staaten bedeutende Röstkaffeeunternehmen wie Chase & Sanborn, und 1893 begann Joel Cheek, Bohnenkaffee unter der Marke Maxwell House zu verkaufen, der sich in den Vereinigten Staaten als Qualitätsprodukt etablierte.73 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelten sich die Vereinigten Staaten zu einer Kaffeetrinkernation74 und stellten um 1900 weltweit das Land mit dem höchsten Kaffeeverbrauch dar.75

Auch in Europa nahm der Kaffeekonsum ab 1860 rasch zu und führte zu einer Industrialisierung der Kaffeeverarbeitung. Im späten 19. Jahrhundert entfaltete sich Douwe Egberts zu einem überregionalen niederländischen Kaffeeunternehmen, und deutsche Hansestädte stiegen durch die Handelsliberalisierung zu bedeutenden Kaffeehandelszentren auf. Die hanseatischen Kaffeehändler spezialisierten sich dabei auf die teuren Spitzenkaffeesorten. Aus dieser Tradition ging 1907 die Rösterei Jacobs in Bremen hervor, die sich später zusammen mit Tchibo aus Hamburg und dem 1924 gegründeten Versandhaus Eduscho zu den drei bedeutendsten Kaffeeunternehmen in Deutschland entwickelte.76

Die zunehmende Beliebtheit führte aber auch zu Kritik: Beispielsweise sah die Ende des 19. Jahrhunderts aufkommende Lebensreformbewegung im koffeinhaltigen Kaffee ein «unnatürliches Gift» und einen allgemeinen Ausdruck der «städtischen Nervosität», welcher durch den Rhythmus der Maschinen hervorgerufen wurde. Als gesunde Alternative propagierte sie stattdessen Zichorien-, Malz- oder Getreidekaffee.77 Ab 1905 stand kritischen Konsumenten zudem der koffeinfreie Kaffee zur Verfügung, der noch in den 1950er-Jahren ganz im Sinne der Lebensreformbewegung mit der Werbebotschaft «Für die Gesundheit – schont Herz und Nerven» beworben wurde.78

Weitere Vereinfachungen der Kaffeezubereitung erfolgten um 1900 mit der Erfindung der Espresso-Kaffeemaschine, die damals allerdings noch sehr teuer war und vorwiegend in öffentlichen Bars und Restaurants verwendet wurde,79 und der Entwicklung des Filterkaffees durch Melitta Benz (1908).80 Beide Techniken wurden in den folgenden Jahrzehnten weiterentwickelt und sorgten dafür, dass der Kaffee in Nordeuropa gefiltert und in Südeuropa als Espresso getrunken wurde.81

Auch die Teezubereitung erfuhr mit dem maschinell produzierten Teepäckchen im späten 19. Jahrhundert und dem Teebeutel in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Rationalisierung.82 Zu den Protagonisten dieser Entwicklung gehörte der Schotte Sir Thomas Lipton, der 1889 in den Teehandel einstieg und auf diesem Gebiet bald zum Prototypen des Masseneinzelhändlers wurde, der zwar mit kleinen Gewinnmargen, dafür umso grösseren Mengen operierte. Lipton konnte dadurch Skalenerträge nutzen und seinen Tee rund einen Drittel unter den handelsüblichen Preisen anbieten, was ihm bald eine führende Position im englischen Teegeschäft eintrug.83

Die ersten Formen von löslichem Kaffee, Tee und Kakao

Der von der Industrialisierung geprägte Lebensrhythmus in den Städten erforderte Produkte, die schnell und einfach zu konsumieren waren. Als Antwort auf diese Veränderungen der Konsumbedürfnisse unter der Maxime der Zeitersparnis begann die Lebensmittelindustrie Kaffee, Tee und Kakao als Instantgetränke anzubieten, welche durch die Zugabe von Wasser sofort zubereitet waren.84 Die Transformation der drei Kolonialwaren zu industriellen Pulverprodukten stellte die Unternehmen jedoch vor zahlreiche Probleme: Der unverarbeitete Kakao war wegen seines hohen Fettanteils mit flüssigen Substanzen wie Wasser oder Milch nur schwer mischbar und setzte sich rasch am Boden des Trinkglases ab.85 Um das Fett der Kakaobutter zu binden, mischten die Schokoladehersteller dem Kakao daher Mehl und andere Stärkemittel bei, wodurch das Endprodukt einen kartoffelähnlichen Geschmack erhielt.86

Bereits 1828 konnte der niederländische Apotheker Conrad Johannes van Houten die Herstellung von Kakaopulver allerdings entscheidend verbessern. Mittels einer Alkalilösung gelang es ihm, beim Pressen die fetthaltige Kakaobutter in einem effizienten Verfahren von der Kakaomasse zu trennen und den Fettanteil im verbleibenden «Presskuchen» um mehr als zwei Drittel zu reduzieren. Anschliessend zermahlte er den «Presskuchen» zu einem feinen Pulver, das nur noch etwa 20 Prozent des ursprünglichen Kakaobutteranteils enthielt. Sein Pulver wies damit nicht nur eine bessere Löslichkeit in Flüssigkeiten auf, sondern war auch bekömmlicher und länger haltbar. Zudem konnte das Kakaopulver wesentlich günstiger angeboten werden, weil die synchron dazu entstandene Kakaobutter zur Herstellung von Tafelschokolade verwendet werden konnte.87 Viele Schokoladeunternehmen stellen Kakaopulver deshalb als Nebenprodukt der Schokoladeverarbeitung her,88 wobei der Durchbruch des reinen Kakaopulvers über eine längere Zeitdauer erfolgte.89 Zu den frühen Herstellern von löslichem Kakao nach van Houtens Verfahren gehörten die englischen Schokoladefirmen Cadbury und Fry, welche in den 1860er-Jahren Cadbury’s Cocoa Essence und Fry’s Cocoa Extract auf den Markt brachten.90 In den 1880er-Jahren folgte unter anderem auch Rowntree mit Rowntree’s Elect Cocoa