Flammender Schnee - Thomas Manderley - E-Book

Flammender Schnee E-Book

Thomas Manderley

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Beschreibung

Jahr 1960: Tobias Gruber, Reporter aus Köln erwacht schwer verletzt in einem Krankenhaus im Deutsch-Schweizer Grenzgebiet. Zunächst weiß er nicht, wie er dorthin gelangt ist, aber dann kommen seine Erinnerungen schnell wieder. Er berichtet seine Erlebnisse in mehrtätigen Verhören der Polizei. Tobias ist auf dem Weg in den Winterurlaub. Nach einem Unfall im dichten Schneetreiben gelangt er auf der Suche nach Hilfe in das abgelegene Dorf Klamm. Das seltsame Verhalten der Einwohner dort weckt Tobias Reporterinstinkt und versucht den Geheimnissen des Dorfs auf den Grund zu gehen. Dabei gerät er Stück für Stück immer tiefer in eine lebensgefährliche Lage. Während seiner Berichte im Krankenhaus versucht Tobias, Erinnerungslücken und Zweifel an seiner Geschichte auf eigene Faust aufzuklären. Aber dann wendet sich die Polizei gegen ihn.

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Seitenzahl: 182

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Thomas Manderley

Flammender Schnee

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

Impressum neobooks

1. Kapitel

Es ist Nacht, eine sehr dunkle und kalte Neumondnacht. Wirre Träume quälen mich, hetzen mich splitternackt durch dunkle Wälder, einen mir unbekannten Verfolger im Nacken, verletzen meine Haut am Gestrüpp, an dem ich vorbeistreife. Ich laufe, renne, fliehe, stolpere. Die Bäume ringsherum beobachten mich und setzen alles daran, mich irgendwie aufzuhalten, versuchen mich zu Fall zu bringen, aber ich laufe weiter, immer weiter, so schnell ich kann. Ich stürze über eine Baumwurzel und falle in eine lehmige Pfütze, die sich plötzlich in einen tiefen See verwandelt und in dem ich zu ertrinken drohe. Ich sehe mich um, doch das Ufer ist unerreichbar weit weg. Langsam versinke ich im eiskalten Wasser, aber ich strample mich wieder und wieder nach oben an die Luft. Doch irgendetwas packt mein Bein und zieht mich erneut in die Tiefe. Ich wehre mich, ringe nach Atem, während ich mit wildem Paddeln und Schlagen versuche, mich an der Oberfläche zu halten. Mein Bein beginnt zu schmerzen, immer stärker und stärker, bis es nicht mehr kalt ist, sondern wie Feuer brennt.

Ich öffne die Augen. Um mich herum erkenne ich verschwommen einige Dinge, wie einen Stuhl und ein Waschbecken, das an der Wand hängt. Jedoch ist mir alles hier fremd. Ein schwaches Licht fällt durch ein Fenster herein, aber die Lamellen einer Jalousie zerhacken den wenigen Schein in unzählige Streifen, deren Licht- und Schattenspiele mir Kopfschmerzen bereiten.

Mein Alptraum ist Gott sei Dank vorbei, mein Bein schmerzt indes aber immer noch. Ich versuche es zu bewegen, aber es funktioniert nicht. Das andere Bein reagiert auf meine Befehle, allerdings nur widerwillig und nach ein paar Zentimetern streikt es. Meine Arme funktionieren ebenso träge und mein Kopf dröhnt wie ein Flugzeugpropeller, so dass sich meine Augen von ganz allein wieder schließen. Erst nach einigen Minuten kann ich mich gegen die Kopfschmerzen zur Wehr setzen und meine Augenlider wieder öffnen.

Jemand kommt zur Tür herein. Den Umrissen nach zu urteilen, ist es eine Frau. Sie kommt auf mein Bett zu, hält kurz inne und geht zurück zur Tür. „Herr Doktor, er ist aufgewacht!“ ruft sie nach draußen. Dann kommt sie zurück, nimmt meine linke Hand und misst meinen Puls. „Hallo Herr Gruber!“ sagt sie mit ruhiger Stimme. „Haben Sie Schmerzen?“

Ich will ihr antworten, aber es gelingt mir nicht. Doch ich sammele all meine spärlichen Kräfte zusammen und jetzt schaffe ich es doch irgendwie: „Ja, mein Bein brennt. Wo bin ich? Was ist los?“

„Der Doktor kommt gleich. Ich erhöhe Ihre Dosis etwas, gegen die Schmerzen.“ Die Frau geht zu einer hohen Metallstange, die neben mir steht und tut dort etwas. Jetzt begreife ich: Ich hänge am Tropf. In mir macht sich ein leichtes Unwohlsein breit, aber in diesem Moment öffnet sich die Tür erneut und ein Mann und eine weitere Frau treten herein.

„Hallo Herr Gruber, ich bin Doktor Jobst. Wissen Sie, wo sie sind?“

„Nein!“

„Erinnern Sie sich, was passiert ist?“ Der Doktor spricht laut, fast unangenehm laut.

„Nein!“

Der Doktor schreibt etwas auf einen Block, oder ein Stück Papier, was auf einer Art Brett festgeklemmt ist.

„Was ist mit mir? Ich bin doch hier im Krankenhaus, oder?“

„Ja. Ihre Beine sind verletzt, aber wir kriegen Sie wieder hin. Wenn Ihnen das Atmen schwer fällt, machen Sie sich keine Gedanken. Das wird bald wieder besser. Ich komme später noch einmal zu Ihnen. Jetzt ruhen Sie sich aus und versuchen sich zu entspannen!“ Der Doktor wartete meine Antwort gar nicht erst ab und verschwindet aus dem Zimmer, kurze Zeit später auch die beiden Frauen.

Die erhöhte Schmerzmitteldosis beginnt zu wirken. Es wird alles auch etwas klarer. Jetzt bemerke ich, dass mir das Atmen tatsächlich schwer fällt. Aber warum nur? Ich versuche mich zu erinnern, aber das Letzte, was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass ich in den Skiurlaub fahren wollte. Hatte ich etwa einen Autounfall oder so etwas? Stimmt, den hatte ich tatsächlich. Aber der Unfall war halb so wild. Was ist nur mit mir geschehen?

Verkrampft versuche ich mich zu erinnern, aber vergebens: Nach meinem Unfall ist nichts mehr da. Ich hatte mich im Schneetreiben verirrt, bin irgendwie von der Fahrbahn gerutscht und im Straßengraben liegen geblieben. Und dann? Ein schwarzes Erinnerungsloch. Ich weiß nicht mal, wo ich genau bin: In der Schweiz, oder noch in Deutschland.

Ich starre an die weiße Zimmerdecke, betrachte die Linien der Putzrisse, die sich kreuz und quer durch den schon in die Jahre gekommenen Farbanstrich ziehen. Minutenlang verfolge ich den Zick-Zack-Kurs jeder Linie von einem Ende zum anderen, doch das sinnlose Grübeln ermüdet mich. Ich möchte schlafen, aber meine unzähligen Gedankenspiele lassen es nicht zu.

Dann schwirren doch ein paar verschwommene Bildfetzen durch meinen Kopf. Da war eine tote Ziege und eine verletzte Frau und starke Hitze oder Feuer oder so etwas ähnliches. Ich versuche mich an irgendeinem Bild gedanklich festzukrallen und mich zu konzentrieren.

Feuer, ja genau: Es hatte gebrannt. Da waren viele Menschen, Schreie und … Oh Gott! Jetzt fällt mir alles schlagartig ein. Das Dorf, die brennende Scheune, Anna! Oh Gott Anna, ist sie am Leben?

Mein Körper krampft sich unwillkürlich zusammen, mein Herz beginnt zu rasen und ich zittere immer stärker, so sehr, dass das Bett anfängt zu klappern. Ich rufe nach Anna. Nein: Ich schreie in Panik immer wieder ihren Namen, während mein Bett durch den Schüttelkrampf meines Körpers beginnt, sich langsam Stück für Stück vorwärts durch den Raum zu bewegen.

Die beiden Schwestern und auch der Arzt stürzen in mein Zimmer hinein und halten mich fest, während eine der Schwestern mir etwas über den Zugang in meinem Handgelenk injiziert. Das Mittel wirkt, mein Krampf lässt nach, aber ich atme immer noch sehr schwer. Nach ein paar Minuten hat sich mein Zustand dann wieder stabilisiert.

„Herr Gruber? Geht es Ihnen besser?“ fragt, oder besser schreit der Arzt.

Ich nicke nur kurz.

„Können Sie mir sagen, was passiert ist?“ Der Doktor kontrolliert die Dosis am Tropf.

„Ich kann mich wieder an alles erinnern. Da war dieses Feuer bei dem ...“

„Schon gut, Herr Gruber, später erzählen Sie mir alles in Ruhe. Jetzt entspannen Sie sich erst einmal. Ich lasse Sie jetzt auch nicht mehr allein hier im Zimmer. Schwester Denise bleibt bei Ihnen.“ Eine der Frauen nickt kurz zur Bestätigung. „Bleiben Sie ruhig. Sie sind jetzt in Sicherheit und Sie werden wieder gesund. Und eine dauerhafte Amnesie ist nun auch kein Thema mehr. Gut, Herr Gruber?“ Der Arzt sieht mir eindringlich ins Gesicht.

„Gut!“

„Wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie es Schwester Denise. Ich komme bald wieder und sehe nach Ihnen. Auch die Polizei will dann mit Ihnen sprechen. Aber, wie gesagt: Entspannen Sie sich oder versuchen Sie zu schlafen, Ja?“

„Ja!“ mehr als das bekomme ich jetzt so wie so nicht heraus.

Der Doktor und die andere Krankenschwester rauschen wieder nach draußen. Schwester Denise holt sich einen Stuhl heran und setzt sich direkt neben mein Bett. Sie kontrolliert nochmals meinen Puls, doch alles scheint gut zu sein.

Sie lächelt mich an: „Keine Sorge, Herr Gruber, bald ist der ganze Spuk vorüber und Sie haben das hier alles schon längst vergessen.“ Schwester Denise ist vielleicht Ende zwanzig, Anfang dreißig, also etwa mein Alter, aber sie versprüht in Ihrem Auftreten einen jugendlichen Charme und auch eine Herzlichkeit, dass man Ihr selbst diese Schönwetter-Trost-Floskel als vollkommen ernst gemeint abnimmt. So lächle ich einfach nur zurück. „Der Doktor hat recht: Schlafen Sie jetzt ein wenig. Ich bleibe auch ganz bestimmt hier sitzen, versprochen!“

„Danke, Schwester Denise!“ stammele ich langsam. „Was ist mit meinen Beinen passiert?“

„Leider darf ich Ihnen keine genaue Auskunft darüber geben. Das darf nur der Arzt.“ Denise sieht mich ein paar Sekunden an und dann siegt doch das Mitleid über das Pflichtbewusstsein: Sie geht zum Fußende meines Betts und nimmt die Krankenkarte aus der Halterung. Ein kurzer Blick, ein Blättern und Denise scheint im Bilde zu sein. Sie steckt die Karte zurück und setzt eine besorgte Miene auf. Mein Herz schlägt unweigerlich schneller.

„Ihre beiden Beine haben Verbrennungen dritten Grades und Ihr linkes Schienbein ist kurz oberhalb des Knöchels angebrochen. Am rechten Fuß haben Sie sich ein Außenband gerissen und eine leichte Rauchvergiftung haben Sie auch erlitten.“

„Oh Scheiße!“ Ich weiß, dass man in Gegenwart von Damen keine Schimpfwörter benutzen sollte, aber in diesem Fall war es Erste, was mir eingefallen ist.

Denise schweigt.

„Wird das wieder?“

„Ich bin kein Arzt, aber ich kann so viel sagen, dass der Bruch wieder verheilen wird und das mit dem Außenband ist auch halb so wild. Die Rauchvergiftung ist nicht schlimm, aber vermutlich werden Sie Narben an den Beinen behalten. Die Verbrennungen sind an manchen Stellen relativ schwer.“

„Oh Mann!“ Wie konnte mir nur so etwas passieren?

„Ich weiß, dass dies schwierig für Sie sein muss und dass Sie sich jetzt Sorgen machen, aber trösten Sie sich: Es gibt Schlimmeres.“

„Das sagen Sie so einfach.“

„Na ja, wenn Sie jeden Tag sehen müssten, was ich sehe, würden Sie auch so denken. Und jetzt ruhen Sie sich aus. Schlafen Sie erst mal richtig und später besprechen Sie alles mit dem Doktor.“

„Schlafen kann ich jetzt eh nicht. Aber da fällt mir noch etwas ein: Wo bin ich hier eigentlich?“

„Ach so! Sie wissen noch gar nicht, wo man Sie hingebracht hat: Ins städtische Krankenhaus von Keitlingen, kurz vor der Schweizer Grenze.

„Gut, Danke!“

Denise lächelt nur.

„Die Polizei wollte doch noch mit mir sprechen. Von mir aus können wir loslegen. Ich muss denen auch noch etwas wichtiges sagen.“

„Aber Sie brauchen jetzt vor allem Ruhe.“

„Es ist wichtig, sehr wichtig. Das Leben einer Frau hängt vielleicht davon ab! Und sprechen tut mir auch gut, merke ich!“

Denise atmet tief ein und aus. Dann steht sie auf: „Na schön, ich frage den Doktor!“

„Danke. Es ist wichtig.“ rufe ich ihr hinterher, als sie schon halb zur Tür hinaus ist.

Nur etwa zwei Minuten später kommt der Doktor zurück in mein Zimmer. Ihm folgt ein älterer Herr in einem grauen, etwas altmodischen Anzug.

„Na schön, Herr Gruber. Dies hier ist Inspektor Mittenhuber. Er ist von der Polizei und möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.“

„Haben sie Anna gefunden?“ frage ich drauf los, noch während der Inspektor neben meinem Bett Platz nimmt.

„Brauchen Sie mich noch?“ fragt der Doktor.

„Nein, danke. Ich rufe Sie dann schon.“ sagt Inspektor Mittenhuber mit ruhiger, abgeklärter Stimme und wendet sich dann mir zu.

„Hallo Herr Gruber. Sie meinen sicher Frau Anna Burleitner, nicht wahr?“

„Ja genau! Haben Sie sie gefunden? Geht es Ihr gut?“

„Ja, wir haben sie gefunden. Sie ist hier im Krankenhaus, auf einer anderen Station.“

„Ich will zu ihr!“ schieße ich drauf los, denn mein Herz pocht jetzt bereits doppelt so schnell, wie normal.

„Das geht nicht, Herr Gruber. Erst einmal sind Sie körperlich noch nicht in der Lage dazu und dann befindet sich Frau Burleitner noch nicht in der richtigen Verfassung.“

„Oh Gott, was ist mit ihr? Sie wird doch durchkommen? Hat sie schwere Verletzungen?“

„Das kann Ihnen nur der Doktor sagen und auch der wird das nicht tun, denn er darf nicht einfach so Auskunft über Patienten geben. Sie sind doch nicht mit ihr verwand, oder?“

„Nein, aber …“

„Sehen Sie: Sie müssen sich gedulden, auch wenn es schwer fällt.“

Ich atme tief durch und versuche meinen Puls zu beruhigen.

„Also gut, warum erzählen Sie mir nicht, was eigentlich passiert ist?“

„Na da war dieses Feuer und …“

„Von Anfang an!“ unterbricht mich der Inspektor.

„Von Anfang an? Alles? Dass kann aber eine Weile dauern.“

„Ich habe fast alle anderen Fälle an meine Kollegen abgegeben. Ich bearbeite also hauptsächlich diese Sache hier, Herr Gruber.“

„Aber sagten Sie nicht, dass Sie mir ein paar Fragen stellen wollten?“

Der Inspektor lächelt: „Ja, stimmt schon. Und ich werde auch noch genug davon haben. Aber wenn Sie es unbedingt wollen, fange ich gleich an. Wir haben Ihren Ausweis gefunden. Sie heißen Tobias Gruber, Wohnhaft in Köln, Gürzenichstraße 3, stimmt das?“

„Ja, das stimmt.“

„Ich kenne Köln ein wenig, wo ist das denn genau?“

„Ziemlich im Zentrum, in der Nähe vom Heumarkt.“

„Gut, und was machen Sie beruflich?“

„Ich bin freier Reporter, schreibe also für verschiedene Zeitungen.“

„Und worüber schreiben Sie dann so?“

„Na über dies und das, von Klatsch bis Politik. Ich suche mir interessante Themen oder bekomme einen Auftrag von einer Zeitung, mal so mal so.“

Der Inspektor runzelt die Stirn: „Und davon kann man leben?“

„Na ja, ich kann mich eigentlich nicht beklagen.“

„Schön. Also dann erzählen Sie mal, haben Sie keine Angst und lassen Sie nichts weg.“

„Na gut. Ich habe ja sonst auch nichts zu tun.“ Ich atme noch einmal tief ein und aus, um mir die nötige Energie zu verschaffen für das, was vor mir liegt. „Gut, von Anfang an …“

2. Kapitel

„Ich war unterwegs in den Ski-Urlaub nach Engelberg. Dort wohnt ein guter Freund von mir. Ich kenne ihn noch aus Schulzeiten und ich fahre da jedes Jahr hin. Dieses Mal hat mich allerdings das Wetter böse erwischt. Es war so ein starker Schneefall, dass ich fast nichts mehr gesehen habe, schon gar nicht die Fahrbahn.“

Der Inspektor sitzt regungslos und mit gelangweilter Miene zurückgelehnt auf seinem Stuhl. Da von ihm jetzt wohl keine Frage kommen wird, rede ich einfach weiter: „Dann war irgendwann die Straße gesperrt, die ich nehmen wollte und ich bin der Umleitung nachgefahren, die ausgeschildert war. Trotzdem muss ich dabei wohl irgendwo falsch abgebogen sein und habe dann vollkommen die Orientierung verloren. Ab da habe ich mich dann mehr oder weniger nach der Himmelsrichtung orientiert, aber das hat wohl nicht so gut geklappt.“

„Aber warum haben Sie nicht einfach angehalten und den Schneesturm abgewartet?“

„Na ja, wissen Sie: Man glaubt ja immer, dass man die Situation noch beherrscht.“

„Sie haben sie jedenfalls nicht beherrscht. Wir haben Ihr Auto gefunden. Es ist ausgebrannt und komplett zerstört.“ sagt der Inspektor mit ermahnender Stimme.

„Ja stimmt, aber der Wagen ist erst hinterher angezündet worden.“

„Mutmaßlich!“

„Nein, Herr Inspektor, da bin ich mir sicher!“

Der Inspektor macht eine kurze Denkpause, kommt aber offenbar zu keinem Ergebnis: „Das klären wir besser später.“

„Ich habe jedenfalls nicht mein eigenes Auto angezündet, um die Versicherung zu kassieren, wenn Sie das meinen!“

„Na schön, dann mal weiter.“ Der Inspektor schreibt sich etwas auf seinen Notizblock. Ich komme mir vor, wie in einer Schulprüfung.

Ich werde so wie so nicht herausfinden, was er da genau aufschreibt, also kehre ich zu meiner alten Taktik zurück und erzähle einfach weiter: „Auf so einer kleinen Landstraße mitten im Nirgendwo bin ich ins Schlingern geraten und so einen VW Bus kann man dann nur sehr schwer abfangen. So bin ich dann von der Straße gerutscht und gegen einen Begrenzungspfahl oder einen Stein geprallt. Besser gesagt, bin ich da voll drüber gefahren, mit dem Erfolg, dass die Radaufhängung gebrochen ist. Also konnte ich nichts weiter tun, als den Wagen dort zu lassen, wo er war. Ich habe mir dann ein paar von meinen Sachen geschnappt und bin zu Fuß weiter marschiert, in der Hoffnung, dass ich zu irgendeiner Siedlung komme, oder zu einem Bauernhof.“

„War nicht sehr angenehm bei dem Wetter, oder?“

„Na ja, sehr weit musste ich gar nicht laufen. Vielleicht anderthalb Kilometer weiter war ein Dorf, ‚Klamm’ war der Name. Vielleicht kennen Sie es ja.“

„Jetzt schon, aber erzählen Sie weiter.“

Ich möchte reden, aber ich spüre, wie mein Puls in die Höhe schnellt. Bilder jagen wieder durch meinen Kopf: Feuer, Schreie, Blut, Kälte. Das Atmen fällt mir schwerer und diese unangenehme Enge, die meinen Oberkörper langsam immer weiter einschnürt, treibt mir den kalten Schweiß auf die Stirn.

Der Inspektor hingegen sitzt auf seinem Stuhl und sieht mich mit absolut regungslos entspannter Miene an. Seine störrische Ruhe wirkt auf unerklärliche Weise ansteckend und so gelingt es mir doch, weiter zu sprechen: „Klamm ist so ein richtiges Dorf, wie aus dem Bilderbuch: Viele Bauernhöfe, Scheunen, ein Tante-Emma-Laden, eine kleine Kirche und eine Dorfwirtschaft am zentralen Platz. Die Häuser sehen alle noch so aus, wie im Mittelalter. Nicht mal alle Wege sind richtig befestigt, soweit ich das sehen konnte. Es lag ja viel Schnee.“

„Ja, solche Dörfer gibt es hier in der Gegend noch recht oft. Da meint man manchmal, die Zeit wäre stehengeblieben.“

„Ja, Herr Inspektor. Das war auch mein erster Eindruck. Aber ich war natürlich froh, überhaupt so schnell ein Dorf gefunden zu haben bei dem Wetter. Ich bin da also geradewegs rein marschiert. Es war fast niemand auf der Straße, nur so ein seltsamer Kauz, der mitten im Sturm draußen am Schneeschippen war. Als ich da vorbei gegangen bin, hat er aufgehört zu schaufeln und hat mir hinterher gesehen, als käme ich vom Mars. Dann ist mir aufgefallen, dass mich ein paar der Dorfbewohner durch ihre Fenster hindurch beobachten. Aber ich war so durchgefroren und so fertig, dass mir das alles egal war. Manche Sturmböen waren so heftig, dass ich gedacht habe, meine Nase und meine Ohren würden abfrieren und als Eisblock in den Schnee fallen. Ich musste die Augen zusammenkneifen und mich gegen den Wind stemmen, um nicht umgerissen zu werden.“

„Warum sind Sie nicht einfach zu einem der Häuser gegangen und haben um Hilfe gebeten?“

„Na ja, irgendwie kam mir das alles vor, wie ein schlechter Film, als wäre es nicht real. Also bin ich weitergelaufen. Dann habe ich die Dorfwirtschaft gesehen und bin da erst mal hineingegangen, in der Hoffnung auf ein Telefon, aber Fehlanzeige.“

„Wir haben zwar schon 1960, aber trotzdem hat keines der kleinen Dörfer hier einen Anschluss. Das ist zwar alles schon geplant, aber Sie kennen ja die Post.“

„Ja, Herr Inspektor, die Post ist auch meine persönliche Freundin.“

„Wessen nicht?“ Der Inspektor schmunzelt.

Auch ich muss lachen, verkneife es mir aber. „In der Wirtschaft waren ein paar Männer, die an einem Tisch saßen und Bier tranken. Und Anna, die Wirtin war natürlich da.“

„Frau Burleitner war also die Wirtin der Dorfschänke? Das ist ungewöhnlich. Sie ist noch recht jung, etwa Ihr Alter. Eine Wirtschaft in einem Dorf ist wie eine Institution. Das ist eine Männerdomäne. Junge Mädels können sich da nicht behaupten.“

„Da gebe ich Ihnen Recht, aber Annas Vater, dem die Wirtschaft gehört hatte, ist erst vor kurzer Zeit verstorben. Anna führte den Laden dann weiter. Ich glaube aber, dass sie von der Dorfgemeinschaft akzeptiert wurde.“

„Und woran machen Sie das fest?“

„Kann ich nicht genau sagen. Als Reporter bin ich auch ein wenig Menschenkenner. Aber vielleicht bilde ich mir das ja auch nur ein.“

Der Inspektor lacht: „Das mit der Menschenkenntnis?“

„Nein, das mit Anna und der Akzeptanz. Aber zurück zum Thema: Ich bin also in die Wirtschaft rein und die Männer am Tisch haben sofort aufgehört, sich zu unterhalten. Sie starrten mich an und verfolgten jeden meiner Schritte, als ob ich eine teuflische Krankheit hätte, oder so etwas. Auch Anna hat mich zunächst vollkommen entgeistert angesehen. Also bin ich möglichst zurückhaltend und langsam weitergegangen, um nicht irgendwen zu provozieren, aber der alte Dielenboden hat bei jedem Schritt geknackst, als wäre er dreihundert Jahre alt.“

„Kann sogar sein.“ sagt der Inspektor, ohne von seinem Notizblock aufzuschauen.

„Ich ging zum Tresen und fragte Anna nach einem Telefon, aber sie hatte keins. Ich saß wirklich fest. Also habe ich mir einen Schnaps bestellt und mich erst einmal an die Theke gesetzt. Anna hat dann gefragt, was passiert sei und ich habe ihr von dem Unfall erzählt und wo ich herkomme und so weiter. Die anderen Männer haben alles genauestens beobachtet und ständig getuschelt. Manchmal war auch eine Bemerkung über meine Kleidung dabei, die dann etwas lauter ausgesprochen wurde, so dass ich sie auch bestimmt hören konnte. Genauer gesagt, glaube ich, dass es um meine Kleidung ging, denn verstanden habe ich die Männer nicht wirklich. Aber Anna war sehr nett und auch irgendwie süß und so waren mir die anderen Leute vollkommen egal.“

„Es sind Bauern, einfache Leute. Sie arbeiten hart und haben nicht viel Abwechslung im Leben. Für die sind sie mit ihrer Großstadtkleidung und ihrem fremden Dialekt wirklich so etwas wie ein Außerirdischer. Das müssen sie hier nicht so ernst nehmen.“

„Habe ich zuerst auch nicht, Herr Inspektor. Aber später habe ich das bereut.“

„Inwiefern?“

„Da komme ich noch zu. Also Anna hat mir dann ein Zimmer im ersten Stock angeboten. Es ist ein Fremdenzimmer, das ewig nicht benutzt wurde. Ich saß ja fest, also willigte ich ein. Daraufhin stand einer der Männer auf und rief sehr laut etwas zu mir und Anna herüber, aber der Dialekt war so stark, dass ich mal wieder nichts verstanden habe. Es könnte aber auch sein, dass der Typ schon total voll war und so gelallt hat, dass es wie ein extremer Dialekt klang.“

„Schon möglich!“ Der Inspektor grinst ein wenig.

„Anna hat dann zurück geschrien, dass dies ihre Kneipe sei und er sich nicht einmischen soll. Der Mann hat sich dann wieder hingesetzt und noch irgendetwas in seinen Bart genuschelt.“

„Wie der Mann hieß, wissen Sie nicht?“

„Nein, Herr Inspektor, leider nicht. Ich hab den später zwar noch ein paar Mal gesehen, aber sonst nichts. Na ja, ich bin dann rauf in das Zimmer. Es sah aus wie ein altes Verließ auf einem Schlossturm. Anna hat mir aufgeschlossen und mir Bettzeug gebracht. Sie hat sich tausende Male entschuldigt, dass das Zimmer so heruntergekommen sei. Es war ihr anscheinend sehr peinlich.“

„Na wie sah es denn da genau aus?“