Flamingo - Rachel Elliott - E-Book

Flamingo E-Book

Rachel Elliott

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Beschreibung

Von seiner Verlobten verlassen und von seinem Vermieter grund- und fristlos gekündigt, steht Daniel Berry eines Morgens buchstäblich auf der Straße; das einzige Überbleibsel seines eben noch intakten Lebens ist ein kleines Keramikschaf. Die plötzliche Heimatlosigkeit lässt Daniel in ein bodenloses Loch fallen – bis eine zufällige Begegnung mit einer Fremden ein Bild in ihm wachruft: von drei rosafarbenen Flamingos auf einem grünen Vorstadtrasen in Norfolk. Im Haus hinter dem Rasen lebt Sherry Marsh, die gern laut und schräg Foreigner-Songs zum Besten gibt und deren Tochter Rae sich über eine App namens FAZ (Fremde auf Zeit) Gesellschaft zum Ausgehen bucht, weil sie die Gesellschaft ihrer Familie nicht erträgt. Doch für Daniel birgt das Haus der Marshs vor allem eins: das Gefühl, einmal glücklich gewesen zu sein und es vielleicht wieder werden zu können, wenn er sich nur traut, dorthin aufzubrechen.

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Seitenzahl: 417

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Rachel Elliott

Flamingo

Roman

Aus dem Englischen von Claudia Feldmann

mare

Die Originalausgabe erschien 2022unter dem Titel Flamingo bei Tinder Press, einem Imprintder Headline Publishing Group, London.

Copyright © 2022 Rachel Elliott

© 2023 by mareverlag, Hamburg

Lektorat Angela Volknant

Covergestaltung Adaption nach Headline Publishing Group: Nadja Zobel, Petra Koßmann / mareverlag

Coverabbildung Ell San (Flamingo), DODOMO (Häuser), TonTonic und Godsend (Textur); alle Shutterstock.com

Datenkonvertierung E-Book Bookwire

ISBN E-Book: 978-3-86648-820-5

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-703-1

www.mare.de

Für Jac

Inhalt

Zerbrochen, aber nichts verbrochen

Die furchtlosen Jahre

Außerirdisch

Erica

Ella Fitzgerald

New York

Abgefahren

Und der Fluss antwortet

Ungemein und wahnsinnig interessant

New York

Mein wunderschöner Junge

Turner

Und der Fluss antwortet

Flamingo

Zerbrochen, aber nichts verbrochen

Daniel – Somerset, England – Mai 2018

Er sitzt im Schneidersitz auf dem Fußboden der Stadtbibliothek, Abteilung Kochbücher; seine Hände umklammern ein Buch mit alten Rezepten, seine Tränen tropfen den Morsecode seiner Verlassenheit auf den ausgeblichenen Umschlag.

Er ist sanfter Regen.

Er ist ein schmutziges T-Shirt.

Er ist zwei Nächte auf einer Bank, eine Nacht in einem Hauseingang, zwei Nächte unter einem Baum, nach vielen Jahren Matratze und Bettzeug.

Das Buch in seinen Händen heißt einfach Obst. Es ist hart und schwer, ein Buch zum Benutzen und Weitergeben, unverwüstlich. Auf dem Umschlag ist ein Stillleben abgebildet: ein Tisch mit Decke, ein Tonkrug, ein Teller mit Äpfeln und Birnen.

Einen Moment lang kommt er sich vor wie ein Junge, der mit einer Bibel in der Hand in der Kirche sitzt.

Er ist noch nie in der Kirche gewesen.

Und sein eigener Küchentisch, sein Krug und seine Teller, wo sind die jetzt?

An diesem Morgen ist es ruhig in der Bibliothek. Stiller, papierner Zeitlupenraum.

Es ist niemand in der Nähe, doch Daniel Berry ist nicht allein. Die Körper dieser Bücher haben breite Rücken und buttrige Fingerabdrücke. Man kann schlechtere Gesellschaft haben als Köche und berühmte Küchenchefs, und er stellt sich vor, wie sie mit ihren Gaben vor ihm stehen: ein Becher starker Kaffee, Schalen mit Brühe und Nudeln, Brot und Flapjacks frisch aus dem Ofen.

Er schließt die Augen, aber das macht ihm Angst, und so öffnet er sie wieder.

Ihm ist, als wäre er im Schlafanzug draußen.

Manchmal kann man nichts anderes tun, als vollkommen stillzuhalten.

Er erinnert sich daran, wie er letztes Jahr vom Fahrrad gestürzt ist, wie er lange auf der Straße lag und sich nicht zu rühren wagte, voller Angst, dass es ihn schlimm erwischt haben könnte. Nach einer Weile fand er es fast angenehm, in den Himmel zu blicken und aus seiner Schockblase den Wolken zuzusehen.

Seine Reglosigkeit jetzt ist ganz ähnlich.

Komisch, was die Gedanken so machen. Wie sie von Küchenchefs zu Flapjacks, Schlafanzügen, Fahrradstürzen und Wolkengucken springen, ohne dass er auch nur einen Muskel bewegt.

Und er ist nicht tot. Das ist sein nächster Gedanke. Er ist nicht der Tote in der Bibliothek wie bei Agatha Christie.

Immerhin etwas, Daniel.

Nein, er ist ein warmer, lebender, feuchter Körper in einer öffentlichen Bibliothek. Er hat seinen nassen Sumpf hier reingeschleppt, und niemand hat ihn daran gehindert.

Als Junge war er oft in der Bibliothek. Manchmal kam seine Mutter mit, aber meistens setzte sie ihn dort ab, wenn sie Besorgungen machte – das war die Geschichte, die sie immer erzählte, eine Geschichte von Rechnungen, die bezahlt, Briefen, die zur Post gebracht, und Sachen, die auf dem Markt gekauft werden mussten. Wenn sie ihn auf dem Rückweg wieder abholte, war er der stolze Kurzzeitbesitzer eines Bücherstapels und hatte die Möglichkeit, seine Stunden zu füllen und der Rotte von Jungs aus dem Weg zu gehen, die Neuankömmlinge nicht mochten. Er hatte Angst vor diesen stämmigen Jungen, aber sie faszinierten ihn auch. Wie sie stundenlang auf einer Mauer sitzen konnten, träge und lässig und kurzärmelig in der Sonne. Bei ihnen sah das Zeitvertreiben einfach aus. Und das Jungesein auch.

Gerade wenn sie anfingen, ihm mit Freundlichkeit statt Misstrauen zu begegnen, ihm sogar ab und zu ein Wie geht’s, Dan zuriefen, wenn er vorbeiging, war es wieder an der Zeit weiterzuziehen.

Gibt es dort auch eine Bibliothek?, fragte er dann seine Mum.

Und Eve Berry antwortete: Ja, keine Sorge, ich habe mich erkundigt, da gibt es auf jeden Fall eine Bibliothek.

Was würde sie wohl sagen, wenn sie ihn jetzt sehen könnte? Wenn sie ihn jetzt riechen könnte?

Hauptsächlich riecht er nach Angst.

Er streckt die Hand aus und streicht über zwei Buchrücken, als wären sie ein Holzobjekt, das er gerade fertig geschliffen hat, gute Arbeit, glatt und sauber und ganz real.

Das hilft immerhin ein wenig, er kann es fühlen.

Er lauscht auf die Geräusche um ihn herum, versucht, etwas anderes wahrzunehmen als seine Gedanken.

Achtung, Sicherheitswarnung an alle Bibliotheksbesucher an diesem Morgen: Passen Sie auf, dass Sie nicht über den armseligen Kerl auf dem Fußboden in der Kochbuchabteilung stolpern oder in seine Kummerpfütze treten. Wir bemühen uns, den Schlamassel so schnell wie möglich zu beseitigen.

Wie hartnäckig der menschliche Geist sich gegen sich selbst wendet. Als Spezies halten wir uns für so hoch entwickelt und überlegen, doch in der Höhle unserer Gedanken dreschen wir alle mit Knüppeln auf uns ein.

Wieder kommen Tränen.

Er ist ein leerer Magen.

Er ist der Drang zu stehlen.

Er ist der nervöse Tick eines Jungen, ein Zucken der Nase, das längst verschwunden sein sollte.

Entschuldigen Sie, sagt eine Stimme.

Daniel sieht auf.

Neben ihm steht eine Frau. Sie geht in die Hocke, legt ihre Hand auf seine Schulter.

Ich will Ihnen nur sagen: Was auch immer Ihnen gerade Kummer bereitet, es wird nicht ewig andauern.

Er blickt sie nur mit offenem Mund an.

Vertrauen Sie mir, sagt sie.

Und das Gewicht ihrer Hand auf seiner Schulter.

Er wird es durch diese schmutzigen Kleider spüren.

Er wird es durch einen Schlafanzug spüren.

Er wird es durch ein sauberes T-Shirt, einen weichen Pullover spüren.

Er wird es durch alle Jahreszeiten spüren, während sie sich um ihn herum offenbaren, im Himmel und auf der Erde, in Blüte und Geburt, in Überwinterung und Erwachen, in der Luft, in Schnee und Sonnenlicht, in Beständigkeit und Vergehen, in Leuchten und Verblassen, in den vielen Gestalten eines alten Baums, in allem, was lebt.

Mit der Zeit verändert sich die Geschichte.

Manchmal ist sie in seiner Vorstellung gar keine Frau.

Sie ist eine stille Wasserfläche.

Sie ist ein kurzes Aufblitzen von Farbe.

Wie ein Eisvogel, da und schon wieder weg, den niemand außer ihm gesehen hat.

Somerset, England – Mai 2018

Ich fand ihn in der Bibliothek, mit Karohemd, im Schneidersitz.

Ich wollte mir einen Roman holen, etwas Hartes, Schnelles, Krasses, möglichst überwältigend.

Ich fand ihn in der Bibliothek, ein Häufchen aus Salz und blauen Augen.

Silbrig-braune Stoppeln auf sonnenverbrannter Haut.

Mausbraunes Haar, raue Hände.

Er starrte auf ein Buch, als wäre es eine Landkarte oder ein Foto von einem geliebten Menschen.

Doch der Mann war nicht das Erste, was mir auffiel.

Es war sein kleiner Gefährte, neben ihm auf dem schmutzigen Teppichboden.

Ein Porzellanschaf.

Er blickte immer wieder darauf, als würde es leise mit ihm reden, als führten sie ein wichtiges Gespräch.

Rae – Norfolk, England – April 2018

Anders als heute vor einem Jahr hat niemand mit Imprägnierspray, einem Feuerzeug und einem Mantel ein Feuer im Garten gemacht. Es hat keine körperliche Gewalt gegeben. Niemand hat jemand anderem die Vergangenheit um die Ohren gehauen, zumindest soweit Rae weiß. Für diese Familie ist es also vergleichsweise eine gelungene Party.

Und jetzt läutet eine Glocke. Eine alte Messingglocke, die einst einem Stadtschreier gehört hat. Und zu der ihre Mutter gerne greift, wenn sie Aufmerksamkeit will.

Wir sollen alle ins Wohnzimmer kommen, sagt eine Stimme.

Es ist hoffentlich nicht das, was ich denke, oder?, fragt eine andere Stimme.

Doch, leider. Ich hoffe, du hast deine Ohrstöpsel dabei.

Als Geschenk zu seinem achtzigsten Geburtstag wird Sherry für ihren Mann ihre spezielle A-cappella-Version von I Want to Know What Love Is von Foreigner singen.

Bitte nicht, nicht schon wieder, würde Leslie am liebsten sagen. Musst du das jedes Jahr an meinem Geburtstag singen? Es ist kein Geschenk, sondern eine Qual. Da war selbst der Große Schnitt amüsanter, falls du dich noch daran erinnerst. Ja, genau, das meine ich. Mir meine Samenleiter durchschneiden und versiegeln zu lassen war angenehmer, als hier vor unserer gesamten Familie zu stehen, mit deren Partnern und Ex-Freunden und all den anderen Leuten, die du immer einlädst, und gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Sie gucken mich an, du guckst mich an, alle gucken mich an – das ist die reinste Folter. Du weißt doch, dass ich eher von der ruhigen Sorte bin, Sherry, ich war schon immer zurückhaltender als du. Willst du wissen, was das perfekte Geschenk zu meinem Achtzigsten wäre? Dass du nicht I Want to Know What Love Is singst.

Bitte nicht schon wieder, würde Rae am liebsten sagen. Ehrlich, Mum, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber deine überaus spezielle Coverversion verfolgt mich regelrecht, sie überflutet mein Gehirn in den denkbar unpassendsten Momenten, zum Beispiel wenn ich versuche einzuschlafen oder wenn ich arbeite und, ob du’s glaubst oder nicht, manchmal sogar beim Sex, obwohl da in letzter Zeit nicht viel gelaufen ist. Du musst aufhören, es zu singen, Mum. Du musst endlich damit aufhören.

Doch wer wäre so egoistisch, einen gefangenen Vogel zum Schweigen zu verdammen, dessen Lied seine einzige Freiheit ist? Eine Frau, die sich wie ein gefangener Vogel fühlt, das sagt sie zumindest oft zu ihrem Mann.

Lass mich raus, lass mich raus, lass mich raus, schreit sie.

Schatz, du weißt doch, wo die Tür ist, sagt Leslie.

Ich muss nur mein Gefühl des Eingesperrtseins in Töne fassen, das genügt mir. Das allein ist schon befreiend.

Niemand sperrt dich ein, Liebes. Du kannst gehen, wann immer du willst.

Das Leben ist nicht nur Schwarz und Weiß, sagt Sherry. So einfach sind Gefühle nicht.

Für mich schon, sagt er.

Tja, vielleicht ist es genau das, was mich einengt.

Was?

Dass du so schlicht gestrickt bist.

Leslie lächelt und widmet sich wieder seinem Sudoku. Er ist ein geduldiger Mann mit einem nervösen Zucken im linken Ellbogen, wenn er gestresst ist. Einmal hat er, nachdem er bei der Post eine Dreiviertelstunde warten musste, versehentlich einem Teenager seinen Ellbogen gegen den Kopf gerammt und wurde der Körperverletzung bezichtigt.

Die Familie Marsh und ihre Gäste drängen sich in dem gemütlichen – sprich kleinen und fürchterlich vollgestellten – Wohnzimmer auf Sofa, Sesseln und Fußboden und warten.

Halb so wild, sagt Rae sich. Diese Zusammenkunft ist fast vorbei. Bald kann sie sich ihre Turnschuhe schnappen, in einen Bus springen und vergessen, dass es diese Leute gibt – bis zur nächsten unerwünschten Erinnerung.

Wer hat denn die Briefträgerin eingeladen?, fragt ihre Schwester.

Die Antwort geht in einer Power-Ballade unter.

Sherry legt einen theatralischen – man könnte auch sagen: experimentellen – Start hin, halb Song, halb gesprochenes Wort. Wenn Sie je eine A-cappella-Version von I Want to Know What Love Is gehört haben, werden Sie verstehen, wie seltsam faszinierend das ist: eine Explosion angestauten Gefühls, eine Preisgabe intimsten Seelenlebens, durchsetzt von gespenstischen Pausen.

Jetzt wird sie lockerer, groovt sich ein, gibt alles.

Sie singt von Herzschmerz, falls man das als Singen bezeichnen kann. (Kann man nicht.)

Rae blickt zu dem Fremden neben ihr, der offenbar weint. Sie muss lachen, nicht weil sie grausam oder gefühllos ist, sondern weil sie in diesem Moment traumatisiert ist.

Sie zieht ein sorgsam gefaltetes Taschentuch aus ihrer Jackentasche und hält es ihm hin.

Er heißt Rufus. Sie weiß nicht, ob es sein richtiger Name ist, wahrscheinlich nicht, aber wer weiß.

Rufus nickt langsam und sagt lautlos Danke, während er das Taschentuch auseinanderfaltet, als wäre es eine Geheimbotschaft. Er ist der Inbegriff von Ernsthaftigkeit, aber nicht die Art, die Rae an einem Menschen mag, die konzentrierte, aufmerksame Art. Seine Ernsthaftigkeit hat etwas Sentimentales, Verunsicherndes, wovon ihr übel wird.

Und jetzt kommt der beste beziehungsweise schlimmste Teil, je nachdem, wie gut man es erträgt, der Verzweiflung anderer beizuwohnen:

Mit einem breiten Lächeln streckt ihre Mutter die Arme aus und beginnt, mit den Händen zu wedeln, wie ein Popstar, der seine Fans zum Aufstehen und Mitsingen auffordert. Aber sie ist kein Popstar. Sie ist die fünfundsechzigjährige Sherry Marsh in ihrem bewährten Hosenanzug mit Seidenbluse, die auf einem purpurroten Teppich vor einem Gaskamin steht, dessen unechte Briketts zur Hälfte auf dem Fußboden liegen, die meisten davon vor Jahren zerkaut von einem Golden-Retriever-Welpen aus der Nachbarschaft. Der von ihrer Jacke verborgene Blusenärmel hat immer noch einen Riss von damals, als sie nach zu viel Portwein im Dog and Duck an einem Stechpalmenbusch hängen geblieben ist.

Wie immer reagiert niemand darauf.

Bis plötzlich Rufus aufspringt und mitzusingen beginnt.

Sherry strahlt. Sie ist die Glückseligkeit in Person. Seit 1988 hat sie ihre Familie und ihre Freunde jedes Jahr dazu eingeladen, aufzustehen und dieses Lied mit ihr zu singen. Ihr Lied. Und nie hat es jemand getan.

Es gibt verschiedene Arten, dies zu beschreiben, je nachdem, wie Sie das Leben sehen, ob Ihr Glas halb voll oder halb leer ist.

1. Törichte Hartnäckigkeit.

2. Wunderbare Hartnäckigkeit.

3. Ein rührendes Zeichen von Liebe und Optimismus.

4. Ein Hilfeschrei.

Und jetzt steht Rufus neben ihr und sieht ihr in die Augen.

Sie greift nach der Messingglocke und läutet sie, ohne mit dem Singen aufzuhören.

Manchmal ist ein Moment der Freude so überraschend, so überwältigend, da muss man einfach eine Glocke läuten, zumal wenn man eine zur Hand hat.

Das Wort Kakophonie trifft es nicht richtig. Misstönend ebenso wenig. Es ist unmöglich zu beschreiben, wie wenig Sherrys Gesang mit dem Original von Foreigner zu tun hat, wie durch diesen Freudenausbruch in ihrer Stimme etwas Rohes anklingt, das einem regelrecht Angst machen kann – und das Ganze begleitet vom Läuten dieser alten Glocke und Rufus’ übereifrigem Bariton …

Rae muss an den riesigen Kopfhörer denken, den sie als Kind oft stundenlang getragen hat, um alle auf Abstand zu halten, den Stecker in der Tasche ihrer Kordhose versenkt. Sie hat diesen Kopfhörer geliebt, und die Kordhose auch – sie war goldfarben, mit einem viereckigen Flicken auf dem linken Knie, den Eve Berry, die Freundin ihrer Mutter, ihr daraufgenäht hatte. Eve hatte versucht, eine Wonder Woman auf den Flicken zu sticken, und ja, diese Superheldin auf dem Breitkord hätte im Prinzip jede beliebige Frau mit langen braunen Haaren sein können, aber für Eve und Rae war sie Wonder Woman, und das war alles, was zählte.

Sticken ist eine unterschätzte Kunstform, denkt Rae. Sie ist sehr geschickt im psychologischen Geländefahren, nutzt jeden Seitenweg, der sich ihr bietet, denn wie sonst sollte sie Momente wie diesen überstehen? Das ist viel besser, als den furchtbaren Gefühlsmix zu ertragen, den ihre Mutter in ihr auslöst: Ekel, Angst, Mitleid und Verachtung, eingerollt in die schäbigste Art von Liebe, und das ist nur die Vorspeise.

Rae sieht zu dem seltsamen Duo, das vom ursprünglichen Song abgewichen zu sein scheint, die Köpfe in dissonanter Anarchie in den Nacken geworfen.

Sie wendet den Blick ab, betrachtet stattdessen das Bild, das an der Wand hängt, eines der wenigen Dinge in diesem Haus, die sie tatsächlich mag. Es zeigt eine blaue Küche, ein helles Fenster und einen langen Tisch. Auf diesem Tisch liegen frisches Brot, Butter, Käse und Obst. Daneben steht ein Krug mit Wasser und eine Flasche mit etwas Spanischem, Süßem, zutiefst Alkoholischem; so hat Rae es zumindest immer gesehen. Es ist ein Stillleben, aber für sie ist es alles andere als still. Als Kind hat sie oft stundenlang auf dem Sofa gelegen und dieses Bild angeschaut, sich vorgestellt, wie alle möglichen Leute in die Küche kommen, Kerzen anzünden und sich um den Tisch versammeln. Diese Leute aßen und tranken bis in die frühen Morgenstunden. Sie sprachen über all die Vorteile der menschlichen Existenz, wie Kino, Meer und Wälder. Sie rückten zusammen, verliebten sich.

Sie merkt, dass Pauline zu ihr sieht. Ist das Hass in ihrem Gesicht? Ach, komm. Woher hätte sie denn wissen sollen, dass Rufus mitsingen würde? Dass er ihre Mutter anfeuern und bestärken würde?

Ihre Schwester macht irgendwelche Mundbewegungen.

Was?, fragt Rae tonlos zurück.

WAS SOLL DER SCHEISS?, brüllt Pauline.

Rae ist fest entschlossen, sich bei Fremde auf Zeit – oder kurz FaZ –, wo sie Rufus gebucht hat, zu beschweren. Schließlich hat sie nicht um einen extrovertierten Sänger gebeten, der sich so sichtbar wie nur möglich macht, sondern ausdrücklich um eine Heimtextilie. Ich brauche diesmal einen Mann, der mich zu einer Familienfeier begleitet, für einen Nachmittag und Abend, hat sie geschrieben. Er soll für mich so eine Art Kissen sein. Sie wissen doch, dass Stoffe die Geräusche in einem Raum schlucken? Nun, ich möchte, dass er den akustischen Ausstoß meiner Familie absorbiert, quasi wie ein Schalldämpfer. Das sind die Vorgaben. Ich hoffe, Sie verstehen, was ich meine, und freue mich auf Ihre Rückmeldung. Mit besten Grüßen, Rae Marsh. PS: Die Verbesserungen, die Sie an Ihrer App vorgenommen haben, sind ausgezeichnet, vielen Dank.

Es verschaffte ihr Vergnügen und ein seltenes Gefühl von Wichtigkeit, das Wort Vorgaben zu tippen, jemandem Anweisungen zu geben. Und obendrein hatte sie dadurch ein Geheimnis gegenüber ihrer Familie, eine weitere Barriere, die den Abstand, und damit ihre Schutzzone, vergrößerte.

Rae ist süchtig nach der Fremde-auf-Zeit-App. Sie findet es unwiderstehlich, sich einen Fremden zu buchen, der sich neben sie ins Kino setzt oder mit ihr durch ein Arboretum geht. Am besten gefällt ihr daran, dass der Druck wegfällt. Sie muss sich nicht anstrengen, nicht geistreich und witzig sein, sich nicht fragen, ob der andere vielleicht mehr will – und falls nicht, warum nicht. Aber vor allem gibt es dabei keinen Bumerangeffekt; das ist Raes Wort dafür, was passiert, wenn man jemand Neues kennenlernt. Du gibst etwas über dich preis, in dem Glauben, dass diese Offenbarung zu diesem Augenblick, zu diesem speziellen Gespräch gehört, und wenn ihr euch das nächste Mal trefft, dann fliegt es dir – PENG – um die Ohren, weil dein neuer Freund, deine neue Freundin plötzlich wieder davon anfängt. Jemand Neues kennenzulernen – die Kontinuität, die Unvorhersehbarkeit – ist beunruhigend, um es mal vorsichtig auszudrücken. Und bei FaZ gibt es keine Kontinuität. Keinen Bumerang. Die Person, die Rae bucht, ist einfach ein Körper neben ihr, während sie ihr Ding macht, den sie wegschicken kann, wenn sie will, und nie wiedersieht.

Du kannst jetzt gehen, sagt Rae im Flur zu Rufus.

Er sieht auf die Uhr. Wirklich? Ich wollte nur kurz zur Toilette. Ich muss noch nicht weg.

Keine Sorge, ich bezahle die volle Zeit. Genau genommen habe ich schon online bezahlt, also –

Aber ich bleibe gerne noch.

Geh einfach, sagt sie.

Warum? Habe ich dich enttäuscht?

Sie erwägt zu antworten, ja, du bist genauso verrückt wie meine ganze Familie, ich weiß gar nicht, warum ich so einen Aufwand betrieben habe. Wenn ich’s recht bedenke, will ich mein Geld zurück.

Nein, alles in Ordnung, sagt sie. Aber bitte geh jetzt.

Ist dir bewusst, dass du kein einziges Mal gelächelt hast, seit wir hier angekommen sind?, fragt er.

Wie bitte?

Es ist mir egal, wenn du mir eine schlechte Bewertung gibst. Manche Leute brauchen einfach jemanden, der ihnen den Spiegel vorhält. Du hast eine wirklich interessante Familie, und trotzdem bist du die ganze Zeit muffelig. Ich wünschte, meine Familie würde singen.

Was weißt du denn über meine Familie? Denkst du, zu einer einzigen Party zu kommen verrät dir alles?

Kleiner Streit unter Liebenden?, fragt Pauline, die sich an ihnen vorbeizwängt, um sich noch ein Glas Bacardi-Cola zu holen.

Er ist nicht mein Freund, erwidert Rae.

Allerdings nicht, sagt Rufus. Kein Wunder, dass du jemanden dafür bezahlen musst, damit er dich begleitet.

Was dann passiert, wird Rae noch jahrelang verfolgen, trotz aller Verdrängungsversuche. Zahllose Male hat sie miterlebt, wie die Mitglieder ihrer Familie wütend geworden sind, Türen zugeknallt, lautstark gestritten, sich wichtiggemacht und herumgezetert haben – alle, bis auf ihren Vater. Die ganze Zeit war sie überzeugt, dass sie anders ist. Ein schwarzes Schaf auf einer separaten Wiese, würdevoll und intelligent, das besseres Gras frisst. Eine Frau, die wenig trinkt und ihre Gefühle im Griff hat. Die niemals rüpelhaft oder gewalttätig ist. Die niemals auf die Idee käme, die Hand zu erheben und im Flur ihres Elternhauses einen Fremden zu ohrfeigen –

Beide taumeln erschrocken zurück.

Großer Gott, sagt Rufus, die Hand auf seiner linken Wange.

Scheiße, sagt Rae. Das tut mir leid. Ich habe noch nie jemanden geschlagen, ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Es war wie ein Reflex. Es tut mir wirklich furchtbar leid.

Jetzt weint Rufus, murmelt, dass er diesen verdammten Job hasst, dass er besser bei Sainsbury’s geblieben wäre, warum muss immer alles schiefgehen.

Rae ist ein offener Mund, eine zugeknöpfte Strickjacke, ein gesprungener Spiegel.

Rufus war voller Gesang, und jetzt ist er verstört.

Wie sich das Leben in einer Sekunde verändern kann.

Du darfst mich nicht verurteilen, sagt sie.

Was?

Du musst neutral und gleichgültig sein.

Gleichgültig?

Ja. Das bedeutet –

Ich weiß, was das bedeutet.

Du hast mich beleidigt.

Rechtfertigt das Gewalt?

Gewalt kann man das ja wohl nicht nennen.

Wenn ich eine Frau wäre, und du wärst ein Mann, würdest du es dann Gewalt nennen?

Rae verzieht das Gesicht. Weil er recht hat.

Brauchst du eine Umarmung?

Eine Umarmung?

Sie nickt.

Nein, brauche ich nicht, sagt er, tritt aber trotzdem auf sie zu und schluchzt an ihrer Schulter.

Sherry kommt aus dem Wohnzimmer und sieht, wie ihre Tochter einen Mann umarmt. Was für ein Anblick! Wie die Morgensonne, die zwischen ihren schlecht schließenden Vorhängen hindurchscheint. Wie die Entdeckung einer wertvollen Antiquität, die jemand auf dem Flohmarkt ahnungslos für fünfzig Pence verkauft. Sie eilt zu ihnen und wirft die Arme um Rufus.

Und dann sind sie zu dritt.

Gruppenumarmung, sagt Sherry.

Herrgott noch mal, sagt Rufus und fährt herum.

Oh, Sie weinen ja, sagt Sherry. Warum denn? Was hat meine Tochter Ihnen getan?

Ich fürchte, sie hat mich geschlagen.

Rae?

Ganz recht.

Unsere Rae?

Sie hat mir eine Ohrfeige verpasst.

Und deswegen weinen Sie? Was sind Sie denn für ein Mann? Gütiger Himmel, am liebsten würde ich Ihnen gleich noch eine verpassen. Sie haben es geschafft, Leidenschaft in einer Frau zu wecken, die normalerweise so fade ist wie ein Butterkeks, und da fangen Sie an zu heulen?

Er weckt keine Leidenschaft in mir, sagt Rae.

Ach, sei still, sagt Sherry.

Sag mir nicht, dass ich still sein soll.

Ihr jungen Leute weint wegen allem und jedem. Siehst du mich vielleicht weinen? Dabei würde ich mir manchmal auch gerne die Augen ausheulen.

Schweigen.

Rae und Rufus sehen sich an.

Ich mag Butterkekse, sagt Rufus.

Danke, sagt Rae. Dann stockt sie und blickt auf die Wand, auf die fliederfarbene Velourstapete, die sich ablöst. Warum hat sie ihm gerade gedankt? Du tust es schon wieder, Rae. Ordnest dich unter. Du bist kein verdammter Butterkeks!

Sie ruft ein Taxi, und auf dem Weg in die Stadt besteht Rufus auf einem Zwischenhalt bei McDonald’s, damit sie ihm als Wiedergutmachung ein Happy Meal kaufen kann. Mit Junkfood hat sie sich noch nie entschuldigt. Das Taxi setzt ihn fünf Straßen von seiner Wohnung entfernt ab, weil er seine Privatsphäre wahren will. Womöglich, sagt er, taucht sie sonst mitten in der Nacht auf und verpasst ihm noch eine Ohrfeige. Wer weiß, vielleicht hat sie ja ein Problem, vielleicht ist sie eine zwanghafte Ohrfeigerin. Sie muss lachen und steckt ihm zwei Zehn-Pfund-Scheine in die Jackentasche, was sich verschwenderisch und aufregend anfühlt, als hätten sie den Abend mit etwas viel Anrüchigerem als einem Familienfest zugebracht. Betrachte es als Trinkgeld, sagt sie, während der Taxifahrer sie mit großen Augen im Rückspiegel beobachtet. Du machst deswegen doch keinen Ärger, oder?, fragt sie. Es tut mir wirklich sehr leid. Tja, das wirst du dann wohl abwarten müssen, erwidert Rufus, der das Gefühl von Macht genießt, das Gefühl, mehr zu wissen als sie, sie in der Hand zu haben. Dann steigt er mit seinem Happy Meal aus, und sie sitzt allein auf der Rückbank des Taxis. Alle Achtung, sagt der Taxifahrer. Wie bitte?, entgegnet sie. Schön für Sie, von wegen Frauenbewegung und so.

Zu Hause duscht Rae und zieht sich ein altes T-Shirt an, dann kocht sie sich einen Kamillentee und liest laut vier Gedichte, um sich zu beruhigen.

Ab morgen wird sie versuchen, das mit der Ohrfeige zu vergessen, und ihre Familie sowieso. Sie sind einfach Leute, die sie kennt und mit denen sie, bis sie achtzehn war, zu viel Zeit verbracht hat. Sie haben wenig mit ihrem täglichen Leben zu tun. Sie definieren und repräsentieren sie nicht. Und es ist höchst unwahrscheinlich, dass sie jemals wieder einen Menschen schlägt – es war ein Ausrutscher, weiter nichts, ein unwillkürliches Fehlverhalten, vollkommen untypisch und bestimmt durch irgendeinen Mangel hervorgerufen. Sie wird zum Arzt gehen und um eine Blutuntersuchung bitten, ein gutes Multivitaminpräparat kaufen und wieder Porridge zum Frühstück essen (sie ist sicher, dass sie ruhiger war, als sie noch Porridge gegessen hat). Und sie wird sich den größten Kopfhörer kaufen, den sie finden kann, mindestens so groß wie der, den sie früher hatte, und ihn so oft wie möglich aufsetzen.

Während sie einzuschlafen versucht, denkt sie an diesen alten Kopfhörer. Oft hat sie ihn in die riesige Stereoanlage im Wohnzimmer eingestöpselt und sich danebengesetzt, aber meist hat sie den Stecker einfach in ihrer Hosentasche versenkt. Diese Kordhose war genial, denkt sie. Eve hat die Wonder Woman so toll hingekriegt. Eve hat auch Kekse gebacken und sie in einer Zellophantüte mit Schleife rübergebracht. Einmal hat sie sogar einen Rock für Raes Mutter genäht. Sie war vernünftig und großzügig, ganz anders als all die anderen Freundinnen und Nachbarinnen danach, die Zeit mit Sherry Marsh verbracht haben. Das endlose Gegacker, die Piccolo-Abende, die Dessous-Partys.

Rae zieht sich die Decke über den Kopf.

Sie stellt sich vor, dass sie auf einer kleinen Insel lebt, wo sie ihre eigenen Kleider und Kerzen herstellt, ihr eigenes Gemüse anbaut und eine Katze namens Esther hat. Die Insel ist schwer zu erreichen, und jeder Besucher, der mit dem Boot kommt, ist schon von Weitem zu sehen. Niemand kann unangekündigt oder uneingeladen dort auftauchen.

Diese Insel heißt Petula, und Rae besucht sie schon, solange sie denken kann. Sie ist Teil ihres Wesens, ihrer Landschaft.

Wer sonst noch von diesem Ort weiß? Eigentlich niemand. Nur Eve Berry hat sie davon erzählt, weil sie absolut vertrauenswürdig war und ein Geheimnis für sich behalten konnte, das wusste man bei Eve einfach.

Sie waren am Strand, bei einem ihrer Tagesausflüge. Seit ihre Mutter mit Eve befreundet war, gab es regelmäßig Ausflüge ans Meer. Sie, ihre kleine Schwester Pauline und Daniel, Eves Sohn, wurden auf den Rücksitz von Eves altem Mini verfrachtet. Es war heiß, es war eng, es war der Sommer 1985. Eve hatte ihnen Süßigkeiten für die Fahrt besorgt, eine Papiertüte voll mit Brause-Ufos, Zitronenbonbons und riesigen weißen Schaummäusen.

Dann waren alle im Wasser, außer Rae und Eve, die auf einer Decke lagen. Eve war angenehme Gesellschaft. Sie war aufmerksam und ausgeglichen, sprich: Ihre Stimme und ihre Stimmungen blieben immer auf einer Ebene; so sah Rae es zumindest. Stimme und Stimmungen ihrer Mutter hingegen waren unvorhersehbar, konfus, ein wildes Durcheinander. Rae fühlte sich in ihrer Gegenwart immer angespannt und unordentlich.

An dem Nachmittag am Strand trug Eve einen gelben Bikini und eine graue Strickjacke. Die Jacke sah so weich aus, dass Rae sie am liebsten berührt hätte.

Kann ich dir was ganz Persönliches sagen?, fragte sie.

Natürlich, antwortete Eve.

Rae rückte ein Stückchen näher. Sie sah zu ihrer Mutter, die draußen im Meer schwamm, dann wieder zu Eve. Ich habe eine Insel, zu der ich oft fahre, sagte sie.

Eine Insel, sagte Eve.

Hmm.

Das ist schön. Ist sie hier in der Nähe?

O nein, ganz weit weg.

Verstehe. Und ist es deine Insel?

Wie meinst du das?

Gehört sie dir?

Ja.

Du hast also die ganze Insel für dich.

Genau.

Klingt toll. Wie heißt sie denn?

Sie hat keinen Namen. Ich habe noch nie daran gedacht, ihr einen zu geben.

Macht nichts. Es muss ja nicht alles einen Namen haben, sagte Eve.

Rae dachte darüber nach. Sie hörte auf die Musik, die aus dem kleinen Radio neben ihnen kam. Eine Frau sang davon, in die Stadt zu gehen, weil es dort schön ist und es einem dann besser geht.

Wer singt das?, fragte sie.

Eve antwortete nicht, was ungewöhnlich war. Sie blickte aufs Meer, sah zu, wie Raes Mutter sich mit den Wellen auf und ab bewegte, während Pauline und Daniel in der Nähe herumplanschten, jeder für sich allein, zwei Sechsjährige, die aussahen, als wären sie sich noch nie begegnet.

Eve?, sagte Rae.

Entschuldige, was hast du gesagt?

Wer singt dieses Lied?

Petula Clark, glaube ich.

Petula Clark. Das ist ein hübscher Name. Ungewöhnlich.

Ja, nicht? Klingt wie eine Blume.

Rae lächelte. Dann heißt meine Insel jetzt Petula, sagte sie. Aber erzähl niemandem davon, ja? Niemals. Versprichst du es mir?

Eve lachte, auf so zugewandte, nette Weise, dass man sich eingeladen fühlte einzustimmen. Was Rae auch tat. Und sie kam sich dabei sehr erwachsen vor. Sie wusste gar nicht genau, warum sie lachten, nur dass es etwas mit der Freude über die Musik zu tun hatte, über Geheimnisse und darüber, Dingen einen Namen zu geben.

Gefällt mir sehr, sagte Eve. Und keine Sorge, ich verrate nichts.

Dann sah sie wieder zum Meer und fragte Rae, ob sie Lust habe, schwimmen zu gehen. Und es war vorbei. Ein perfekter Augenblick, eine Ahnung vom Erwachsensein, davon, wie es sein könnte, eine Frau wie Eve zu sein. Rae war neun Jahre alt, aber für eine Sekunde fühlte es sich so an, als wäre sie jedes Alter, das sie jemals sein würde. Als würde ein ganzes Leben durch sie hindurchblitzen. Sie lag auf einer Decke im Sand und fühlte sich vollkommen nackt.

An diesem Abend, dreiunddreißig Jahre später, als sie in ihrem eigenen Bett in ihrer eigenen Wohnung liegt, sind Raes Gedanken mit diesem und jenem beschäftigt. Über dem Meer liegt Nebel, der Petula verbirgt.

Die Insel. Ihr Glücksbringer, ihre Gefährtin, ihre Verteidigung.

Ihre Leiter hinunter in den Schlaf, ihre kindliche Marotte.

(Wenn kindlich bedeutet: ein sauberes Meer, ein Leuchtturm, ein Picknick auf einem Felsen.)

Schließlich klaren die Erinnerungen auf, und ihr Atem wird tiefer.

Sie ist da. In ihrem Holzhaus auf der Insel. Esther, ihre schwarze Katze, die ihr wie ein treuer Hund überallhin folgt, schläft auf ihrem Schoß.

Rae beobachtet von ihrem Stuhl am Fenster aus die Vögel, und gerade als sie ebenfalls kurz vorm Einschlafen ist, bemerkt sie etwas. Auf der Kommode steht ein gerahmtes Foto, das vorher nicht da war. Dieses Haus auf Petula verändert sich natürlich im Lauf der Zeit, wie alle Häuser; es hat Gemälde gegeben, Skizzen, sogar einen Wandteppich. Aber nie ein Foto. Denn Rae kommt hierher, um andere Menschen zu vergessen, nicht, um an sie erinnert zu werden.

Wie anstrengend es manchmal ist, selbst in einem Traum, von einem Stuhl aufzustehen und durch einen Raum zu gehen.

Noch bevor Rae bei dem Foto ankommt, weiß sie, wer es ist. Sie erkennt den Bikini und die Strickjacke, die aufmerksame Kopfhaltung der Frau.

Und Eve wiederzusehen fühlt sich an wie der Friede selbst.

Die ganze Nacht träumt sie von Freiheit.

Daniel – Somerset, England – Mai 2018

Er ist zwei Nächte auf einer Bank, eine Nacht in einem Hauseingang, nach vielen Jahren Matratze und Bettzeug.

Da steht ein tragbares Radio auf einer Mauer in einer Straße in einem Vorort, durch den Daniel alleine geht.

Als er bei dem einsamen Radio ankommt, fragt er sich, wem es gehört und warum es hier zurückgelassen worden ist, sogar eingeschaltet. Stört der Lärm denn niemanden? Komisch, dass keiner es im Vorbeigehen gestohlen hat. Er erwägt, es selbst mitzunehmen, aber es wäre nur ein Teil mehr zu tragen. Vielleicht könnte er es gegen eine Mahlzeit eintauschen, wenn er der Typ dafür wäre. Er stellt sich vor, wie ein Mann mit einem tragbaren Radio in einen Fish-and-Chips-Imbiss geht und mit paniertem Dorsch wieder herauskommt. Doch er ist nicht dieser Mann.

Er stellt seinen Rucksack auf dem Gehweg ab und hört zu.

Eine Frau spricht über das Wetter. Am Wochenende kann die Temperatur in Teilen von England bis auf 27 Grad ansteigen, sagt sie. Das ist wärmer als an der französischen Riviera oder an der Costa del Sol. Tatsächlich könnte dies der heißeste Mai seit Beginn der Aufzeichnungen werden.

Die Frau spricht über den Verkehr auf den Straßen; Tausende könnten sich auf den Weg ans Meer machen.

Sie sagt etwas von Shorts und Flipflops, dass es Zeit ist, sie auszugraben.

Daniel stellt sich vor, wie überall Leute mit Spaten darangehen, ihre Sommersachen aus der trockenen Erde zu buddeln.

Und vergessen Sie die Sonnencreme nicht, sagt sie.

Er hat keine Sonnencreme und auch nicht vor, welche zu kaufen. Sie gehört für ihn nicht mehr zu den unbedingt notwendigen Dingen. Ihm geht durch den Kopf, dass man Leute, die kein Zuhause haben, mit Tee und Kaffee, Sandwiches und Suppe versorgt, aber gibt ihnen irgendwer Sonnencreme?

Ihnen, Daniel?, sagt die Frau im Radio. Hast du selbst nicht die letzten drei Nächte auf einer Bank und in einem Hauseingang verbracht?

Danke, dass Sie mich daran erinnern, sagt Daniel. Seine Nase zuckt.

Im Ernst, wie lange willst du denn noch hier herumwandern? Die anderen fahren ans Meer, Daniel. Sie füllen ihren Kühlschrank und kaufen Sonnencreme. Ich mache mir Sorgen, weil du keinen Plan hast und nicht mal imstande bist, einen auszubrüten.

Ausbrüten? Sie tun gerade so, als wäre es ein Ei.

Na ja, ist es gewissermaßen doch auch, sagt sie. Es ist der Beginn eines neuen Lebens. Damit ein Plan entsteht, musst du eine Weile darüber brüten, ihm Zeit geben, sich zu entwickeln.

Sie sind aber eine komische DJane, sagt er.

Ich ziehe die Bezeichnung Radiosprecherin vor, erwidert sie.

Er hört Motorenlärm und dreht sich um. Hinter ihm hält ein grauer Lieferwagen mit der Aufschrift KLEMPNEREI ALAN DAVIS, und ein Mann steigt aus.

Tach auch, sagt er.

Hallo, sagt Daniel.

Alan Davis schnappt sich das Radio, verdreht die Augen, sagt, er würde noch seinen Kopf vergessen, wenn er nicht angeschraubt wäre, und das Schätzchen war nicht billig, ist praktisch unkaputtbar, der Akku hält ewig, und ich wär todunglücklich, wenn ich es verlieren würde, na ja, vielleicht nicht todunglücklich, aber es wär doch verdammt schade, sagen wir mal so.

Es hat einen guten Klang, sagt Daniel. Warm und bassig.

Das scheint Alan zu freuen. Du bist mein kleiner Arbeitskumpel, stimmt’s?, sagt er zu dem Radio. Nicht zu fassen, dass ich es beim Einladen schon wieder vergessen hab, das passiert mir dauernd.

Daniel hat Bauchschmerzen; es fühlt sich ein bisschen wie Seitenstiche an, aber das ist es nicht. Und die Blase an seinem Fuß tut wieder weh. Er fragt sich, ob Alan Davis Schmerztabletten in seinem Lieferwagen hat. Ist es seltsam, einen Fremden danach zu fragen? Sieht dieser Klempner ihm an, dass er seit vier Tagen ziellos herumläuft?

Gestern ist Daniel per Anhalter gefahren. Das hat er noch nie getan, er hat gar nicht damit gerechnet, dass tatsächlich jemand anhält, wenn er den Daumen rausstreckt, aber so war es. Er ist mit einem Fremden zu einer Raststätte gefahren, einer von denen, wo er früher haltgemacht hat, als er selbst noch einen Lieferwagen mit seinem Namen drauf besaß.

DANIEL BERRY. MALER & LACKIERER

Diese Raststätte ist nicht nur eine Tankstelle mit Kiosk. Es gibt einen richtigen Laden mit frisch gebackenem Brot und lokalen Spezialitäten, Designer-Mitbringseln und sogar Klamotten – aber vor allem gibt es dort eine Dusche.

Er stand lange unter dem warmen Wasser.

Dann kaufte er sich einen Becher Tee und ein Wurstbrötchen, und im Mülleimer fand er ein halbes Schinkensandwich, noch in der Verpackung, das er sich diskret einsteckte und dabei so tat, als müsste er seine Stofftasche säubern.

Während er die Krümel herausschüttelte, sie auf links und wieder zurückdrehte, starrte er auf die Zeichnung, die darauf abgebildet war: ein Stapel Bücher, eine Tasche und darunter die Worte: David Hockney – A Bag Full of Books.

Der Anblick dieser Tasche verstörte ihn. Sie war ihm vertraut und zugleich fremd, wie etwas, das ihm gehört hatte, als er jemand anders gewesen war. Sie war seine und doch nicht seine, eine Stofftasche, die er im Strand Bookstore in New York gekauft oder nicht gekauft hatte, während eines Kurzurlaubs, den er dort verbracht oder nicht verbracht hatte. Bis vorige Woche hatte er sie immer in seine Jackentasche gesteckt, wenn er einkaufen ging. Er hatte sie gekauft, weil er David Hockney liebte, vor allem die Swimmingpool-Bilder, die ihn an etwas erinnerten, das er nicht in Worte fassen konnte, vielleicht an ein paralleles Leben; so hatte er es Erica beschrieben. Ein paar Monate später war sie nach dem Besuch einer Verkaufsausstellung für erschwingliche Kunst mit einem Bild von einem Künstler aus der Gegend nach Hause gekommen – ein Mann, der in einen Pool springt, und eine Frau auf einer Sonnenliege. Für dich, hatte sie gesagt. Ich weiß, es ist kein Hockney, aber ich dachte, wir könnten es ins Schlafzimmer hängen, dann sehen wir es, wenn wir im Bett liegen.

Erica Yu, Daniels Ex-Freundin. Australierin, schön, kratzbürstig. Eine eigentümliche Mischung aus albern und humorlos. Erica ist nicht länger im Bild, und doch ist sie das ganze Bild, jeder herrische Pinselstrich, mit dem sie ihn in eine Ecke malt.

Während er seinen Tee trank, war Daniel froh, dass er an der Raststätte ausgestiegen war. Ausnahmsweise hatte er mal eine gute Entscheidung getroffen. Das Kommen und Gehen war tröstlich. Er fühlte sich entspannt, nicht anders als all die anderen, die hier einen Zwischenstopp einlegten. Er saß auf dem Rasen, blickte über die Felder und war einfach ein Mann auf der Reise, der eine Pause einlegte, ein Mann, der sich Zeit ließ. Es gab keinen Grund zur Panik.

Unfähig, das Ordinäre Ihrer derzeitigen Lage auch nur zu begreifen? Die emotionale Fäulnis, den Schmutz? Sind die Zeiten schwer, kommen Sie her, zu unserer Raststätte! Von 6.00 bis 22.00 Uhr sind wir ganz für Sie da. Gehen Sie spazieren, setzen Sie sich ans Wasser, trinken Sie einen Tee und essen Sie einen verdammt guten Kuchen. Alles wird gut.

Vorsichtig setzte er ein kleines Porzellanschaf neben sich ins Gras. So, bitte, sagte er.

Danke, sagte das Schaf.

Später fuhr er per Anhalter in die kleine Stadt zurück, die ihm jetzt nichts mehr zu bieten hatte außer Erinnerungen. Er war wie eine Katze, die in ihr altes Zuhause zurückkehrt, nachdem ihre Besitzer weggezogen sind, und nun Geistern um die Beine streicht. Aber Daniel ist nicht so mutig wie eine Katze. Er fühlt sich schwach und feige, kann sich nicht dazu durchringen, zu dem kleinen Cottage zu gehen und zu sehen, wie andere Leute darin herumlaufen, die Wände streichen, es sich schön machen. Stattdessen läuft er durch die Straßen, lässt sich von Fremden mitnehmen und schläft draußen in der vollkommenen, unheilvollen Nacht, mit dem Wetter und dem Mond, den Füchsen und dem Müll, den unheimlichen Echos und den Rangeleien von Betrunkenen.

Sieh der Wahrheit nicht ins Auge, Daniel. Tu’s nicht tu’s nicht tu’s NICHT.

Alles okay?, fragt eine Stimme.

Bitte?

Alan Davis steht mit einem Fuß in seinem Lieferwagen und mit einem auf der Straße. Wollte nur wissen, ob mit Ihnen alles in Ordnung ist, sagt er.

Ja, danke, sagt Daniel.

Warten Sie auf jemanden?

Kann schon sein. Aber eigentlich nicht.

Na dann, sagt Alan, der Komplikationen ahnt, auf die er keine Lust hat.

Daniel sieht zu, wie der Lieferwagen davonfährt. Er steht neben der Mauer und blickt auf die Stelle, wo das Radio war. Seine Abwesenheit schmerzt. Noch etwas, das weg ist. Es war so warm und bassig. Und da erkennt er, wie extrem wichtig ein Radio ist, es kann ein Anlass sein, stehen zu bleiben, ein Landeplatz, etwas, woran man sich festhalten kann; als würde man in der Dunkelheit die Hand ausstrecken, und eine Stimme sagt: Ich bin da, ich bin da. Ein tragbares Radio ist ein verdammtes Wunder, denkt er. Jeder Obdachlose sollte nicht nur ein Dach über dem Kopf bekommen, sondern auch ein kleines Radio, Batterien und einen Kopfhörer. Außer Nahrung, Wasser und einem Unterschlupf brauchen wir auch eine freundliche Stimme.

Daniel lauscht. Alles, was er jetzt hören kann, ist leises Verkehrsrauschen, ein Fenster, das geschlossen wird, der Schrei einer Möwe. Keine einzige menschliche Stimme, obwohl überall um ihn herum Leute sein müssen. Sie sind in ihren Häusern, kochen, waschen ab, bringen Kinder ins Bett, sehen fern, lesen. Sie putzen, machen sich Sorgen, telefonieren, streicheln Haustiere. Sie fühlen sich hässlich oder attraktiv. Sie vögeln, schnell und langsam, liebevoll und achtlos. Die meisten von ihnen starren auf Bildschirme. Sie versuchen, Sätze zu formulieren. Vergleichen sich mit anderen. Fragen, ob jemand ihre Brille gesehen hat.

Daniel ist auch ziemlich sicher, dass genau in diesem Moment jemand ganz in der Nähe ein frisches Laken aufzieht, Kissen aufschüttelt, eine weiche Decke über ein Bett wirft.

Er setzt sich auf die Mauer und malt es sich aus, eine ganz alltägliche, unbedeutende Szene, aber nicht für ihn. Wenn er sein Bett frisch bezogen hat, war es für ihn stets ein Augenblick von Liebe und Glück. Seine uralte Daunendecke, weich und abgenutzt, wäre das Erste gewesen, was er bei einem Brand gerettet hätte.

Im Ernst?, sagte Erica, die ihn danach gefragt hatte. Die würdest du dir schnappen, wenn es hier brennt? Deine alte Bettdecke?

Ja, sagte er.

Das ist schräg, sagte sie.

Findest du? Nur weil du etwas anderes nehmen würdest?

Ich würde meinen Laptop und meine alten Fotos nehmen, sagte sie. Fotos kann man nicht ersetzen. Eine neue Decke kriegst du überall.

Ich besitze keine Fotos, sagte er. Außerdem war sie das Erste, was ich mir gekauft habe, nachdem ich all die Monate im Auto geschlafen hatte. Ich weiß noch genau, wie es sich angefühlt hat, als ich das Bett bezogen habe und reingeklettert bin. Das war schon ein besonderer Moment.

Er wandte den Kopf, um sie anzusehen, wollte, dass sie eine Frage stellte, Raum für weitere Einzelheiten schuf, Raum, in dem er sich für sie entfalten konnte. Wie war es denn? Wie hat es sich angefühlt? Doch solche Fragen stellte Erica nicht. Das war ihm schon zu Beginn ihrer Beziehung aufgefallen, dass ihre Fragen sich meist auf den Alltag bezogen – wie sein Tag gewesen war, was er zum Tee haben wollte, wohin sie am Wochenende fahren würden. Oder sie fragte in durchaus freundlichem Tonfall, warum er etwas auf diese Weise gesagt oder getan hatte; sie war die Königin der oberflächlichen Fragen. Und manchmal sehnte er sich nach einem tiefergehenden Interesse. Er wollte, dass sie fragte, wie er als Kind gewesen war, warum er nach dem Schulabschluss aus Wales fortgegangen war, warum er fast ein halbes Jahr in seinem Auto geschlafen hatte. Stattdessen nahm sie seine Geschichte auf, als wäre es eine Reihe von Fakten, Überschriften, Unterpunkten – keine weitere Nachforschung nötig. Wenn er aus seinem Leben ein Buch gemacht und es Erica geschenkt hätte, hätte sie es fest in ihren kleinen Händen gehalten, das Inhaltsverzeichnis überflogen, liebevoll den Einband betrachtet und es dann gut sichtbar auf den Beistelltisch gelegt. Manchmal würde sie es in ihre Handtasche tun, als wollte sie es bei sich haben, vielleicht würde sie es sogar von Anfang bis Ende lesen, aber sie würde es kein zweites Mal aufschlagen, und sie würde nie erwähnen, dass sie es mit sich herumgetragen hatte, und er würde niemals sagen, dass er es wusste.

Jetzt stellt er sich ihr Bett vor. Er fragt sich, ob es schon jemand gekauft hat, wer jetzt wohl darin schläft.

Er sieht den eisernen Rahmen und die Matratze vor sich – die erste gemeinsame große Anschaffung, als Erica zu ihm gezogen war. Die Matratze bestand unter anderem aus Leinen, Baumwolle, Hanf und Wolle. Natürliche Materialien, atmungsaktiv, mittelfest. Ich glaube, du liebst dieses Bett mehr als mich, sagte sie. Ich glaube, ich könnte es genauso lieben wie dich, erwiderte er. Damals, 2012 – Jahr des Drachen, Jahr alberner Aufregung und ausgedehnter IKEA-Besuche.

Wie kam es, dass IKEA ihnen immer einen ganzen Tag stahl, selbst wenn sie nur wegen einer einzigen Sache hinfuhren? Sie aßen Fleischklößchen mit Pommes und Soße und als Nachtisch Kuchen, während sie auf den Parkplatz hinaussahen. Es hätte langweilig sein müssen, aber es machte Spaß. Unfassbar, wie viel wir heute gegessen haben, sagte Erica, nachdem sie mit einem überquellenden Einkaufswagen an der Kasse gestanden hatten, dann blieb sie stehen, um noch einen billigen Hotdog zu essen, blieb erneut stehen, um zehn Schachteln schwedische Kekse zu kaufen, und kehrte dann mit zweiunddreißig Sachen, die sie eigentlich nicht brauchten, zu Daniels Lieferwagen zurück – ohne das Teil, dessentwegen sie hergekommen waren.

Eine Frage für dich, Daniel:

Wann ist ein Bett kein Bett?

Wenn es eine einsame Taschenfederkerninsel ist.

Nachdem Erica gegangen war, einen Monat bevor er ebenfalls ging, veränderte sich das Cottage mit allem, was darin war. Seine Ecke der Welt wandte sich gegen ihn. Er war ein Ausgestoßener in seinem eigenen Zimmer, ein Schiffbrüchiger, gestrandet in seinem eigenen Bett.

Er denkt an die Rosen, fragt sich, wie sie zurechtkommen ohne den Klang seiner Stimme. Es sind erst ein paar Tage, aber vielleicht haben sie seine Abwesenheit schon bemerkt? Er hat immer an die Intelligenz von Bäumen und Blumen geglaubt, hat sie immer wie Gefährten behandelt. Er hat ihnen erzählt, was er den Tag über getan hat und was in der Welt passiert war; manchmal hat er ihnen sogar Gedichte vorgelesen. Und warum auch nicht, könnte es eine schönere Art geben, den Tag zu beginnen? Barfuß im Garten, mit einem Gedicht und einer Pflanze und einem Becher starkem Tee.

Sie können dich nicht hören, sagte Erica im Schlafanzug an der Hintertür.

Er lässt die Fersen gegen die Mauer schlagen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis jemand kommt und fragt, was er hier macht, warum er auf Privateigentum sitzt und in dieser ruhigen Straße herumlungert.

Er wartet.

Und nichts passiert.

Ich könnte ein potenzieller Eindringling sein, denkt er. Himmel noch mal, ich könnte irgendwer sein.

Er beginnt zu schwitzen.

Da ist ein Rauschen, das von überall und nirgends zu kommen scheint.

Es ist der Klang seines eigenen Körpers, das Rauschen der Angst.

Er weiß nicht, wohin.

Die Mauer scheint höher zu werden, oder vielleicht werden seine Beine kürzer, sind plötzlich weiter vom Boden entfernt, wie die eines Jungen.

Er erinnert sich an die Jungen aus seiner Kindheit. Wenn sie zusammen auf einer Mauer saßen, dann gehörte ihnen diese Mauer. Und jetzt gehört ihm gar nichts mehr. Abgesehen von seinen Kleidern und seinem Rucksack.

Und warum ist das so?, fragt eine Frauenstimme.

Er blickt sich um.

Ich bin’s, sagt sie.

Wer ist ich?

Erkennst du deine freundliche Radiosprecherin nicht? Wie auch immer, ich will es wissen, sagt sie.

Was?, fragt er. Was wollen Sie wissen?

Warum hast du all deine Sachen weggegeben? Dein geliebtes Bett, das Bild mit dem Swimmingpool, die ganzen Pinsel und Werkzeuge. Wie konntest du es ertragen, einfach dabeizustehen, während sie alles abgeholt haben? Sogar die Bettdecke, die du bei einem Brand gerettet hättest.

Ich weiß es nicht, antwortet er.

Das war ganz schön krass, sagt sie. Ich meine, ich bewundere die Geste, das Hospiz wird mit dem Verkauf der Sachen gutes Geld verdienen, doch es gibt kein Zurück. Was dir gehört hat, gehört jetzt jemand anderem, was weg ist, ist weg.

Daniel sieht vor sich, wie die Männer vom Sozialkaufhaus seinen Besitz in ihren Lkw laden.

Nehmen Sie alles mit, sagte er. Ich habe die Sachen in Kartons gepackt und beschriftet.

Geht mich natürlich nichts an, aber ist jemand gestorben?, fragte einer der Männer.

Daniel schüttelte den Kopf.

Und der Lkw fuhr mit all den Sachen davon, die er und Erica gemeinsam gekauft hatten.

Was für eine verrückte Spende.

Er stand auf dem Gehweg und winkte.

Er stellte sich ein herausgeschnittenes Herz vor, das hinten im Lkw in einer eisgefüllten Kiste schlug.

Ein paar Tage später schloss er die Haustür zum letzten Mal ab und warf seine Schlüssel durch den Briefkastenschlitz.

Dann ging er zum Sozialkaufhaus.

Wohin hätte er sonst gehen sollen?

Es befand sich in einer alten Fabrik; roter Backstein, städtische Wiederbelebung. In dem Gebäude gab es alle möglichen Gemeinschaftsprojekte: eine Bar, ein Theater, einen Treffpunkt für hiesige Künstler. Und auf drei Stockwerken war Aubrey’s, der Laden des örtlichen Hospizes. Im Fenster hing ein Poster mit der Aufschrift: Kaufen Sie aus zweiter Hand und schenken Sie jemandem einen guten Tod.

Aubrey’s war unterteilt in Schlafzimmer, Küche, Wohnzimmer. Es war, als würde man durch ein Museum schlendern oder durch eine Installation, eine Ausstellung über Liebe und Einrichtung und Geschichte, über die stetige Veränderung der Zufluchtsorte, die wir uns erschaffen.

Und da war Daniels Leben – für jedermann zu sehen: ihr Sofa, ihre Sessel, ihr Beistelltisch, ihre Lampen und Vasen, ihre gesamte Küche, vom Salzfass bis zum Suppentopf.

Großer Gott, Erica. Sieh dir unseren ganzen Kram an, das ist ja richtig unheimlich. Ich komme mir vor wie am Set einer Fernsehshow, in der wir früher mal mitgespielt haben. Es ist alles noch da, es ist noch nicht zu spät.

Er setzte sich auf ihr altes Sofa und wartete.

Aus dem Mund der Radiosprecherin weht für einen kurzen Moment ein kalter Wind.

Daniel reibt die Hände aneinander, aber es sind nicht seine Hände. Die Haut ist so rau und trocken, dass es ganz fremd klingt. Wie Sandpapier, denkt er und betrachtet seine Hände.

Dann blickt er auf.

Diese ganze Geschichte mit meiner Mum, sagt er. Ich kann’s immer noch nicht glauben.

Ich weiß, sagt die Radiosprecherin. Ich weiß.

Und der Vermieter, dieser verfluchte Vermieter.

Ist schon gut, sagt sie. Ist schon gut, ich bin ja da. Lehn dich einfach an meine Stimme.

So lange habe ich vorher noch nie irgendwo gewohnt, sagt er. Ich habe einen Rosenbogen im Garten aufgestellt, einen kleinen Holzschuppen gekauft und ihn rosa angestrichen. Sie hätten die Wildblumen sehen sollen, wir hatten so viele Bienen. Es war unser Zuhause. Es war ein Spiel, ein heißes Bad, ein stärkender Whisky. Es war ein üppiger Wald, eine wunderbare Höhle, aber dann musst du gehen und kannst nicht selbst entscheiden, wann.

Atme, Daniel, sagt die Radiosprecherin. Beruhige dich und atme ganz tief durch.

Dann ist sie einfach gegangen, sagt er, als er fertig geatmet hat.

Es tut mir so leid, sagt sie.

Er zuckt die Achseln. Seine Augen sind blutunterlaufen, seine Socken passen nicht zusammen.

Wo wirst du heute Nacht schlafen?, fragt sie.