Flammenträger - Maximilian Weyrich - E-Book

Flammenträger E-Book

Maximilian Weyrich

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Beschreibung

Fynn war nie an einem Leben außerhalb der Mauern interessiert. Doch als eine unvorhergesehene Katastrophe seine Heimat verwüstet und seine Familie zerreißt, bleibt ihm nichts mehr anderes übrig. Unfreiwillig wird er tief in Konflikte voller Magie und verloren geglaubter Technik gezogen, dabei wünscht er sich nichts mehr, als endlich seine Schwester wiederzusehen...

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Seitenzahl: 629

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhaltsverzeichnis

Prolog – Schattenkrieger

Kapitel 1 – Ein Versprechen im Bunker

Kapitel 2 – Tee auf der Sternwarte

Kapitel 3 – Pilze und ein Stein

Kapitel 4 – Feuer

Kapitel 5 – Wasser

Kapitel 6 – Der Triger und der Wolf

Kapitel 7 – Vertrauen

Kapitel 8 – Die Schatten der Nacht

Kapitel 9 – Morania

Kapitel 10 – Die Audienz

Kapitel 11 – Trümmer

Kapitel 12 – Geschichten und Geheimnisse

Kapitel 13 – Opal in Sicht

Kapitel 14 – Das Trio

Kapitel 15 – Silberglanz

Kapitel 16 – Alte Feinde

Kapitel 17 – Alte Freunde

S1 – Sonderfall

Kapitel 18 – Ausgestoßen

Kapitel 19 – Syllion

Kapitel 20 – Bedrängt

S2 – Spionage

Kapitel 21 – Hoffnung in der Schattenstadt

S3 – Seitenwind

Kapitel 22 – Bösartige Monster

Kapitel 23 – Verregnete Verwirrung

Kapitel 24 – Ein unbeschriebenes Blatt

Kapitel 25 – Leere Worte

Kapitel 26 – Im Kräuterhaus

Kapitel 27 – Lug und Trug

Kapitel 28 – Wie damals

Kapitel 29 – Ins Gras beißen

Kapitel 30 – Kekse auf der Sternwarte

Kapitel 31 – Wiedersehen

Kapitel 32 – Gut und Böse

Kapitel 33 – Herbstsonne

Kapitel 34 – Gebrochene Idylle

S4 – Stille

Kapitel 35 – Zurück ins Zentrum

S5 – Schattenkrieg

Kapitel 36 – Sicherheitstrakt V

S6 – Stromausfall

Kapitel 37 – Schatten und Licht

S7 – Schockstarre

Kapitel 38 – Wiedersehen im Weißen Turm

Kapitel 39 – Es war einmal ein Trio

Kapitel 40 – Und wenn sie nicht gestorben sind...

Epilog – Die Flamme in dir

Danksagung

Für meine Eltern.

Für Claudia.

Für Lilli.

Und für Hermi.

Vielleicht auch für alle anderen.

Entscheidungen sind nicht so meins.

Prolog

Schattenkrieger

Eine friedliche Stille lag über der Landschaft des Planeten Alpha Saxa. Nur das leise Rauschen eines entfernten Flusses und das Flüstern des Windes im Laub der herbstlichen Bäume war zu hören. Die Menschen schliefen seelenruhig und unbesorgt in ihren steinernen Häusern und hölzernen Hütten, überwacht von nichts als den beiden Monden, die in dieser Nacht hoch am Himmel standen. Zwischen diesen Monden lag, zwielichtig wie imposant, der gräuliche Schein des Nachbarplaneten Beta Saxa, der die Landschaft in blasses Licht tauchte. Doch dieses blasse Licht reichte, um Schatten zu werfen. Und genau das brauchten die Schattenkrieger.

Silhouetten von körperlosen Soldaten waren sie, die vom Lichtschein ihres eigenen Heimatplanetens auf den unebenen Boden der Mondwiesen geworfen wurden. Von dort bahnten sie sich geräuschlos ihren Weg über grasbewachsene Hügel und durch fruchtbare Täler.

Kurz bevor die Sonne hinter den Türmen des Schlosses von Morania auftauchte, erreichten sie die bröckelnde Stadtmauer der Menschensiedlung. Als die Glocken des Uhrenturms den Tagesbeginn einläuteten, trat einer der Schattenkrieger aus der Masse heraus. Seine Hände formten simple Gesten. Mit der Stimme des Windes flüsterte er fremde Worte. Als er verstummte, kehrte für einen Moment die friedliche Stille zurück. Doch die Schattenkrieger waren nicht in Frieden gekommen. Deshalb trat der Erste einen Schritt vor und ließ mit seiner sanften Berührung die Stadtmauer in tausend Teile zerbersten.

Kapitel 1

Ein Versprechen im Bunker

Ein schweres Donnern, das Beben der Erde und das Klirren der Tonfigur eines Hundes, die von meinem Nachtschrank fiel und zersplitterte. Das war es, was mein ruhiges Leben in dieser schicksalhaften Nacht durchbrach. Es war kein schönes Gefühl, so aus dem Schlaf geweckt zu werden.

Mit leichten Kopfschmerzen setzte ich mich auf und starrte traurig die Scherben neben dem Bett an. Bernhardiner waren schon immer meine Lieblingshunde, aber weil sie nur noch in alten Bildern und Geschichten existierten, hatte meine Mutter mir eine Figur zum zwölften Geburtstag getöpfert. Das durfte die zottelige Neckie, die gelegentlich unsere Straße entlang streunte, natürlich nicht wissen. Die war ungefähr so nah an einem Bernhardiner wie an einem Flughörnchen.

Während ich langsam wach wurde, versuchte ich festzustellen, ob das Beben noch andere Schäden in meinem Zimmer verursacht hatte. Ein abgeranzter Teppich kleidete den hölzernen Dielenboden. Darauf lagen nicht nur die Scherben der Tonfigur, sondern auch ein Bild, das von der Wand gefallen sein musste. Es war eine Zeichnung, die mir meine Schwester Doya zum Geburtstag geschenkt hatte. Darauf zu sehen waren unsere Ratten Sim und Ren, die wir beim Pilzesammeln im Wald gefunden hatten. Unser Vater mochte die beiden nie. Für ihn waren Ratten keine Haustiere. Glücklicherweise hatten wir bei sowas immer unsere Mutter auf unserer Seite.

Während meine Gedanken weiter abschweiften, legte ich das Bild auf den Schreibtisch und sammelte die Scherben vom Boden auf. In meinem Kopf war das Beben schon völlig in den Hintergrund gerückt. In Morania waren schwächere Erdbeben keine Seltenheit und das laute Donnern ließ sich mit einer alten Mauer erklären, die vielleicht in der Nähe eingestürzt war.

Was sich jedoch nicht mehr so leicht erklären ließ, war der erste Schrei von der Straße, der in diesem Moment in mein Zimmer schallte.

Ich legte die Scherben zur Seite und horchte auf. War doch mehr passiert, als ich bisher geahnt hatte? Unruhig schaute ich aus dem Fenster neben meinem Bett. Die Scheune unseres Nachbarn lag im blassen Licht der Morgendämmerung. Soweit nicht Außergewöhnliches. Auch aus dem anderen Fenster, das der Straße zugewandt war, sah ich lediglich die von den ersten Sonnenstrahlen beschienenen Nachbarhäuser.

Und dann verschwanden sie.

Nicht nur die Nachbarhäuser – auch die Sonnenstrahlen.

Eine plötzlich erschienene Kugel aus tiefster Dunkelheit hatte gleich mehrere Häuser umfasst und endete nur wenige Meter vor unserer Haustür.

Dann – wie von einer unbegreiflichen Kraft angezogen – verschwand die Schwärze wieder und hinterließ die Welt unverändert. Zumindest dachte ich das, bis ich die Risse sah, die sich durch das Nachbarhaus zogen und stetig ausbreiteten. Dann knackte es, rumpelte, bebte und ich sah zu, wie das Haus binnen Sekunden in sich zusammenfiel. Ich traute meinen Augen nicht.

Weitere Schreie.

Jetzt konnte ich mir nicht mehr einreden, dass die Stadtmauer durch Zufall eingestürzt war.

Hatten Doya und meine Eltern davon mitbekommen? Hektisch zog ich mich um, griff mein Lieblingsstofftier – ein braunes Kaninchen mit dem Namen hoppel – und öffnete die Zimmertür, um meine Familie zu warnen. Noch während ich die knarzende Eichenholztreppe mit pochendem Herzen hinunterrannte, kam mir meine Mutter entgegen.

„Fynn! Den Monden sei Dank, du bist wach!“

Sie war fast 50 und sah, wie sie in ihrem faltigen grauen Nachthemd in unserem halbdunklen Flur stand, bestimmt noch einige Jahre älter aus. Die Erleichterung, mich zu sehen, stand ihr ins Gesicht geschrieben und überdeckte sogar für einen Moment die tiefen Sorgenfalten. Das änderte sich jedoch, als das Beben der Erde ein weiteres eingestürztes Haus verkündete.

Hinter ihr erschien jetzt auch meine kleine, braunhaarige Schwester Doya, die sich mit großen Augen an Mamas Nachthemd festkrallte.

„Wisst ihr, was hier los ist?“, fragte ich in die Runde.

Ein lauter Knall vor unserer Haustür ließ uns alle zusammenzucken.

„Nein“, antwortete meine Mutter mit in einem vergeblichen Versuch, ruhig zu wirken.

„Fynn. Doya. Ihr müsst dringend hier raus“, donnerte die Stimme meines Vaters aus seinem Büro. Mit einigen Büchern unter dem Arm betrat er den Flur. „Mehrere Häuser in unserer Nähe wurden bereits attackiert und wir können froh sein, dass wir bisher nicht dazu gehören.“ Seine Worte waren zunehmend schwer zu verstehen. Doya klammerte sich noch fester an meine Mutter, die ihr beruhigend mit zitternder Hand durch die Haare strich. „Wenige hundert Meter entfernt ist ein Bunker“, fuhr mein Vater fort. „Geht so schnell wie möglich die Straße an der Stadtmauer entlang bis zur Abzweigung in Richtung des alten Marktplatzes. Dort müsst ihr...“

„Ich weiß, wo der Bunker ist, Papa“, unterbrach ich ihn. Ich war überrascht von meiner Bestimmtheit. Am liebsten hätte ich mich Doya angeschlossen und eine Falte an Mamas Nachthemd beansprucht, aber ich spürte, dass jede Sekunde zählte.

Deshalb zog ich hastig meine alten Lederstiefel an, scheiterte dreimal daran sie mit zitternden Händen zu binden und ließ sie schließlich offen.

„Bringt euch in Sicherheit. Ich will nicht, dass euch etwas geschieht. Wir werden versuchen, die Lage hier unter Kontrolle zu halten und kommen nach, wenn es zu gefährlich wird. Bis später.“

Der gerunzelten Stirn meiner Mutter zufolge schien ihr der Gedanke länger im Haus zu bleiben nicht sonderlich zu gefallen. Sie blieb jedoch stumm, umarmte Doya und mich fest und wandte sich dem Zimmer zu, in dem der Großteil unserer Tiere lebte. Die waren das Wichtigste für sie, sobald Doya und ich in Sicherheit waren.

Auch ich fühlte mich nicht wohl damit, ohne unsere Eltern vorzugehen. Aber das war ein schlechter Moment zum Streiten. Also schnappte ich Hoppel, nahm Doyas Hand und trat aus der quietschenden Haustür heraus.

Kaum hatte ich die ersten Schritte auf die Straße gemacht, setzte mein Verstand aus. All die Ängste und Sorgen, all die Befürchtungen und die Panik, die ich im Inneren unseres Hauses noch unterdrücken konnte, übernahmen Kontrolle. Die gedämpften Schreie und das dumpfe Poltern, welches durch die dicken Lehmwände zu mir gelangt waren, hatten mich alarmiert und besorgt, jedoch hatte die Anwesenheit meiner Eltern und der trügende Schutz unseres Hauses meine Gedanken noch irgendwie beruhigt. Nun war ich in der geballten, schrecklichen Realität.

Ich war wie angewurzelt. Um mich stürzten Häuser zusammen, während Kuppeln aus Dunkelheit nach Weiteren griffen. Menschen waren auf der Straße, die aus den kollabierenden Häusern entkommen waren. In der Ferne hörte ich Schreie und gar Explosionen. Flammen loderten am Horizont auf.

Ob mein Vater sich der Situation außerhalb unseres Hauses bewusst gewesen war, als er uns allein zum Bunker geschickt hatte? Oder drehten sich seine Gedanken zu sehr um irgendwelche Unterlagen und wichtigen Zettel, um zu bemerken, was hier wirklich passierte? Dachte er, diese Aktion könnte gut ausgehen? Hey! Wer oder was auch immer für die Vernichtung einer ganzen Stadt zuständig ist: Hier bin ich! Ein verängstigter Sechzehnjähriger mit seiner kleinen, elfjährigen Schwester und einem Hasenkuscheltier in der Hand! Ich hoffe, es stört euch nicht, wenn ich hier durchspaziere!

Doyas entsetzter Schrei riss mich aus meinen Gedanken. Auch unser Haus war von einer Schattenkugel umfasst worden und die Sorge um meine Eltern wurde unendlich groß.

Am liebsten wäre ich zurückgerannt, um sie rauszuholen, doch ich wusste, dass ich meine kleine Schwester in Sicherheit bringen musste. Deshalb wandte ich meinen Blick von der unweigerlichen Katastrophe ab und fokussierte mich auf Doyas Hand in meiner.

Endlich setzte ich mich in Bewegung. Der Bunker war nur einige Straßen weg und ich kannte seine Position genau, auch wenn er von den meisten Einwohnern der Stadt vermutlich vergessen war. Erst vor wenigen Wochen hatte ich ihn mit Sofie bei einem Spaziergang entdeckt. Wir hatten viele Stunden damit verbracht, uns auszumalen, welche Situationen Leute in solch enge, dunkle Bunker getrieben haben könnte. Jetzt konnte ich mir das lebhafter vorstellen, als mir lieb war.

In seine sicheren Wände zu gelangen, stellte sich jedoch als äußerst schwierig dar. Egal welchen Weg wir einschlugen, begegneten uns eingestürzte Hütten und Häuser, deren Trümmer sich auf den Straßen und Plätzen verteilten. Panische Menschenmassen drängelten sich an uns vorbei, kamen uns entgegen und behinderten sich gegenseitig am Vorwärtskommen. Nur dank Doyas Hand in meiner konnte ich meine Sinne bewahren. Bis die Dunkelheit auch Doya und mich erfasste.

Gerade noch hatte ich überlegt, ob sich ein Umweg lohnte, um eine von Menschen verstopfte Straße zu vermeiden, jetzt sah ich nichts als Schwarz.

Die Dunkelheit war erdrückend und beklemmend. Ich sah nicht, was vor oder hinter mir war, selbst die Geräusche der Außenwelt hörten sich dumpf an. Das Schlimmste aber war der unerträgliche Schmerz, der sich in meine Brust bohrte und mich fast zu Boden brachte. Glücklicherweise zögerte Doya nicht lange und zerrte mich aus der Kuppel heraus. Wir befanden uns nun in der Verlasseneren der beiden Straßen, wo wir vom Licht der aufgehenden Sonne begrüßt wurden. Obwohl die schwere Luft noch in meiner Kehle brannte und mein Herz schmerzhaft hämmerte, erleichterte mich der Anblick des Sonnenlichtes und gab mir Kraft.

Trotz aller Umwege war es nicht mehr weit. In der Ferne sah ich bereits die Alte Eiche im Zentrum der Stadt. Es versetzte mir einen Stich zu sehen, dass Flammen um die Krone unseres Wahrzeichens züngelten. So sehr wie nichts anderes führte mir das vor Augen, dass ich heute zum Untergang Moranias aufgewacht war. Doch durfte ich darüber jetzt nicht nachdenken. Noch waren wir nicht am Ziel.

Glücklicherweise hatte ich schon immer ein gutes Verhältnis zu meiner Schwester. Unser Vertrauen ineinander ermöglichte uns in diesem Moment beiden, nicht in Panik auszubrechen – etwas, das viele der schreienden Erwachsenen um uns herum nicht schafften. Insbesondere Doya behielt einen kühlen Kopf und bahnte sich ohne große Probleme einen Weg durch die Trümmer, während ich keuchend und mit Seitenstechen versuchte, vorne zu bleiben, um sie schützen zu können. Innerlich verfluchte ich meine Unsportlichkeit, die mich schon fast zur Last für Doya machte.

Meine Beine drohten bereits ihren Dienst aufzugeben.

Doch dann sah ich sie.

Die Sicherheit in Form einer versteckten eisernen Falltür, die am Straßenrand in den Boden eingearbeitet war. Während die Welt um uns herum unterging, hatten wir es geschafft.

Hektisch öffnete ich die Klappe und schickte Doya in den Bunker. Schnell folgte ich, schloss die Falltür hinter uns und stolperte über meine offenen Schnürsenkel die Treppe runter. Unsanft unten angelangt ließ ich mich neben Doya in einer Ecke auf den harten Boden fallen und legte Hoppel auf meinen Schoß.

Sicherheit.

Durchatmen.

Zur Ruhe kommen.

Niemand außer Doya und mir war hier. Der Boden war leicht feucht und glatt, die gemauerten Wände rau und unstrukturiert. Ich hatte den Bunker nicht so trostlos in Erinnerung. Ohne Sofie war dieser Ort nicht der Gleiche… Sofie… Wie es ihr wohl ging? Sie wohnte im Zentrum der Stadt, eventuell hatte sie früh genug von der unerklärlichen Katastrophe mitbekommen, um rechtzeitig zu fliehen. Vielleicht kannte sie einen anderen Bunker, der näher war als dieser. Die Ungewissheit besorgte mich.

Sofie war schon seit Jahren meine beste Freundin und der einzige Mensch, der es schaffte, mich gelegentlich zu überreden, etwas aus mir (und meinem Haus) rauszukommen. Sie liebte Erkundungstouren in unserer alten Stadt und wollte am liebsten mit mir abhauen, um die Welt außerhalb der Stadtmauern kennenzulernen. Doch das traute nicht mal sie sich. Dafür würde sie viel zu viel Ärger mit ihrem Vater bekommen. Insgeheim war ich froh darüber. So konnte ich mir eine Diskussion mit Sofie über die Gefahren der Außenwelt ersparen.

Ich war glücklich, den ganzen Tag zu Hause zu verbringen, ab und zu Neckie zu streicheln und Kuchen zu essen. Ein Leben, das vermutlich mit diesem schicksalhaften Morgen ein abruptes Ende genommen hatte. Mir blieb nichts anderes übrig als auf meine Eltern zu warten und zu hoffen, dass die Soldaten und Magier unserer Stadt die Situation wieder unter Kontrolle kriegen würden.

In Gedanken versunken spielte ich mit einem kleinen Stein herum, der aus dem Boden hervorstand. Tatsächlich löste sich der Stein recht schnell und ich stellte verwundert fest, dass ich nicht der Erste sein konnte, der sich damit die Zeit vertrieb. Ich spürte, dass er ungefähr die Größe einer Walnuss hatte, allerdings deutlich flacher war und perfekt abgeschliffen wirkte. Beim genaueren Betrachten merkte ich, dass trotz der erdrückenden Dunkelheit des Bunkers schwache, blaue Adern auf dem Stein zu erkennen waren, die selbst ein blasses Licht ausstrahlten. Wer diesen mysteriösen Stein wohl schon alles in den Händen gehalten hatte? Ob ihn einst jemand in der Hektik mit sich in den Bunker hereingestolpert hatte? Ob er zu Zeiten des moranischen Unabhängigkeitskrieges bereits hier gelegen hatte und vielen nervösen Schutzsuchenden, als Ablenkung gedient hatte? Ich versank in Theorien um den wundersamen Stein und spann Geschichten, wie er seinen Weg in meine Hände gefunden haben mochte.

Bei jedem lauteren Geräusch, welches durch die Falltür bis zu uns hallte, zuckte Doya kurz zusammen und kauerte sich ein Stückchen näher zu mir. Die Minuten vergingen trotz der Ablenkung schleichend langsam, da der Gedanke an unsere Eltern, die noch irgendwo da draußen waren, für ein immer größeres Drücken in der Magengegend sorgte. Immerhin schien sich unser Versteck sicher zu sein, da die größte Gefahr für uns in diesem Moment die gruselige Spinne war, die gelegentlich über unsere Beine krabbelte.

„Wann kommen sie?“, fragte Doya irgendwann. Auch wenn ihre Stimme wie üblich nicht verängstigt klang, griff sie wieder nach meiner Hand und drückte sie. Sie war wirklich tapfer.

„Ich weiß es nicht, Doya“, gestand ich. „Mama wird Terry und Wynn, Pyw und Yark, Sylla, Yera, Pyrrha und Zynba und Berry und Floray noch in Sicherheit bringen. Wahrscheinlich dürfen sie nach draußen auf die große Wiese vor der Stadt. Und dann wird Mama entweder dort warten, bis es ruhiger ist, oder sie wird direkt zu uns kommen.“

Sie schien mit dieser Antwort zufrieden zu sein, da ich ihr vorsichtiges Nicken an meiner Schulter spürte. Zufriedener als ich. Wie lange waren wir hier? Minuten? Stunden? Nach wie vor kein Zeichen von unseren Eltern oder überhaupt irgendwem. Seufzend rutschte ich von der Wand ab, bis ich auf dem dreckigen Boden lag. Die lauten Geräusche außerhalb des Bunkers waren immer leiser geworden. Inzwischen reichten keine Geschichten über Steine mehr, um mich von den Sorgen um meine Eltern abzulenken.

Grausame Gedanken schossen mir in den Kopf. Ich sah die Kugel aus Dunkelheit vor mir, die unser Haus einschloss. Drinnen meine Eltern, die verzweifelt versuchten, ihr Hab und Gut aus dem todgeweihten Haus zu retten, bevor es zu spät war. Die Mauern wurden jedoch bereits rissig, die ersten Wände brachen zusammen, die Decke stürzte ein. Ich sah meine Mutter vor mir, wie sie sich zu den Kaninchen Yark und Sylla beugte, als sie von einem großen Stein getroffen wurde und zu Boden ging. Ich sah, wie mein Vater hektisch Ordner auf der Suche nach wichtigen Dokumenten durchblätterte bis ihm die Dunkelheit den Atem nahm.

„Nein Fynn!“, fuhr es aus mir heraus. „Das kannst du nicht zulassen!“ Das Echo meiner Worte klang durch den Bunker. Doya schaute mich mit gerunzelter Stirn und großen Augen an.

Entschuldigend drehte ich mich zu ihr. „Tut mir leid. Ich wollte nicht so laut sein.“ Einige Momente vergingen in Stille. „Ich muss nach Mama und Papa schauen, Doya. Es scheint draußen wieder stiller zu sein. Ich muss ihnen helfen, falls etwas passiert ist.“

„Ich wusste, dass du das tun willst.“ Auch wenn ich es nicht sah, ahnte ich, wie sie mich mit ihren haselnussbraunen Augen anschaute. Sie würde nicht wollen, dass ich gehe. „Ich warte hier auf dich, Fynn. Bis du zurückkommst. Aber bitte pass auf dich auf.“ Okay, so viel dazu.

Unwillkürlich lächelte ich. Sie vertraute mir wirklich und das machte mich stolz. Ich würde sie nicht enttäuschen. Ich würde unsere Eltern retten. Und wenn ich schon dabei war, konnte ich gleich bei Terry, Wynn, Pyw, Yark, Sylla, Yera, Pyrrha, Zynba, Berry und Floray weitermachen.

Entschlossen stand ich auf und ließ den Stein in meine Hosentasche gleiten. Hoppel drückte ich dabei in Doyas Hand.

„Pass gut auf ihn auf, bis ich wieder da bin.“

„Mach ich. Versprochen.“

Mit pochendem Herzen begann die Treppen zum Ausgang zu erklimmen. Stufte für Stufe wich meine Entschlossenheit immer mehr purer Angst. Wusste ich denn wirklich, dass die Bedrohung vorbei war? Wenn es Angreifer waren, haben sie die Stadt einfach so wieder verlassen oder wurden sie gar bekämpft? Verhieß die Stille von draußen überhaupt Gutes? Schwer zu sagen. War es also eine kluge Idee, in diesem Moment aus meinem sicheren Versteck ins Ungewisse zu klettern? Natürlich nicht. Hinderte mich diese Erkenntnis in diesem Moment daran, es trotzdem zu riskieren? Nein. Das tat sie nicht.

Nachdem ich fast wieder über meine offenen Schnürsenkel gestolpert war, kam ich oben an. Langsam griffen meine zittrigen Hände zum Hebel. Ein kurzer Mechanismus wurde ausgelöst und die Falltür klappte knarzend auf.

Tatsächlich waren von draußen keine Schreie zu hören. Auch Explosionen vernahm ich keine. Nicht mal mehr die drückende Aura des Schattens spürte ich. Draußen war nichts als Stille. Mit äußerst gemischten Gefühlen duckte ich mich und kroch eingezogen wie eine Schildkröte durch die Falltür. Was ich sah, brachte mein Herz zum Stillstand: Nur noch Trümmer, eingestürzte Gebäude, reglose Körper. In der Ferne loderte nach wie vor ein großes Feuer. Binnen kürzester Zeit war meine Heimat so zugerichtet worden, dass ich sie kaum wiedererkannte.

Ich wusste nicht, wie lange ich geschockt die Trümmer der Häuser um mich herum angeschaut hatte. Aber es musste lange genug gewesen sein, um sich von hinten an mich heranzuschleichen. Ein kurzes Stechen im Hinterkopf, gefolgt von einem schmerzhaften Prickeln, was von dort aus durch den ganzen Körper strömte. Alles um mich herum wurde schwarz. Das Letzte, was ich hörte, war mein eigener Schmerzensschrei.

Kapitel 2

Tee auf der Sternwarte

Dunkelheit.

Sternenhimmel.

Dunkelheit.

Grelles Licht.

Schmerzen.

Dunkelheit.

Ein regelmäßiges Ticken – Rattern.

Leises Klimpern erweckte meine Sinne.

Schritte, die langsam, gemächlich über einen Holzboden wanderten. Direkt an meinem Kopf. Unter meinem Kopf…?

Ich lag. Der Boden war weich, gemütlich. Fast schon zu gemütlich. Schlaf überkam mich.

Doch nein – ich kämpfte dagegen an. Zu fühlen… fühlte sich gut an. So lange hatte ich in einem tiefen Schwarz geschwebt, meine Sinne waren neugierig, tasteten die Umgebung ab.

Die Luft war warm, ich hörte das Knistern eines Feuers. Feuer? Ich schrak auf und blickte mich hektisch um.

Ich befand mich in einem großen, runden Raum mit einer ausladenden Wendeltreppe im Zentrum. Die Wände waren zugestellt mit Bücherregalen, einem Kamin, der den Raum angenehm wärmte, und einem Schreibtisch, an dem eine Gestalt saß und mich überrascht anblickte. Beruhigt stellte ich fest, dass das Knistern aus einem sicheren Kamin kam und nicht von einem brennenden Haus.

Sobald das Adrenalin wieder aus meinem Körper ebbte, wurde ich von einer Flut aus Schwindel erfüllt, die mich zwang, meinen Kopf niederzulegen. Dieser ruhte auf einer weichen Sofalehne, meine Beine waren auf der Gegenüberliegenden ausgestreckt. Mein Atem ging schnell und die Decke über meinem Kopf drehte sich.

„Guten Abend“, hörte ich dann aus Richtung des Schreibtischs, gefolgt von tappenden Schritten. „Ich fürchte, du hast nicht so gut geschlafen?“

Vor die drehende Decke schob sich ein drehender Kopf, der mich mit seinen faltigen Gesichtszügen, seinen ruhigen, tiefen Augen und seinem sanften Lächeln begrüßte.

„Aber dennoch: schön, dass du wach bist.“

Die Stimme war alt und gebraucht, doch schwang in ihr eine liebevolle Fürsorglichkeit.

„Setz dich auf, mein Junge, du musst etwas essen.“

Vorsichtig richtete ich mich wieder auf, gestützt von der Rückenlehne des Sofas, und musterte die Gestalt vor mir genauer. Es handelte sich um einen alten Mann mit sorgfältig gekämmten, grauen Haaren. Seine runde Brille mit eisernem Gestell und seine vornehme, helle Kleidung verliehen ihm eine Aura der Ruhe und Weisheit.

„Hier, nimm dir etwas“, sagte er und deutete auf den Sofatisch vor mir, auf dem bereits ein heißer Tee, einige Kekse und gar eine Tafel Schokolade auf mich warteten.

Verwundert schaute ich ihn an, doch er erwiderte meinen Blick mit einem gutmütigen Lächeln bis ich die Überwindung fand an den Keksen zu knabbern.

„Ich heiße Professor Gumper“, stellte er sich vor und ließ sich etwas schwerfällig neben mir auf dem Sofa nieder. „Und du wirst wohl für unbestimmte Zeit mein Gast sein.“

Nachdem ich den ersten Keks gegessen und die Tasse Tee getrunken hatte, kamen Stück für Stück viele der Erinnerungen an die letzte Nacht zurück. Und damit auch viele Fragen und Sorgen. Ich legte den zweiten Keks wieder hin und wandte mich dem Professor zu:

„Wo sind meine Eltern? Und Doya?“

Gumper schenkte mir zunächst ein besorgtes Lächeln, bevor er mich fragte: „Wer bist du denn überhaupt, Jungchen? Du hast dich ja noch gar nicht vorgestellt.“

Mein Kopf schwirrte so sehr, dass ich einen Moment darüber nachdenken musste.

„Fynn.“

„Fynn, soso…“, wiederholte Gumper und stimmte ein nachdenkliches Brummen an. „Das Leben hat es wirklich nicht gut mit dir gemeint, mein Lieber. Diese Schattenwesen sind ein gefährliches Volk. Ich fürchte, dir ergeht es noch besser, als vielen anderen Moraniern.“

„Schattenwesen?“

„Krieger von unserem Nachbarplaneten, Beta Saxa.“ Gumpers Blick wandte sich von mir ab, seine Stimme wurde rauer und schwächer. „Wenn ich wüsste, was sie ausgerechnet nach Morania getrieben hat, würde ichs dir sagen. So oder so ist das ein böses Omen. Wir sind nicht auf einen neuen Ausbruch des Alten Kriegs vorbereitet.“

Verängstigt schaute ich ihn an. Als er meinen Blick bemerkte, heiterte sich seine Stimme jedoch sofort wieder auf und das warme Lächeln kehrte auf seine Lippen zurück.

„Doch genug davon“, sprach er. „Glücklicherweise lebe ich hier auf den Mondwiesen, wo ich die Sterne und Planeten um uns herum untersuche. Deshalb habe ich die Schattenkrieger bemerkt, als sie sich mit einigen moranischen Opfern über die Wiese begaben. Mit hellem Licht und Feuer können sie nicht umgehen und ich habe in meiner Sternwarte allerlei Mittel, es zumindest mit einer Handvoll aufzunehmen. Leider musste ich feststellen, dass sich nicht wie an anderen Tagen ein kleiner Erkundungstrupp dort bewegte, sondern eine kleine Armee. Deshalb musste ich mich schnell zurückziehen, nachdem ich gerade mal eines ihrer Opfer retten konnte. Und das warst du.“

Zusammengekauert und mit entgeistertem Blick versuchte ich die Worte zu begreifen, die der alte Mann gesagt hatte. Bilder von einstürzenden Häusern und lodernden Flammen flackerten vor meinen Augen auf. Ein Angriff also… Krieg… Magische Soldaten von einem anderen Planeten… Begriffe, die selbst in besserer Verfassung weit über meiner Größenordnung lagen. Dass darin jetzt meine Heimat und meine Familie hineingeraten waren, war ein schrecklicher Gedanke. Mir wurde übel bei der Vorstellung, was meinen Eltern zugestoßen sein könnte.

„Ojemine, damit habe ich dich jetzt überfordert, oder? Ich mache dir besser noch einen Tee.“

Damit erhob Professor Gumper sich wieder und verschwand über die Wendeltreppe im Stockwerk unter mir. Während er weg war, stand ich vorsichtig auf und wackelte zu einem der wenigen Fenster, das in den schmalen Lücken zwischen den Bücherregalen einen Blick nach draußen ermöglichte. Durch sie schien ein angenehm warmes Abendlicht der untergehenden Sonne. Ich hatte wohl einen ganzen Tag verschlafen. Der Boden vor dem Fenster lag so tief unter mir, dass der Schwindel einen Moment drohte, mich zu überwältigen. Ich musste in einem Turm sein. Um diesen Turm erstreckten sich endlos wirkende, grasbewachsene Hügel, die bis zum Horizont reichten. Nur auf der linken Seite sah ich den Saum eines entfernten Waldes zwischen zwei Bergkuppen hervorragen. Beim Anblick dieser großen, unbewohnten Weiten realisierte ich, welch unglaubliches Glück ich hatte, vor den Schattenkriegern gerettet worden zu sein. Doch solange ich nicht sicher war, ob meine Familie ein ähnliches Glück erfahren hatte wie ich, fiel es mir schwer, mich wirklich darüber zu freuen.

Kurz darauf kehrte Professor Gumper zurück, in einer Hand mit einer Kanne und in der anderen Hand mit zwei Tassen, die er auf dem Sofatisch platzierte und Tee einschenkte. Über meinen kleinen Ausflug zum Fenster erschien er nicht sehr erfreut, weshalb ich auf das Sofa zurückkehrte und dort den Rest des Tages verbrachte.

Immer wieder kamen mir die gleichen, schmerzhaften Ungewissheiten über meine Heimat in den Sinn, doch wusste der Professor darauf keine Antworten. Selbst auf andere Fragen, die ich ihm stellte, antwortete er oft nur ausweichend.

„Sie hatten von einem Krieg gesprochen…?“, fragte ich so beispielsweise nach der dritten Tasse Tee. „In Morania lernen wir wenig über Kriege. Es sei denn Sie meinten den moranisch-syllionischen Krieg, in dem Morania versucht hat unabhängig von den anderen zu werden. Darüber reden wir viel.“

„Oh nein“, gab Gumper mit einem heiseren Lachen zur Antwort. „Ich rede von einer anderen Größenordnung. Doch interessiert es mich als ein Wissenschaftler Syllions, was euch denn so beigebracht wird zu dieser Auseinandersetzung?“

Nun war ich derjenige, der in seinem Wissen kramte, um Gumper von all den moranischen Heldentaten zu berichten, die uns in der Schule beigebracht worden waren. Der Professor war ein sehr guter Zuhörer. Ohne selbst Fragen beantwortet zu haben, hatte er mich auf andere Gedanken gebracht und meine Laune deutlich gehoben. Er unterbrach mich bei meinen Erzählungen selten und fügte stattdessen im Nachhinein seine Sichtweisen hinzu. So erfuhr ich beispielsweise, dass sein eigener Vater einst als Vertreter Syllions die Verhandlungen zwischen den Städten führte. Außerdem wies mich Gumper darauf hin, dass ich nicht alles einfach glauben sollte, was mir Gelehrte erzählten. Scheinbar hatten meine Geschichtslehrer einige Heldentaten hinzugedichtet, die nie so passiert waren. Um diese Irrtümer zu bekämpfen, so empfahl mir Gumper, sollte ich meine Zeit in seiner Sternwarte mit den zahllosen Büchern vertreiben, die er in seinen Regalen sammelte.

Leider war Lesen nie eine Leidenschaft von mir. Noch dazu machten es mir die Bücher in Gumpers Regalen wirklich nicht leicht. So hätte ich beispielsweise liebend gerne mehr über unseren Nachbarplaneten erfahren, den der Professor so rätselhaft erwähnt hatte, doch wurde ich schnell von schwierigen, wissenschaftlichen Begriffen verwirrt und musste das Buch enttäuscht wieder ins Regal zurückschieben. Daher verbrachte ich einen großen Teil der folgenden Tage damit, sehnsüchtig aus dem Fenster zu schauen.

Mehrmals dachte ich darüber nach, den Rückweg nach Morania auszukundschaften. Doch das lag laut Gumper mehrere Tage entfernt und der Weg dorthin war sehr gefährlich. Selbst einen kurzen Spaziergang untersagte er mir zu meiner eigenen Sicherheit.

Stattdessen beobachtete ich Gumper nun vermehrt bei seiner Arbeit. Irgendwie musste ich versuchen, Ablenkung zu finden, um nicht an das Schicksal meiner Familie zu denken. Doch es legte sich wie ein dunkles Tuch über mein Herz und ließ mich nie ganz los.

Um mich weniger alleine zu fühlen, suchte ich so oft wie möglich Gespräche mit dem alten Mann und durchlöcherte ihn mit Fragen. Er blieb äußerst geduldig und als ich mich langsam erholte, begann er sogar, einige meiner Fragen zu beantworten.

So erfuhr ich nicht nur, welche die größten, hellsten und nächsten Sterne waren, sondern auch welchen Krieg er an meinem ersten Tag angedeutet hatte. Der ereignete sich scheinbar zu einer Zeit, an die sich nur noch die Bücher erinnerten. Es war ein Krieg zwischen den Menschen, die auf Alpha Saxa lebten und anderen, fremden Menschen, die auf Beta Saxa lebten.

„Um große Schätze haben sie gekämpft“, erzählte Gumper, „die zwei größten Schätze, die es auf den beiden Planeten gibt. Magie und Nahrung. Nahrung gab es hier, auf Alpha Saxa, immer genug. Der Boden ist sehr fruchtbar, breite Flüsse durchziehen unseren Kontinent Dendron – auch die Nutztiere entwickelten sich prächtig. Doch Magie, das fand man hier kaum. Eine seltsame Macht, die niemand ganz verstand und doch manchen Menschen ermöglichte, Außerordentliches zu bewirken… die Gesetze der Physik, wie wir sie kannten, zu brechen. Natürlich wollten die Bevölkerungen beider Planeten möglichst viel von dieser Macht haben. Und natürlich haben sie darum gekämpft.“

Er verfiel wieder in Stille und nahm nachdenklich einen Schluck Tee.

„Und? Wer hat gewonnen?“, fragte ich ungeduldig, als er auch nach dem Trinken nicht weitersprach.

„Oh“, antwortete er, „ich dachte, das sei offensichtlich. Hast du in deiner Stadt schon mal Magier gesehen?“

„Nun ja, es gibt schon ein Paar. Sind wohl immer viel beschäftigt, aber wegen denen hat Morania doch so viel Unabhängigkeit.“

„Soso“, sagte er lächelnd. „Hätte Alpha Saxa diesen Krieg verloren, hätten wir heute keinen Zugriff auf Magie. Oder zumindest nicht in diesem Maße.“

Damit wandte er seinen Blick von mir ab, nahm einen Stift zur Hand und begann unverständliche Notizen auf seinem Blatt zu machen – ein klares Zeichen für mich, dass unser Gespräch beendet war und ich mich wieder alleine beschäftigen musste.

Mit jedem Tag erholte ich mich mehr und begann, die Zeit auf der Sternwarte zu genießen. Irgendwann bot Gumper mir sogar an, mich als seinen Assistent auszubilden, solange ich bei ihm bleiben würde – ein Angebot, das ich nur zu gerne annahm. Als erster Teil meiner Ausbildung zeigte mir der Professor die Metallröhre, die er in seinem obersten Zimmer stehen hatte. Er bezeichnete sie als Teleskop und erklärte mir, dass er mit ihr die Sterne beobachten konnte, als seien sie viel näher bei uns. Noch mehr als das begeisterten mich aber die Monde Batrista und Seyagon. Durch das Teleskop konnte ich auf der rauen Oberfläche Batristas einzelne Hügel ausmachen. Selbst der größere Mond Seyagon, der am Nachthimmel glatt wirkte, war nicht so flach, wie ich erwartet hätte.

Aber nicht nur mein Wissensdurst wurde auf der Sternwarte gestillt, sondern auch mein Hunger. Morgens und mittags hatte Gumper stets frisches Brot parat, abends machte er uns meist eine heiße Gemüsesuppe mit mir fremden Knollen und Schoten. Ich beschloss, mir Valpira und Topina zu merken und mich in Morania danach zu erkundigen. An einem kühlen Herbstabend wie diesem war Valpira-Suppe das perfekte Essen.

So gut mein Leben auf der Warte auch war, konnte ich mich dennoch nie vollends entspannen. Ganz im Gegenteil: Je besser es mir ging, desto größer wurde der Drang, nach Morania zurückzukehren. Ich wollte wissen, wie es dort aussah… wollte wissen, wer überlebt hatte. Und wollte ganz besonders wissen, wie es meiner Familie ging. Oft spielte ich dabei mit dem Stein, den ich im Bunker in meine Hosentasche gesteckt hatte. Er brachte mir immer wieder schmerzliche Erinnerungen an meine Heimat zurück und war eine ständige Mahnung, nicht ewig in der Sternwarte zu verweilen. Ich war mir fast sicher, dass sein blaues Leuchten intensiver geworden war, seit ich meine Heimat verlassen hatte.

Am schlimmsten waren allerdings meine Träume in der Nacht. Dort suchten mich immer wieder Doyas Worte heim: „Ich warte hier auf dich, Fynn. Bis du zurückkommst.“

Morgen für Morgen verschlimmerte sich mein Gewissen. Auch die Ausrede, dass ich nicht gesund genug für die Reise war, brachte mich nicht mehr weiter. Doch jedes Mal, wenn ich mit Gumper versuchte, über eine Rückkehr nach Morania zu reden, wurde dieser ungewöhnlich harsch: „Fynn, Jungchen, das kannst du nicht machen. Du hast keine Ahnung, ob dort noch Schattenkrieger sind.“ Seine Möglichkeiten, mit Morania zu kommunizieren, seien außerdem durch die starke Präsenz der Schatten ausgefallen, was er als „in Maßen besorgniserregend“ bezeichnete.

Leider fiel es mir schwer, ihm zu widersprechen. Die Reise war definitiv ein Risiko. Aber ich war bereit, dieses Risiko auf mich zu nehmen. Schließlich hatte ich nicht vor, mein ganzes Leben mit einem alten Wissenschaftler zwischen seinen komplizierten Büchern zu verbringen.

Mehrmals spielte ich in den folgenden Wochen mit dem Gedanken, ob ich mich ungefragt hinausschleichen und abhauen sollte. Doch leider hatte ich keinen blassen Schimmer, wo genau ich war und in welche Richtung meine Heimat lag. Und da Gumper nicht bereit war, mir diese Information zu geben, saß ich mit ihm fest.

Zumindest bis jemand eines Morgens unerwartet an der Tür klopfte.

Sofort folgte ich Professor Gumper die Treppe ins Erdgeschoss runter. Seit fast zwei Wochen war ich keinem Menschen außer dem alten Mann begegnet. Außerdem war ich sehr neugierig, wen es an diesen entlegenen Ort verschlagen konnte. Etwa jemand aus Morania, der nach mir suchte?

Als Gumper ins Erdgeschoss schlurfte, folgte ich ihm mit leisen Schritten. Oben auf der Treppe blieb ich dann stehen, um über seine Schulter blicken zu können.

Anders als erhofft war der Besucher kein edler Soldat Moranias in glänzender Rüstung: Vor uns stand ein Mädchen, das kaum älter war als ich. Sie hatte schwarze Haare, die zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden waren, trug ein lila Shirt und einen braunen Lederbeutel über der Schulter. Ihre hochgezogene Augenbraue drückte im ersten Moment Skepsis und Ungeduld aus, bevor ihre Miene dann beim Anblick von Professor Gumper blitzschnell zu einem freundlichen Lächeln wechselte.

„Ah guten Tag! Sie sind Professor Gumper, richtig?“, begrüßte sie ihn mit hoher Stimme.

„Ja, richtig, der bin ich“, antwortete der alte Mann brummend. „Was verschlägt dich hier her, Mädchen?“

„Ich bin die Botin Syllions, die eine Abschrift Ihrer monatlichen Forschungsergebnisse abholen soll“, sagte das Mädchen und hielt ihm ein kleines Kärtchen vor, das ich aus der Distanz nicht erkennen konnte.

Während Gumper einen Moment innehielt, wanderte der Blick der Unbekannten über ihn hinweg und fixierte mich.

Dann sprach sie weiter, ohne auf eine Antwort von Gumper zu warten: „Unsere Magier haben alle Hände voll mit Morania zu tun aktuell. Da ich sowieso einen Auftrag in der Nähe hatte, gab man mir diese Aufgabe.“

Das Mädchen klang schnell und ernst, ließ dabei das Lächeln von ihren Lippen allerdings nicht verschwinden.

Gumper nickte bedächtig, brummte einige Worte vor sich hin und drehte sich dann zur Treppe, auf der ich saß. Als er mich erblickte, zuckte er überrascht zusammen, warf einen Blick zurück zu dem Mädchen und sagte zu mir: „Oh Jungchen, ich habe gar nicht gemerkt, dass du mir gefolgt bist. Warte bitte hier oben, während ich etwas holen gehe.“

„Natürlich, ich warte hier“, antwortete ich.

Und für einen Moment dachte ich auch, das wäre ehrlich. Dann kam mir ein Gedanke. Doch dieser Gedanke bekam nie die Chance, sich richtig zu festigen. Gumpers Schritte bekamen nicht mal die Chance, in den oberen Etagen zu verhallen. Ich bekam nicht die Chance, mich zu wehren. Das Mädchen war zu schnell.

Mit wenigen, großen Schritten hatte sie mich erreicht, meinen Arm gepackt und mich zielstrebig zum Ausgang gezerrt. Im Türrahmen hielt sie abrupt an und schaute mir mit stechendem Blick tief in die Augen,

„Du bist aus Morania, oder?“

Verwirrt, verängstigt, aber auch ein bisschen hoffnungsvoll erwiderte ich ihren Blick kurz, bevor ich dann nickte.

„Er sperrt dich hier ein, oder?“

„Nun ja“, begann ich zu erwidern, doch wurde sofort unterbrochen.

„Willst du nach Hause?“

Mein Herzschlag beschleunigte sich. Machte mir dieses wildfremde Mädchen gerade wirklich das Angebot, mir zu helfen? Kam sie etwa doch aus Morania? Hatte sie Kontakte dorthin?

So vielversprechend das auch war: Konnte ich den alten Professor jetzt kommentarlos alleine lassen, nachdem er mich wochenlang gepflegt hatte? Das alles war so überraschend, so plötzlich und unlogisch. Ich wusste nicht, wer sie war und warum sie mich nach Hause bringen wollte.

Dennoch… Meine Albträume, mein Versprechen an Doya – ich wusste nicht, wie viele Wochen Gumper mich noch festhalten würde, bis er mir die Chance gab, nach Morania zurückzukehren.

Ich zögerte und biss mir auf die Unterlippe. Dann hörte ich Gumpers schlurfende Schritte die Treppe runterkommen und meine Hand schloss sich wie von selbst um den Stein in meiner Hosentasche. Ich fasste mir ein Herz und nickte erneut.

„Ja, ich will nach Hause.“

Kapitel 3

Pilze und ein Stein

Kaum hatte ich die Entscheidung gefällt, drehte sich das Mädchen von mir weg und zog mich aus der Tür heraus. Wir liefen auf die andere Seite der Sternwarte und von dort aus geradewegs auf die weiten Wiesen, die vor uns lagen.

„Beeil dich“, zischte das Mädchen mir zu und zog das Tempo an.

„Aber warum müssen wir so schnell wegrennen?“, fragte ich sie keuchend. „Meinst du nicht der Professor hätte mir erlaubt zu gehen, wenn du mich begleitest?“

„Weniger reden, mehr bewegen“, entgegnete sie gereizt.

Da ich bereits schwer atmete und sowieso keine Antwort parat hatte, ließ ich ihre Bemerkung stehen und versuchte, mit ihr Schritt zu halten. Meinen Arm hatte sie inzwischen losgelassen. Eine große Chance, mich jetzt umzuentscheiden und doch noch vor ihr wegzulaufen, räumte ich mir ohnehin nicht ein. Außerdem hatte es für den Moment trotz ihrer harschen Art keinen Sinn dem Mädchen zu misstrauen, wenn ich wirklich nach Hause wollte.

Trotzdem konnte ich dem Drang nicht widerstehen, einen Blick zurückzuwerfen – zurück auf den einsamen Turm inmitten eines Meeres aus grasigen Hügeln, den ich jetzt etwas mehr als zwei Wochen mein zu Hause genannt hatte. Mich schmerzte der Gedanke, dass ich keine Chance gehabt hatte, Professor Gumper Danke zu sagen. Ich schwor mir, eines Tages zurückzukehren, um genau das zu tun.

Viel Zeit für Reue und Bedenken hatte ich im Moment aber nicht, da das Mädchen kein Anzeichen gab, ihr Tempo allzu bald zu verlangsamen. Gemeinsam marschierten wir in Stille über die weiten Hügel, einzig und allein begleitet vom Geräusch unserer eigenen Schritte und meines schweren Atems. Fast eine Stunde liefen wir so, während der Waldrand immer näher rückte. Einige Male blieb ich von Seitenstechen geplagt kurz stehen, doch erlaubte mir meine Begleiterin keine Pause und zog mich in diesen Momenten einfach weiter, bis ich von selbst wieder versuchte, mich ihrem Tempo anzugleichen.

Glücklicherweise war auch ihr klar, dass das nicht ewig funktionieren würde. Kaum hatten wir den Saum des Waldes erreicht, verlangsamten sich ihre Schritte endlich, bis sie hinter dem Schutz eines breiteren Stammes sogar zum Stehen kam. Ich tapste noch einige Meter weiter, bis ich schließlich bei ihr angekommen war und mich ausgelaugt auf dem Boden fallen ließ.

Das Mädchen lehnte an dem Baumstamm und blickte auf mich herab.

„Wow, mit deiner Ausdauer schaffen wir ja in ’ner Woche keinen Tagesmarsch.“ Man merkte ihr an, dass sie beim Sprechen versuchte die eigene Erschöpfung zu überspielen. Einen Moment rang ich mit mir, selbst eine Bemerkung dazu zu machen – wäre mir dabei, wie ich keuchend auf dem Boden lag, allerdings lächerlich vorgekommen. Außerdem traf mich ihr Kommentar zu meiner schlechten körperlichen Verfassung zu sehr, um schlagfertig zu sein. Die Bäckerausbildung des letzten Jahres hatte mir beim Abnehmen nicht gerade geholfen. Um nicht weiter in solchen Gedanken zu versinken, schaute ich mich still um:

Um uns erstreckte sich ein malerischer Wald, der schier endlos wirkte. Das lichte Blätterdach war in die bunten Farben des Herbstes gehüllt, welche der Umgebung eine bezaubernde Wirkung gaben. Die Sonne strahlte fast genau über mir zwischen den Baumkronen hindurch und sorgte für eine wohlige Wärme.

Das Mädchen hatte inzwischen ihre Tasche neben sich abgelegt und begonnen unruhig mit dem Fuß zu wippen. Als Botin aus Syllion hatte sie sich Gumper vorgestellt. Syllion war die Hauptstadt des Syllonischen Reiches, zu dem auch Morania gehörte. Dass das Mädchen wirklich nicht aus meiner Umgebung kam, war ihr anzusehen. In einer so auffälligen Farbe wie lila würden sich in Morania höchstens die Magier zu kleiden wagen. Selbst der Stoff, aus dem ihre Kleidung gemacht schien, wirkte anders, als alles, was ich aus meiner Heimat kannte.

Aber wenn sie tatsächlich eine Botin Syllions war, warum hatte sie dann die erfragten Dokumente bei Gumper einfach liegen gelassen? Und woher kam das Interesse, mir zu helfen? Sie wirkte nicht so, als würde sie aus purer Nächstenliebe handeln. Auch wenn ich für einen Moment dachte, in ihrem kalten Blick einen Hauch Mitleid zu sehen, schien es mir letztlich eher so, als würde sie sich selbst für ihre Situation am meisten bemitleiden. Wieso sollte ich ihr also vertrauen?

Schließlich äußerten sich all diese Gedanken und Zweifel in einer einzigen Frage: „Wer bist du?“

„Könnt’ ich dich genau so fragen.“

Okay, dann halt nicht. Ich versuchte es mit einer anderen Frage:

„Warum mussten wir vor Gumper wegrennen?“

„Du bist ein noch größerer Idiot, als man dir ansieht, oder?“

„Professor Gumper hat mich vor den Schattenkriegern gerettet, meine Wunden versorgt und mir sogar Schokolade gegeben!“, reagierte ich entrüstet. Ich konnte ihr offenes Misstrauen nicht unkommentiert stehen lassen.

„Hat dir in deinem Dorf keiner beigebracht, dass du dich von gruseligen, alten Männern, die dir Süßigkeiten anbieten, fernhalten sollst?“, antwortete das Mädchen spöttisch. „Aber gut, langsam reicht’s. Wir müssen weiter.“

Ohne sich länger mit mir zu beschäftigen, drehte sie sich von mir weg, horchte in den Wald hinein und lief davon. In diesem Moment wurde mir klar, warum ich ihr vertrauen sollte.

Vor mir lag ein unbekannter, potentiell gefährlicher Wald und das Mädchen schien zumindest eine Ahnung zu haben, was sie tat. Wenn ich diesen Wald durchqueren musste, um nach Hause zu kommen, war ihre Begleitung wohl besser als allein zu sein.

Also rappelte ich mich auf, klopfte Dreck von meiner Hose ab und versuchte sie einzuholen. Ihr schneller und zielstrebiger Gang bereitete mir jedoch Schwierigkeiten. Als sie merkte, dass ich bereits außer Atem neben ihr auftauchte, wurde sie langsamer und lächelte überzeugt:

„Na, kommst doch mit? Dacht’ schon du würdest dort liegen bleiben.“

Ich warf ihr den giftigsten Blick zu, der mir möglich war, erwiderte aber nichts. Schließlich hatte sie ein gutes Argument, warum ich bei ihr bleiben würde. Zumindest bis sich eine Möglichkeit ergab, wie ich alleine nach Morania zurückfinden konnte.

Nach wenigen Minuten des Laufens trafen wir auf einen kleinen Fluss, der seinen Weg durch den Wald schlängelte und folgten seinem Verlauf für den Rest des Tages. Krampfhaft dachte ich darüber nach, ob ich wusste, um welchen Fluss es sich handelte und ob er mir bei der Orientierung helfen könnte, nur leider war mein Schulbesuch in Morania zu kurz gewesen, um je viel Geographie gelernt zu haben. Also blieb mir kaum etwas anderes übrig als dem mysteriösen Mädchen weiter zu folgen, die sich immerhin jetzt die Kommentare verkniff.

Wer sie wohl war? Ob sie mir wirklich helfen wollte oder mich ganz im Gegenteil ins Verderben führte? Doch was hätte sie davon? So viele Fragen kreisten in meinem Kopf, die ich nicht stellen konnte, ohne mich weiteren gereizten Kommentaren auszusetzen.

Klar war, dass sie sich nicht zum ersten Mal ihren Weg durch diesen Wald bahnte. Geschickt schlug sie sich durch Dornensträucher, an denen ich mir meine Beine blutig kratzte und sprang über kleine Bächlein, in denen ich – nicht immer absichtlich – meine Schrammen direkt wieder reinigte. Da sie nur selten Rücksicht auf meine Ungeschicklichkeit nahm, hatte ich wenig Zeit nachzudenken und die Stunden verflogen schnell.

Um immerhin etwas Orientierung zu bekommen, versuchte ich anhand von Merkmalen der Natur herauszufinden, in welche Himmelsrichtung wir unterwegs waren. Schließlich waren es die Vögel auf ihrem Weg nach Süden, die mir weiterhalfen. Die roten Turpen kamen uns in Schwärmen entgegen, also liefen wir in den Norden. Der Wald wurde nach einiger Zeit immer dichter und zwischen majestätischen Laubbäumen taten sich auch kleinere Nadelbäume auf. Spätestens jetzt war ich sicher, diesen Ort nicht zu kennen oder zumindest nie soweit darin vorgedrungen zu sein. Doch dauerte es nicht lange, bis selbst dieser Entschluss ins Wanken kam: Wir erreichten am Abend eine kleine Lichtung, die sehr reich an Pilzen war. Auch wenn ich ihre Namen nicht kannte, waren zweifellos das die Pilze, die ich häufig mit meiner Mutter gesammelt hatte, wenn wir im Wald unterwegs waren.

Ich versuchte, die schmerzlichen Gedanken an meine Mutter zur Seite zu schieben, und beschloss stattdessen, das Schweigen endlich zu brechen:

„Sind wir hier im Wald des Nordens? Ich war dort als kleiner Junge mit meiner Mutter Pilze sammeln. Und die hier sehen sehr ähnlich aus.“ Bei diesen Worten bückte ich mich kurz und pflückte einen der braunen Pilze, dessen grüne Musterung sich in Kreisen von innen nach außen ausbreitete. Zu meiner Überraschung hielt sie an, nahm den Pilz entgegen und musterte ihn.

„Wald des Nordens? Nein. Der Wald ist südlich von unserem Ziel.“

Also lag ich auch mit diesem Hinweis falsch. Pilze konnten wohl in mehr als einem Wald gleichzeitig wachsen. Unentschlossen blieb ich stehen und schaute auf den Boden, auf dem grade eine wandernde Kolonie bläulicher Insekten nach einer neuen Heimat suchte.

„Ich denke wir können diese Lichtung nutzen, um Rast zu machen für heute“, sagte das Mädchen jetzt und ließ sich, ohne auf eine Reaktion von mir zu warten, auf den Boden fallen. Zum Glück neben den Insekten.

Erst jetzt wurde mir klar, dass die Sonne schon fast verschwunden war und meine Beine von der pausenlosen Wanderung des Tages schmerzten.

„Du hättest sowieso nicht viel mehr gepackt heute. Auch wenn wir eigentlich viel weiter hätten kommen müssen.“ So wie sie das sagte, klang es nicht mal nach einem Vorwurf, sondern eher nach einem unumstößlichen Fakt. Und so gerne ich widersprochen hätte, hatte ich an diesem Tag tatsächlich deutlich mehr Bewegung, als ich gewohnt war.

Die Ledertasche hatte das Mädchen vor sich auf dem Boden platziert und wühlte nun darin, während ich mich ein Stück entfernt von ihr ebenfalls hinsetzte. Ohne die Sonne wurde es schnell kalt und die kurze Kleidung, die ich in der letzten Nacht griff, war sicherlich nicht für solche Ausflüge gedacht.

Das Rascheln aus ihrer Richtung hörte auf und wir saßen für einen Moment schweigend da und lauschten dem Fluss, der hinter uns durch ein Tal floss.

Nach einer Weile durchbrach meine Begleiterin die Stille: „Nur um sicher zu gehen… Fang!“ Kaum dass sie fertig gesprochen hatte, flog mir plötzlich ein faustgroßer Stein entgegen und prallte schmerzhaft gegen meine Schulter.

„Au!“, rief ich aus. „Was sollte das?“

„Sei nicht so laut“, ermahnte sie mich. „Außerdem solltest du fangen. Nimm ihn kurz in die Hand und wirf ihn dann zurück.“

Irritiert betrachtete ich den Stein neben mir. Goldene Symbole waren auf seine raue, graue Oberfläche eingraviert. Fast schien es mir, als würde von ihnen ein sanftes, goldenes Leuchten ausgehen.

Und tatsächlich – als ich nach dem Stein griff, wurde das Leuchten intensiver, ja fast schon grell. Er fühlte sich unerwartet warm in meiner Hand an – nein: glühend heiß. Doch mich störte die Hitze nicht, sie fühlte sich angenehm an – ein heißes Bad an einem kalten Wintertag. Denn sie strömte durch meinen ganzen Körper, wärmte mich von Innen auf, gab mir Kraft, Kraft, immer mehr Kraft. Unwillkürlich stand ich auf. Meine Atmung beschleunigte sich und mein Magen begann zu kribbeln. Ein Kribbeln, das intensiver wurde, zu Aufregung wurde; sich mit der Wärme, dem grellen Licht und der Kraft paarte und zu einem unbezwingbaren Gefühl der Macht wurde, das jetzt im Rhythmus meines Herzschlags…

Und dann war es vorbei. Durch das blendende Licht kam ein Arm geschossen, der mir den Stein aus der Hand riss. Sofort kam ein Gefühl der Ernüchterung über mich.

„Hab ich dir nicht gesagt, du sollst den sofort zurückgeben?!“, schrie mich das Mädchen an.

Sie stand mit bedrohlich funkelnden Augen vor mir, den Stein in der einen und einen Dolch in der anderen Hand.

Verwirrt und beschämt sank ich wieder in mich zusammen. Was war mit mir geschehen?

„Tut mir leid“, murmelte ich und schielte ängstlich auf ihren Dolch.

Nach einigen angespannten Atemzügen ließ sie Waffe und Stein wieder sinken.

In ihren Händen war das Glühen augenblicklich deutlich zurückgegangen, weshalb nur noch der letzte Schein der untergehenden Sonne unsere Lichtung sichtbar machte. Kopfschüttelnd räumte sie den Stein zurück in die Tasche und steckte sich den Dolch an ihren Gürtel.

Schließlich seufzte sie laut auf und setze sich wieder auf eine moosige Fläche auf dem Waldboden.

„Shit“, murmelte sie. „Das war krasser als erwartet. Aber gut, immerhin hat sich das jetzt geklärt.“ Auf ihren Lippen entstand der Hauch eines sanften Lächelns, als sie ihren Blick wieder zu mir richtete.

„Ich wollte dich nicht so anschreien, sorry. Ich bin nur etwas in Panik geraten, als du aufgestanden bist. Aber das war nicht deine Schuld, klar kannst du damit nicht umgehen.“

„Was… was war das?“, fragte ich fassungslos.

„Nichts, worüber wir hier reden sollten. Und eigentlich auch nichts, was wir hier hätten tun sollen. Aber sobald du in Sicherheit bist, wirst du es erfahren. Versprochen.“

Eine kurze Pause.

„Komm, setz dich zu mir, ich habe genug Essen für zwei dabei.“

In ihrer Stimme lag eine überraschende Ruhe und Freundlichkeit, die ich den Rest des Tages noch nicht erlebt hatte.

Überrascht von diesem plötzlichen Umschwung blieb ich einen Moment skeptisch sitzen, schließlich gewann aber der Gedanke an Brot und Käse gegen mein Misstrauen und ich rückte zu ihr.

Den Rest des Abends verbrachten wir in einem nachdenklichen Schweigen. Plötzlich waren all die Rätsel, die mir meine verhängnisvolle Nacht in Morania aufgegeben hatten, überschattet von diesem Moment, in dem ich den Stein in der Hand hielt.

Irgendwann seufzte das Mädchen erneut.

„Fynn?“, sagte sie.

„Ja?“

„Du solltest schlafen gehen. Wir müssen viel Weg zurücklegen. Hier, deck dich zu.“

Ich glaube, ich war zu diesem Zeitpunkt einfach zu verwirrt, um mich zu fragen, woher sie meinen Namen kannte. Oder zu erschöpft. Oder ich war einfach dankbar, dass sie mich schlafen ließ.

Sie warf mir sogar ein Knäuel aus ihrer Tasche zu, dass sich als eine alte, löchrige Strickdecke entpuppte.

„Wie heißt du überhaupt?“, fragte ich sie leise, während ich mich in die Decke einkuschelte und mir einen gemütlichen Platz im Moos suchte.

„Du kannst mich Sira nennen.“

Kaum hatte sie mir geantwortet, drehte ich mich ein letztes Mal auf die Seite und fiel im gleichen Atemzug in einen tiefen Schlaf. Ich bekam nicht mehr mit, wie Sira mit ihrem Dolch in der Hand an einem Baum lehnte und Wache hielt, bis auch ihre Augen nicht länger offenblieben.

Kapitel 4

Feuer

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, erreichten gerade die ersten Sonnenstrahlen die nebelige Lichtung und ließen die Pilze mystisch funkeln. Es war immer noch sehr kalt, weshalb ich die blaue Strickdecke vom Vortag etwas enger um mich wickelte. Erst jetzt sah ich, dass in ihrer Mitte ein Symbol prangte. Ein Baum mit ausladender, grüner Krone und einem dicken, braunen Stamm. Darüber eine goldene, dreizackige Königskrone. Es war das Wappen von Morania.

Kam sie etwa doch aus Morania? Nachdenklich schaute ich hinüber zu dem unbekannten Mädchen, das sich mir am Vorabend als Sira vorgestellt hatte. Sie lehnte an einem kräftigen Baum in meiner Nähe. Ihre sichtbaren Wangenknochen und das spitze Kinn gaben ihrem blassen Gesicht eine kantige Erscheinung. Ihre glatten, dunklen Haare hatten nur noch eine vage Ähnlichkeit mit einem Zopf. In ihrer Hand lag der silberne Dolch, den sie den Tag über am Gürtel getragen hatte. Wären ihre Augen nicht geschlossen gewesen, hätte ich nicht gedacht, dass sie schlafen würde. Ihre Körperhaltung war selbst jetzt noch so steif und wachsam, dass ich mich kaum traute, ein Geräusch zu machen, aus Angst sonst jede Sekunde ihre Waffe in der Brust stecken zu haben.

Also entschloss ich, den Sonnenaufgang zu beobachten und mich noch etwas zu erholen bis die Wanderung ins Unbekannte wieder losging. So entspannt es eben ging in einem fremden Wald, in dem mich selbst die Pilze gruselig anstarrten.

In diesem Moment hörte ich ein Rascheln aus einem Gebüsch. Was war das? Kurz überlegte ich, Sira zu wecken. Doch der Dolch in ihrer Hand schreckte mich ab. Vielleicht hatte ich mir das Geräusch in meiner Unsicherheit auch nur eingebildet. Dann hörte ich es erneut. Sofort schnellte mein Blick zurück zum Busch. Dieses Mal sah ich einige Meter entfernt von mir eine grau-weiße Schwanzspitze hinter einem Baum verschwinden.

Mein erster Gedanke war, dass es sich um einen Hund handeln könnte, aber die meisten Hunde befanden sich meines Wissens nach in den Städten, nicht im Freien an einem seltsamen Ort wie diesem. Da ich Hunde schon immer geliebt hatte, war nun meine Neugier geweckt. Zu tun hatte ich sowieso nichts, also folgte ich dem Tier ein Stück in den Wald hinein. Meine Mutter hatte mir mal erzählt, dass es enge Verwandte der Hunde gegeben haben soll, die einst als Jäger durch die Wälder streiften. Ich sollte also achtsam sein.

Der Nebel wurde schnell dichter, nachdem ich nur wenige Meter zwischen den Bäumen vorgedrungen war. Von dem Tier war allerdings nichts mehr zu sehen. Generell war der Wald erstaunlich ruhig so früh am Morgen; die einzigen Wesen, die ich entdeckte, waren kleine Wasserratten auf dem Weg zu dem nahegelegenen Fluss. Da ich keine Sicht mehr auf die grau-weiße Schwanzspitze hatte, setzte ich mich an den Rand des sandigen Flussbetts, wusch mich ein wenig und beobachtete fasziniert, wie die Wasserratte einen winzigen Fisch aus dem Wasser fing und verzehrte.

Zeit verstrich, die Sonne stieg höher und der Nebel lichtete sich etwas. Mein Wasserrattenfreund war außerhalb meines Sichtfeldes flussabwärts gehuscht und die Vögel läuteten mit ihrem Gesang den Tag sein. Die Schönheit der Natur hatte es ähnlich wie zuvor Gumpers Sternwarte geschafft mich etwas auf andere Gedanken zu bringen. Doch konnte ich nicht vergessen, dass ich mich dank Sira meiner zerstörten Heimat bald wieder nähern würde. Und das brachte die Erinnerungen an meine schicksalhafte letzte Nacht in Morania zurück.

Krieger von einem anderen Planeten, die aus unbekannten Gründen Interesse daran hatten, unser Dorf in Schutt und Asche zu zerlegen… Ihre Schattenmagie nutzten, um alles zu zerstören… Wieder und wieder liefen Szenen in meinem Kopf ab. Bilder, die ich gesehen hatte oder zumindest geglaubt hatte zu sehen. Bilder, die ich nie hätte sehen können, mir aber trotzdem so real vorkamen. Meine Eltern, Doya, Sofie, Schatten, Flammen. Meine Hand schloss sich krampfhaft um den Stein in meiner Hosentasche. Emotionen überkamen mich.

Ich wusste gar nicht, wie lange ich schon zusammengekauert am Wasser saß und schluchzte, als sich jemand neben mich in den Sand setzte und tröstend einen Arm um meine Schultern legte. Überrascht sah ich auf und blickte Sira entgegen, die mich besorgt beäugte. Eine Mischung aus Verwirrung und Dankbarkeit machte sich in mir breit. Für einen Moment war es mir fast peinlich, dass sie mich weinend am Ufer vorgefunden hatte.

„Bist du schon lange wach?“, fragte sie mich so leise, dass ich es durch das Rauschen des Flusses fast nicht verstanden hätte.

Ich schüttelte mich etwas, um meinen Kopf frei zu bekommen, und schaute an den Himmel. Augenscheinlich saß ich schon seit einer ganzen Weile hier, die Sonne war vollends aufgegangen.

„Mhm“, brummte ich zustimmend.

Als sie sah, dass ich mich wieder beruhigt hatte, zog sie ihren Arm zurück und stand auf.

„Ich hole kurz die Tasche, wir essen etwas und dann gehen wir weiter, okay?“

„Wie lange brauchen wir noch?“ Endlich traute ich mich, diese wichtige Frage zu stellen.

Ihre Miene verfinsterte sich wieder und sie ließ mich sitzen. Eine knappe Minute später kehrte sie mit ihrer Tasche zurück und sagte unvermittelt:

„Eine Weile. Ich muss noch etwas anderes hier erledigen.“

Trotzig meinte ich: „Aber meine Familie wartet schon lange genug auf mich.“

Für einen Moment schaute sie mich mitleidig-fragend an. Dann wurde ihr Blick wieder kalt.

„Wenn du versuchen willst, alleine einen Weg zu finden, wünsche ich dir viel Spaß.“

„Gut, dann muss ich das wohl tun“, antwortete ich verbissen.

Verwundert über meine Entschlossenheit hielt sie einen Moment inne. Sie schien es sich anders überlegt zu haben.

„Fynn. Das ist zu gefährlich. Du darfst nicht sterben.“

„Warum ist dir das so wichtig?“

Langsam frustrierte sie mich. Hätte ich doch nur eine Karte von diesem endlosen Wald, würde ich alleine klar kommen. Wenn ich einfach dem Fluss folgen würde…?

„Ich lasse Leute ungern sterben...“, antwortete sie zögernd auf meine vorige Frage. Sie schien mich direkt anzuschauen, allerdings kein bisschen mehr zu sehen. Ihre Augen wanderten in die Ferne.

„Du hast nichts zu essen, bist unglaublich ungeschickt, kennst nicht mal den genauen Weg und hast absolut keine Ahnung, was dich in diesem Wald für Gefahren erwarten. Du würdest niemals lebend in Morania ankommen ohne meine Hilfe.“ Siras Stimme hatte wieder zu voller Stärke zurückgefunden.

Ich wollte etwas entgegnen, doch sie sprach unbeirrt weiter: „Und wenn du meine Hilfe willst, gehen wir erst dort hin, wo ich Dinge zu erledigen habe.“

Resigniert seufzte ich. Das Schlimmste an Sira war vermutlich, dass sie Recht hatte. Die Einbildung, dass ich den Rückweg ohne Hilfe lebend überstehen würde, war wirklich naiv. Und zumindest schien ich ihr nicht egal zu sein, also würde ich ihr vorerst vertrauen müssen.

Wieder ohne mir eine Chance zu geben, etwas zu erwidern, fuhr sie fort: „Gut, dass wir uns einig sind. Let’s go, wir müssen weiter.“

Da ich mich nicht erneut gegen ihre herrische Art auflehnte, aßen wir gemeinsam und zogen wie am Vortag flussabwärts. Im Vorbeigehen grüßte ich kurz meinen Wasserrattenfreund, was mir einen irritierten Blick von Sira bescherte, den ich genoss. Ein subtiler Weg, die Verwirrung heimzuzahlen, die ihre unbeantworteten Fragen bei mir verursachten.

Wir hielten uns weiter ohne größere Abweichungen am Fluss, der inzwischen Richtung Nordwesten floss, sprangen über Seitenarme oder kletterten Böschungen hinunter. Einmal konnte ich sogar einen kleinen Wasserfall bewundern, als der Fluss eine besonders steile Felskante hinunterrauschte.

Irgendwann wurden aus Stunden Tage und ich fand mich damit ab, meine Familie nicht so bald wiederzusehen. Besonders morgens, bevor wir aufbrachen, überkamen mich jedoch häufig die Ängste und Sorgen. In diesen Momenten bewies Sira am meisten, warum ich mich entschieden hatte, ihr zu vertrauen. Wann immer es mir schlecht ging, hatte ich eine Schulter, an der ich mich ausweinen konnte. Sie redete nicht viel und weihte mich schon gar nicht in ihre Pläne und Absichten ein, abgesehen davon kamen wir allerdings recht gut miteinander aus. So lange ich mich nicht zu sehr beschwerte und vor allem nicht auf die Idee kam, alleine gehen zu wollen, war sie rücksichtsvoller mit mir und kommandierte mich nur selten herum. Warum auch, wenn ich kaum andere Optionen hatte als das zu tun, was sie wollte.