Flame 4: Nebelsturm und Racheglut - Henriette Dzeik - E-Book

Flame 4: Nebelsturm und Racheglut E-Book

Henriette Dzeik

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Beschreibung

»Der Nektar der Unsterblichkeit schmeckt wie Sünde auf deiner Haut.«

Flame hat für die Rettung der Erde ihr Leben geopfert und ist nun wiedererwacht auf der Insel der Seligen. Um sie zu befreien, folgen der Halbgott Cato und Ladon der Prophezeiung der Seherin und reisen ans Ende der Welt. Doch vorher muss sich Ladon seiner Vergangenheit – und dem Urteil der Drakon – stellen. Unterdessen wartet auf Flames Freunde eine neue Schlacht: Die gefährlichste Macht des Universums hat ihre jahrhundertealten Ketten gesprengt. Dieser Feind dürstet nach Rache und eine Unschuldige wird zur Zielscheibe seines unbändigen Zorns …

***Sexy Götter, episches Worldbuilding und heiße Romance***


//Dies ist der vierte Band der »Flame«-Serie. Alle Romane der göttlichen Liebesgeschichte im Loomlight-Verlag:

-- Band 1: Feuermond und Aschenacht

-- Band 2: Dunkelherz und Schattenlicht

-- Band 3: Flammengold und Silberblut

-- Band 4: Nebelsturm und Racheglut

-- Band 5: Vss. Sommer 2023//

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Das Buch

»Der Nektar der Unsterblichkeit schmeckt wie Sünde auf deiner Haut.«

Flame hat für die Rettung der Erde ihr Leben geopfert und ist nun wiedererwacht auf der Insel der Seligen. Um sie zu befreien, folgen der Halbgott Cato und Ladon der Prophezeiung der Seherin und reisen ans Ende der Welt. Doch vorher muss sich Ladon seiner Vergangenheit – und dem Urteil der Drakon – stellen. Unterdessen wartet auf Flames Freunde eine neue Schlacht: Die gefährlichste Macht des Universums hat ihre jahrhundertealten Ketten gesprengt. Dieser Feind dürstet nach Rache und eine Unschuldige wird zur Zielscheibe seines unbändigen Zorns …

Die Autorin

© privat

Man erzählt sich, dass Henriette Dzeik auf einem Floß treibend von Nixen gefunden, von Hexen entführt und in einem Schloss, das an goldenen Ketten hing, von Feen aufgezogen wurde. Sie kämpfte gegen den Drachen, der diesen schönen Käfig bewachte, und erlangte schließlich durch einen Deal mit einem verrückten Flaschengeist die Freiheit. Heute lebt sie mit ihrem dunklen Prinzen und einem furchterregenden Wächterhund in ihrem minimalistischen Palast, wo sie auf Papier all ihre Träumereien wahr werden lässt.

Mehr über die Autorin auf https://www.instagram.com/henriettedzeik

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Loomlight auch!

Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autor*innen und Übersetzer*innen, gestalten sie gemeinsam mit Illustrator*innen und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

Mehr über unsere Bücher und Autoren auf: www.loomlight-books.de

Loomlight auf Instagram: https://www.instagram.com/loomlight_books/

Viel Spaß beim Lesen!

Henriette Dzeik

FlameNebelsturm und Racheglut

Liebe Leser*in,

bevor du erneut in Flames Welt eintauchst, ist es mir ganz wichtig, dich darauf hinzuweisen, dass »Flame – Nebelsturm und Racheglut« neben expliziten Szenen auch Elemente und Situationen enthält, die triggern können. Diese sind sexuelle und körperliche Gewalt, Mord und Tod, Suizidgedanken sowie selbstverletzendes Verhalten. Bitte lies dieses Buch nicht, wenn du denkst, dass dich diese Themen emotional zu sehr aufwühlen könnten.

Für dich Leser*in.

Deine Stimme hat diese Welt zum Leben erweckt.

»From a certain point onward there is no longer any turning back. That is the point that must be reached.«

Franz Kafka, The Trial

Prolog – Es war einmal

Es war einmal ein Mädchen, das auf einem Balkon aus Knochen stand.

Es war einmal ein Mädchen, das von den Geschichten Verstorbener zehrte.

Es war einmal ein Mädchen, das Geheimnisse wie Schätze sammelte.

Es war einmal ein Mädchen, das selbst ein Geheimnis in sich trug.

Es war einmal ein Mädchen, das sich nach einem Drakon sehnte.

Es war einmal ein Mädchen, das sich nichts mehr als Flügel wünschte.

Es war einmal ein Mädchen, das auf einem Hund mit drei Köpfen ritt.

Es war einmal ein Mädchen, das den Erben der Meere verehrte.

Es war einmal ein Mädchen, das ein Geschenk bekam.

Es war einmal ein Mädchen, das in fließendem Silber ertrank.

Es war einmal ein Mädchen, das seine Stärke fand.

Es war einmal ein Mädchen, das von einer goldenen Flüssigkeit kostete.

Es war einmal eine Frau, in deren Pupillen eine Glut entfachte.

Es war einmal eine Frau, die in einem See aus Flammen brannte.

Es war einmal eine Frau, die immer wieder lebte – obwohl sie eigentlich hätte sterben sollen.

Ich bin dieses Mädchen – diese Frau.

Ich schlage die Augen auf, fixiere den blauen Himmel und die strahlend weißen Wolken über mir, während eine Welle über meine Füße schwappt und meine Hand noch immer das aufgeklappte Schmetterlingsmedaillon umklammert.

Mein Name ist Flame – und ohne mich zu erinnern, habe ich mein Herz an drei Männer vergeben.

Poch.

Poch.

Poch.

Ein vertrauter Rhythmus klingt in meinen Ohren. Mit angehaltenem Atem lausche ich erwartungsvoll nach einem zweiten. Einem Herzen, das im selben Takt schlägt wie meines.

Doch ich bin allein.

Er ist nicht hier.

Dark.

Hunter.

Cato.

Einer eroberte mein Vertrauen.

Wir sind praktisch ein und dieselbe Person.

Einer gab mir eine Warnung.

Wer sich umdreht, wird gefangen. Du rennst schneller, wenn du nicht zurückblickst.

Einer schenkte mir ein ewiges Versprechen.

Ich werde dich auch immer finden.

Und ich brach ein Versprechen, das ich einem anderen gegeben hatte.

»Ich werde sie stets tragen, an dich denken«, versichere ich ihm. »Und dabei wird es sein, als würden wir einander in die Augen sehen.«

»Jeden Tag?«

»Jeden Tag in jedem Jahr.« Ich habe nicht an ihn gedacht. Stattdessen habe ich mich einem anderen hingegeben.

Mein Name ist Flame und vielleicht habe ich eine falsche Entscheidung getroffen. Vielleicht habe ich etwas getan, das ich in der Zukunft bereuen werde. Aber kann eine Sache, die sich so richtig angefühlt hat, wirklich falsch sein?

Mein Name ist Flame und ich werde Rache nehmen. An denen, die mir etwas genommen haben – die mir etwas gestohlen haben.

Meine Vergangenheit und meine Zeit.

Mein Name ist Flame … und ich werde … nie wieder … vergessen.

Kapitel 1 – Finsternis

DARK

Vergangenheit, 200 Jahre zuvor

Was ist Finsternis?

Der Anfang und das Ende? Das, was vor uns war, und das, was bleibt, selbst wenn wir gehen? Ist es die Schwärze, die sich durch die Weiten des Universums zieht und mit den Sternen ringt? Ist es der Mantel der Nacht, der sich über uns legt, wenn wir träumen und uns in Sicherheit wiegen? Ist es der Abgrund, an dem wir stehen, wenn wir verzweifelt sind? Ist es die Hoffnungslosigkeit in unseren Herzen, wenn sie zerbrechen? Ist es die wabernde Schwere, die in unseren Geist eindringt, in unser Innerstes, wenn grausame Erlebnisse uns verändern? Überschattet es das Gute und das Licht, das in unseren Seelen flackert, bevor uns eines Tages alles genommen wird?

Bin ich aufgrund meiner Herkunft dazu verdammt, Angst und Verderben über andere zu bringen?

Bin ich derjenige, der sie in die Schatten lockt, bis der Tod sie empfängt und ihre Körper mit seinem eisernen Griff gefangen hält? Sehe ich stumm zu, wenn das Leid sie tröstend in die Arme nimmt und unendlich sanft ihre gequälten Schreie erstickt?

Bin ich all das, was Finsternis ist? Schlecht und dunkel und Unheil bringend?

Ich dachte, ich könnte meine Bestimmung ändern. Sie austricksen, abschütteln und zum Narren halten. Ich glaubte, ich sei unantastbar. Ich war mir sicher, Viridi retten zu können.

Allein.

So sehr von mir überzeugt.

So beschämend arrogant und hochmütig.

Statt zu erlösen, habe ich bloß Dunkelheit und Zerstörung heraufbeschworen. Habe versagt – und unseren Heimatplaneten dem Untergang preisgegeben.

Ein unerwarteter Schmerz breitet sich stechend in meinem Oberschenkel aus und ich stolpere zurück. Mein Blick klärt sich und plötzlich nehme ich meine Umgebung wieder wahr. Ich bin nicht länger auf Viridi, wo meine Geschichte hätte enden sollen. Ich verdiene es nicht zu leben, während alle anderen sterben. Er hätte diese Wahl nicht für mich treffen dürfen. Hale. Mein Hass auf ihn lodert noch immer in mir. Er hat mich mitgenommen. Und nun bin ich hier, auf der Erde.

An einem Ort, an dem ich kaum noch Schaden anrichten kann.

An einem Ort, der schon vor meiner Ankunft ungebremst auf den Abgrund zuraste.

An einem Ort, der nur noch aus Rauchschwaden, die sich wie Nebelstürme in den grauen Himmel winden, besteht, ebenso aus Rache, die glühend heiß meine Zunge versengt, und schwarzer Erde, die unsere Stiefelspitzen mit Ruß bedeckt.

Während ich den Pfeil mit einem brutalen Ruck aus meinem Fleisch ziehe, überlege ich, ob es meine persönliche Hölle ist, die sich gerade vor meinen Augen formt, oder ob das Schicksal mir die Chance auf Wiedergutmachung bietet. Erneut befinde ich mich in einem Krieg. Kämpfe an der Seite meiner Brüder gegen den Göttervater dieser Welt und gegen Chaos. Beide trachten danach, die Menschen, denen dieser Planet gehört, auszurotten. Seit knapp einem Monat befolge ich Yasars Anweisungen, bin innerlich wie betäubt und begrüße es, dieses Mal keine eigenen Entscheidungen fällen zu müssen. An manchen Tagen auf dem Schlachtfeld kann ich Freund von Feind kaum noch unterscheiden.

Mit einem Brüllen schleudere ich den Pfeil mit bloßen Händen zurück und sehe, wie sich die Spitze in die Brust meines Angreifers gräbt. Ich empfinde keine Mordlust. Es verschafft mir keine Befriedigung, wenn die Iriden der Sterbenden glasig werden. Einzig der Drang, nicht stillzustehen, treibt mich weiter an. Und so wüte ich wie eine Naturgewalt, schütze die Schwächeren, wie ich es schon auf Viridi hätte tun sollen.

Ich bin nicht in der Lage, mit Gewissheit zu sagen, wie viele Stunden ich schon auf den Beinen bin. Die Wunde an meinem Oberschenkel ist längst verheilt, trotzdem ist jeder Schritt eine Qual, meine Muskeln brennen, allerdings gönne ich ihnen nicht die Pause, nach der sie so sehr lechzen. Mein Weg wird gesäumt von Blutlachen und gefallenen, zerstörten Leibern. Durch die Nase atme ich ein, über den Mund wieder aus. Der altbekannte Geruch des hungrigen Todes liegt in der Luft.

Doch nicht wegen mir.

Niemals für mich.

Vielleicht, weil wir uns so ähnlich sind?

Vielleicht, weil der Tod selbst schon mein ganzes Leben lang mein Begleiter – und somit auch mein Bruder ist?

Ich zwinge mich zur erneuten Wachsamkeit, während ich den fremden Palast umrunde, der aus Sand erbaut worden ist, und bleibe wie angewurzelt stehen, sobald ich das Meer erblicke. Es ist nach wie vor ein Bild, das ich nicht wirklich greifen kann – das endlose Blau, das so viel mehr als wir alle zu sein scheint. Uns ist es gelungen, Zeus und Chaos von den Gebieten der Menschen fort – und hierher zu treiben. Trotz dieses kleinen Sieges fühlt es sich nicht an, als hätten wir die Oberhand. Eher erscheint es mir, als würden beide Seiten nur verlieren.

Das Surren einer Klinge ertönt und ich wirbele herum, ramme meinen Dolch in das linke Auge meines Angreifers. Ich ziehe ein weiteres Messer und schneide seine Kehle durch. Ein Röcheln ertönt und das sprudelnde Rot ergießt sich über das Beige der feinen Körner. Seufzend reinige ich das Metall am Hemd des Gefallenen und wende ihm den Rücken zu, als ich einen wütenden Schrei höre. Meine Instinkte übernehmen meinen Körper und ich setze mich in Bewegung, erklimme den Wall und laufe in Richtung Ozean. Erst jetzt fällt mir auf, wie ruhig es ist. Das Wasser ist nicht länger erzürnt wie der Gott, der es beherrscht. Und dann sehe ich auch, warum. Bis zur Hüfte treibt Poseidon im Meer, sein Oberkörper hingegen liegt an Land, sein Gesicht ist im Sand vergraben. Mit einem ausgestreckten Arm hält er noch immer seinen mächtigen Dreizack und dennoch spüre ich sofort, dass nichts Lebendiges mehr in ihm ist. Mein Bruder, der Tod, ist direkt neben mir. Ich neige ein Knie, taste nach Poseidons Puls, ehe ich mich langsam wieder aufrichte und den Schweiß von meiner Stirn wische. Die Temperaturen sind die reinste Folter und noch während ich überlege, was ich nun mit dem Leichnam des Herrschers der Meere anfangen soll, zieht etwas anderes meine Aufmerksamkeit auf sich. In einiger Entfernung, abseits des Kampfgeschehens an einem Bootsanleger, stehen sich zwei Götter gegenüber. Der eine ist Zeus selbst, ich erkenne ihn an seinem Donnerkeil, der weiß zuckende Energie absondert, während sich über seinem Haupt dunkle Wolken sammeln und Gewitter grollt. Ihm gegenüber steht ein anderer Gott. Er war einer der Ersten, die sich auf unsere Seite gestellt haben, allerdings will mir sein Name in diesem Moment nicht einfallen. Ich weiß lediglich, dass er über heilende Kräfte verfügt. »Trottel«, murre ich, als er ungeschickt einem der Blitze ausweicht. Meine Stimme klingt rau und ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt gesprochen habe. Es ist leichtsinnig, sich Zeus allein zu stellen, wo er doch offensichtlich kein erprobter Kämpfer ist. Ich balle meine Hände zu Fäusten und spüre, wie die Dunkelheit sich in mir regt, sich sammelt, danach verlangt, freigelassen zu werden, nachdem ich sie so lange zurückgehalten habe. Der Boden unter meinen Füßen bebt, während ich den Nebel rufe und gleichzeitig in die Tiefen meiner Macht greife. Ich kann nur hoffen, dass der Trottel überlebt und nicht schon von Zeus gegrillt worden ist, bis ich bei ihm bin.

11 Jahre zuvor

»Wo willst du hin?«

Kaum merklich zucke ich zusammen, ehe ich ein genervtes Grollen ausstoße und mich umdrehe. »Hätte wissen müssen, dass du mir folgen wirst«, erwidere ich, als ich in Apollos grinsendes Gesicht blicke. »Du bist wie ein altes Eheweib, das am Fenster steht und darauf wartet, dass ihr Mann heimkehrt.«

Der Gott der Heilkunst klopft mir auf den Rücken. »Du sehnst dich nach meiner Gesellschaft und irgendwann wirst du es zugeben. Auf diesen Tag freue ich mich schon sehr.« Er gluckst belustigt, fast so, als würde ihn dieser Gedanke tatsächlich ungemein erheitern, und ich verdrehe die Augen. Seit ich Apollo davor bewahrt habe, von Zeus gegrillt zu werden, ist er so verdammt dankbar. Schlimmer noch, er denkt, wir seien Freunde. Vermutlich ist er der Überzeugung, dass nun er an der Reihe ist, mich zu retten – vor mir selbst und meiner Dunkelheit. Gleichwohl kann er nichts gegen die Leere und die Schuldgefühle ausrichten, die unaufhörlich an mir nagen. »Die anderen sind nach der Versammlung zu Hale in den Sandpalast gereist«, informiert er mich ungefragt. »Sogar Lost. Wir hätten uns ihnen anschließen können. Wäre sicher nett geworden.« Seine Stirn legt sich in Falten. »Zugegeben, vielleicht ist es ratsam, das Wiedersehen mit Phoibe noch ein wenig aufzuschieben. Du weißt ja, wie furchtbar nachtragend sie ist.«

Ich stoße einen gequälten Seufzer aus. »Dass du ihr Delphi wegnimmst, hättest du ihr möglicherweise sagen sollen, bevor du mit ihr schläfst. Und jetzt würde ich wirklich gerne meine Ruhe haben. Im Gegensatz zu dir bevorzuge ich nämlich die Einsamkeit.« Sobald wir die Versammlung mit den alten Göttern hinter uns gebracht hatten, die drei Tage andauerte, was mir allerdings eher vorkam wie dreihundert, freute ich mich auf die Ruhe des Waldes und die Heimkehr in mein Reich. Allein. Doch diese Rechnung habe ich ohne Apollo gemacht. Kopfschüttelnd setze ich mich in Bewegung, entschlossen, ihn zu ignorieren. Die Hoffnung, dass er einfach verschwinden wird, habe ich allerdings schon vor mindestens fünfzig Jahren aufgegeben.

»Für mich ist es auch anstrengend, wenn du so kratzbürstig bist«, brabbelt er, während er hinter mir herstapft. »Aber beschwere ich mich? Nein!«

Jeden anderen hätte ich längst mit meiner Finsternis attackiert, allerdings kann ich mich bei ihm nicht dazu durchringen.

»Sag mal, warum muss ich überhaupt das Eheweib sein?«, hakt er fröhlich nach. Ein wütendes Heulen entfährt mir und ich spüre, wie sich die Krallen durch meine Fingerspitzen graben. »Wow, immer sachte«, stößt Apollo erschrocken aus und weicht zurück. »Ich schmecke nicht so gut, wie ich aussehe, ehrlich.«

»Sei still, du Idiot«, fahre ich ihm über den Mund, während mein Gehör sich schärft und ich schwere Tatzen vernehme, die beinahe lautlos über den mit vertrocknetem Laub bedeckten Waldboden jagen. Verfolgt werden sie von schwerem Hufgetrappel und dem Schnaufen von Pferdenüstern. Ich taumele, als ein Schluchzen ertönt, das mich bis ins Mark trifft. Apollo spricht mit mir, doch ich verstehe nicht, was er sagt, nehme seine Stimme wie durch einen Schleier wahr. Kurz darauf ist meine Verwandlung vollendet und jede Sehne meines Körpers gespannt, während ich nicht zögere, der fremden Macht zu folgen, die mich auffordert, sie zu finden. Es ist, als hätte jemand in meinem Inneren eine Flamme entfacht, die mich wärmt, die dafür sorgt, dass ich mich auf eine Weise lebendig fühle, die ich niemals für möglich gehalten hätte. Alles in mir kribbelt, jeder einzelne Nervenstrang ist zum Zerreißen gespannt. In diesem Moment erscheint es mir keineswegs, als wenn der Tod mein Bruder wäre.

Der unbekannte Ruf wird zu meinem Kompass, während mich Wellen der Furcht überrollen. Die traurige Landschaft fliegt an mir vorbei: Verkohlte Bäume mit hängenden Ästen und kargen Kronen, Bachläufe, die kein Wasser führen, und schwarze Wurzeln, die sich über den Boden fressen. Mit großen Sätzen weiche ich den Hindernissen aus, treibe mich selbst zu Höchstleistungen an, während aufkommender Rauch mir das Atmen zunehmend erschwert. Die trockene Luft lässt meine Augen tränen und brennen, aber meine Beharrlichkeit wird belohnt. In weiter Entfernung kann ich schwarze Rösser erkennen. Ich will mich an ihre Fersen heften, meine Geschwindigkeit noch einmal beschleunigen, als plötzlich ein Ruck durch meinen Körper fährt und mich beinahe zurückwirft. Schnaufend ramme ich meine Klauen in den Boden und komme schlitternd zum Halten. Meine Brust hebt und senkt sich in einem ungestümen Takt, mein eigener Puls donnert wild in meinen Ohren.

Ich schließe die Lider, während ich mich auf die Geräusche meiner Umgebung konzentriere. Als ich ein Wimmern vernehme, schnellt mein Blick umher und bleibt an einer Höhle hängen, vor der Flammen emporzüngeln. Innerlich stoße ich einen Fluch aus, folge jedoch umgehend den halb unterdrückten Schreien. Ich springe über das Feuer und zische wütend, als es mein Fell ansengt, das so schwarz ist wie die verbrannte Erde dieser verlorenen Welt. Es grenzt an ein Wunder, dass die Hitze bisher nicht gewonnen – noch nicht alles geholt hat. Kaum habe ich das Innere der Höhle erreicht, wandle ich mich und ziehe mein Shirt über den Mund, atme flach, während sich meine Augen zu Schlitzen verengen, um durch die grauen Schwaden blicken zu können.

Und dann – endlich – sehe ich … sie.

Ein Mädchen.

In einer schützenden Haltung zusammengekauert, wenngleich auch diese sie nicht vor dem Feuer bewahren kann, das an ihrer rechten Seite leckt. Durch den Sauerstoffmangel scheint sie nahezu gänzlich weggetreten zu sein, nur ab und an entringt sich ihrem Mund ein gequälter Schmerzenslaut. In wenigen Schritten bin ich bei ihr, hebe sie vom Boden auf und presse sie an meine Brust. Sie riecht nach Vanille und ein wenig nach den exotischen Blumenwiesen auf Viridi, vermischt mit einer rauchigen Note, die ihren Duft einzigartig macht. Ihre Haut glüht und ich kühle uns mit meiner Dunkelheit, bahne uns einen Weg zwischen den erzürnten Flammen hindurch ins Freie.

Ich bin so aufgebracht, dass ich den Nebel erst rufe, nachdem ich das Feuer mit ihr auf meinen Armen hinter mir gelassen habe. Vorsichtig bette ich ihren Körper auf eine Schicht von vertrocknetem Laub. Über uns scheint die Sonne, zeichnet beinahe ein idyllisches Bild, während das Mädchen mit dem Tod ringt. Wie ferngesteuert streckt sich meine Hand nach ihr aus und streicht eine wilde Locke hinter ihr Ohr. Ein erneutes Wimmern dringt über ihre Lippen, die spröde von der Hitze sind, und meine Brust zieht sich schmerzhaft zusammen. Sie ist viel zu jung, um heute schon zu sterben.

Vorsichtig hebe ich ihren Kopf an und drücke den Daumen an ihren rechten Mundwinkel, sodass sie gezwungen ist, ihn zu öffnen, bevor ich ihr Wasser einflöße. Meine Hoffnung war, die Flüssigkeit würde sie beleben, doch sie regt sich kaum. Ich konzentriere mich auf eine ruhige Atmung, während ich den Wasserschlauch beiseitelege, der in ihrem Rucksack war, und mein Messer aus der Lasche meines Gürtels ziehe, um ihr die verbrannte Kleidung vom Leib zu schneiden. Sobald ich die geschundene Haut des Mädchens sehe, beiße ich derart fest auf die Innenseite meiner Wange, dass ich Blut schmecke.

Plötzlich legt sich eine Hand auf meine Schulter und ich fahre herum. Apollos besorgte Augen schauen mir entgegen. Keine Ahnung, wie lange er schon hinter mir steht und wie zur Hölle er mich gefunden hat. In diesem Moment spielt es auch keine Rolle. Er kniet sich neben mich und versorgt die Brandwunden des Mädchens mit einer Paste.

Ich beginne, sanft auf sie einzureden, bekomme nur am Rande mit, wie Apollo die gesalbten Stellen mit Blättern bedeckt. All das zieht so schnell an mir vorbei, als wäre ich in eine Art Trance gefallen und ich weiß selbst kaum, was genau ich ihr sage. Ich will einfach nur, dass sie nicht aufgibt. Dass sie die Flammen nicht gewinnen lässt. Beruhigend will ich ihr gerade über die Wange streichen, als sie aufkeucht und das Medaillon, das wie ein Schmetterling geformt ist, noch fester mit ihrer Hand umklammert. Ihre Lider flattern und für einen kurzen Moment schlägt sie die Augen auf. Das eine ist grau wie Asche, das andere gold wie Bernstein. Das goldene funkelt mich an, entfacht die Glut in meinem Inneren und sorgt erneut dafür, dass mein gesamter Körper kribbelt, sich ganz und gar lebendig anfühlt. »Sie wird einige Narben zurückbehalten«, sagt Apollo, nachdem er die letzte Brandwunde bedeckt hat. »Ich kann es nicht vollständig heilen.«

Gerade, als ich Mut schöpfen will, rollt ihr Kopf in den Nacken und ihre Zähne klappern unkontrolliert, fast so, als würde sie trotz der Hitze frieren. Ihre Lippen bewegen sich zaghaft. Ich glaube, dass sie das Wort »müde« formen. Mit zitternden Händen taste ich erst nach ihrem Hals, ehe meine Hand zu ihrem Brustkorb gleitet. »Das wird das geringste Problem sein, fürchte ich.« Die Wahrheit schnürt mir die Kehle zu. »Ihr Herz schlägt kaum noch. Ich denke nicht, dass sie den morgigen Tag erleben wird.«

»Wir können bei ihr bleiben, bis es zu Ende geht.«

»Nein«, knurre ich so harsch, dass Apollo zusammenzuckt. Trotz der Worte, die ich vor wenigen Sekunden ausgesprochen habe, bin ich nicht bereit, einfach so aufzugeben. »Ich erlaube nicht, dass sie heute stirbt.«

»Sie ist nur ein Mensch«, erwidert er. »Menschen leben, um eines Tages zu sterben. Du kannst es nicht verhindern, den Lauf der Dinge nicht aufhalten.«

»Das hier wird nicht ihr Ende sein«, erwidere ich zornig, dränge mit aller Kraft die drohende Wandlung zurück.

»Warum liegt dir so viel an dem Mädchen?«, hakt Apollo irritiert nach.

»Du bist der Gott der Heilung«, ignoriere ich seine Frage, während ich erneut nach ihrem Puls taste und ein weiteres Mal versuche, ihr Wasser einzuflößen. »Kannst du gar nichts für sie tun?«

Er seufzt schwer. »Dark … Sie hat so wenig Lebensenergie in sich. Ihr Herz ist bereits zu schwach.«

Ein Grollen dringt aus meiner Kehle, lässt die Bäume um uns herum erzittern. »Dann soll sie eben meines haben.«

Apollo reißt die Augen auf und verschluckt sich an seinem eigenen Speichel. Hustend klopft er sich auf die Brust, bis er wieder sprechen kann. »Diese Art von Heilmagie birgt große Risiken. Ich kann dir nicht versprechen, dass es gelingen wird.« Aufgebracht reibt er sich über die Schläfen. »Willst du das wirklich auf dich nehmen? Für dieses Menschenmädchen?«

Mein Blick wandert zu ihr, über die feinen Gesichtszüge, die viel zu blass und beinahe elfenhaft wirken, dann hinab über die Decke aus Blättern, die ihre Wunden, die verbrannte Haut und die wütenden roten Narben verbirgt. Bevor ich ihren Ruf vernahm, fühlte sich mein Innerstes genauso an – behaftet mit Schmerz und unzähligen Makeln. Und als ich den Wald durchquerte, um zu ihr zu gelangen, da ahnte ich bereits, dass es kein Zurück mehr geben würde. Manche Entscheidungen, auch wenn man sie bloß im Bruchteil einer Sekunde trifft, sind so gewaltig, dass keine Möglichkeit der Umkehr existiert. Als wäre der Pfad, auf dem man sich vorher befand, einfach so verschwunden.

»Sie soll mein Herz bekommen. Ich will, dass sie alles an sich nimmt, was ich noch zu geben habe.«

Meine Augen fühlen sich verquollen und schwer an, zucken unruhig hin und her, ehe ich es schaffe, sie zu öffnen. Die Last hingegen, die all die Jahre zuvor beständig auf meine Schultern gedrückt hat, nehme ich nicht mehr wahr. Langsam schärft sich meine Sicht und ich kann Apollos ernste Miene ausmachen. »Sturer Mistkerl«, brummt er tief über mich gebeugt, doch sein erleichterter Tonfall straft seine Worte Lügen. Langsam wende ich meinen Kopf und sehe das Mädchen neben mir. Ihre Lider sind geschlossen und obwohl ihre Wangen noch immer unnatürlich blass sind, zeichnet sich nun eine ganz zarte Röte darauf ab. Ihr Atem geht ruhig und ihre Lippen, die leicht geöffnet sind, wirken nicht länger spröde, sondern nahezu rosig. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich die Luft angehalten habe, und stoße sie erleichtert aus. Ich spüre Apollos festen Griff an meinem Arm, als er mir hilft, mich aufzurichten, allerdings gilt meine gesamte Aufmerksamkeit ihr. Zögerlich lehne ich mich über sie, lege ein Ohr auf ihren Brustkorb und spüre, wie ihr Herz gegen meine Wange schlägt. »Es ist gelungen«, flüstere ich Apollo zu, ehe mich erneut die Schwärze überrollt. »Ich danke dir.«

Als ich das nächste Mal erwache, ruhe ich mit dem Rücken an einem Baumstamm, und meine Hand hält die des Mädchens. Orientierungslos blinzele ich, bis ich wieder Apollo erblicke, der auf ihrer anderen Seite sitzt und ihren Rucksack durchsucht. Ich massiere mir die Schläfen, taste nach ihrem Herzschlag, während ich meine andere Hand an meine Brust lege. Irritiert zucke ich zusammen. Aus irgendeinem Grund hatte ich angenommen, nun keinen mehr zu haben. Gleichwohl ist da ein stetiges Pochen. Es ist exakt derselbe Takt, wie ich ihn von ihr erfühlen kann. »Ihr teilt es euch nun«, unterbricht Apollo den Moment. »Dein Herz, meine ich.«

»Warum schläft sie noch?« Meine Stimme ist nicht viel mehr als ein raues Krächzen.

»Ihr Körper braucht länger, um sich zu erholen. Doch soweit ich es beurteilen kann, wird sie überleben.«

Ich mustere ihre Wunden, die der Gott der Heilkunst weiterhin versorgt haben muss. »Die Narben werden bleiben«, wiederholt er seine Worte von vorhin.

Ich räuspere mich, lasse meinen Kopf zurück gegen den Stamm sinken. »Wie lange haben wir?«, frage ich schließlich. »Wie viel Zeit bleibt uns, wenn wir es teilen?«

Apollo lächelt leicht. »Wer weiß das schon? Ein paar Jahrzehnte? Oder vielleicht … sogar … für immer?«

6 Jahre zuvor

Die Dämmerung liegt bereits über dem heruntergekommenen Dorf und ich laufe mit zügigen Schritten in Richtung Marktplatz. Eine alte Frau mit runzeliger Haut und gebeugtem Rücken schaut aus einer der Hütten heraus und schenkt mir ein zahnloses Grinsen, während sie eine Rolle Garn aufwickelt. Ich neige leicht den Kopf, was unter der Kapuze meines Mantels kaum zu erkennen ist, und setze meinen Weg fort. Einmal im Monat komme ich her, um nach ihr zu sehen. Sie vor fünf Jahren in dem Erdkrater zurückzulassen, war das Schwerste, was ich jemals getan habe. Apollo hatte in ihrem Rucksack eine Karte und eine Wegbeschreibung zu einem vereinbarten Treffpunkt gefunden. Dort haben wir sie hingebracht und im Dickicht des Waldes gewartet, bis derjenige, der sie offenbar erwartet hat, eintraf und sie mit sich nahm. Seitdem vergeht kaum eine Woche, in der meine Gedanken nicht bei ihr sind. Mittlerweile ist sie kein Kind mehr, aber auch noch keine Frau und ich sehne mich nicht auf diese Weise nach ihr … Dennoch spüre ich tiefe Verbundenheit … und auch Verlangen. Das Verlangen, das Rätsel um sie zu lösen, zu ergründen, weshalb ich mich in ihrer Gegenwart derart lebendig fühle. Warum sie genau das zu sein scheint, was ich unbewusst schon immer gesucht habe. Da sind so viele Fragen in meinem Kopf, die ich niemandem stellen kann, und ich merke, dass ich von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr, unruhiger werde. Apollo wollte, dass ich die Besuche einstelle. Er sagt, dass sie in Sicherheit ist – so behütet, wie man in einer Welt wie dieser eben sein kann. Dass sie Freunde gefunden hat, die für sie sorgen. Dass ich ihr das Leben, das sie sich hier aufgebaut hat, nicht nehmen soll. Und dennoch …, wenn ich sie aus der Ferne beobachte, sehe ich oft, wie ihr Blick umherwandert, als wäre sie auf der Suche nach etwas, das sie noch nicht benennen kann. Als sehnte auch sie sich nach etwas … nach mir.

Ich erreiche die schief gebauten Stände, einige Besitzer sind bereits dabei, abzubauen, andere halten nach wie vor die Stellung, hoffen auf eine weitere klägliche Einnahme. Wie immer achte ich darauf, in sicherer Entfernung zu bleiben. Trotz der Dämmerung und der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze unterscheide ich mich von den Menschen. Natürlich dauert es nicht lange, bis ich sie entdecke. Ihre Ware ist auf einer Platte aus Stein ausgebreitet und ich frage mich, wie man auf die Idee kommt, lederne Häute, Kräuter, Holzschnitzereien und mit Leuchtkäfern gefüllte Gläser zusammen zu verkaufen. Mit stoischer Miene steht sie hinter ihrem Stand und feilscht mit einer Frau. Ein Lächeln breitet sich auf meinen Lippen aus. Selbst von meiner Position erkenne ich ihr bernsteinfarbenes Auge, welches durch das Licht der Leuchtkäfer in der Dämmerung ungewöhnlich strahlt.

Einzigartig.

Wunderschön.

Und obwohl ich sie in weniger als fünfzig Schritten erreichen könnte, erscheint es mir, als trennten uns Welten.

Vielleicht sollte ich Apollos Rat beherzigen.

Vielleicht sollte ich mich fernhalten, sie in Frieden lassen.

Vielleicht sollte ich mich gegen meine eigenen Instinkte wehren.

Doch ich kann nicht. Denn ich weiß mit unumstößlicher Sicherheit, dass unsere Pfade seit jenem Tag im Wald unwiderruflich miteinander verwoben sind. Als hätte das Schicksal selbst unsere Karten gelegt.

Gegenwart

Ich greife mir an die Brust, ziehe zischend die Luft ein und fahre unsanft aus dem Schlaf. Fast so, als wäre ich eine Marionette, an der jemand die Fäden straff gezogen hat. Meine Sinne sind geschärft.

Ich sehe.

Trotz der Dunkelheit kann ich gestochen scharf jedes Staubkorn im Zimmer erkennen. Sie liegen nicht nur auf den freien Flächen – sondern schweben federleicht durch die Luft. Im Licht des einfallenden Mondes sieht es aus, als würden sie funkeln und tanzen, zu einer geheimnisvollen Melodie.

Ich rieche.

Der feine Rauch einer abgebrannten Kerze steigt mir in die Nase, während ich das Wachs beobachte, das langsam an dem Holztisch hinabrinnt und sich zu der Kruste auf dem steinernen Boden gesellt.

Ich höre.

Jedes Geräusch nehme ich wahr. Zivas entspannte Atemzüge, weil sie sich in Sicherheit wiegt. Sie denkt, sie hätte mich in ihrer Hand. Fehler. So leicht kann sie mich nicht unterkriegen.

Mein Kopf ruckt umher, denn da ist noch so viel mehr: Arachnes Spinnenbeine, die in weiter Ferne trappeln, Losts Flüche, die aus dem Kellergewölbe nach oben dringen, das Scharren seiner Fingerkuppen, die er sich aufschabt, bei dem Versuch, sich durch die Wände zu graben. Die Rufe der schwarz gefiederten Raben, die über dem Burggraben ihre Kreise fliegen. Manchmal klingt es auch wie ein krächzendes Klagen. Ich schließe die Augen. Lasse die Welt um mich herum verstummen. Und da ist es – mein eigenes Herz. Nicht länger zögerlich. Nicht länger träge und schwach. Stattdessen laut und kräftig, als wäre es – wie durch ein Wunder – plötzlich zum Leben erwacht.

Ich spüre.

In einem elektrisierenden Rhythmus pumpt mein eigenes Blut durch meine Venen.

Ich schmecke.

Das Aroma von Vanille und Orangenöl liegt auf meiner Zunge. Als wäre ich mit meinen Lippen noch vor wenigen Momenten über ihre Haut gefahren.

Es ist unmöglich.

Und dennoch … fühle ich … sie.

Kapitel 2 – Einsamkeit

HUNTER

Vergangenheit, 15 Jahre zuvor

Vater sagte einst zu mir, dass nur die Schwachen einsam sind. Dass die eigene Gesellschaft in erster Linie genug sein muss und dass es nichts Wichtigeres gibt, als mit dem eigenen Dasein im Reinen zu sein. Keine Risse in einer undurchdringbaren Fassade. Es waren die Worte eines Kriegers. Eines Mannes, von dem ich glaubte, dass nichts und niemand ihn je brechen könnte. Das war, bevor Mutter bei der Geburt meiner Schwester starb, die blau und regungslos ihren bereits erschlafften Leib verließ. Es dauerte nur wenige Wochen, bis Vater ihnen folgte, er seinem Leben ein Ende setzte. Das war der Tag, an dem ich mich zum ersten Mal einsam fühlte. Einsam, verloren und schwach.

Ich lernte auch, dass Vater mich belogen hat, weil niemand unbezwingbar ist. Jeder ist in der Lage zu brechen. Und dennoch fand ich in dieser Zeit heraus, dass man es selbst in der Hand hat, liegen zu bleiben oder wieder aufzustehen. Man hat immer eine Wahl. Und ich schwor mir, dass ich niemals so sein würde wie er. Vater wollte nur für sich selbst stark sein. Dabei hätte er für mich kämpfen müssen. Er hätte mich nicht zurücklassen dürfen.

»Du bist lang nicht mehr geflogen«, reißt Lemos mich aus meinen Überlegungen und ich blicke auf zu dem Drakon mit den goldenen Augen, der unser Anführer ist und der es sich zur Aufgabe gemacht hat, mich großzuziehen.

»Die Landschaft reizt mich nicht«, erwidere ich sarkastisch und deute auf das Vulkangestein, das uns umgibt – uns einsperrt. Kajetan, einer der Jungen in meinem Alter, wirft mir einen vorwurfsvollen Blick zu. Keiner der anderen wagt es, so mit Lemos zu reden. Doch das kümmert mich nicht. Vielleicht, weil es für mich schon lange nichts mehr zu verlieren gibt. Niemand kann die Lücke füllen, die meine Familie hinterlassen hat. Und was soll das für ein Leben sein, das mir nun bleibt? Wir sind Drakon, unsere Urinstinkte schreien nach Freiheit, während wir in den Tiefen des Tartaros gefangen sind. Was gäbe ich dafür, einmal den freien Himmel zu sehen, von dem Mutter mir früher unzählige Geschichten erzählte …

14 Jahre zuvor

Die Prinzessin ist wieder zu Gast. Jeder Drakon im Tartaros weiß, dass sie das größte Geheimnis der Unterwelt in sich trägt. Und dennoch lässt sich niemand etwas anmerken, wenn Lemos gemeinsam mit der Königin und ihrer Tochter zu uns kommt. Wie so oft sind er und Persephone in den Gängen des Vulkangesteins verschwunden, während das Mädchen im Schatten des schwarzen Baumes am Blutsee ausharrt. Es scheint ihr liebster Ort zu sein, denn sie setzt sich immer genau an diesen Platz, bis ihre Mutter sie holt, um zurück in das Zentrum des Hades zu reisen.

Die Prinzessin bleibt stets für sich und ich habe sie nie auch nur ein Wort sagen gehört. Dabei würde ich gern ihrer Stimme lauschen, denn ich glaube, dass sie eigentlich alles andere als schüchtern ist. Dagegen sprechen ihre wilden Locken, die ein Eigenleben zu führen scheinen, aber auch ihre funkelnden Augen sowie ihr Kinn, das sie hervorreckt, als würde sie nur darauf warten, von jemandem herausgefordert zu werden. Und wie sie da so am Ufer sitzt, kommt sie mir vor wie eine Raupe, aus der eines Tages ein wunderschöner Schmetterling entschlüpfen wird. Ihr Erbe hat sie zur Einsamkeit verflucht und dennoch … trotzt sie all den Dingen, die Vater mich gelehrt hat … Es ist das erste Mal, dass ich wirklich anerkenne, dass man Zerbrechlichkeit und Stärke zugleich ausstrahlen kann. Und je öfter ich sie ansehe, desto mehr füllt sich die Leere in mir, als würden sich die Stellen in meinem Inneren, die grob auseinandergerissen worden sind, langsam wieder zusammenfügen. Die Narben, die dabei entstehen, fühlen sich keineswegs wie Makel an, sondern so, als wären mir zusätzliche Muskeln gewachsen, die meinen Körper und meinen Geist widerstandsfähiger machen.

Langsam erhebe ich mich von dem Vorsprung aus Vulkangestein, auf dem ich zuvor gesessen habe, und laufe in Richtung der Prinzessin. Überdeutlich spüre ich die Blicke der anderen Drakon in meinem Rücken. Sie sind immer wachsam, auch wenn sie die Fähigkeit, unbeteiligt zu wirken, perfektioniert haben. Es bleibt ihnen eigentlich auch nichts anderes übrig, denn niemand legt sich freiwillig mit Lemos an.

Der Weg erscheint mir endlos lang, bis ich schließlich vor ihr stehe. Sie zuckt zusammen, als ich in die Hocke gehe, fast so, als hätte sie einem Traum nachgehangen. Argwöhnisch verengt sie die Augen und beißt sich auf die Unterlippe, während sie mich mustert. »Hallo, Raupe.« Mein Mund hat die Worte ohne mein Zutun geformt. Als hätte mein Unterbewusstsein eine Ewigkeit darauf gewartet, endlich mit ihr reden zu können. Sie gibt sich unbeeindruckt, zieht die Brauen zusammen, während sich ihr Blick verdüstert, als wüsste sie nicht so recht, was sie von meinem Überfall halten soll. »Immer wenn ich dich sehe, frage ich mich, ob heute der Tag ist, an dem du mit mir sprechen wirst«, necke ich sie. Abwartend schaue ich sie an, doch sie reagiert nicht. »Also kannst du es nicht«, überlege ich laut. »Sprechen, meine ich.« Ein zartes Rosa überzieht ihre blassen Wangen und nun weiß ich, dass sie es kaum noch aushält, mir nicht zu antworten. »Wie alt bist du, Raupe?«, frage ich.

»Sechs«, flüstert sie zurück, als würde sie mir ihr größtes Geheimnis anvertrauen. Mein Herz macht einen Satz, ehe es unbeholfen weiterstolpert. »Und du?«, will sie von mir wissen.

»Älter als sechs.« Nicht viel älter in Jahren, allerdings reifen wir Drakon schneller, vor allem geistig. Da sie schon jetzt beleidigt dreinschaut, sage ich ihr das nicht. Ich unterdrücke ein Schmunzeln und räuspere mich. »Weißt du, warum wir hier sind, Raupe?«

»Ihr versteckt euch vor jemandem, der euch Böses will«, erwidert sie prompt.

»Das stimmt. Und wirst du dem König verraten, dass deine Mutter dich hierhergebracht hat, obwohl eigentlich niemand außer ihr, Hades und Tartaros von diesem Ort wissen darf?« Ich bewege mich auf dünnem Eis und kann nur hoffen, dass sie Lemos nicht von diesem Gespräch erzählen wird.

Sie legt den Kopf schräg, als würde sie meine Worte ernsthaft in Erwägung ziehen. »Vielleicht«, säuselt sie nach einer Weile und ich weiß, dass sie es nur tut, weil sie mich ärgern will. Aus irgendeinem Grund gefällt mir das. Dennoch kann ich es nicht lassen, sie noch ein wenig mehr zu reizen. »Nun«, seufze ich deshalb und erhebe mich. »Dann kann ich dir wohl doch nicht meine Freundschaft anbieten.«

Sie steht ebenfalls auf, reckt dabei das Kinn hervor und die Geste wirkt so vertraut, dass es mir kurz den Atem verschlägt. »Vater sagt, dass ihr götterfeindliche Ungeheuer seid. Dass ihr deswegen am tiefsten Punkt der Erde leben müsst«, sagt sie vorwurfsvoll.

»Wir haben niemanden zu unserem Feind erklärt«, erwidere ich ruhig. Es überrascht mich nicht, dass sie Vorurteile hegt. Und schon erwächst der Wunsch in mir, sie vom Gegenteil zu überzeugen.

»Vater sagt außerdem, dass ein wesentlicher Charakterzug von euch Falschheit sei, mit dem es euch gelingt, andere zu verführen«, fährt sie fort. »Ich würde überhaupt nicht mit jemandem wie dir befreundet sein wollen.« Ohne mir die Chance zu geben, etwas zu erwidern, klaubt sie ihre Schuhe vom Boden auf und rennt mit wehendem Haar davon. Und obwohl sie mir nach unserem ersten, viel zu kurzen Gespräch den Rücken zugekehrt hat, weiß ich, dass diese Begegnung gerade erst der Anfang war.

12 Jahre zuvor

An Lemosʼ Seite stehe ich in dem höhlenartigen Eingang, der zu der Schlucht führt, die wiederum in den Tartaros mündet. Stur schauen wir geradeaus – warten. »Wann werdet ihr es Flame sagen?«, durchbreche ich nach einer Weile unser Schweigen, was zuvor nur vom Zischeln des feurigen Flusses gestört worden ist. Die Körperhaltung unseres Anführers versteift sich, ehe sein Kopf zu mir herumruckt. »Ihr was sagen?«, grollt er.

»Das weißt du ganz genau«, erwidere ich. »Alle hier unten wissen es. Alle außer ihr.«

»Persephone und ich erkennen keinen Sinn darin, es ihr zu sagen.«

Ich schnaube verächtlich. »Oho, also redet ihr tatsächlich auch manchmal über Flame. Ich dachte immer, dass ihr leidglich miteinander beschäftigt seid, wenn sie zu Besuch sind.«

Plötzlich steht er direkt vor mir, packt mich am Nacken und zieht mich zu sich heran, sodass meine Stirn gegen seine gedrückt wird. Seine goldenen Augen verformen sich, erinnern nun an das Reptil, das in uns lauert, und meine Iriden nehmen automatisch dieselbe Wandlung vor. »Erinnere dich an deinen Platz«, knurrt er wütend, doch ich zucke nicht zurück. »Wenn ich erfahre, dass du mit ihr darüber sprichst …«

»Dann was?«, zische ich zurück. »Denkst du wirklich, dass sie so naiv ist? Dass sie rein gar nichts ahnt? Flame ist nicht dumm. Sie spürt es. Die Verbindung zu uns. Und dass ihr etwas vor ihr verheimlicht. Ich glaube, sie fragt nur nicht nach, um sich selbst zu schützen. Weil die Welt, in die sie hineingeboren wurde, schon verkorkst genug ist.«

Lemos tritt einen Schritt zurück und ich funkele ihn wütend an. »Da hast du deine Antwort«, erwidert er beinahe zufrieden. »Es ist zu ihrer eigenen Sicherheit die beste Lösung für uns alle.«

»Es ist auf Dauer für niemanden die beste Lösung, vor dem Unausweichlichen davonzulaufen. Sie hat das Recht, die Wahrheit über ihre Herkunft zu erfahren«, beharre ich auf meinem Standpunkt. Er will gerade etwas erwidern, als er abrupt innehält und dann sehe auch ich sie – Flame und Persephone, die sich an den Händen haltend auf uns zugerannt kommen. Als Lemos seine Drakongestalt annimmt, weiche ich zurück. Die Königin hat uns inzwischen erreicht, lässt die Hand ihrer Tochter los und erklimmt über den ausgestreckten Flügel Lemosʼ Rücken, ehe er sich mit ihr in die Tiefe stürzt. Sie drehen sich kein einziges Mal um.

»Guten Abend, Raupe«, murmele ich und drücke Flame an mich, die ihre Arme um meine Hüfte schlingt.

»Hallo, Drakonjunge«, flüstert sie und lächelt zu mir auf, ihr linkes Auge hell und strahlend und voller Hoffnung.

»Hast du mich vermisst?« Zum einen frage ich es, weil ich es nicht lassen kann, sie ab und an in Verlegenheit zu bringen, zum anderen, weil ich einfach herausfinden muss, ob sie auch immer an mich denkt. Ob die Momente mit mir die schönsten in ihrem Alltag sind. Ich muss erfahren, ob sie sich auch derart trostlos fühlt, wenn ich nicht bei ihr bin.

»Vielleicht«, weicht sie mir wie so oft aus und verschränkt unsere Hände miteinander. »Vielleicht auch nicht.« Nun ist sie diejenige, die mich ärgern will. Ich schenke ihr einen vorwurfsvollen Blick und sie zieht die Nase kraus. »Na schön«, nuschelt sie. »Ich habe die Unwahrheit gesagt.«

Ich stoße ein prustendes Lachen aus und streiche ihr die unzähmbaren dunklen Locken aus der Stirn. »Und wirst du mir die Wahrheit irgendwann verraten?«

Nachdenklich fährt sie mit dem Daumen über meinen Handrücken. »Du lässt mich schließlich auch zappeln«, erwidert sie zu meiner Überraschung.

»Wie meinst du das?«, hake ich nach.

Plötzlich stellt sie sich auf die Zehenspitzen und streift mit ihren Lippen meine Wange. Es geht so schnell, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich es mir nur eingebildet habe. Als hätte mich der hauchzarte Flügel eines Schmetterlings berührt. Flame schenkt mir ein Lächeln, bei dem sich ein Grübchen in ihrer Wange zeigt, und blinzelt mir verschwörerisch zu. »Weil Warten doch Verführung ist.«

11 Jahre zuvor

Wie so oft haben wir uns zu tief in die Höhlengänge vorgewagt. Schon beim letzten Mal hat Lemos mir die Leviten gelesen und ich kann nur hoffen, dass wir ungeschoren davonkommen werden. Meistens sind Persephone und er zu sehr mit sich beschäftigt. Allerdings nicht immer. Und zwar meistens in den ungünstigsten Momenten. Ich halte Flames Hand ganz fest, während wir am Ufer der Lethe entlangspazieren. Das Wasser schimmert kornblumenblau und verlockend, ist aber auch gefährlich. Ich weiß, dass ich sie eigentlich nicht mit hierher nehmen sollte, doch sie liebt Abenteuer und ich genieße es, wenn ich der Grund bin, weshalb sich in ihre Iriden ein aufgeregtes Funkeln stiehlt. Ich will derjenige sein, der ihr Freude und Lachen schenkt – mit dem sie all die schönen Dinge entdeckt. Und ich will auch, dass wir so viel gemeinsam erleben, dass man damit eines der Bücher füllen könnte, die sie manchmal mit in den Tartaros bringt.

»Mommy will diese Nacht nicht bei euch verbringen«, sagt Flame nach einer Weile, während ich aufpasse, dass sie auf dem Geröll der Steine nicht ausrutscht. »Werden wir zu spät kommen?«

Beruhigend streiche ich über ihren Rücken. »Hoffen wir mal, dass Lemos sie noch ablenkt.«

Flame errötet leicht und zwickt sich in den Nasenrücken. »Vater ist in letzter Zeit …« Sie unterbricht sich und bleibt stehen, beginnt ihre Hände miteinander zu verknoten und unruhig von einem Fuß auf den anderen zu treten. Ich schweige und sehe sie abwartend an, weil ich weiß, dass sie nicht sprechen wird, wenn ich ihr nicht genug Raum gebe. Sie schluckt schwer und räuspert sich. »Vater ist misstrauisch. Ich kann es ganz deutlich spüren. Im Palast … es liegt Spannung in der Luft. Ich habe ein ungutes Gefühl.« Beinahe flehentlich sieht sie mich an und ich balle die Hand zur Faust, als ich erkenne, dass in ihren Augen Tränen schwimmen. Sie macht einen zaghaften Schritt auf mich zu und dann bin ich bei ihr, schließe beide Arme um sie und versuche allein durch die Berührung, ihre dunklen Gedanken zu vertreiben. »Glaubst du, dass ich schlecht bin? Wegen all der Geheimnisse, die ich für Mommy bewahre?« Ich drücke einen Kuss auf ihren Lockenschopf und ziehe sie noch enger an mich. »Nein, Raupe. In dir schlägt das schönste Herz und in dir wohnt die reinste Seele, die ich jemals gesehen habe.«

»Und würdest du mich auch mögen, wenn es anders wäre?«, fragt sie mich, ihre Worte gedämpft, weil sie ihr Gesicht an meiner Schulter vergraben hat.

»Ja«, erwidere ich, ohne zu zögern. »Es gibt keine Seite, die du je vor mir verstecken müsstest.«

Hicksend löst sie sich von mir und tritt zurück, ehe sie sich mit den Handrücken über die geröteten Lider wischt. »Dann ist ja gut.«

Ich lächele schief. »Weißt du, wenn wir die Kletterroute nehmen und das letzte Stück fliegen, können wir es noch rechtzeitig schaffen.«

Prompt verzieht sie die Mundwinkel und unterdrückt ein Schaudern. »Und wenn dabei etwas schiefgeht?«

Belustigt ziehe ich die Augenbrauen nach oben. »Blödsinn.«

»Was ist, wenn ich falle?«, wispert sie, als wäre es ihr noch immer unangenehm, mir ihre Ängste zu gestehen.

»Dann fange ich dich auf.«

»Wir können sie nicht zurücklassen!« Ich stehe in Lemos Höhle und brülle mir die Seele aus dem Leib. »Es ist einfach nicht richtig!«

Unser Anführer sitzt seelenruhig auf seinem Strohlager und hat die Hände auf seinen Knien abgelegt. »Das Mädchen gehört zu ihrer Mutter und Persephone hat die Entscheidung getroffen, bei Hades zu bleiben.«

»Weil sie schwach ist«, spucke ich ihm förmlich entgegen.

In seinen Augen blitzt zum ersten Mal, seit ich ungebeten hereingestürmt bin, so etwas wie Wut auf. »Zu bleiben hat nichts mit Schwäche zu tun. Sie bleibt, um ihre Tochter zu schützen.«

»Sie ist nicht nur ihre Tochter«, gebe ich bissig zurück.

»Hüte deine Zunge«, knurrt Lemos.

»Oder was? Schneidest du sie mir heraus?« Angewidert schüttele ich den Kopf. »Du drückst dich vor deiner Verantwortung.«

Plötzlich werden seine Gesichtszüge weich, was meinen Zorn nur stärker entfacht. »Du solltest keine Vergleiche zu deinem Vater ziehen.«

»Das tue ich nicht«, lüge ich. »Aber es ist falsch, sie zurückzulassen. Glaubst du wirklich, dass sie in der Unterwelt sicherer ist als bei uns?«

Lemos nickt langsam. »Hades hält sie nach wie vor für seine rechtmäßige Erbin.«

Ich gebe einen ungläubigen Laut von mir. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich das ändert.«

»Du bist beinahe noch ein Kind. Überlass diese Dinge den Erwachsenen.«

Enttäuscht schließe ich die Augen. Genauso gut könnte ich dieses Gespräch mit dem Baum am Blutsee führen. »Ich habe innerhalb weniger Wochen meine gesamte Familie verloren. Das Kind in mir ist schon vor sehr langer Zeit gestorben. Und manchmal glaube ich, so viel mehr zu sehen als du und die Maior.« Mit diesen Worten drehe ich mich um und stapfe aufgebracht davon, fliehe beinahe vor der Entscheidung, die andere bereits für mich getroffen haben. Ich will die Unterwelt nicht ohne Raupe verlassen. Andererseits kann ich auch nicht bleiben, während alle anderen gehen. Und wenn ich ganz ehrlich bin, dann sehne ich mich nach dem Himmel. Ich sehne mich so sehr nach dem unendlichen Blau, damit ich endlich erlebe, wovon Mutter mir damals erzählte. Es ist meine Chance, die Ketten der Hölle zu sprengen.

10 Jahre zuvor

Ich habe einen Fehler begangen. Die Oberwelt kann mir keine Freude schenken, ist nichts im Vergleich zu ihrem Lachen oder den verstohlenen Schmetterlingsküssen. Ich wollte den Erinnerungen an meine Eltern nachjagen. Doch sie sind tot. Nichts wird sie mir jemals zurückbringen. Flame hingegen ist am Leben und ich hätte sie niemals verlassen dürfen. Kurz nach unserer Ankunft im Reich der Drakon hat Lemos mir väterlich die Hand auf die Schulter gelegt und gesagt, dass ich noch alles vor mir hätte und mich noch oft verlieben würde. Beinahe hätte ich ihm meine Faust ins Gesicht gerammt. Manchmal frage ich mich, ob mit ihm etwas nicht stimmt. Ob er überhaupt Gefühle hat, oder ob der Krieg und all die Grausamkeiten, die er bereits erleben musste, ihn abgestumpft und jeglicher Emotionen beraubt haben. Statt all die Dinge zu sagen, die mir auf der Zunge brannten, habe ich stumm genickt, ehe ich mich auf das mir zugeteilte Zimmer zurückgezogen habe. Und auch in diesem Moment liege ich auf der schmalen Pritsche, die ich mir mit Kajetan teilen muss.

Nach unserem Entkommen aus dem Tartaros haben wir Zuflucht an dem Ort gesucht, den die Drakon bewohnt haben, bevor sie den Olymp erschufen. Anders als ursprünglich angenommen, sind nicht alle, die Zeusʼ Angriff überlebt haben, in den Tartaros gegangen. Einige sind schwer verletzt hierher zurückgekehrt, um ihre Wunden zu lecken. Insgesamt leben hier nun beinahe dreihundert Drakon. Unser Reich liegt im Südosten der Welt, auf einer Halbinsel im Indischen Ozean, die von zahlreichen Zaubern geschützt wird. Hier können wir unbeschwert sein und fliegen und dennoch ist es seltsam, denn die meisten von uns, die so viel Zeit im Hades verbracht haben, sind nun mehr an ihre menschliche Gestalt gewöhnt. Unterscheiden sich von jenen, die nie gefangen waren … Als hätte unsere Art sich aufgespalten.

Den Großteil des Tages verbringen wir damit, weitere Unterkünfte zu errichten und alles wiederaufzubauen. Es ist eine schöne Gegend, vermutlich sollte ich dankbar sein und dennoch … Niemals hätte ich gedacht, dass auch Freiheit ein Käfig sein kann. Die anderen tun so, als sei das nun unsere Welt. Als existiere nichts anderes. Sie ignorieren, dass wir noch immer auf der Erde sind.

Kurz nach unserer Ankunft habe ich ein Gespräch der Älteren belauscht, dass wir den Tartaros hauptsächlich deshalb verlassen haben, weil der Erdkern sich unseretwegen noch schneller erwärmt hat. Doch auch hier können wir die Hitze spüren. Es ist nicht vorbei, nur weil wir gegangen sind. Ich bin wütend, weil sie sich selbst vorgaukeln, dass es uns nicht betrifft. Wir sind Feiglinge, die eine Lüge leben. Und ich fühle mich verraten, weil Lemos mir Dinge verschwiegen hat. Manchmal kommt es mir vor, als befänden wir uns hinter Glas und ich frage mich, ob die anderen tatsächlich so naiv sind, zu glauben, dass wir nicht mit untergehen, wenn das Feuer letztendlich alles holt.

Ich warte darauf, bis Kajes Atemzüge ruhig und gleichmäßig gehen, ehe ich mich vorsichtig aufrichte und von der Pritsche rutsche. Beinahe lautlos hebe ich meine Stiefel auf und schleiche zur Tür, öffne und schließe sie mit einem leisen Klicken. Von meinem Mitbewohner sind lediglich zwei Schnarcher zu hören und ich atme erleichtert auf. Eilig ziehe ich die Stiefel über und laufe dann den Steg entlang, vorbei an weiteren Hütten, die über dem kristallklaren See thronen. Die idyllische Umgebung liegt ruhig und verlassen da, nur in der Ferne sehe ich zwei Drakon, die Patrouille fliegen. Die Vergangenheit hat sie vorsichtiger werden lassen und so gibt es rund um die Uhr Wachen, die sich abwechseln, sowohl am Boden als auch in der Luft, in unserem Reich und auch an der Grenze. Kaje und ich befinden uns noch in der Kampfausbildung und werden erst in die Truppen aufgenommen, wenn wir das sechzehnte Lebensjahr vollendet haben. Ich finde es lächerlich, zu trainieren, als würden wir uns auf einen Krieg vorbereiten, wenn wir diesen Ort sowieso nie wieder verlassen werden.

Sobald ich den Hauptsteg hinter mir gelassen habe und festen Boden unter meinen Füßen spüre, erhöhe ich mein Tempo und beginne zu rennen. Das Zeitfenster, das mir zur Verfügung steht, beträgt nur wenige Minuten und obwohl ich diesen Moment seit Wochen geplant und in meinem Kopf durchgespielt habe, spüre ich dennoch, wie Nervosität in mir aufsteigt. Mehrfach wurde uns eingeschärft, den gesicherten Bereich unter keinen Umständen zu verlassen.

Sie wollen verhindern, dass man uns entdeckt.

Sie denken, wir werden noch immer gejagt.

Auch das verstehe ich nicht.

Zeus hat den heißen Krieg vor knapp zweihundert Jahren verloren. Wir sind in Vergessenheit geraten, niemand schert sich um unsere Existenz und ich glaube auch nicht, dass uns jemand schaden will. Die Welt hat gerade größere Probleme als uns.

Im Schutz der Nacht fliege ich weit oben, dicht über den dunklen Wolken und es fühlt sich an, als würde ich mit meinen Schwingen durch Watte streichen. Am vergangenen Tag habe ich eine Rast eingelegt, doch wenn ich die jetzige Geschwindigkeit beibehalte, sollte ich bis zum Morgengrauen das Portal erreicht haben, welches mich in den Vulkan am tiefsten Punkt des Hades führt. An dieser Stelle endet mein Plan leider auch schon. Ich setze darauf, Tartaros selbst oder Cashel ausfindig zu machen, die mir hoffentlich weiterhelfen können. Ich bin wie elektrisiert und kann es nicht abwarten, sie wiederzusehen. Ich frage mich, ob sie sich verändert hat, seit ich ihr die Kette schenkte und Abschied nahm. Ob sie sogar genau jetzt – in diesem Moment – das Schmetterlingsmedaillon und die filigran geschmiedeten Flügel berührt. Ob wir uns seit unserer Trennung tatsächlich immer in die Augen geblickt haben, egal wie groß die Entfernung zwischen uns war.

Als ich mein Ziel beinahe erreicht habe, beginne ich mit dem Sinkflug und genieße es, langsam nach unten zu segeln. Es ist eine Wohltat für meine schmerzenden und müden Flügel, die ich überdeutlich spüre. Meine Landung erfolgt geräuschlos, meine Krallen graben sich in den weichen Boden des stillen Waldes. Mit einem leisen Grollen falte ich meine Schwingen dicht an meinen Körper, ehe ich mich wandle. Es dauert nur wenige Sekunden und anschließend trete ich an den Baum heran, die Gestalt des Portals auf dieser Seite. Ich hebe die Wurzel mit der Markierung an, die sich ohne Vorwarnung um meinen Körper windet und mich verschlingt. Es fühlt sich an, als würde mich ein Zyklop bei lebendigem Leibe fressen und meine unverdauten Knochen wieder ausspucken.

Als ich nach einer halben Ewigkeit würgend die Augen aufschlage, meine Finger den Blutsee berühren und mir ein Fluch entfährt, muss ich mir eingestehen, dass ich noch am Leben bin. Eilig robbe ich zurück, ehe ich wackelig auf die Beine komme. Was für ein Höllenritt.

Sobald es mir nicht mehr vorkommt, als würde mein Gehirn sich überschlagen, sehe ich mich im Inneren des Vulkans um. Es ist seltsam, wieder hier zu sein, als würde man eintauchen – in eine weit entfernt liegende Vergangenheit. Letztendlich weiß ich selbst nicht so genau, weshalb ich hergekommen bin. Vielleicht will sie mich gar nicht begleiten. Denn wenn es so wäre, hätte sie mich doch sicher schon bei unserem Abschied darum gebeten … Energisch schüttele ich den Kopf und löse mich von den dunklen Überlegungen. Meine Iriden verändern sich und ich visiere die Plattform an, die den Eingang zu der Höhle bildet, die wiederum in das Reich des grausamen Todes führt. Gerade, als ich die Gestalt wechseln will, vernehme ich ein Schluchzen. Es klingt urtümlich und rau und so schmerzvoll, dass allein von diesem kurzen Klang Übelkeit in mir aufsteigt. Anstatt zu fliegen, sind es meine Füße, die den schaurigen Lauten folgen. Sie locken mich in die Flure aus Vulkangestein, von denen die Höhlen abzweigen, die einst unsere Schlafplätze waren. Alles wirkt so … leblos. Es kommt mir vor, als würde ich über einen Friedhof wandern. Ein weiteres Schluchzen ertönt, das in einem Aufstöhnen endet, und ich zücke die Klinge, die ich bei mir trage. So leise wie möglich schleiche ich weiter voran, ehe ich vor der Höhle zum Stehen komme, die einst Lemos bewohnt hat. Mit schräg gelegtem Kopf werfe ich einen Blick hinein – und erstarre.

Ich erkenne die Königin der Unterwelt an ihrem weizenblonden Haar, gleichwohl ist sie nicht die Frau, die wir zurückgelassen haben. Sie war stets stolz und selbstbewusst und auch ein wenig unnahbar. Manche haben sie hinter vorgehaltener Hand hochmütig genannt und eine weichere Seite blitzte nur in den Momenten auf, die sie mit Lemos teilte. Automatisch mache ich einen Schritt in die Höhle – dann noch einen … und noch einen … bis ich direkt vor ihr stoppe. Erst als ich mich auf ein Knie sinken lasse, schaut sie mich an. Nur mit Mühe schaffe ich es, meinen Schock zu verbergen und nicht vor ihr zurückzuzucken. Persephone war immer eine makellose Schönheit. Doch jetzt … jetzt übersäen wulstige, glühend rote Narben ihr Gesicht. Einige von ihnen sind bereits verheilt, andere noch offen, fast so, als hätte man sie mehrfach an derselben Stelle aufgeschlitzt. Ihre grauen Augen sind mit Tränen gefüllt, ihre Mundwinkel vor Abscheu verzogen, ihre Schultern beben und ihr Rücken krümmt sich, während sie von weiteren Schluchzern geschüttelt wird. Ich wage es nicht, die Hand tröstend nach ihr auszustrecken, zum einen, weil ich nicht glaube, dass sie die Berührung gestatten würde, zum anderen, weil ich das Gefühl habe, dass es nicht genügen würde. Dass es nichts gibt, was ich sagen oder tun könnte, um sie von dem Schmerz zu befreien, der sie gerade zerreißt.

»Was ist passiert? Wo ist Flame?«, frage ich eindringlich, als ich mich wieder gefasst habe und mir der eigentliche Grund für meine Rückkehr in den Sinn kommt. Die Königin antwortet mir nicht. Eine düstere Vorwarnung schließt sich wie eine eiserne Faust um mein Herz, Knoten bilden sich in meiner Brust, erschweren mir das Atmen. »Wo ist sie?«, wiederhole ich meine Worte überdeutlich. »Weiß er es? Hades?« Persephone bringt ein Nicken zustande und es ist, als würde ich ungebremst fallen. »Was hat er gemacht? Hält er sie gefangen? Du musst mir sagen, wie ich sie finden kann!« Ein Klagelaut dringt aus ihrem Mund und dieses Mal zucke ich zusammen, während sie den Kopf schüttelt, als würde sie etwas loswerden wollen. In diesem Moment ziehe ich es zum ersten Mal in Erwägung, dass Persephone möglicherweise den Verstand verloren hat. Meine Geduld hängt an einem seidenen Faden und ich umfasse ihr Kinn mit Daumen und Zeigefinger, zwinge sie, mich anzusehen. »Wie. Kann. Ich. Sie. Finden?«

»Nein, NEIN, NEIN«, beginnt sie zu schreien und ich weiche vor ihr zurück, als hätte ich mich an ihrer Haut verbrannt. »NEEEEEEEEIN!« Wieder wird ihr gesamter Leib geschüttelt, als hätte sie keine Gewalt mehr über ihre Gliedmaßen. Ich will mich gerade umdrehen, um Hilfe zu holen von Tartaros oder Cashel, als ein raues Röcheln ertönt. Ruckartig wende ich mich erneut Persephone zu, die sich halb auf ihre Handinnenflächen gestützt hat und zu mir aufblickt. Ihre Haare hängen strähnig in ihr Gesicht und in ihren Augen liegt ein wilder Glanz. »Du kannst nach ihr suchen. Aber du kannst sie nicht finden. Nie. Niemals. Denn sie ist tot. Tot. Tot. Tot.« Sie verfällt in einen irren Sprechgesang und ich stolpere zurück, als hätte sie statt Worten ein Messer in meine Brust gerammt.

5 Monate zuvor

Ich ziehe meine Bahnen durch den warmen See. Die Farbe der Sonne, die sich in diesem Augenblick majestätisch aus dem Wasser erhebt, erinnert mich an den lodernden Blutsee im Tartaros. Nun nehme ich noch kräftigere Züge, als wäre ich so in der Lage, vor den Erinnerungen davonzuschwimmen, die mich noch immer viel zu oft heimsuchen. Eigentlich ist das hier meine liebste Zeit, wenn alles still ist, als würde das gesamte Reich der Drakon schlafen, kurz bevor der Tag anbricht und das geschäftige Treiben beginnt. Es sind die einzigen Momente, in denen mein Kopf ruhig ist und kaum ein Gedanke fließt. So unendlich friedlich.

Obwohl ich mich über der tiefsten Stelle bewege, kann ich bis zum Grund hinabsehen, erkenne Muscheln und Steine, die blitzen und funkeln wie die sinnlichsten Kostbarkeiten. Ich atme tief ein, sauge die reine Bergluft in meine Lunge, ehe ich untertauche und schließlich in meiner Drakongestalt die Oberfläche durchbreche, um gen Himmel zu rasen. Ich fliege einige Schlaufen und Manöver über die Bergspitzen, bevor ich mich wandle und kurz darauf auf den Stufen stehe, die aus dem Wasser zu unserer Hütte führen. »Angeber«, begrüßt Kaje mich murrend und sichtlich verschlafen, der eben aus der Tür getreten ist und sich nun gähnend streckt. Grinsend zucke ich mit den Schultern und dränge mich an ihm vorbei, da ich mich trocknen und meine Lederausrüstung anziehen muss. »Fragst du dich auch manchmal, weshalb wir stets gezwungen sind, die meisten Wachschichten zu übernehmen?«, nörgelt Kaje.

»Nein«, erwidere ich und reibe mir mein feuchtes Haar trocken. Meine tropfnasse Hose werfe ich in eine Ecke, um meine Montur überzustreifen.

»Es ist ungerecht. Uns sollte mehr Freizeit zustehen«, beschwert er sich weiter.

»Wir sind Frischlinge«, erwidere ich nüchtern. »War doch absehbar, dass die meiste Arbeit auf uns abgewälzt wird. Und außerdem – was würdest du denn machen mit mehr Freiheit?«

Ein verträumtes Lächeln breitet sich auf Kajes Gesicht aus. »Vögeln. Ganz viel vögeln.«

Ich verziehe die Mundwinkel und streife ein Hemd über. »Erspar mir die Details.«

»Ich hätte nie gedacht, dass Laetitia in Drakongestalt so experimentierfreudig ist. In zweihundert Flügeln Höhe –«

Ich presse beide Hände auf meine Ohren, während ich in meine Stiefel steige. »Offensichtlich sind dir dort oben die Gehirnzellen abgestorben, wenn du glaubst, dass mich das wirklich interessiert«, brumme ich.