Flankenschmerz - Pamina Normal - E-Book

Flankenschmerz E-Book

Pamina Normal

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Beschreibung

Von familiären Schicksalsschlägen gebeutelt, verfällt die jung verwitwete Greta dem Alkohol und anderen Drogen, besonders aber ihren zwanghaften Verhaltensweisen und ihren Illusionen, als sie plötzlich unverhofften Seelenfrieden in der Destruktion erfährt. Klimacterium Praecox, Unterleibsbeschwerden, Säuferwahn und erotische Fantasien. Das sind die Grundpfeiler der Geschichte einer frauenmordenden Bibliothekarin, die nach dem Unfalltod ihres Mannes emotional verwahrlost. Ort des Geschehens ist die »City of Dust«, die steirische Landeshauptstadt Graz, und ihre von Süchten und Neidgefühlen getriebene Bewohnerin, die beinahe als erste weibliche Berühmtheit in die Annalen der Murmetropole eingegangen wäre.

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis FLANKENSCHMERZ

Teil 1:

Neid

Prolog

Hitze

Froschrealität

Kippys Brief

Vasektomie

In Taverna

Ausnahmefehler

Teil 2:

Zorn

Quarantäne

Peace of Mind

Frühlingserwachen

Der Ekel

In der Schwebe

Tage wie Blumen

Teil 3:

Rache

Hortus Conclusus

Fragmentierung

Reflexionen, Interventionen

Kampf dem Dekubitus

City of Dust

Revelation

Epilog

Für DUCKY und dass er mir verzeiht

Denn ich begreife mein Handeln nicht: Ich tue nicht das, was ich will, sondern das, was ich hasse.(Brief des Paulus an die Römer 7,15)

TEIL 1 NEID

[...] der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht

(1. Brief des Paulus an die Thessalonicher 5,2)

PROLOG

Schattendenken

Doch die kleinen Zwischenbilder

Heucheln buntes Zeitvergnügen

Nicht sehend, doch ins Hirn geschossen

Flüstern sie verstandentschlossen

Auch ohne Ohren ganz lieblich kühl

Das Blitzgewitter macht die Augen

Selbst für schöne Dinge blind

Die Schatten denken mit

Doch die kleinen Zwischenbilder

Man sieht sie nicht

Gefühle werden konsumiert

Vakuumverpackt

Bezahlt?

Mal warm, mal tiefgekühlt

Verschenkt?

Mal aufgedrängt

Da zum Selbstzweck

Scheinbar unbrauchbar

Ein Mehr als totes Beigeschenk

Niemals gelebt

Die Seele

Schlicht verhungern lässt

Und nur der Zorn

Treibt mir jenes Wasser

In die Augen

Welches irgendwann

Als Meer mir meinen Atem rauben wird.

Bin ich übrig?1

1 Goethes Erben: »Schattendenken«, auf »Dazwischen«, 2005.

HITZE

Ich will dem Schicksal in den Rachen greifen; ganz unterkriegen soll es mich gewiss nicht.

(Ludwig van Beethoven)

Das also war Greta Martina Shahidi, die da teilnahmslos an ihrem Küchentisch saß, eine Ausgeburt an himmelschreiender Durchschnittlichkeit. Sie verfügte über keine distinktiven Merkmale, rein gar nichts, was sich als beschreibungswürdig herauskristallisiert hatte. Es war Donnerstag, ihr freier Tag, 15 Uhr 36, gefühlte 40 Grad, ein Tag rund um die Iden des März. Sie würde keinen Grund suchen müssen, um zu trinken; es wäre schon aufgrund der Hitze eine apodiktische Notwendigkeit.

Gestern Morgen war sie in ihrem armeegrünen Parka zur Arbeit gegangen, mit Wollhaube und festen Lederstiefeletten, heute hatte sich der ankommende Frühling mit sommerlicher Wucht in ihr Gedächtnis geharkt. Eine Aufdringlichkeit, die sie sich nicht gefallen lassen würde. Statt um fünf würde sie unverzüglich mit der Flasche Merlot Château Marsau beginnen, die ihr Cordelle, ihre Nachbarin, großzügigerweise für siebzehn Tage Blumengießen auf die Fußmatte gestellt hatte.

In gewisser Weise hätte Greta zu diesem Zeitpunkt den Fortlauf ihres Lebens noch in andere Bahnen lenken können, aber da sie zu sehr mit der unmittelbaren Befriedigung ihrer Bedürfnisse beschäftigt war, kam ihr der Gedanke an eine Wahlmöglichkeit gar nicht in den Sinn. Vor eineinhalb Jahren hatte sich ihr Schicksal gewendet, was mit schwerwiegenden Verlusten einhergegangen war. Diese Verluste, das wusste sie seit Anfang des Jahres, würde sie sich in Selbstregie, nach eigenen Regeln vom Leben zurückholen. Sie hatte ihr Trauerjahr eingehalten und ihre Wartepflicht auf über die Hälfte des erforderlichen Ausmaßes ausgedehnt. Sie hatte abgetrauert. Nun hegte Greta gezielte Erwartungen an die nächste Zeit. Zu lange hatte sie ohne Opportunitäten, ohne konkrete Forderung an die Zukunft gelebt und Trübsal geblasen, stand etliche Male an der Schwelle zur Akzeptanz und hatte es nicht geschafft, kleinmütig beizugeben.

Greta stemmte sich an den Armstützen ihres original Thonet Bugholzsessels ab, um mit knackenden Knochen aufzustehen. Ihre Füße waren bei ihrer nachmittäglichen Kurzbesinnung zur Gänze eingeschlafen oder die präsenile Osteoporose schlug gerade ein. Man wusste es schlichtweg nicht. Die Gedanken kreisten wieder einmal um die Grundfragen: »Woher kommt das Geld?«, »Wann stirbt der Nächste?« und »Wer schwängert mich?« Allerdings neigten diese drei fundamentalen Fragen in letzter Zeit dazu, einen Schwall weiterer Denkaufgaben zu generieren, die kurz vorm Einschlafen in exponentiell vervielfältigter Pracht durch den glosenden Schädel jagten und so lange auf die Empfängerin feuerten, bis das Schild »EXIT« in gigantischen Neonbuchstaben vor ihr aufblitzte.

Dann tappte Greta mit röchelndem Atem durch den dunklen Flur ins Atelier und bediente sich an ihrer Hausbar, die einem barocken Tabernakel mit Kuppel und gedrehten Säulen nachempfunden war. Auf den Schranktüren befanden sich anstelle der Passion Christi Relieftafeln mit Bacchus als jungem Weingott und seinem Tross, bestehend aus dem trunkenen Silen mit Blähbauch, in Tierfelle gehüllte Mänaden und nackte Satyrn mit drallen Putten, die zu mythologischen Tanzszenen vereint waren; auf der Kuppel der Triumph des Bacchus und seine Vermählung mit der kretischen Prinzessin Ariadne auf Naxos. Die wilde Ausgelassenheit spiegelte Gretas Vorfreude, die ihren Organismus wie ein Buschfeuer entflammte. Als sie den vollen Inhalt der Flasche identifizierte, jagte ein heiliger Schauder durch ihr System und entfachte den ewig gleichen Mechanismus. Angst und Lethargie wandelten sich zu Hoffnung und Tatendrang. Beim Ergreifen der Flasche erlebte sie ihre Apotheose.

Mit dem Château Marsau in der Hand flatterte Greta in ihrem viktorianischen Nachthemd zurück in die Küche, um den Wein im Gefrierschrank zu versenken. Als er sich spreizte, hieb sie ihn mit Gewalt in das vereiste Fach. Eine Packung Erbsen riss auf und der Inhalt ergoss sich auf den Boden. »Scheißerbsen«, bemerkte Greta, tatsächlich ihr allererstes Wort an diesem Donnerstag. »Es reicht«, ihre nächsten und – mit einem dumpfen Timbre in der Stimme: »gottverfluchte, verdammte Scheiße!«

In vierzig Minuten wäre die Plörre genießbar, zumindest so totgefroren, dass ihr nicht mehr davor grauste und sie in gewohnter Manier illuminieren würde. Philippa, ihre Mutter, hatte gesoffen, ihre Großmutter, deren Mutter und so fort. Wahrscheinlich reichte es bis zur Ahnherrin ihres Geschlechts oder der Eva der Mitochondrien zurück. Ihre Mutter hatte zwangsläufig während der Schwangerschaft getrunken und dies mit aller Vehemenz verleugnet, jedoch besaß Greta eine viel zu dünne Oberlippe und eine flache, wie verstrichen wirkende Rinne zwischen Nase und Mund: das Philtrum eines Babys mit Fetalem Alkoholsyndrom. Aber auch diese Umstände machten keinen bemerkenswerten Menschen mit Eigenschaften aus ihr. Sie hätte aus einer lupenrein dysfunktionalen Familie stammen können, wenn sich Darius, ihr co-abhängiger Vater, nicht kurz nach ihrer Geburt absentiert hätte, so hingegen reichte es nur zu jenem undefinierten suboptimalen Milieu, von dem so gut wie jedes Einzelkind einer Alleinerziehenden betroffen ist.

Greta hatte zeitlebens weder geraucht noch getrunken oder andere Drogen konsumiert, aus dem einfachen Grund, weil sie nicht so enden wollte wie ebendiese besagte Mutter, die sich am 7. März 2007 in ihrer unfassbar abgehalfterten Garçonnière auf der Hasenheide selbst abgefackelt hatte. Philippa hatte ihr Leben als weiche, klebrige Lakritze beendet und braune, bröckelige Schlieren am Boden hinterlassen. Der Rest war verkohlt, verpufft, was auch immer. Praktikanten hatten ihre Hinterlassenschaft aus den Fugen gekratzt. Laut Behörden handelte es sich um einen Unfall mit brennender Zigarette, aber Greta wusste, dass sie höchstpersönlich dafür gesorgt hatte. Immerhin war es der zehnte Jahrestag von Martin Kippenberger, ihrem imaginierten Liebhaber, dessen Urheberschaft an ihrer Tochter sich Philippa genauso eingebildet oder eingeredet hatte wie alles andere in ihrem Leben. »JETZT GEH ICH IN DEN BIRKENWALD, DENN MEINE PILLEN WIRKEN BALD«, ein Zitat ihrer künstlich hochgespielten Wahnliebe, das in schlottrigen Buchstaben jahrelang nach ihrer Selbstentleibung von einem Transparent fächelte. Tauben erlösten Greta von diesem Menetekel, zerrissen und zerhackten es zu Fetzen.

Gewitterwolken waren aufgetaucht, die mit lautem Brummen und Getöse den Himmel penetrierten. Greta fläzte sich an ihren Küchentisch, eine schwere Altarplatte aus Mahagoni, die aus dem Inventar einer säkularisierten Kirche in Wetzelsdorf stammte. Sie rollte mit ihren Zehen die gefrorenen Erbsen über den Boden. So also gedieh ihr das Leben. Ohne Alkohol fühlte sich die Einsamkeit an wie die zögernden Schritte über die leeren Schulhöfe ihrer Kindheit.

Ihr Mutter Philippa war mit 40 abgebrannt. Wegen der Sauferei wäre sie mit 35 ins Klimacterium praecox geschlittert, hatte ihr Tanya, Philippas Tante, warnend eingebläut. Die Funktion ihrer Eierstöcke war von einer Sekunde auf die andere vorzeitig erloschen, auch wegen der eklatant schlechten Durchblutung durch die permanente Nikotin-Zufuhr. Sie wäre eine ausgewiesene Kettenraucherin gewesen und hätte an der 100-Stück-Marke gekratzt, was zu damaligen Zeiten nichts Ungewöhnliches darstellte. Sie hätte sogar nachts gequalmt, während des Zähneputzens, beim Stillen. Früher hegte man deswegen keine Bedenken. Letztendlich hätte sich auch ihr Veganismus, den Tanya nicht leiden konnte, ursächlich auf ihr Ovarialversagen ausgewirkt. Ihre Follikel hatten seit Jahrzehnten nicht mehr ovuliert. Dass sie dennoch schwanger geworden war, glich einem Wunder.

Damals hatte Greta bei ihrer Großtante in der Eisteichsiedlung gelebt und keinen Kontakt mehr zu ihrer Mutter gepflegt. Das letzte, was sie von ihr gesehen hatte, war der glänzende Nussbaumsarg, der in das Familiengrab am Steinfeldfriedhof gelassen wurde, auf den sie auf Anordnung Tanyas einen Bund weißer Chrysanthemen gestreut hatte. Wahrscheinlich hatte sie noch nie in ihrem Dasein so wenig empfunden wie anlässlich dieser Beerdigung. Sie hatte sich so stark von den Eindrücken ihrer Kindheit dissoziiert, dass in ihrem Kopf nicht ein einziger Gedanke an diese Frau aufgetaucht war, keine einzige liebgewonnene Erinnerung, kein Bild aus besseren Zeiten, nicht die leiseste Empfindung.

Erst die Interventionen Tanyas hatten sie aus diesem abgespaltenen Zustand gebracht. Tanya hatte jedem einzelnen, sogar den erstaunten Statisten, anvertraut, dass ihre Mutter an der sogenannten spontanen Selbstentzündung gestorben sei, was sie auch Gretas Vater in Istanbul mitgeteilt hatte. Darius, der in jenen Sekunden mit seiner neuen Familie um einen türkischen Samowar hockte, seinen Gästen auf der Kamantsche vorspielte und seinen höchst privaten Anteil zur Pervertierung der Verhältnisse lieferte. Greta war, als hätte sie in ein Guckkästchen geblickt und gesehen, wie ihre Halbschwestern durch einen Festsaal wirbeln, wie ein dünner Mini-Sultan in weißer Festrobe verpackt an seinem Plastik-Zepter nuckelt und sich der Beschneider seinem Thron nähert, um aus ihm einen echten Mann zu machen. Die Intonation der ersten Strophe »Üsküdar’a Gider İken« setzte ein. Der Vater geigte noch lauter, die Schwestern klatschten, stampften, eine Darbuka wurde angeschlagen, die Schellen der Daira klangen zum Höhepunkt, doch nichts übertönte den Schrei des kleinen Aldemir, auch nicht der eiligst gebildete Chor aus Festgästen, die sich an Händen gefasst in das Delirium rammten, ihr spitzes Gelächter in den Tumult knüppelten und erneut das »Kâtibim« erklingen ließen:

Üsküdar’a gider iken aldı da bir yağmur

Kâtibimin setresi uzun, eteği çamur.

Kâtip uykudan uyanmış, gözleri mahmur …

Auf dem Weg nach Üsküdar fing es an zu regnen

Meines Schreibers langer Rock ist verschmutzt

Er ist gerade erwacht, die Augen schlaftrunken ...

Just an diesem Punkt der Zeremonie war ein Gehörsturz eingetreten. Ein dumpfes, dreidimensionales Rauschen, gepaart mit dem schwungvollen Geklapper einer Ratsche in den Ohren, zwang Greta in die Knie. Mehr oder weniger kollabierte sie. Tanya hatte tatsächlich eine weibliche Hodscha organisiert, um die Tote nach islamischen Ritus beizusetzen. Nur um die Anwesenden zu verwirren. Ein hiesiger Priester hätte sich womöglich verplaudert. Angeblich hatte ihr Vater Darius dafür bezahlt. Tanya hätte sie auf schnellstem und billigstem Wege kremiert und bar jeder Feier oder Einsegnung in einer Nacht- und Nebelaktion in der Familiengruft verschwinden lassen. Ihre Großtante hatte sich fürchterlich über den überproportionierten Sarg echauffiert, der in keinem Verhältnis zu Philippas brandversehrter Leiche stand, oder wie immer man diese kriechende Schlacke bezeichnen mochte. Sogar eine Zündholzschachtel wäre zu groß für die Überreste ihrer Mutter gewesen. Für Selbstmörder hatte Tanya nichts übrig.

Angestellte der Bestattung hievten Greta auf einen Klappstuhl, wo sie von der Trauergesellschaft aufs Genaueste observiert wurde. Die Nachbarinnen ihrer Mutter, die in der letzten Reihe standen, stellten sich auf ihre Zehenballen, um sie besser ins Fadenkreuz zu nehmen. Allmählich zerrannen ihre bleckenden Zähne, verschwammen ihre gierig glotzenden Gesichter zu einem konturlosen Aquarell, denn Greta hatte 50 Tropfen Psychopax intus. Ihr Bewusstsein tauchte in ein schattenloses Tiefseegewässer, driftete ab in die Schwerelosigkeit geistiger Vernebelung. Einige der von Tanya abkommandierten Statisten hatten Gretas Sinnesverwehung als Zeichen tiefsten Schmerzes fehlinterpretiert, waren mit Stechschritt an ihr vorbeidefiliert und wollten ihr unter ausschweifenden Beileidsbekundungen sogar die Hand schütteln. Es handelte sich um gänzlich unpassende Bemerkungen, das aufgebrachte Geplapper von kaltblütigen Nichtswissern. Greta hatte sich derart ausgeklinkt, dass sie auch anlässlich dieser grotesken Situation nichts empfunden hatte. Nachdem sie in der Toilette mit viel Seife ihre Hände gewaschen hatte, war dieser peinliche Nebengeschmack aus ihrem Gedächtnis verblasst und verklungen.

Leider existierten sehr renitente Reminiszenzen, Flashbacks und Nachklänge, lästige Pop-ups vor ihrem geistigen Auge, die zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten auftauchten, ähnlich unberechenbar wie Wasserleichen. Sie hätte gerne mit ihrer Vergangenheit gebrochen, sich die Großhirnrinde, den Sitz ihrer Erinnerungen, abgeraspelt und die Teile an einem Felsbrocken gebunden im Meer versenkt. Stattdessen blieb ihr nichts anderes übrig, als sie stets aufs Neue in einem Mix aus Tabletten und Alkohol zu ertränken.

Der Château Marsau schmeckte nach ausgekotztem Schweiß. Man hätte ihn weiterkühlen lassen müssen, am besten schockfrosten und im Mixer zerhacken, damit er sich geruchlos schlucken ließe. Andererseits sollte man nicht allzu zimperlich sein.

Als es an der Tür läutete, fiel Greta ein, dass sie einen Ventilator bestellen musste. Beim Aufstehen tropfte eine Schweißperle auf die Altarplatte und fraß sich ins Holz. Das Thermometer stand auf 36,9. Möglich, dass es bald hitzefrei gab. Regenschauer klopften in Gruppen gegen die Fenster. Die Recherche dafür würde sie für den Rest des Tages beschäftigen, denn sie stellte höchste Ansprüche an das Preis-Leistungs-Verhältnis. Sie würde sich mit sämtlichen Modellen vertraut machen, mit den Testsiegern auf ihrem Segment, deren Varianten und Spezifikationen. Ob Spaghettizange oder Staubsauger, ein Produkt hatte, was den funktionellen, ökonomischen und besonders den ästhetischen Aspekt betraf, an vorderster Front mitzumischen. Objekte, mit denen sich Greta belohnte, verfügten über ein perfektes Leistungspotenzial. Sie würde sich nie mehr mit irgendetwas oder irgendjemandem zufrieden geben. Der eine oder andere Zusatzkauf würde die Unternehmung arrondieren, zu einem geschmeidigen Ergebnis bringen. Entweder man produziert oder man konsumiert, hielt sie rülpsend fest.

Greta war eindeutig Verbraucherin, eine sogenannte Tertiär-Konsumentin, eine Karnivorin, die sich von Karnivoren ernährte. Sie hatte Lust auf Fleisch jeglicher Provenienz, auf Schweinisches, auf Geflügel, auf Keulen und Knochen. Am meisten liebte sie die blutenden Kadaver der Omnivoren und der Zoophagen. Vermutlich hatte Greta bis auf das Vogelhäuschen in der vierten Klasse Volksschule nichts Zweckmäßiges fabriziert, das einem anderen genützt hatte. Bei diesem Vogelhaus, eigentlich ein mit den bunten Holzlettern »Spatzenvilla« verziertes Nistkästchen, bedeutete die Produktion dieses ihres einzigen Fabrikats auch den Tod jenes Sperlingpärchens, deren Aas tagelang bis auf die angrenzende Straße zu wittern war. Die Vögel hatten sich im Inneren an den Meisenknödeln derart vollgefressen, dass sie nicht mehr durch die Öffnung gepasst hatten. Letztendlich hatten sie die Ausdünstungen des Nitrolacks in den Orkus befördert.

Mit stolz erhobenem Haupt durchschritt Greta im Habitus der erhabenen Unterwerfung den Korridor und guckte durch den Spion. Der Typ von Flextrans erschien übertrieben fertig. Er sah in etwa aus, als hätte er den Nanga Parbat erklommen. Auch Greta wirkte abgehalftert und kaputt, fühlte sich rein subjektiv aber wie die enigmatischen Frauen-Sujets präraffaelitischer Gemälde: schwindende, dem nahen Schicksalstod geweihte, zerbrechliche Schönheiten, wie die totenblasse Lichtgestalt von Shalott, Hamlets trancehafte Ophelia oder die duldende, spartanische Prinzessin Penelope. Auf König Alkohol und seine bedingungslose, unverbrüchliche Liebe war Verlass. Absolut!

Anfang des Jahres hatte Greta nach einer drängenden Eingebung den genialen Einfall befolgt, eine Betrachtung ihres Spiegelbildes im nüchternen Zustand zu unterbinden und dafür die Spiegel – und davon gab es jede Menge – entweder umzudrehen oder mit feiner Gaze zu verhüllen, sodass die altgedienten Motive der Realität als facettierte Reflexe erschienen. Wie die meisten ihrer guten Ideen hatte diese Tat nicht das Geringste bewirkt, von einer Verbesserung der Lage gar nicht zu reden.

Erst jetzt in der österlichen Karwoche, als selbst der monumentale Wandspiegel im Flur zur Gänze zugehängt wurde, zeitigte diese Entscheidung einen Mentalitätswandel in der Person Gretas, der sich am deutlichsten in dem agitatorischen Impetus einer alkoholinduzierten Unersättlichkeit manifestierte. Kurz: Um Greta stand es objektiv beschissen. Rein subjektiv durchwatete sie warmes, sumpfiges Gestade auf ihrem Eroberungsmarsch ins rettende Eldorado. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die letzten Ausläufer eines gewaltigen Hindernisses hinterm Horizont verschwanden und sich ein Triumphzug unnachahmlicher Bravour entspiralsierte. Sie würde ihr persönliches Arkadien mit der Entschlossenheit eines spanischen Konquistadoren unterwerfen!

»Das ist ja riesig! Was bitte soll das sein?«

Der Paketzusteller balancierte drei gewaltige Pakete auf seinen Armen, eine sehr tollpatschige Jonglage, die er in seiner Not fabrizierte. Schließlich gelang es ihm, diese mit einem ätzenden Fluch hochkant auf die Fußmatte zu manövrieren. Schweiß tröpfelte auf die Fliesen.

»Deine Bestellung, was sonst?«, bemerkte er trocken. »Woher ich wissen, was du geordert, Mädchen!«

Dass ihr wahrscheinlich einziger Sozialkontakt dieses Tages auf ein derart impertinentes Geschäftsgebaren hinauslief, hatte sie nicht verdient. Der Kerl war keine 25 Jahre alt und jetzt schon aus der Puste. Es erging ihm noch beschissener als ihr, ein Umstand, der Greta erfreute. Dafür war er abgelenkt von seiner Katastrophenexistenz, und das zählte letzthin am meisten.

»Wann wird endlich der Lift repariert?«, fragte der Lieferant vorwurfsvoll.

»Keine Ahnung. Ich bin nicht der Hausmeister.« Greta betrachtete die pulsierende Halsschlagader des Zustellers, die in der Stärke eines Stromkabels aus seiner Uniform ragte. Sollte sie den Mann bestrafen, ihn zurechtweisen, aufklären, dass er sich über die nutzbringende Ertüchtigung des Leibes glücklich und erkenntlich zeigen konnte? Greta resümierte, dass er sich auch dieses Mal kein Trinkgeld verdient hatte. Solange er nicht seine Umgangsformen und den Tonfall änderte, würde sie ihm keinen Schritt entgegenkommen! Sie hatte sich angewöhnt, bestimmte Forderungen, verbindliche Standards, an den Fortlauf ihres Daseins zu knüpfen, wobei sie bei Nichterfüllung sehr ungehalten reagierte.

»Nimmst du für Cordelle Brissol?«, erkundigte sich der Flextrans-Angestellte. Funken schossen durch die Luft. Die Beleuchtung im Stiegenhaus erlosch und die Gestalt verfinsterte sich zu einem Dämon. »Und Attila Voskovic?«

»Ja!«, hauchte Greta. »Immer zu Ihren Diensten.« Einer plötzlichen Änderung ihrer aktuellen Laune zufolge hätte sie den Mann am liebsten umarmt, ihn zu einem Schleuderritt auf ihrer Waschmaschine gebeten. Als hätte jemand an den Schnüren ihrer Marionette gezogen, sie aufgerichtet und einen Schlag auf den Hinterkopf verpasst. Einmal hü und einmal hott. Wegen Personen ihres Kalibers hatte die emotional instabile Persönlichkeitsstörung Eintrag in die internationale statistische Klassifikation der Krankheiten gefunden.

Nach den Unterschriften, einem blauen Geldschein und einer herzlichen Verabschiedung schob sie die Pakete in das Vorzimmer, gerade so weit, dass sich die Wohnungstür schließen ließ. Die Luft stand wie eine Betonwand, die Hitze trotz Niederschlag wie ein überfürsorglicher, schmeichelnder Freund, den man längst zu Bett gebracht hatte. Sie schaltete das Licht im Flur ein und riss sich ihr Nachthemd über den Kopf, als sie die alkoholische Triade überfiel: Ruhelosigkeit, Reizbarkeit und Unzufriedenheit, was nichts anderes bedeute, als dass sie dringend Nachschub benötigte.

Der Korridor war aufgrund des Durchzugs der offenen Fenster von wehenden Gaze-Streifen verhangen, sodass Greta im Vorbeihasten einen Blick auf einen offen gelegten Spiegelausschnitt erhaschen konnte. Dieser reflektierte eine erstaunlich beleibte Körperpartie. Man hätte es nicht für möglich gehalten, dass Greta so fett geworden war!

Zurück in der Küche trank sie mit der gebotenen Eile die Flasche Merlot bis auf einen Restschluck, nahm Geschirrspüler und Waschmaschine in Betrieb, schaltete den Nostalgiesender im Radio ein, aktivierte das W-Lan und den elektrischen Wasserkessel und bereitete sich auf einen herrschaftlichen Spätnachmittag als Endkonsumentin vor dem Computer vor. Eine Sache noch. Gestern hatte ihr Yvonne einen Stoß persischer Goldbrokatstoffe für ihre Patchworkdecke überreicht mit dieser ihr wesenhaft gekünstelten Güte. Sie habe diese erfreulicherweise in der Wühlkiste eines Secondhand-Ladens gefunden, hatte Yvonne vermutlich behauptet, oder zufällig am Dachboden ihrer Mutter oder dankenswerterweise aus dem Urlaub für sie mitgebracht. Greta hatte nicht zugehört. Wenn sich jemand mit ihr unterhielt, überlegte sie, wie sie das Gespräch zu einem unverfänglichen, sehr baldigen Ende führen konnte. Mit Yvonne sprach sie nur, weil sie die übrige Kollegenschaft noch unerträglicher fand. Ihre Kollegen aus der Bibliothek wussten rein gar nichts über ihre häuslichen Umstände. Der Quilt stellte das einzige Thema für eine Anknüpfung an das Private und diente als sozialer Puffer vor weiteren Zudringlichkeiten.

Wider Erwarten waren die Gewebe und der Dekor erste Klasse. Wunderschöne Seidenfabrikate im Herati-Stil mit Bordüren aus Quadratkufi und die viermalige Nennung des Namens Mohammed befanden sich auf den Streifen, außerdem das als Flamme des Zarathustras bekannte Boteh-Muster und zumeist rektilineare Formen in den Farben Safran, Purpur und Indigo. Den letzten Stoffteil aus feingesponnenem Rayon durchflossen um griechische Kreuze gruppierte Swastiken, die dem Siegel aus Harappa nachempfunden waren.

Sie würde sich bei Yvonne erkenntlich zeigen müssen. Womöglich erwartete sie eine Gegeneinladung nach dem unglücklichen Ausgang des Weihnachtsessens, das Greta eine Viertelstunde vor ihrem angekündigten Erscheinen mit einer E-Mail abgesagt hatte. Greta verabscheute jeden erdenklichen Besuch, allein der Gedanke daran sorgte für Konfusion und Bestürzung. Die Vorstellung, den Eindringling mit sinnlosen Aha- und Oho-Bekundungen durch ihre intimen Gemächer zu führen, ihm auf unbestimmte Zeit ihr Inventar anzuvertrauen, Bad und Toilette zu überlassen und sich im Unklaren über die exakte Dauer des Aufenthalts zu sein, versetzten sie in Angst und Panik.

Mit einem Seufzer der Entrüstung finalisierte sie die Flasche Merlot und verschiffte sich mit den Utensilien für die Handarbeit und einer Siebenzehntel Bosford Rosé Premium in das holzvertäfelte Herrenzimmer. Bordeauxfarbene Rocaille-Tapeten zierten die Wände. Ein Oculus, ein in den Giebel eingelassenen Fenster in Form eines Ochsenauges, öffnete den Blick auf den neugotischen Südwestturm der Herz-Jesu-Kirche. Dieser ragte wie ein mahnender Finger in einen gelbgrauen Schwefelhimmel. Blitze umzingelten ihn. Wieder hatte sich eine dieser rätselhaften Finsternisse ausgebreitet, unerklärliche Spontanverdunkelungen, die sich in letzter Zeit gehäuft hatten. Wissenschaftler sprachen von einem interimistischen, gammastrahlenbedingten Tenebrismus, andere von Teilchenverklebung in der Stratosphäre. Als wollte die höhere Macht für einen Moment ihre Augen schließen und sich vor ihrer Verantwortung drücken. All dies jedoch tat der brütenden Hitze nicht den geringsten Abbruch. Bald würde sich Gretas Bewusstsein von ihr verabschieden. Ein wenig Genuss noch, Vernebelungsfreuden, Verschleierungswonnen, Bauchwärme und Pumpstöße aus dem Solarplexus oder von wo auch immer.

Das Eichhörnchen war das Kennzeichen des Bosford Rosé, das als rosa Logo auf der Vorderseite der Flasche Gin prangte. Vielleicht soffen Eichhörnchen ähnlich ungehalten wie gestresste weiße Knockout-Mäuse im Laborexperiment. Zusammen mit dem gendergerechten roséfarbenen Inhalt machte die Pulle eine außergewöhnlich gute Figur an ihrer Seite, was Greta dezent bölkend mit einem tüchtigen Schluck bekräftige. Sie legte den Gin an ihre Schläfe und salutierte vor den Gemälden und Fotografien, die in stattlichen Dimensionen an der nördlichen Stirnseite des Herrenzimmers angebracht waren. Gespenstisch traten die Figuren aus dem Dunkel. Schatten spielten auf ihren Physiognomien.

Es handelte sich um halbnackte Künstlerporträts in bis zum Nabel gezogenen Unterhosen, meist von der klassischen Sorte mit Feinripp und seitlichem Eingriff, darunter die berühmte Aufnahme Pablo Picassos mit afghanischem Windhund, Martin Kippenbergers Millionengemälde eines aufgedunsenen, fettwanstigen Alkoholikers mit Ballongesicht und das seines Weggefährten Albert Öhlen: »Selbstporträt mit verschissener Unterhose und blauer Mauritius« von 1984. Im Atelier vis-à-vis schlugen die morschen Holzläden gegeneinander. Greta erhellte den Luster, der über ihrer ausgebreiteten Handarbeit von der Decke hing. Das Weinen eines Kindes gellte von draußen in die Wohnung. Aldemirs Schrei, ihres Halbbruders Hilferuf, schallte in ihrem Schädel, Sirenen pfiffen in den Ohren, dass sie taub zu werden drohte und sich stöhnend die Ohren zuhielt. Sie brauchte wieder einen Schluck und dann noch einen. Zähe Gedanken wanden sich beschwerlich durch ihre neuronalen Bahnen.

Wenn es denn sein musste, würde sie Yvonne zum Essen ausführen, zum Chinesen, zum Inder oder zu einem anderen Asiaten, am ehesten ins Blue Jade, wo sich ab 20 Uhr selten Gäste aufhielten. Sie schätzte die zuvorkommende, unaufdringliche Bedienung der Asiaten, ihre geradezu perfekte Balance zwischen nobler Zurückhaltung und besorgter Umsicht, den sanften Glimmer ihres Pflaumenweins, der sie zusammen mit einem halben Dutzend Flaschen Tsingtao in das Interregnum der Gleichgültigkeit katapultierte. Sie würde sich eine zum Bersten gemästete Pekingente bestellen, ihr die Knochen brechen, sie tranchieren und ihre Kollegin dabei beobachten, wie sie sich die Fastenspeise der Buddhisten in ihre scheinheilige und verlogene Jungmädchenfresse wickelt. Solange, bis Yvonnes dünnhäutige, vegane Gedärme zerrissen wie nasses Papier bei einer Sturzflut aus Regen!

Das Blue Jade zählte zu den wenigen Lokalitäten, die sie seit dem Tod Yoricks aufgesucht hatte. Beim Gedanken an ihren Mann stach sich Greta mit der Nadel so fest in den Daumen, dass ein rostiger Fleck das kostbare Gewebe durchwirkte. Da war es schon zu spät: »Genug Yvonne, aus jetzt!«, befahl sie, setzte in Schulterhöhe an und ritzte eine tiefe Zick-Zack-Linie in ihre Haut, wobei sie bei jedem Richtungswechsel unterschiedliche Namen hervorbrach: »Edda!« Sie wetzte die Nadel durch das Fleisch. »Junis!«, heulte sie am Ende des Oberarms. »Wigand!«, stieß sie aus, als sie am Unterarm angelangt war, und darauf eine Kaskade aus »Yoricks!«, aus sehr vielen, verzweifelten »Yoricks«. Die Nadel verbog sich in ihrer Hand, hinterließ offene Löcher, Stigmata und weitere Schandmale, brennende Wunden, die kaum schmerzten, zu wenig schmerzten, viel zu wenig kostbare Schmerzen hinterließen. Beinahe hätte sie wieder gefühlt, beinahe hätte ihre Seele geleuchtet. Die Flügel stießen aneinander, die Scharniere quietschten jämmerlich. Ein lang gezogenes: »Yorick!« und das Blut kam. Greta bohrte in den Ritzen, bis die Nadel zerbrach und ihre Teile auf den Boden fielen. Mit Yvonnes Brokatstreifen umwickelte sie ihren verletzten Arm, packte den Bosford Rosé und torkelte ins Atelier, wo sie vor »Fred the Frog«, einem gekreuzigten Holzfrosch des Künstlers Martin Kippenberger, auf ihre Knie fiel und Yoricks Totenlied summte: »Ich bin halb verrückt von den Schattenbildern«, lallte sie, die Stirn an das Kreuz schlagend, »fast verrückt. – ›I Am Half-Sick of Shadows2‹«

Der schwere Vorhang aus Makramee flog in den Raum, eine Brise kühle Luft strömte vom Balkon durch die offenen Flügel. An der Wohnungstür schrillte – als hätte sich ein furchtbares Unglück ereignet – der Klingelton ohne Unterlass. Da war Greta schon voll der Gnade hinüber, lächelte, weil sie sich dabei beobachtete, wie sie sich in schneeweißer Robe gehüllt in ein schaukelndes Boot legte und damit auf dem Fluss trieb.

She left the web, she left the loom

She made three paces thro’ the room

She saw the water-lily bloom

She saw the helmet and the plume

She look’d down to Camelot ...3

2 »... Said the Lady of Shalott«, vgl. Gemälde von John William Waterhouse, 1915.

3 Alfred Lord Tennyson: »The Lady of Shalott«, 1883.

FROSCHREALITÄT

... Out flew the web and floated wide The mirror crack’d from side to side »The curse is come upon me«, cried The Lady of Shalott.

(Loreena McKennit: »The Lady of Shalott«, 1991)

Greta wurde unsanft aus ihrer Entrückung gerissen. Sie konnte sich nicht erklären, wie viel Zeit verronnen war, seitdem sie aus weiter Ferne dieses aufdringliche, schier endlose Sirren und Rasseln vernommen hatte. Die Klingelgeräusche von Haustür oder Sprechanlage hatten sich derart in ihr zitterndes Bewusstsein verbissen, dass sie von einer zeitversetzten Echobildung ausging, die nichts mit dem realen Auftreten in der Realität zu tun haben konnte. Es zeigte sich für Intrusionen oder Nachhall-Erinnerungen verantwortlich, die Greta mit einer Vergangenheit konfrontierten, die sie eigentlich sehr erfolgreich von sich abgespalten hatte.

Tatsächlich hatten sich zwei weitere Wochen ihrer unspektakulären Existenz von der Spule gewickelt. Ostern kündigte sich an. Augenringe, hart und schwer wie Hufeisen, pressten Greta in das Kissen ihrer Ottomane. Ihr marinierter, abgeschlagener Kadaver lag in Essig und Öl. Sie war hoffnungslos verkatert, ein Zustand, der ihr alles abverlangte. Beim Aufstehen touchierte sie mit ihrem pochenden Schädel die Knie des Frosches und verhedderte sich in dessen Schwimmhäuten, bis sie allmählich begriff, dass sie wieder einmal an diesem vertrauten Ufer gestrandet war, dieser nie gewollten Wirklichkeit: der Realität des Frosches!

Das Schiff schaukelte noch. Widerwillig setzte sie ihren Fuß an Land. Weil sie mächtigen Seegang verspürte, griff sie in den Schritt der hängenden Gestalt und rappelte sich ausgehend vom Lendenschurz am Korpus entlang hoch, bis sie aufrecht wie ein Mensch stand und in die verdrehten Augen des pickeligen Fred blickte: Kippenbergers Interpretation des Gekreuzigten als alkoholisierter Frosch.4

Draußen heulte ein Kind. Wieder einmal. In letzter Zeit hatte sich Kinderschreien in allen erdenklichen Bewusstseinszuständen als außerordentlich störend manifestiert. Trotz der Hitze pulsierten kalte Wallungen durch Gretas Kadaver. Zitternd hob sie ihr viktorianisches Nachthemd vom Deckel einer Holzkiste, die mit Schnitzereien und schmiedeeisernen Bändern verziert war. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelte es sich um die Aussteuer-Truhe einer reichen Bauerstochter. Flammen hatten das Schriftband an der unteren Frontseite versengt, sodass es unlesbar geworden war. Irgendwer, irgendetwas musste die Truhe in ihr Blickfeld gerückt haben. Soweit sie wusste, hatte diese jahrelang im Bretterverschlag, dem abgeriegelten Zugang zur ehemaligen Gesindetreppe, gestanden.

Greta hob den wurmzerfressenen Deckel der Truhe, aus deren Rachen ein bestialischer Geruch strömte. Zeitungen und andere Papierkonvolute wurden sichtbar, darunter ein verkeilter schwarzer Kleiderärmel. Greta begann unter Einsatz ihres ganzen Gewichtes daran zu zerren und legte einen Herrenmantel frei, genauer gesagt einen mit zahlreichen Wachsflecken übersäten, bodenlangen Chesterfield. Taumelnd quälte sie sich unter den Lodenstoff, der wie eine Röntgenweste aus Blei um ihre Schultern hing, und begab sich zur Tür, um einen Blick durch den Spion zu werfen. Anscheinend hatte sich der Ruhestörer zurückgezogen. Getrieben von eindeutigem Verlangen, schwankte sie zurück ins Atelier, um nach dem Motto »Anfangen, womit man aufgehört hat« nach ihrem Bosford Rosé zu suchen.

Staub wirbelte aus dem Innersten der mysteriösen Kiste. Ihr Deckel klaffte mahnend weit offen. Weil von der Flasche jede Spur fehlte, Greta nicht wusste, ob sie überhaupt noch existierte und allmählich eine sehr bekannte Überforderung einsetzte, suchte sie einfach in der Kiste danach. Sie stieß auf einen original Stetson-Filzhut, den sie gedankenlos auf ihren geschwollenen Schädel drückte. »Es lebe Joseph Beuys und die soziale Plastik«, trainierte Greta ihre Stimme. »Jeder Mensch ist ein Künstler.« Draußen schrie das Kind wie am Spieß. Das ging beim besten Willen nicht mehr. Also blieb ihr nur, sich an ihrem Tabernakel zu vergreifen und den Bodensatz eines ekelhaften ›Asbach Uralt‹ in die Mangel zu nehmen, als das aufwühlende Geklingel wieder startete.

»Ja!«, stieß sie verärgert aus. Als sie mit ungelenken Fingern an der Sicherheitskette hantierte, brüllte das Kind auf Hochtouren. Zuerst blickte sie in die schreckgeweiteten Augen ihrer Nachbarin, dann in das schmerzverzerrte Gesicht ihres Sohnes, der sich in Cordelles Armen wand wie ein aufgeschnittener Wurm, als nächstes in die feixenden Fratzen der Gören, die ihre Mitte flankierten. Cordelle hatte ihre Kinder eingepackt wie NASA-Raumfahrer auf ihrer ersten Marsexpedition. Gretas letzter Blick fiel auf ihre Fußmatte ganz unten, auf der in großer Schrift »YOU AGAIN?« gedruckt war. Absurderweise wurde sie angesichts dieser plötzlichen Klarheit von einem inneren Lachkrampf gebeutelt, der sie im Türrahmen zusammensacken ließ.

»Was ist los, Greta?« Cordelle packte sie mit ihrer freien Hand am Kragen ihres Nachthemdes und zog sie auf Augenhöhe. Es war offensichtlich, dass sie keinen Spaß verstand.

»Glaubst du, dass ich läuten – juste pour le plaisir? Mon Dieu – crétin, musst du schlafen en plein jour? Es ist Tag lange. Ich sterbe und du ...« Ihr fehlten die weiteren Worte. Sie verhalf sich Zutritt, indem sie ihre beiden Töchter in Stellung bugsierte und diese wie Rammböcke in den Flur stemmte.

Greta fühlte sich zu besoffen, als dass sie sich daran stieß, und ließ es mit sich geschehen. Ein Leben bar jeder Aktion, bar jeder Reaktion. Extinktion durch stetige Verkümmerung. Wie Klötze standen sie nun gedrängt zwischen Tür und Garderobe in Erwartung eines Kommandos von irgendwoher. Cordelle mit ihrem johlenden, wie wahnsinnig um sich schlagenden Sohn und ihren agitierten Gören – Greta entsann sich keines einzigen Namens von Cordelles Kindern – und ihre eigene desaströse Erscheinung, alles in allem eine Mixtur der mannigfaltigen Deplatziertheit. Von Stocken durchzogen gellten die Schreie des Kleinen flackernd in den Korridor. Gretas geblähter Schwellschädel stand kurz vor der Explosion. Erdrückende Schwere zog ihren Körper in die verschiedenen Himmelsrichtungen, als zöge ihr Leib elliptische Bahnen. Fast hätte man ihren chaotischen Taumel für ein friedvolles Schaukeln gehalten. Ihre momentane Erscheinung glich dem Bild eines Dauerlutschers, festgeschraubt auf einem viel zu dünnen Stiel. Der Inhalt ihres Schädels bestand aus Brausepulver und einem porösen Kaugummi. Trotz Nachthemd, Mantel und Hut fühlte sie sich nackt und kahl und zur Gänze am falschen Ort. Viel besser: Sie hätte sich so gefühlt, wenn sie dazu in der Lage gewesen wäre.

»Ich muss ins Krankenhaus avec lui. Mädchen bleiben!«, drohte ihr Cordelle, deren glühende Augen Gretas apathischen Blick penetrierten. Flüchtige organische Verbindungen wie exhaliertes Aceton und Ethanol tanzten umher und vereinigten sich mit ihren Atemgasen zu einem dezenten Bukett der Hysterie. Möglich, dass ihre Gebärmütter umherschweiften und nach oben wanderten, um sich in ihren Gehirnen festzubeißen, wie es schon in der Antike geheißen hatte.

»Haben die Gören auch Namen?«, wollte Greta wissen.

»Bitte. Du machen das! Meine Wohnungstür offen. Je reviens dès que je peux. Au revoir les enfants!«

Die Tür sprang ins Schloss, kurze, verzweifelte Stille in Gretas kümmerlicher Empfindung und dann klatschten die Mädchen, sprangen hoch und jauchzten schallend:

1, 2, 3, tout au fond des bois

3, 2, 1, un petit chemin.

Im Nu sausten und tobten sie den Korridor hinunter, stürmten mit ordentlichem Rabatz ihre Stuben. Greta schwankte in ihrem stocksteifen Mantel wie ein Telegrafenmast im Taifun. Mit hochgeklapptem Kragen rotierte sie um das Epizentrum ihrer geistigen Umnachtung, klammerte ihre nackten Zehen wie die Krallen eines Geiers in ihren Spannteppich und dachte angestrengt nach. Ihre Figur kippte nach vorn, dann zurück, versteifte sich in den charakteristischen stockenden Umdrehungen. Es wollte ihr partout nicht in den Sinn, wo sie den Bosford Rosé verloren hatte, den sie jetzt – gerade jetzt! – so ausschließlich benötigte, wie niemals zuvor.

1, 2, 3, vous mène tout droit

3, 2, 1, chez le roi des nains.

»Greta!«, riefen die Mädchen, während sie ihr entgegen fegten wie Urgewalten. Sie warfen sich strampelnd zu Boden, suhlten sich durch den Flur. Rasend vor Übermut warfen sie sich in die Lüfte, hüpften, sprangen und polterten schreiend gegen die Holzvertäfelungen. Derselbe Tumult, derselbe Aufruhr musste beim Sturm auf die Bastille geherrscht haben, dachte sich der Hydrozephalus auf Gretas Pendelkörper.

»Als was bist du verkleidet, Greta? Bist du Robin Hood? Bist du Baba Jaga, die Hexe? Bist du ...?«

»Ich bin der Fett und Filz. Ich bin Joseph Beuys! – Jeder Künstler ist ein Mensch.« Unabsichtlich hatte sie Kippenberger zitiert. Die Rangen kicherten wie Trolle und lüpften ihr den Stetson vom Schädel, balgten sich wie Wolfsjunge um dessen Besitz.

»Wir möchten uns verkleiden wie du!«, startete eines der Mädchen sein Tremolo, das andere fiel ein. »Verkleiden, verkleiden!«, schmetterten sie ihr zweistimmig entgegen.

»Wenn ihr meinen Bosford findet, überlass ich euch meine Lappen. Dann könnt ihr tun, was ihr wollt. Dann kann die Erde aufhören, sich zu drehen. Dann soll der Scheißmond da oben oder wer dieser eitle, blöde Geck, der fiese und feste ...« Sie schwankte flehentlich: »fette und blasierte ...«, waren ihre letzten Worte. Die Mädchen hatten so fest an ihrem Lodenmantel gezerrt, dass Greta kerzengerade und erstaunlich langsam Richtung Wohnungstür kippte. Ihr Stetson verfing sich an der Türklinke, die andernfalls in ihre Pupille geschossen wäre, während ihr Gesicht im weitesten Sinne unversehrt mit der knöchernen Nase voran und einem winzigen Hauch Abstand neben dem schmiedeeisernen Schirmständer auf den Boden klatschte. Ein saurer Schluck Weinbrand war beim Aufprall in ihren Mund zurückgekehrt. Greta leckte sich die Lippen und fiel noch ein Stück, bis sie an einem herbstlichen Tag zweieinhalb Jahre zuvor landete.

Das elfenbeinfarbene Bakelit-Telefon im Vorhaus klingelte und Greta dachte wie so oft, dass ihr Vater seinen Besuch ankündigen würde, aber gleich fiel ihr ein, dass es nur Edda sein konnte, Yoricks Mutter, die sich nach den Babys in ihrem Bauch erkundigen wollte. Gretas Vater interessierte die Existenz ihrer Babys vermutlich noch weniger als die ihrige und jetzt waren sie ohnehin tot. Sie hatten nur wenige Wochen gelebt und Greta hatte all diese Wochen rücksichtslos geglaubt, den Himmel erklommen zu haben, aber irgendwann im dritten Monat mussten ihre Herzen aufgehört haben zu schlagen. Greta hatte Edda nicht erzählt, dass ihre Babys gestorben waren, sondern gelogen, dass ihr Kontrolltermin abgesagt worden war. Sie hatte sich zuerst ihrer Chefin in einer E-Mail anvertraut, daraufhin Yvonne, wonach sie vergebens auf eine Reaktion wartete, auf ein bisschen Trauer von außen, Mitgefühl oder wenigstens ein stummes Nicken. Aber auch Yvonne hatte sich nicht dazu geäußert, bis sie es sich schließlich selbst verbat, darüber zu sprechen. Ihr Gynäkologe hatte sie über alle Risiken einer Zwillingsschwangerschaft aufgeklärt, aber Greta hatte nicht verstanden, was er von ihr erwartete. Sie hatte sich außerstande gesehen, ihren Taumel und ihre Vorfreude einzuschränken, ihren Frohsinn zu limitieren. Yorick hatte die Aussöhnung mit ihrer Vergangenheit initiiert. Sie hätte eine funktionierende Familie mit ihm gegründet und endlich Normalität gelebt.

Als sie nach der Untersuchung versteinert die Wohnung betreten hatte, war ihr Yorick im Flur begegnet. Er steckte mitten in den Vorbereitungen für eine Geschäftsreise und wollte gerade mit wirren Haaren und klaffendem Hemd seine Stiefel von Moreschi in den Koffer legen. Ihr Blick blieb auf den Chelsea Boots ruhen, die ihm Edda zu Weihnachten geschenkt hatte, und Yoricks Blick fiel auf den Gentleman Jack, den sich Greta beim langen Marsch zu ihrem Ehemann zugelegt hatte. Als sich ihre verzweifelten Blicke trafen und Greta den Kopf schüttelte, dastand mit dem allerletzten Ultraschallbild ihrer toten Kinder und Yorick Eddas Stiefel in den Koffer entließ, war das Klingenbeil ins Schafott gefallen. Die flehenden Augen Yoricks konnten sich nicht von den ihrigen lösen, aber Greta erblindete. Ihr Blick trübte sich und Yorick verwehte aus ihrem Gedächtnis.

Cordelles Kinder hießen sie in der Realität willkommen, indem sie ihr mit einer Daunenfeder in die Nasenlöcher fuhren und wie mit Vogelschnäbeln an den Ärmeln des Mantels zupften, die Jüngere an einem, die Ältere an dem anderen. Die Kleinere mühte sich ab, Gretas schweren Leib aus der Mitte zu rollen, und trotzte: »Greta, du hast es versprochen. Lass uns deinen Mantel, sonst suchen wir nicht weiter!« Sie hatte ihr diese Drohung direkt ins Ohr gerufen, sodass sich die Schallwellen der Worte wie ein Bannfluch im hohlen Schädel ausbreiteten und sich mit einem Dauerbeschuss an dumpfen Echos brachen. Greta stöhnte und ließ sich in die Ursuppe ihrer Existenz fallen. Sie landete an einem weiteren Nachmittag Anfang November, an dem erneut das Bakelit-Telefon im Flur geläutet hatte. Anscheinend hatten die Mädchen abgehoben, denn das Läuten setzte aus und sie riefen nach ihr: »Greta, wach auf! Komm und tanz mit uns!«

Musik ertönte, ein Kinderreigen und stampfende Füße, die in tosenden Wellen über die Dielen brausten ...

Pomme de reinette et pomme d’api

Tapis tapis rouge

Pomme de reinette et pomme d’api

Tapis tapis gris

… und wieder abflauten. Greta lag in der sanften Brandung eines mit Sand bedeckten Küstenabschnitts. Eddas Stimme drang in ihr Bewusstsein, die ihr vom Tod ihres Sohnes erzählte. Sie hatte gesagt: »Mein Sohn ist im Veneto verunglückt. Der Herr hat mir mein Liebstes genommen. Ich möchte mich allein um seine Angelegenheiten kümmern.« Der Tote war Gretas Ehemann, aber Edda hatte ihn nie als solchen bezeichnet. Sie hatte ihr sonderbar melodiös vorgetragen, dass Yorick irgendwo zwischen Rovigo und Ferrara, zwischen dem Adige und dem Po mitten auf der A13 am Steuer seines Leihwagens eingeschlafen war. Bei diesen Nachklängen erfasste sie die Gischt und bettete sie in einen warmen Sandstrand. Behutsam deckten sie die Wogen zu.

Une souris verte, qui courait dans l’herbe

Je l’attrape par la queue, je la montre à ces messieurs

Ces messieurs me disent:

›Trempez-la dans l’eau, trempez-la dans l’huile

Ça fera un escargot tout chaud!‹

Eine grüne Maus, die im Gras lief

Ich packe sie am Schwanz, ich zeige sie diesen Herren

Diese Herren sagen mir:

›Tunkt sie ins Wasser, tunkt sie ins Öl

Daraus wird eine ganz warme Schnecke!‹

Die Mädchen hatten Gretas Gesicht während ihres Singsangs mit heißem Wasser und Leinöl eingerieben, um aus ihr eine warme Schnecke – un escargot tout chaud – zu machen. Sie röchelte dankbar. Die Jüngere flößte ihr den Inhalt einer Plastikflasche in den Mund, gleich wie sie es mit ihrer interaktiven Babypuppe absolvierte, wenn sie dieser Milch einfüllte. Die andere vollzog die Erbsenprobe an ihr. Beide mussten einsehen, dass es sich bei Greta um keine empfindsame Prinzessin handelte, denn sie verharrte, zur Gänze abgetaucht in die Astralebene eines gnadenvollen Zwischenreichs, bar jeder Reaktion. Ihr Atem rasselte, das Herz geriet aus dem Takt, pumpte keinen Sauerstoff mehr durch den Körper. Unzählige Gehirnzellen erlagen einem Massensterben. Wer jetzt versuchte, die Hirnströme abzuleiten, hätte statt Wellen und Zacken eine gerade Linie im EEG gesehen.

Fast wäre der Herr gnädig gewesen und hätte sie sterben lassen. Längst schaukelte sie mit gläsernem Angesicht und ausgebreiteten Armen wie die tote Dame von Shalott in ihrem Kahn auf den Wogen, als sie erneut von ihrer Vergangenheit eingeholt wurde. Etwas Großes drückte sie in die Tiefe. »Ich will dir das ersparen. Du musst an unsere Babys denken«, hatte ihr Edda verheißen und es hatte sich angefühlt, als würde ihr jemand die Seele aus dem Herz reißen. Ein Pelzstiefel traf Gretas Schläfe, danach der zweite ihre Schulter.

Mit ihren Schuhen hieben die Kinder Greta zurück auf diese Erde. Sie landete auf allen Vieren. ›Eine Schandtat, Kinder bei diesen Temperaturen anzuziehen, als nähmen sie an einer skandinavischen Polarexpedition teil!‹ Ihr war plötzlich brutal heiß. Sie versuchte sich am schmiedeeisernen Kleiderständer emporzuklimmen, was mit ihren konfus ausgeführten Beinhaken und einigen rückwärts gerichteten Achten nach den Schritten zu einem finnischen Tango in Moll aussah. Die eingedrehten Enden der Messinghaken hätten ihr beinahe die Augen ausgestochen.

»Wo seid ihr?«, schrie sie, warf den Mantel ab und mäanderte schwankend durch den Flur: »Schande über mich«, sagte sie mehr zu sich selbst und durchforschte die Zimmer nach den Rangen. »Was für ein verrotteter Gründonnerstag!« Der Spiegel im Flur war abgehängt und Gretas zerpflückte Figur im Nachthemd erinnerte an die Auferstehung eines Zombies, den man in seiner scheinbaren Totenruhe gestört hatte. »Was schert mich die Brut Cordelles? Kann ich nicht wenigstens davon verschont bleiben?«

In ihrer Wohnung sah es aus, als wäre der Feind eingefallen. Greta, perfektionistisch bis zur Zwanghaftigkeit, befiel unheimliche Wut. Hektisch hantierte sie an der Hängeaufrichtung des Akkusaugers, der nicht und nicht aus der Verankerung wollte. Mit bloßen Händen las sie Dutzende Erbsen auf und versenkte sie im Abfallhäcksler, der in die Spüle integriert war und über eine sagenhafte Vernichtungskraft verfügte. Das drechselnde Mühlen der Maschine befremdete sie, entsetzte und beruhigte sie im selben Moment. Ihr Blick fiel in die Ecke, wo ihre Tabletten in Form gestapelter Medikamentenkartons und offener Blisterverpackungen lagerten. Sie drückte sich drei weiße Flachkapseln in die offene Hand und schluckte sie trocken hinunter. Der Insinkerator röhrte wie eine startende Propellermaschine.

Sie hatte nächtelang geträumt, sie laufe Yorick hinterher, um ihn am Einsteigen ins Flugzeug nach Bologna zu hindern und ihm ein paar Worte des Trostes, des Verständnisses oder der Hoffnung zu entlocken. Es hatte keine letzten Worte gegeben. Nichts, nur diese Sprachlosigkeit und Leere, diese unfassbare Leere. Edda, seine Mutter, hatte alles daran gesetzt, dass sie Yorick nicht wieder sah. Nach Yoricks Kremierung erfolgte der Downburst, ein Zustand, den man landläufig als Nervenzusammenbruch bezeichnete, einhergehend mit einer persistierenden Lähmungserschöpfung, die sich durch Aussetzer, sogenannte Gehirnstotterer und akuten Brainfog auszeichnete.

Edda hatte sie mit Nachdruck in der ihr wesenhaften Verbindlichkeit an ihre Jugendfreundin Doktor Juliane Stronegger verwiesen, eine amerikanische Traumaspezialistin, die sie mithilfe von Brainspotting, EMDR und einer Butte Tabletten in die Leistungsgesellschaft reintegrieren sollte. Sie hatte ihr versichert, sie wiederherzustellen, ihren alten Zustand zur Gänze zu restituieren und Greta mit einem Mix aus Weichmachern und atypischen Neuroleptika in ihre Froschrealität entlassen. Sie hatte sich daraufhin fünf weitere Male in ihrer Privatordination am Ruckerlberg behandeln lassen, was so viel hieß, wie dass ihr die Psychiaterin mit ihren beringten Wurstfingern vor den Augen fuchtelte, um den Dreck aus ihrem Hirn zu radieren, aber das Bild von Yoricks wortlosem Aufbruch hatte sich zu tief in ihre Seele gebrannt.

Für gewöhnlich schluckte Greta 100 Milligramm Sertralin in der Früh, zu Mittag eine zweite Dosis, abends Quetiapin, Trazodon, Mirtazapin, im Bedarfsfall sedierende Xanis: kleine rosafarbene Püppchen aus der Gruppe der Benzodiazepine. All das hatte zur Folge, dass Greta 15 Kilogramm zugenommen hatte und ihre Pupillen auf die Dimensionen von Stecknadelköpfen aus Glas anschwollen. Noch ein paar Jahre und man würde sie mit Montserrat Caballé verwechseln. Außerdem gesellten sich Durchfall, Kieferschlottern und extremes Schwitzen dazu. Vor allem in der Nacht schwitzte sie wie ein Schwein in der Mikrowelle. Was ihre Gefühle anbelangte – nun ja – sie hatten sich erledigt. Zuweilen erlag sie bei traurigen Vorkommnissen peinlichen Lachflashs, während sie geringfügige Planabweichungen an den Rand einer Wutattacke schmetterten. Sie empfand – wenn überhaupt noch was – undefinierbaren Groll und eine tendenzielle Verbitterung – sonst nichts, schon gar nichts Sinnliches.

Wenn sie trank, wurden auch diese Unpässlichkeiten von ihr genommen. Die Tabletten, vorwiegend das Sertralin, hatten ihre anfängliche, aber bereits nach kurzer Zeit abflauende Wirkung erst ab dem Zeitpunkt wieder verbreitet, als sie begann, diese in Kombination mit Alkohol zu konsumieren. Auch Doktor Stroneggers Aufdosierungen respektive Dosissteigerungen konnten an diesem bedauerlichen Mechanismus nichts ändern. Als Yorick gestorben war, hatte sich Greta mithilfe der Pillen in das elastische, tränenlose Reich der Illusion verabschiedet und in gewisser Weise war sie seither nie mehr daraus aufgetaucht. Wenigstens auf Meister Alkohol war Verlass! Diese erbauliche Erkenntnis verschlug Greta ins Atelier, wo sie die Gören entdeckte, die sich mit Gazeschleiern, Decken und Handtüchern kostümiert hatten, zu einem Knäuel verwickelt auf ihrer Ottomane lagen und selig schlummerten. Mit geballter Kraft trat sie mit dem Fuß dagegen, damit sie aufwachten. Nichts – Cordelles unschuldiger Kindersegen in einem Augenblick für die Ewigkeit!

Greta öffnete ihr Tabernakel und packte die erste Pulle am Hals, die sie fand, um sich gewaltsam eines Schluckes zu bemächtigen. Ihr Hammergriff traf auf einen sauer gewordenen »Mademoiselle Isabelle«, eine Art »Fragolino« aus dem Burgenland, der sich widerspenstig im Abgang gebärdete. Anscheinend befand er sich mitten in seiner zweiten Gärung. Mit ihrer Krücke, dem Retter Alkohol in der Hand, schlurfte sie zu ihrer Pulverecke in die Küche, um ein wenig zu gustieren. War denn heute schon der erwähnte Bedarfsfall eingetreten? Oder ein Notfall? Ein außergewöhnliches Vorkommnis vielleicht? Eine absolut singuläre Zwangslage, die den Drogenkonsum zu einer unerlässlichen Bedingung qualifizierte? Aber natürlich war die Grundbedingung eingetreten, jetzt gerade – genau jetzt! Zufrieden warf sich Greta zwei Xanis in den Rachen und trank vom widerlichen Wein.