Flashback - Lorie Mavie - E-Book

Flashback E-Book

Lorie Mavie

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Beschreibung

Eigentlich ist Janas Leben perfekt: Sie ist erfolgreich, hat die beste Freundin an ihrer Seite, die man sich nur wünschen kann und einen Freund, der sie liebt. Zumindest dachte Jana das bis zu jenem Zeitpunkt, in dem Lisa auftaucht und ihr Leben ganz schön auf den Kopf stellt. Und noch jemand wirft ihre perfekte Welt über den Haufen: ein geheimnisvoller Typ mit leuchtend grünen Augen. Woher kommt er Jana nur so bekannt vor und warum hat sie das Gefühl, ihm schon einmal begegnet zu sein? Ein schicksalhaftes Spiel beginnt.

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Eigentlich ist Janas Leben perfekt: Sie ist erfolgreich, hat die beste Freundin an ihrer Seite, die man sich nur wünschen kann und einen Freund, der sie liebt. Zumindest dachte Jana das bis zu jenem Zeitpunkt, in dem Lisa auftaucht und ihr Leben ganz schön auf den Kopf stellt. Und noch jemand wirft ihre perfekte Welt über den Haufen: ein geheimnisvoller Typ mit leuchtend grünen Augen. Woher kommt er Jana nur so bekannt vor und warum hat sie das Gefühl, ihm schon einmal begegnet zu sein? Ein schicksalhaftes Spiel beginnt.

Es ist auch deine Geschichte. Alles Liebe, Jana

Inhaltsverzeichnis

Kapitel eins: Das Spiel beginnt

Kapitel zwei: Begegnung am See

Kapitel drei: Auszeit. Eiszeit. Ice Age.

Kapitel vier: Blaulicht am Straßenrand

Kapitel fünf: Sunny Side

Kapitel sechs: Wiedersehen

Kapitel sieben: Mojito à la López

Kapitel acht: Freidrehen

Kapitel neun: Wachgeküsst

Kapitel zehn: Ein übler Plan B

Kapitel elf: Alles auf Anfang

Kapitel zwölf: Neues Spiel, neues Glück

Kapitel dreizehn: Glück ein, Glück aus

Kapitel vierzehn: Des Schicksals Idee

Kapitel eins

Das Spiel beginnt

Das darf ja wohl nicht wahr sein! Wo ist denn bloß dieses blöde Ding, wenn man es braucht?

Genervt krame ich mit einer Hand in meiner Tasche, während ich mit der Zweiten meinen Automatik-Mini durch die engen Gassen raus aus der Stadt lenke. Eine Packung Taschentücher, meine Geldbörse, mein Für-alle-Fälle-Kajalstift, ein Einhorn-Notizblock für magische Einfälle, haufenweise Stifte, Bonbons und Münzen für Einkaufswagen tauchen auf, doch keine Spur von meinem Reisepass.

Vorsichtshalber beschließe ich, mein Auto doch besser am Straßenrand zu parken und schiebe es in eine viel zu kleine Lücke zwischen einen goldfarbenen Audi und einen schwarzen Pick-up.

Seufzend betrachte ich das Chaos in meiner Tasche.

Ein Anflug an Selbstvorwürfen versucht mich daran zu erinnern, dass ich immer noch nicht mit Paul gesprochen habe. Ich bin einfach abgehauen, ohne ein Wort zu sagen und dabei habe ich Sophie hoch und heilig versprechen müssen, meinem Freund Bescheid zu geben, dass er nicht mehr mein Freund ist, bevor ich in dieses Flugzeug nach Andalusien steige.

Doch wie kann ich im Flieger sitzen, wenn ich diesen blöden Pass nicht finde. Bestimmt ist das so etwas wie Karma, denke ich und beschließe, Karma ab sofort nicht mehr ganz so toll wie bisher zu finden. Habe ich im Übrigen schon erwähnt, dass ich auf Paul richtig sauer bin? Also falls nicht, sollte das nun hoffentlich endgültig klar sein. Ich atme tief ein und aus. Zu meinem Überraschen macht sich eine kaum wahrnehmbare, aber definitiv vorhandene Entspannung bemerkbar, die sich in Anbetracht der Umstände wohl eher zufällig in meinem autonomen Nervensystem verirrt hat als eine ernsthafte Absicht daran haben zu können, zu bleiben. Es sei denn, Sophies Hartnäckigkeit, mich zum Yoga zu schleppen, wäre tatsächlich für etwas gut gewesen. Da ging es andauernd um Loslassen, Atmen, Anspannen und Entspannen. Doch ich will mich überhaupt nicht entspannen! Scheiß auf Entspannung! Ich bin wütend!!!

Als wäre mein Wutanfall das Kommando für eine Abschusserlaubnis, rüstet sich eine Spezialeinheit Ärger, Enttäuschung und Angst vor dem Alleinsein zum Angriff.

Bis vor Kurzem wäre ich nicht einmal in der Lage gewesen, theoretisch zu verstehen, wie schnell und in welchem Ausmaß negative Gefühle über einen herfallen können. Sie lauern überall, sind blitzschnell und überwältigend. Sie sind der Railjet, wohingegen all die guten Emotionen gemütlich im Regionalzug sitzen und an jeder Station stehenbleiben, um alle willkommen zu heißen.

Was mache ich jetzt bloß? So ganz ohne Kanzlei, Klienten und doofen Akten?

Ich schließe die Augen. Sofort tanzt dieses Bild, das meinen Freund mit einer anderen Frau an seiner Seite kichernd aus unserem Lieblingsrestaurant kommen zeigt, spöttisch an mir vorüber und gibt mir auch noch das Gefühl, ich sei selbst schuld an all dem.

Wärst du doch nur ein bisschen dankbarer für den Job gewesen! Nicht jeder bekommt die Chance, zusammen mit seinem Partner, dem der Laden auch noch gehört, eine Kanzlei zu führen!, höre ich eine innere besserwisserische Stimme, die ich überhaupt nicht um ihre Meinung gefragt habe.

Doch ich fühle mich zu schwach und hilflos, um dagegen anzukämpfen und lasse all das über mich übergehen.

Sie sehen glücklich aus. Paul und die andere.

Gekränkt wische ich eine Träne aus meinen Augen, um mich nicht noch erbärmlicher zu fühlen. Verfluchte Liebe!

Mies gelaunt steige ich aus und durchsuche meinen bis oben beladenen Koffer auf der Rückbank. Zwischen viel zu vielen Kleidern, ein paar Bikinis, Shorts, Shirts und Flip-Flops, tauchen einige meiner Lieblingsbücher auf. Sanft streiche ich über den Umschlag eines beliebig gewählten Exemplars und halte es direkt unter meine Nase. Der Geruch des Papiers lässt mich entspannen und an eine dringend benötigte Auszeit denken.

Ihr könnt mich alle mal!, knurre ich und verpasse stellvertretend für Paul meinem Trolley einen Tritt, was mir im nächsten Augenblick schon wieder leid tut. Unsanft landet er auf dem Boden vor der Rückbank.

Weinend ignoriere ich das Durcheinander und steige wieder in das Auto, um mich zurück in meinen Sitz fallen zu lassen. Traurig umklammere ich das Lenkrad. Ich fühle mich hilflos und ausgeliefert. Widerstandslos lasse ich mich auf der Welle meiner Emotionen treiben und schließe die Augen. Mein Brustkorb hebt und senkt sich langsam. Meine Hände zittern, während eine Träne nach der anderen unaufhaltsam meine Wangen entlang rollt.

Erst ein Klopfen an die Scheibe lässt mich hochschrecken. Vorsichtig blinzle ich aus dem Seitenfenster und öffne es ein kleines Stück. Ein Typ, etwa in meinem Alter, blickt mich an. Meine Augen brennen höllisch unter meinen Kontaktlinsen. Ich zwinkere mehrmals und versuche den unerwarteten Gast näher zu mustern, doch das Bild, das ich wahrnehme, zeichnet eher Umrisse als scharfe Konturen.

»Alles okay bei dir?«, erkundigt er sich und scheint etwas besorgt zu wirken.

»Klar, wieso fragst du?«

»Naja … du … du siehst … naja …«

»WAS?!«, maule ich genervt.

»Du siehst etwas durcheinander aus«, antwortet der Typ und unterdrückt ein Grinsen.

»Ich bin nicht durcheinander. Ich bin völlig klar im Kopf und weiß ganz genau, was ich will!«, schnauze ich und lasse die Scheibe wieder hochfahren, worauf ein erneutes Klopfen ertönt.

»Was ist???«

»Brauchst du Hilfe?«

»Seh’ ich so aus?«

»Irgendwie schon …«

»Tu mir einen Gefallen und lass mich einfach in Ruhe. Heute ist echt nicht mein Tag und ich bin nicht daran interessiert, mit irgendjemandem darüber zu reden.«

»Weißt du, heute ist auch nicht mein Tag …«

»Das interessiert mich aber nicht!«

»Meine Frau hat mich betrogen und ich hab sie erwischt, naja, ich hatte schon so eine Idee, schon länger. Entschuldige, ich wollte dich nicht belästigen.«

»Nein, schon gut«, antworte ich und durchstöbere meine Handtasche nach einem Taschentuch, um meine laufende Nase trocken zu bekommen.

»Ich wollte dir bloß sagen, es wird wieder.«

»Warum denkst du, dass ich auch betrogen wurde?«, zische ich.

»Das denke ich nicht. Ich will nur sagen, egal wie beschissen der Tag ist, morgen wird besser, oder übermorgen.«

»Wieso willst du das wissen?«

»Weil es immer so ist. Es muss besser werden.«

»Vermutlich …«, murmle ich und wische zum Leidwesen meines Make-ups eine Träne mit einem weiteren Taschentuch aus meinen Augen. Ich ignoriere den Wunsch, mich meiner Kontaktlinsen zu entledigen und nehme stattdessen das nicht enden wollende Brennen in Kauf. »Du hast übrigens recht, denke ich.«

»Womit?«

»Mein Freund ist ein riesengroßes Arschloch!«

»Ich schätze wohl aus demselben Grund wie meine Frau?«

»Ich befürchte …«

»Verlässt du ihn?«

»Verlässt du deine Frau?«

»Ja.«

»Egal was kommt?«

»Egal was kommt.«

»Wieso?«

»Weil ich die Entscheidung getroffen habe.«

»Wie kann ich dir glauben, dass du sie sicher verlässt?«

»Weil ich es dir sage.«

»Ich kenne dich doch überhaupt nicht! Du könntest mir alles erzählen.«

»Warte mal«, antwortet er und läuft zu seinem Wagen, um kurz darauf wieder retour zu kommen. »Hier!«

»Was soll ich nun mit diesem Ding?« Wenig begeistert halte ich einen roten Seidenschal in meinen Händen.

»So hat unsere Geschichte begonnen – mit diesem Schal. Elisabeth hatte ihn in einem Café liegen lassen. Hätte sie ihn nicht vergessen, wären wir uns niemals begegnet.«

»Was in Anbetracht der Umstände wohl besser gewesen wäre«, grinse ich. »Riecht irgendwie nach … Blumen.«

»Ist bestimmt Elisabeths Parfüm.«

»Was mache ich nun damit?«

»Das ist die Trennung – symbolisch gesehen, verstehst du?«

»Ich befürchte nicht, und ich weiß ehrlich nicht, ob ich eure Trennung symbolisch gesehen in meiner Handtasche haben möchte.«

»Dann wirf den Schal weg!«

»Wirf ihn doch selbst weg!«

»Du wolltest einen Beweis, dass ich mich trenne, hier hast du ihn.«

»Aber ich dachte dabei nicht an einen seidenen Schal.«

»Woran dann? Soll ich dich küssen?«, grinst der Typ.

»Ich denke, ich nehme dann mal den Schal«, murmle ich verlegen und stopfe ihn in meine Handtasche.

»Weshalb ist es für dich überhaupt wichtig, was ich mache?«

»Es fällt mir leichter, meinen Freund zu verlassen, wenn ich weiß, dass jemand anderer das Gleiche aus demselben Grund zur selben Zeit macht.«

»Du musst deine eigene Entscheidung treffen.«

»Ich hasse es aber, Entscheidungen zu treffen!«

»Ich nehme an, so ziemlich jeder. Was hast du eigentlich vor?«

»Davonfliegen.«

»Wohin?«

»Nach Andalusien.«

»Es ist schön da«, sagt der Typ und lächelt sanft.

»Wieso weißt du das?«

»Ein Teil von mir stammt von dort.«

»Welcher Teil?«

»Meine Großmutter.«

»Warum zur Hölle ist sie weggezogen?«

»Der Liebe wegen«, lächelt er.

»Warst du schon oft dort?«

»Einige Male.«

»Ist es wirklich so schön?«

»Wenn du an die richtigen Orte kommst …«

»Wahrscheinlich werde ich diese Orte niemals zu sehen bekommen. Ich bin dazu verdammt, in alle Ewigkeit hier zu bleiben«, seufze ich.

»Weshalb?«

»Mein bescheuerter Pass ist unauffindbar!«

»Er wird zur richtigen Zeit auftauchen.«

»Das hoffe ich.«

»Ich muss los, wir sehen uns.«

»Wo denn?«

»Man sieht sich immer zweimal«, sagt der Typ grinsend und klopft zum Abschied auf mein Autodach, bevor er sich auf den Weg wohl zurück zu seinem Wagen macht.

»Hey!«, rufe ich ihm hinterher.

»Ja?«

»Ach nichts«, antworte ich verlegen und verkneife mir, nach seinem Namen zu fragen.

»Bis irgendwann.«

»Toll«, murmle ich und lasse die Scheibe hochfahren.

Für einen Augenblick überkommt mich das Gefühl, ihn zu fragen, ob wir uns treffen wollen, wenn dieses ganze Beziehungsdrama hinter uns liegt. Einfach nur so. Um zu quatschen.

Ich klappe den Spiegel der Sonnenblende auf, um ihn gleich wieder hochzuklappen. Entsetzt schnappe ich nach Luft. Selbst an meinen schlimmsten Tagen habe ich besser ausgesehen als in diesem Moment. Augenblicklich verbanne ich die Idee, den Typ je wiedersehen zu wollen, aus meinem Kopf. Meine Wangen sind gerötet, meine Augen tränenunterlaufen und mein Gesicht fühlt sich an, als würde es jeden Moment vor Hitze explodieren. Wie konnte ich bloß in diesem Auftritt überhaupt mit einem Menschen reden? Und noch dazu mit einem, der selbst verschwommen nicht schlecht aussieht?

Erleichtert sehe ich im Rückspiegel, dass Mr. Unbekannt bereits wieder in seinen Wagen, dem schwarzen Pick-up hinter mir, eingestiegen ist.

Mein Blick streift die Nummerntafel des Autokennzeichens und der nächste verlockende Gedanke kommt mir in den Sinn. Doch in Anbetracht der Umstände verwerfe ich ihn ebenso schnell, wie er aufgetaucht war. Weshalb sollte ich mir die Nummer notieren? Das ist doch ehrlich total idiotisch.

Mein Handy klingelt. Dem Läuten nach war es ganz in der Nähe. Mehr oder eher weniger akrobatisch bücke ich mich und entdecke mein rosa glitzerndes Telefon unter dem Beifahrersitz. Mit einem Wisch entsperre ich den Bildschirm, um zu sehen, wer angerufen hat.

Paul.

Klar.

Wer auch sonst? Gleichgültig zucke ich mit meinen Schultern und ziehe einen Schmollmund. Er braucht gar nicht erst zu wissen, wo ich bin. Soll er doch einmal über alles in Ruhe nachdenken!

Stattdessen wähle ich kurzentschlossen die Nummer meiner Tante. Ein angenehmes Gefühl macht sich in mir breit, als ich ihre Stimme höre.

»Hallo Süße, wie geht es dir?«

»Naja, was soll ich sagen, es könnte mir tatsächlich besser gehen«, antworte ich und versuche trotz Chaos halbwegs locker zu wirken. Ich wollte nicht, dass sich Emma unnötige Sorgen macht.

»Was ist passiert?«

»Paul und ich haben uns gezofft. Und ich habe einen miesen Kater. So mies wie Paul, weil ich Wein getrunken habe, um all die miesen Bilder zu ertränken, aber es war wohl zu wenig Wein für diese Bilder und zu viel für meinen Kopf. Ich wollte nach Andalusien fliegen, genauer gesagt nach Granada zu einer deiner vielen Geschichten, die du mir erzählt hast, als ich klein war, aber ich kann meinen Pass nirgendwo finden und jetzt sitze ich hier in meinem Auto fest und … kann ich zu dir kommen?«

»Aber natürlich! Du brauchst nicht zu fragen! Dein Zimmer und ich sind jederzeit für dich da«, ertönt Emmas Stimme mitfühlend.

»Du bist die Beste! Ich bin in einer halben Stunde bei dir!« Erleichtert lege ich auf.

Emmas Ranch war einfach der beste Ort, um abzuschalten. Nichts konnte mich mehr entspannen als das leise Schnauben der Pferde. Zu meinem Leidwesen komme ich, seit ich in der Kanzlei arbeite, nur noch selten dazu, sie zu besuchen.

Während ich die verlaufene Mascara rund um meine Augen entferne und mich halbwegs frisch mache, bemerke ich, wie sich ein Lächeln in meinem Gesicht breit macht.

Irgendetwas hatte der Typ von eben, denke ich und genieße das Gefühl in mir. Für einen kleinen Moment ärgere ich mich, nicht meine Kontaktlinsen gegen die Brille getauscht zu haben. Zu meinem Bedauern ist das Bild in meiner Erinnerung so von Tränen getrübt, dass nicht mehr als die Skizze einer Idee übrigbleibt.

»Was soll’s?«, murmle ich und drehe die Musik laut auf. Gedankenverloren träume ich mich in meine eigene Welt und stelle mir vor, wie alles ganz anders wäre. Ohne Paul. Ohne Kanzlei. Ohne all dem.

Das wird mein neues Leben, denke ich zufrieden. Im selben Augenblick schleust sich fernab meiner Wahrnehmung ein weiterer Gedanke in mein Unterbewusstsein. Es war der Funke einer Möglichkeit, dass diese eine Begegnung eben mehr mit meinem neuen Leben zu tun haben wird.

Gerade als ich den Motor starten will, klopft es erneut an meiner Scheibe. Ich zucke zusammen. Diesmal ist es Paul.

Genervt blicke ich direkt in seine blauen Augen. Zugegeben: strahlend blaue Augen. Seine hellen Haare hängen locker ins Gesicht. Ich liebe es, wenn ihn der zeitliche Stress am Morgen auf seine sonst übliche Ration Gel Xtra strong vergessen lässt, doch heute schützt ihn selbst diese Tatsache nicht vor meiner miesen Laune.

»Was willst du, Paul?«

»Wissen, was mit dir los ist. Du bist einfach abgehauen, ohne ein Wort zu sagen! Hast du überhaupt eine Ahnung, wie blöd ich mir vorgekommen bin, als ich vor Sophie stand und du nicht mehr da warst?«

»Hast du eine Ahnung, wie blöd ich mir vorgekommen bin, dich mit einer anderen Frau zusammen zu sehen, an jenem Abend, an dem ich mit dir auf unser bevorstehendes Jubiläum anstoßen wollte?», schnauze ich ihn ohne jegliches Verständnis an.

»Von wem redest du?«

»Tu mir einen Gefallen und erspare dir sämtliche Ausweichmanöver. Wer war diese Frau?«

»Du meinst … Lisa?«

»Wenn du dich in den letzten Tagen nicht mit mehreren dunkelhaarigen Frauen verabredet hast, meine ich wohl Lisa!«

»Sie ist nur eine Freundin.«

»Aha.«

»Was aha?«

»Eine Freundin, mit der du dich offenbar sehr gut amüsierst und die du, aus welchen Gründen auch immer, vor mir verheimlicht hast, um mit ihr in unser Lieblingsrestaurant zu gehen und …«

»… wir haben über die Arbeit gesprochen, sonst nichts.«

»Ach, na toll, und bestimmt hast du aufmerksam zugehört. Ich wäre froh, wenn du mir zumindest so weit zuhören könntest, dass du dir eine bescheuerte Einkaufsliste merkst!«

»Das ist das Problem!«

»Was?«

»Es geht andauernd nur um Dinge, die zu erledigen sind. Tu dies, mach das. Das nicht. Das anders, nicht so!«

»Es tut mir ehrlich leid, dass der gnädige Herr sich dann und wann an diversen Haushaltsaktivitäten beteiligen muss!«

»Ich mache das gerne, nur nicht so!«

»Wie dann?«

»Auf meine Art!«

»Die da wäre?«

»Anders eben.«

»Pfffhhh …«

»Vielleicht würden wir besser klarkommen, wenn du endlich einmal mit mir reden würdest, anstatt andauernd davonzulaufen!«

»Wie schön, dass dir wenigstens auffällt, dass ich am liebsten davonlaufen würde, was ich im Übrigen auch mache! Bei dir zu sein ist bloß, sich wie Luft zu fühlen. Du verbringst mehr Zeit mit dieser bescheuerten Kanzlei und mit schwarzhaarigen Busenfreundinnen als mit unserem gemeinsamen Leben.«

»Die Kanzlei ist unser Leben.«

»Ist sie nicht und genau das ist das Problem.« Ich hole tief Luft.

»Jana! So hab’ ich das nicht gemeint«, sagt Paul in einem sanften Ton.

»Doch, Paul. Du hast es genauso gemeint.«

»Du stehst an erster Stelle, das weißt du.«

»Du hast eben selbst gesagt, dass die Kanzlei unser Leben ist. Würde ich tatsächlich an erster Stelle stehen, würdest du mir nicht verheimlichen, dass du dich mit irgendwelchen Frauen zum Essen verabredest, um über die Arbeit zu sprechen. Du würdest mit mir reden oder mit einem Kumpel. Wieso kenne ich diese Lisa eigentlich nicht und warum besprecht ihr eure scheinbar rein beruflichen Themen nicht in einem unserer Konferenzzimmer?«

»Du kennst sie. Ihre Mutter ist im selben Golfklub wie meine.«

»Ach nö! Ich spiele kein blödes Golf!«

»Du hast sie auf einer Galaveranstaltung vorigen Dezember kennengelernt. Ich hab’ sie dir kurz vorgestellt.«

»Leider dürften sich sämtliche Hirnareale nicht dazu aufgefordert gefühlt haben, ein Bild dieser Schlampe in mein Langzeitgedächtnis zu befördern. Ich habe keine Ahnung von wem du sprichst.«

»Vertrau’ mir doch einfach mal«, sagt Paul leise und lehnt sich mit seinem Ellbogen an den Fensterrahmen.

»Die Art und Weise, wie mir gewisse Fakten zuteil werden, verhindert es leider, blindes Vertrauen an den Tag zu legen«, antworte ich zickig und drehe meinen Kopf schmollend zur Seite, woraufhin sich Paul wieder erhebt.

»Sei nicht unfair, Jana.«

»Ich kann so nicht mehr. Unsere Geschichte schreibt sich nicht mehr richtig.«

»Und was ist dein Vorschlag?«

»Neu schreiben.«

Paul sieht mich irritiert an.

»Wir schreiben eine Neuauflage. Bücher werden andauernd überarbeitet.«

»Ja, aber bloß, weil sich der Stand der Erkenntnis ändert.«

»Der sollte sich bei uns auch endlich einmal ändern.«

»Aber wir sind doch kein Buch, Jana!«

»Aber wir sind eine Geschichte. Jeder von uns. Alles. Vielleicht ist es an der Zeit innezuhalten, um sich einmal wieder in die Augen zu sehen und zu überlegen, wie unser nächstes Kapitel aussehen soll.«

»Ich sehe tagtäglich in deine wunderschönen grünen Augen«, lächelt Paul.

»Das war ja bloß eine Metapher.«

»Bitte Klartext. Deine Metaphern versteht nicht einmal Dalai Lama.«

»Wetten? Ich meinte damit, wir sollten uns selbst fragen, ob wir glücklich sind, wie es ist. Wann hast du das letzte Mal dein Spiegelbild so lange betrachtet, bis es dir eine ehrliche Antwort darauf gegeben hat?«

»Mir gefällt mein Spiegelbild. Und deines obendrein noch besser.«

»Mir aber nicht. Ich verliere meine Fantasie und wenn ich so weitermache, meinen Verstand obendrein.«

»Komm schon. Hast du vergessen, wie es einmal war?«

»Du machst es mir echt einfach, das zu vergessen.«

»Ich wollte dich nicht verletzen, und tief in deinem Herzen weißt du das auch.«

Verdammt, ich sollte einfach aufs Gas steigen und davonfahren! Doch stattdessen bleibe ich wie erstarrt sitzen. Das war gefährlich, denn Pauls Überzeugungskraft ist definitiv unschlagbar. Wahrscheinlich besteht deshalb die einzige Möglichkeit, all das hier beenden zu wollen, darin, wortlos zu flüchten. Er würde jedes Argument so lange entkräften, bis ich es selbst nicht mehr für wahr halten würde.

»Ich habe hier etwas für dich. Das wollte ich dir zu unserem zehnjährigen Jubiläum geben, aber irgendwie hab’ ich das Gefühl, dass du es heute bekommen sollst.«

»Ich denke nicht, dass jetzt und hier ein guter Zeitpunkt für Geschenke ist. Im Gegenteil, ein Geschenk würde bloß dein schlechtes Gewissen bestärken und dich noch unglaubwürdiger wirken lassen.«

»Nicht dieses …«

Ahnungslos versuche ich in Pauls Augen zu erkennen, was er tief in seinem Inneren über unsere Beziehung wohl denken mochte.

»Hier«, sagt er lächelnd und reicht mir eine kleine Schatulle.

»Ist das …?« Oh mein Gott, ist das tatsächlich das, was ich meine, zu denken? Mein Herz pocht. Was zur Hölle ist das bloß für ein Tag heute?

»Mach auf!«

So langsam wie nur irgendwie möglich öffne ich den seidenen Deckel der schwarzen Schatulle. Ich brauche dringend einen Augenblick, um einen klaren Gedanken zu fassen.

»Nun mach schon«, drängt Paul.

Im nächsten Moment blicke ich auf einen wunderschönen Ring.

~

Vor ein paar Jahren schlenderten Paul und ich an einem Juwelier vorüber. Da ich erst kurz davor den Anhänger meiner Kette verloren hatte, gingen wir in das Geschäft und schmökerten uns durch die funkelnde Auswahl. Mein Blick streifte einen silbernen Ring, der sich so ganz allein in einer Schatulle aufbewahrt, auf dem Tresen des Juweliers befand.

Als ich den Verkäufer fragte, warum dieser Ring nicht bei den anderen zum Verkauf war, antwortete er: »Sein erster Makel ist, dass er silbern ist und beinahe jeder entscheidet sich dafür, ein goldenes Exemplar zu tragen. Und hier, sehen Sie den kleinen Kratzer an der Innenseite? Man kann ihn nicht wegpolieren, dafür ist er zu tief und niemand möchte einen Ring auf dem Finger, der nicht perfekt ist. Ich möchte ihn aber nicht weggeben, denn für mich ist er genau aus diesem Grund wertvoll. Er erinnert mich daran, dass wir alle Ecken und Kanten haben und das Leben nicht immer perfekt ist.«

Ich war so gerührt von den Worten des Juweliers, dass ich beinahe Tränen in den Augen hatte. Als ich den Ring kaufen wollte, schüttelte dieser jedoch den Kopf. »Den hier kann man nicht kaufen. Er sucht sich seine Besitzerin selbst aus«, erklärte er lächelnd und wandte seinen Blick wieder von mir ab.

Ich habe seit damals nicht mehr an ihn gedacht. Eine seltsame Wehmut durchzieht meinen Körper. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich plötzlich diesen Ring vermisse, oder ich an die Zeit denke, in der Paul und ich so glücklich waren wie an diesem Tag.

Mein Blick wendet sich wieder dem Ring in der Schatulle zu. Er war perfekt. Kein Kratzer. Kein Makel. Gold.

»Ich hab’ mich in dich verliebt, als ich dich das erste Mal gesehen habe. Es war der perfekte Augenblick. Ich wusste, du bist etwas Besonderes, da gab es kein Wenn und auch kein Aber, sondern nur dich«, höre ich Pauls Stimme.

»Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll«, antworte ich überfordert.

»Du musst gar nichts sagen, Jana. Das ist nur ein Angebot an dich. Ich weiß, der Zeitpunkt ist nicht gerade romantisch und ideal. Überlege dir in Ruhe, wie du darüber denkst. Ich habe keine Erwartung an dich, ich wollte dir bloß zeigen, dass ich bereit für diesen Schritt bin. Ich kann mir niemand Besseren an meiner Seite wünschen als dich. «

Wieder kullert eine Träne meine Wange entlang. Eben wollte ich Paul noch verlassen und verfluchen, und im nächsten Augenblick macht er mir einen Heiratsantrag? Weil er es ernst meint? Weil er Angst hat, allein zu sein, wenn ich gehe? Weil er mich betrogen hat und sein schlechtes Gewissen beruhigen will? Oder tatsächlich, weil er mich liebt?

»Komm nach Hause«, höre ich Paul sagen, bevor er wieder zu seinem Wagen schlendert und mich mir selbst überlässt.

Völlig überfordert schließe ich die Augen. Was, wenn ich Paul unrecht getan und mich geirrt habe? Vielleicht sind er und Lisa tatsächlich nur Freunde, die sich über die Karriere unterhalten? In dieser Hinsicht war und bin ich Paul tatsächlich keine große Stütze. Hätte er mir einen Antrag gemacht, wenn er zugleich in eine andere verliebt wäre? Das macht doch alles keinen Sinn.

Das Gefühl, mich völlig lächerlich gemacht zu haben, kommt unweigerlich zum Vorschein.

Ich atme tief durch und beschließe, meiner Tante eine kurze Sprachnachricht zu hinterlassen:

»Emma, hör zu, es ist kompliziert, alles, aber ich besuche dich ein anderes Mal. Paul hat mir einen Antrag gemacht. Gerade eben. Ich hab’ dich lieb.«

Kapitel zwei

Begegnung am See- Zwei Jahre später -

Das viel zu laute Läuten meines Handys riss mich aus meinen Gedanken. »Hey Sophie!«

»Jana! Paul dreht langsam komplett durch! Komm’ doch endlich zur Vernunft und wieder zurück!«

»Ich will aber noch nicht zurück!«

»Dein immer-noch-Verlobter nervt mich andauernd, ihm zu verraten, wo du bist. Lange geht das nicht mehr gut!«

»Ich bin zwei Tage weg und Paul macht so ein Theater? Aber schön, dir zuliebe rufe ich ihn heute an, versprochen«, murmelte ich.

»Gut! Dann hab’ ich endlich wieder meine Ruhe! Der kann echt hartnäckig sein! Er meint, ich soll dich abholen und mit dir ein Wochenende zusammen verbringen. Wo du auch hin möchtest - er zahlt. Hauptsache, er hat dich danach gesund und glücklich wieder.«

»Das ist typisch! Paul glaubt echt immer, er könne jedes Problem mit Geld aus der Welt schaffen!«

»Aber die Idee ist nicht übel, musst du zugeben.«

»Die Kreditkarte gemeinsam mit dir zu plündern hat wirklich einen gewissen Reiz, aber das an die Forderung zu koppeln, danach wieder die gut gelaunte Verlobte zu spielen, nervt.«

»Willst du darüber reden?«

»Worüber?«

»Komm schon, du weißt worüber.«

»Ich will nicht reden.«

»Du bist meine beste Freundin und seit ich dich kenne, hast du mir alles anvertraut. Du kannst nicht einfach deinen Verlobten verlassen wollen und mir nicht sagen, warum!«

»Ich brauche einfach ein bisschen Zeit, Sophie. Ich hab’ das Gefühl, das hier ist die Reinkarnation meiner Ängste der letzten zwei Jahre, oder um es positiv zu formulieren, die Bestätigung meiner Gefühle, an jenem Tag, an dem ich so kurz davor war abzuhauen, die falsche Entscheidung getroffen zu haben. Ich bin abwechselnd auf mich selbst, Paul und Lisa sauer. Ich verstehe einfach nicht, wie ich, ausgerechnet ich, das nicht habe kommen sehen.«

»Du wolltest einfach an das Gute glauben. Daran ist nun wirklich nichts verwerflich.«

Ich holte tief Luft. Ein Kloß breitete sich in meinem Hals aus und mit ihm eine kaum auszuhaltende Traurigkeit. »Ich habe damals nicht auf mein Gefühl gehört, als ich Paul zusammen mit dieser Lisa aus dem Restaurant kommen gesehen habe. Diesen Fehler mache ich kein zweites Mal.« Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, stöckelte Miss Sowasvon-überheblich gedanklich mit ihrem Täschchen unterm Arm und ihrer perfekten Bikinifigur arrogant an mir vorüber, während sie mir einen mehr oder minder verachtenden Blick zuwarf.

Ich falle mit Sicherheit nicht in die Kategorie eifersüchtig, aber Lisa verbildlicht genau jene oberflächliche Welt, über die Paul und ich immer abgelästert haben. Sie wäre die ideale Schwiegertochter für Pauls Eltern gewesen. Ich bin bloß ein Plan B. Für Paul war ich immer der einzige Plan. Er hat mich auf Händen getragen, bis unsere Geschichte nach und nach überschrieben worden ist. So langsam, dass man die Veränderungen in ihren Einzelheiten nicht erfassen konnte, aber so stetig, dass sich nun ein völlig anderes Bild zeichnete.

»Wie geht es dir überhaupt bei Emma?«, hörte ich Sophies Stimme.

»Super Themenwechsel! Pferde, Landluft und jede Menge Zeit. Weißt du eigentlich, wie sehr ich das vermisst habe? Würde dir auch gefallen. Wie früher, unsere einzigartigen Sommer bei Tante Emma.«

»Das waren noch Zeiten!«, schwärmte Sophie, bevor sie mit ernster Stimme fortfuhr: »Aber wir sind keine Kinder mehr, und du hast dich für die Kanzlei entschieden. Es war klar, das würde kein Honigschlecken werden. Wenn du aussteigst, geht alles den Bach runter. Du kannst Paul jetzt nicht einfach hängenlassen!«

»Paul oder dich?«

Sophie wurde still. »Was ist denn, Süße?«, fragte ich vorsichtig nach. Ich hatte das Gefühl, sie schluchzen zu hören und Sophie weinte so gut wie nie. Sie ist diejenige von uns beiden, die immer alles locker und mit Humor nehmen kann. Die für alles innerhalb von drei Sekunden eine glaubwürdige Erklärung gefunden hat. Die die Fäden zusammenhält, während ich andauernd den Faden verliere.

»Ohne dich ist es nicht dasselbe hier. Du fehlst mir!« Sophies Stimme klang gebrochen und leise. Schlechtes Gewissen nagte an mir, doch ich biss mir auf die Lippen und atmete tief durch. »Du fehlst mir auch, aber ich brauche eine Auszeit! Ich muss den Kopf frei bekommen. Vielleicht sollten wir eine Kanzlei gründen. Wir könnten sie Soja nennen«, lachte ich und hoffte, der Versuch, Sophie auf andere Gedanken zu bringen, würde klappen.

»Soja?«

»Ein Akronym.«

»Sophie und Jana, wir sind sowas von Soja!«

Erleichtert, Sophie lachen zu hören, ließ ich mich auf einen frisch gepressten Heuballen neben mir nieder. »Weißt du was? Vielleicht hat Paul gar nicht so unrecht: Wir unternehmen irgendetwas Verrücktes. Wir gehen viel zu teure Klamotten und zu hohe Schuhe shoppen. Und wir gehen feiern. Mit Wodka. Und Lemon.«

»Wenn du nichts dagegen hast, nehme ich Gin und Tonic auch mit.«

»Wie konnte ich die beiden bloß vergessen?!«, lachte ich. »Bestimmt freuen sich Wodka und Lemon, Gin und Tonic endlich wieder einmal zu treffen. Und ich mich erst!«

Sophie kicherte. »Hör mal, Jana, im Moment kann ich mir zwar nichts Verlockenderes vorstellen, als mit dir einen draufzumachen, aber bist du dir sicher, dass wir unseren Männern die Kanzlei überlassen können? Wer weiß, welch’ Chaos sie hinterlassen?!«

»Sollen sie doch«, entgegnete ich mürrisch. »Von mir aus können sie die Kanzlei auch in den Ruin treiben, dann müsste ich wenigstens nicht länger darüber nachdenken, was ich machen soll.«

»Okay, dieses Thema lassen wir besser. Ich fahr’ jetzt los und richte deinem Freund aus, dass sich seine umwerfende Verlobte heute bei ihm melden wird.«

»Mach’ das! Bis bald, Süße, und grüß Chris von mir!« Ich legte mein Handy beiseite und beobachtete die Wolken über mir.

Eine eigenartige Leere kroch in mir hoch. Seit Paul und ich die Kanzlei seiner Eltern übernommen hatten, verloren wir unseren Plan vom Leben Tag für Tag ein kleines Stückchen mehr. Zumindest ich, denn während mich zunehmend eine tiefe Traurigkeit erfüllte, schien es Paul blendend zu gehen. Insgeheim hatte ich immer gehofft, Paul würde selbst irgendwann bemerken, dass das nicht seine Welt war, wenn ich ihm nur genug Zeit geben würde. Aber das Gegenteil war der Fall.

Anfangs spürt man das nicht. Alles ist neu und aufregend. Wir kauften uns schicke Klamotten, ein viel zu großes Auto, ein hübsches Haus und machten uns einen Spaß daraus, ein erfolgreiches Familienunternehmen zu führen. Abends saßen wir mit einem Glas Wein am Pool und bestaunten unseren Kontoauszug, dessen Anzahl an Nullen ich niemals für möglich gehalten hatte. Es war mir auch nie wichtig. Ich war froh, wenn ich neben meinem Studium noch Geld für ein bisschen Freizeit hatte. Und Paul, ja er schwor sich, nie so zu werden wie seine Eltern. Wir waren glücklich mit dem, was wir hatten. Doch dann lernten wir diese andere Welt kennen, in der alles einfach schien und so wurde unser einstiger Plan vom Leben zu einem Traum, den wir vor uns herschoben, bis wir uns nicht mehr an ihn erinnerten.

Sophie hatte mich immer wieder davor gewarnt, in die Kanzlei einzusteigen. Wir sind zusammen groß geworden und mehr als Sandkastenfreundinnen. Wir sind wie Schwestern. Sophie ist diejenige, die keine Konfrontation scheut und sich nie ein Blatt vor dem Mund nimmt, während ich Widerstand eher aus dem Weg gehe und trotz, oder gerade wegen all der Unterschiede sind wir unzertrennlich. Niemand kennt mich so wie sie mich, und niemand kennt sie so wie ich sie.

Sie wusste, dass diese Welt nichts für mich ist, aber auch Sophie ließ sich auf sie ein, als sie Chris kennenlernte.

Chris ist unser Partner und ein alter Kumpel von Paul. Groß, dunkelhaarig und ein echter Charmeur, im positiven Sinne. Sophie behauptet, mit seinen stahlblauen Augen und den längeren, etwas gelockten dunklen Haaren sieht er aus wie Bradley Cooper.

Kurz nach der Übernahme hatten wir seine und unsere Kanzlei fusioniert. Als Chris einen Juniorpartner suchte, schlug ich Sophie vor. Zwischen den beiden funkte es auf der Stelle. Ab diesem Moment hörte ich keine mahnenden Worte mehr. Alles schien perfekt. Meine allerbeste Freundin und ich arbeiteten Seite an Seite. Wir machten uns einen Spaß daraus, wer die meisten Klienten an Land zog und genossen die Vorzüge, die diese Welt mit sich brachte.

An jenen Tagen, an denen sich leise unsere Träume tief in unserem Inneren meldeten, tranken wir einfach ein Gläschen mehr und taten sie als jugendliche Spinnerei ab.

Ich wusste, dass sich das rächen würde. Es war ein Wettlauf gegen die Zeit, gegen mich selbst. Ich konnte nur verlieren – die Frage war nur, wann und wieviel.

Niemals hätte ich auch nur erahnt, dass ich mit einem Schlag alles verlieren könnte. Doch in dem Augenblick, als mein Blick heute Morgen zufällig diese E-Mail streifte, wurde mir bewusst, wie sehr ich mich selbst belogen hatte.

Es bestand kein Zweifel: Paul hatte mich an jenem Abend vor zwei Jahren betrogen und tut es heute noch und alles, was dazwischen war, war nicht mehr als eine große Illusion. Der berüchtigte Strohhalm, an dem man sich festklammert. Aber wozu? Um zu warten, bis man völlig entkräftet loslassen muss. Um sich verdammte vierundzwanzig Monate vergeblich zu bemühen, dieses eine Bild, das den Freund und dessen Kollegin eng nebeneinander, glücklich lachend aus dem Restaurant kommend zeigte, zu vergessen und eine bescheuerte Sie ist nur eine Freundin-Ausrede zu glauben?

Und doch, so sehr ich mich bemühte, meine Illusion für wahr zu halten, war er da. Jedes Mal, wenn ich meine Augen schloss und auf mein Herz hörte. Jedes Mal, wenn Paul mich anders anguckte, wenn ich sein schlechtes Gewissen spürte, und mir die Luft zu atmen fehlte. Jedes Mal, wenn der Hauch ihres Dufts sich in mein Unterbewusstsein einschlich, so elegant subtil, dass er nicht in mein Bewusstsein vorzudringen vermochte. In all diesen Momenten war er da. Wie ein Flashback. Der Gedanke an jenen Tag, an dem ich eine andere Entscheidung treffen hätte sollen.

Ich wusste, dass es falsch war, zu Paul zurückzukommen, doch ich war zu unsicher, um mich zu lösen. Und dieser bescheuerte Antrag hat mich hoffen lassen, dass er die Wahrheit sagt und es ernst meint.

An diesem Tag hatte ich mich gegen mein Gefühl entschieden, und das, obwohl mein sechster Sinn so ausgeprägt war wie das Bestreben meiner Schwiegereltern, alles zu Geld zu machen. Und die sind, nebenbei bemerkt, steinreich.

Bereits als Kind hatte ich eine ausgeprägte Intuition. Die meisten Erwachsenen behaupteten, ich sei eine Tagträumerin. Aber ich tagträumte nicht. Ich tauchte in eine andere Welt ab. Und bloß, weil andere nicht sehen konnten, was ich sah, schlussfolgerten sie, dass meine Welt nicht existierte. Gerade deshalb liebte ich sie umso mehr. Sie war mein Rückzugsort. Mein Abschalten und Loslassen. Mein Versteck, wenn es draußen laut war. Mein Wegträumen und Abheben.

Doch sie wurde blasser und blasser, je älter ich wurde und ich erwischte mich selbst dabei, mich denken zu hören, es wäre tatsächlich bloß kindliche Fantasie gewesen.

~

»Na, bist du in Gedanken?« Emma stand plötzlich neben mir.

»Hast du mich erschreckt!«

»Entschuldige …«

»Ich hab’ über Paul nachgedacht, die Kanzlei, Sophie, meine Intuition, über mich und diese Lisa. Irgendwie über alles.«

»Klingt nach ziemlich vielen Gedanken.«

»Ja, und sie wollen einfach nicht weniger und schon gar nicht klarer werden. Ich hab’ andauernd das Bedürfnis, in ein Wasser zu springen und abzutauchen.«

»Weil du nach etwas suchst, das sich unter der Oberfläche verborgen hält, Jana. Aber wenn du tatsächlich Lust hast abzutauchen, schnapp’ dir doch ein Pferd und reite zum See.«

»Ehrlich?«

»Na klar!«, meinte meine Tante lächelnd. »Vielleicht findest du dort deine Antwort.«

»Auf welche Frage?«

»Wonach du suchst.«

»Mhm«, murmelte ich und lief los, um meine Lieblingsstute Dakota von der Weide zu holen. Im Nu hatte ich die dunkelbraune Quarterdame gesattelt und stieg auf.

Was war das für ein Gefühl, endlich wieder auf einem Pferd zu sitzen! Ich hatte beinahe vergessen, wie herrlich unbeschwert die Welt doch von hier oben sein konnte.

Augenblicklich fühlte ich mich wie damals. Es waren die schönsten Sommer, als Sophie und ich unsere Ferien hier verbringen durften.

Unsere Eltern mussten arbeiten und Emma freute sich stets über unsere Gesellschaft. Wir halfen ihr bei den Pferden, im Haus und im Garten. Sie gab uns Reitunterricht, lernte uns Gitarre zu spielen und zu singen.

Mit Emma konnte ich über alles reden. Sie verstand meine Welt wie niemand sonst und sagte immer, ich hätte die Gabe, Dinge anders sehen zu können. Ich solle gut auf sie achtgeben, denn sie sei etwas ganz Besonderes. Ein Geschenk. Später würde ich lernen, sie richtig einzusetzen und es würde leichter werden, sie zu verstehen. Das Einzige, was ich später lernte, war, dieses Geschenk zu verdrängen. Ich hätte wohl mehrere Tanten namens Emma benötigt.

Nur über eine Sache habe ich auch mit ihr nie gesprochen. Ich war gerade einmal fünf Jahre alt. Ein schreckliches Gewitter zog auf und es donnerte ununterbrochen. In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen und war ungewöhnlich unruhig. Ein beklemmendes Gefühl stieg in mir hoch und ich wusste, dass irgendetwas Schlimmes geschehen würde. Mein Herz pochte und ich ging zum Fenster. Es regnete in Strömen.

Plötzlich sah ich meine Tante. Sie weinte. Toms Auto hatte sich überschlagen, und rund um den Wagen waren unzählige Lichter. Sie waren so grell, dass ich mir die Augen rieb.

Als ich sie wieder öffnete, war alles nicht mehr da. Ängstlich kroch ich in mein Bett und zog mir die Decke über den Kopf. Ich drückte meinen Kuschelhasen fest an mich und schlief schluchzend ein.

Am nächsten Tag erzählte mir meine Mutter, dass mein Onkel Tom bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war.

Ich weinte fürchertlich und fühlte mich schuldig. Vor Angst und Scham erzählte ich niemandem von meiner Vision, wie ich dieses Phänomen erst viel später nannte. Ich war der Meinung, wenn ich bloß nicht schlafen gegangen wäre und meine Eltern geweckt hätte, hätten sie Tom warnen können.

Es war ein tragischer Unfall. Die Sicht war schlecht und die Straße nass vom vielen Regen. Offenbar übersah ein Lkw-Fahrer das Vorrangschild und rammte Toms Auto ungebremst. Tom starb an Ort und Stelle, noch bevor der erste Sanitäter am Unfallort eingetroffen war.

Mein Onkel war erst 29 Jahre alt.

Für Emma brach eine Welt zusammen und das Einzige, was sie davon abhielt, in ein tiefes Loch zu fallen, war dieses Anwesen mit all den Pferden, das sie zusammen mit ihrem Mann aufgebaut hatte. Es gab ihr Kraft und die Vision weiterzumachen. Emma hatte ihren Job als Lehrerin kurzerhand an den Haken gehängt, um die Ranch zu übernehmen, damit wenigstens ihr gemeinsamer Traum am Leben blieb.

Obwohl sie wieder glücklich verheiratet ist, betont sie heute noch, dass Tom ihre einzige große Liebe war und für immer bleiben wird. Er war Seelenverwandter und davon gibt es eben nur einen, meinte sie.

Wenn ich fragte, was seelenverwandt bedeutet, antwortete sie immer: »Man kann dieses Gefühl nicht mit Worten beschreiben. Man spürt es einfach. Es ist, als ob die Welt stillstehen und es keinen Anfang und kein Ende geben würde. Als wäre man durch alle Zeit miteinander verbunden und immer schon gewesen.«

Als Kind sagte ich zu ihr: »Siehst du, du hast auch eine Gabe. Du kannst die Welt anhalten.«

Emma lächelte, nahm mich auf den Arm und sagte: »Weißt du, mein Schatz, diese Gabe hat jeder früher oder später mit ein bisschen Glück.«

Ich war immer der Meinung, Paul und ich wären auch so etwas wie seelenverwandt, aber ich hatte nie dieses Gefühl, dass die Welt stehenbliebe. Im Gegenteil, das war gerade das, was ich vermisste.

Vielleicht hat nicht jeder einen Seelenverwandten, oder jeder empfindet es anders. Oder die Kanzlei war Pauls Seelenverwandte?, kam mir in den Sinn. Da blieb nämlich andauernd die Zeit stehen und es wurde spät und noch später.

Ein lautes Platschen ließ mich aufhorchen. Eine Ente war auf dem See gelandet. Ich war so in meinen Gedanken versunken, dass ich den Weg hierher überhaupt nicht realisiert hatte. Erst jetzt nahm ich das sanfte Glitzern der Sonnenstrahlen im Wasser wahr. Hier und da sah man einen Fisch, der eilig nach etwas Essbarem Ausschau hielt, doch er musste achtsam sein, nicht selbst gefressen zu werden, denn gierige Vögel lauerten bereits.

Libellen tanzten spielerisch leicht auf der Wasseroberfläche. Ein paar Schmetterlinge erfreuten sich an den Seerosen und in der Ferne konnte man Rehe sehen, die sich scheu ans Wasser wagten, um ihren Durst zu stillen.

Ich sah mich um. Es hatte sich so gut wie nichts verändert über all die Jahre. Veträumt ließ ich mich in das weiche, hohe Gras fallen. Von einer aufkommenden Leichtigkeit erfüllt, blickte ich in den strahlend blauen Himmel. Eine sanfte Brise streifte mein Gesicht.

Das ist mein Abschalten!

»Man sollte sein Pferd nicht unbeaufsichtigt grasen lassen!«, hörte ich plötzlich eine fremde männliche Stimme.

Erschrocken fuhr ich hoch und blickte mich um. Dakota musste sich auf die Suche nach saftigem Grün gemacht haben und war dabei wohl diesem Unbekannten in die Quere gekommen.

»Sorry, tut mir leid, ich war wohl in Gedanken«, entschuldigte ich mich und stand auf, um meine Stute wieder zurück zu ihrem Platz zu bringen. Eine alles durchdringende Nervosität durchzog mich. Ich spürte den Blick dieses viel zu gut aussehenden Fremden in meinem Nacken.

»War nicht zu übersehen«, sagte er grinsend. »Ich bin übrigens Liam.«

»Jana«, erwiderte ich kurz und bemühte mich vergeblich, zu meiner sonst üblichen Lockerheit zurückzufinden.

»Ist das dein Pferd?«, fragte er und streichelte Dakotas braunes Fell.

»Sie gehört meiner Tante. Bist du öfters hier am See?«

»Von Zeit zu Zeit. Wenn ich abschalten möchte. Um ehrlich zu sein, war ich schon lange nicht mehr hier, ganze zwei Jahre.«

»Und warum kommst du dann ausgerechnet heute hierher zum Abschalten?«

»Hast du etwas dagegen einzuwenden?«

»Es ist der beste Ort dafür, also nein, keine Einwände«, sagte ich mit einem Grinsen. »Wovon musst du denn abschalten?«

»Also das ist etwas kompliziert … vom Leben, würde ich sagen. Von der Vergangenheit.«

Ich spürte, dass Liam wohl mehr mit diesem Ort hier verband als eine Zufallsbekanntschaft und beschloss, keine Fragen mehr zu stellen, um ihm nicht zu nahe zu treten. Stattdessen setzte ich mich ans Ufer und schlüpfte aus meinen Stiefeln, um meine Füße im kühlen Wasser zu erfrischen.

»Wohnst du in der Gegend?«, wollte Liam wissen und unterbrach die aufkommende Stille.

»Bloß für die nächsten zwei Wochen.«

»Weshalb genau zwei Wochen?«

»Weil ich eine Auszeit von allem brauche und vierzehn Tage das Maximum sind, die mich der Alltag entbehren kann oder besser muss.«

»Verstehe ich.«

»Wieso?«

»Weil es einleuchtend klingt. Könnte mir genauso gehen. Vielleicht sollte ich mir auch wieder eine Auszeit nehmen.«

»Wieder?«

»Ja, es gibt Menschen, die sich das regelmäßig gönnen, um über ihre Ziele nachzudenken oder um sich abseits des Trubels inspirieren zu lassen.«

»Bist du Musiker oder so?«

»Nö, bloß auf der Suche nach neuen Visionen.«

»Aha«, antwortete ich.

»Was bedeutet dieses Aha?«, wollte Liam wissen.

»Weißt du, das ist meine erste Auszeit und ich hab’ ehrlich gesagt keine Ahnung, was man da so macht. Ich wollte bloß weg von allem.«

»Du solltest dir eine Frage überlegen mit dem Ziel, eine Antwort zu finden. Du könntest dir ausmalen, wer du in fünf Jahren sein möchtest. Ob du Kinder hast, einen Ehemann, geschieden bist, auf dem Land lebst oder in der Stadt. Was du beruflich machst und so weiter.«

»Ich wäre schon froh, wenn ich weiß, wer ich nächste Woche bin«, murmelte ich.

Liam lachte. Erst jetzt fielen mir seine funkelnden smaragdgrünen Augen auf. Seine brünetten Haare waren zu einer verspielt frechen Frisur geschnitten. Sein Kinn zeichnete eine klare Form, sein Dreitagebart war perfekt rasiert. Bestimmt war er jemand, der in der Öffentlichkeit stand. Wenn schon kein Musiker, dann vielleicht Schauspieler?, überlegte ich. Eine sanfte Brise seines Parfums strömte in meine Nase, gefolgt von einem Kribbeln, das sich ungefragt in mir ausbreitete. Zu all dem gesellte sich das Gefühl, Liam schon einmal gesehen zu haben, aber mir fiel beim besten Willen nicht ein, wo. Liams Figur war sportlich, obwohl ich mir nicht sicher war, ob er tatsächlich sportlich war. Paul ist Sportler. Seine Muskeln waren wie mit Photoshop bearbeitet – dezent, aber deutlich definiert. Liam hingegen wirkte wie ein Typ, der einfach eine glückliche Hand bei seiner DNA-Codierung betreffend Figur hatte.

»Das bedeutet dann wohl, du steckst inmitten einer Krise und ich würde wetten, diese Krise hat etwas mit deiner Beziehung zu tun«, vernahm ich Liams Stimme.

»Wie kommst du darauf?«

»Wenn ich dir schon bei unserem ersten Treffen alles erzähle, nehme ich dem Ganzen doch eindeutig die Spannung, oder?« Verschmitzt zwinkerte Liam mir zu. Es schien ihm Spaß zu machen, mit mir zu flirten, oder was auch immer das seiner Meinung nach war. Die Vorstellung, ihm wieder zu begegnen, löste ein erstaunlich wohliges Gefühl aus. Dennoch bemühte ich mich tunlichst, mir das nicht anmerken zu lassen.

»Wann habe ich bloß den Moment versäumt, an dem wir uns weitere Treffen ausgemacht haben?«, fragte ich keck.

Doch anstatt sich meiner Frage zu widmen, grinste Liam bloß, zog sich seine Jeans und das Shirt aus und sprang mit einem Satz kopfüber in den See. Ich erwischte mich dabei, ihn viel zu lange zu mustern, und ich meine wirklich viel zu lange. Warum muss er auch so gut aussehen? Verdammt, Jana! Du hast immer noch einen Verlobten! Was ist bloß los mit dir?!

»Kommst du auch rein?«, rief Liam mir zu.

Auf keinen Fall!, vernahm ich die Stimme meiner Vernunft unmissverständlich klar und deutlich, während ein anderer Gedanke leise und doch zunehmend Gefallen an der Vorstellung fand. »Weißt du, ich gehe nicht mit fremden Männern baden«, sagte ich grinsend.

»Ich denke eher, du traust dich nicht.«

»Und ob! Ich bin quasi an diesem Ort groß geworden, da hat es dich hier noch lange nicht gegeben.«

»Wenn du meinst. Komm schon, spring’ rein!«, rief Liam und lächelte unverschämt frech.

Was soll’s?, dachte ich kurzerhand. Während ich mich aus meiner viel zu engen Jeans schälte und mein Top auszog, zeigte Liam nicht die geringste Absicht, sich zumindest höflicherweise umzudrehen. Im Gegenteil. Es schien, als würde er seelenruhig zugucken.

Um weiteren Blicken aus dem Weg zu gehen, sprang ich schnell ins viel zu kalte Wasser und schwamm in die Mitte des Sees. Dort befand sich ein kleiner Steg, auf dem ich früher immer mit Sophie war. Ich setzte mich auf die Holzbretter und genoss die wärmenden Sonnenstrahlen. Der Ort lud richtig zum Abschalten ein. Es dauerte keine Minute und auch Liam war bei mir.

»Also, wie sieht nun dein Plan aus?«, fragte er, während er sich mit einem Satz aus dem Wasser hob und neben mich setzte.

»Welcher?«

»Na, dein Auszeitplan.«

»Hm. Finden, wonach ich suche, würde ich sagen«, antwortete ich und dachte an die Frage, die mir Tante Emma vorhin in den Mund gelegt hatte.

»Vielleicht suchst du mich«, grinste Liam.

»Sag mal, was bist du bloß für ein Typ?« Fragend guckte ich zu ihm, doch er sagte kein Wort. Stattdessen blickte er mich einfach nur an und ich versank in der Unendlichkeit des Augenblicks.

Kennt ihr dieses Gefühl, wenn die Welt stillsteht? Wenn alles in Watte taucht und dieser eine Moment riesengroß wird, als würde er für immer sein? Als würdet ihr abheben, alles loslassen und wie auf Wolken schweben? Dieses Gefühl, euch in den Augen eines Menschen zu verlieren und zu wissen, dass ihr auf irgendeine Art und Weise miteinander verbunden seid? Als wäre dieser Augenblick immer schon da gewesen, verborgen inmitten der Skizzen eures Schicksals?

So fühlte ich mich an diesem Tag, in jener Sekunde.

Einige Spritzer des viel zu kalten Wassers brachten mich wieder halbwegs zur Besinnung. Liam lachte und bat mich, die Augen zu schließen. Ich fühlte seine Anwesenheit und meine Nervosität, die beinahe unerträglich war.

»Kommt dir irgendetwas bekannt vor?«, hörte ich ihn leise fragen.

»Ja, aber …« Meine Stimme versagte ebenso wie mein Verstand. Ich spürte Liams Atem in meinem Nacken und biss mir auf die Lippe. Verdammt, was mache ich hier?