Und plötzlich warst du nah - Lorie Mavie - E-Book

Und plötzlich warst du nah E-Book

Lorie Mavie

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Beschreibung

Ist es möglich, dass ein einziger Augenblick alles verändern kann? Alles beginnt auf der Eröffnungsparty ihrer Freundin Emilia, als er vor ihr steht: Alex. Jener eingebildete Karrieretyp, den Nathalie noch nie leiden konnte. Aber als sich an diesem Abend ihre Blicke treffen, steht plötzlich die Zeit still und Nathalie sieht zum ersten Mal die Person hinter der vermeintlich kühlen Fassade. Getrieben von Neugier und der Sehnsucht nach seiner Nähe, lässt sie sich nach und nach auf Alex Welt ein und ignoriert dabei die Schatten, die genauso zu ihm gehören, wie dieses unwiderstehliche Leuchten in seinen meerblauen Augen. Und auch Alex kann die Frau, die seine Welt völlig unerwartet auf den Kopf stellt, nicht einfach vergessen. Doch lassen die Umstände es zu, dass sich die beiden näher kommen?

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Ist es möglich, dass ein einziger Augenblick alles verändern kann?

Alles beginnt auf der Eröffnungsparty ihrer Freundin Emilia, als er vor ihr steht: Alex. Jener eingebildete Karrieretyp, den Nathalie noch nie leiden konnte. Aber als sich an diesem Abend ihre Blicke treffen, steht plötzlich die Zeit still und Nathalie sieht zum ersten Mal die Person hinter der vermeintlich kühlen Fassade. Getrieben von Neugier und der Sehnsucht nach seiner Nähe, lässt sie sich nach und nach auf Alex’ Welt ein und ignoriert dabei die Schatten, die genauso zu ihm gehören, wie dieses unwiderstehliche Leuchten in seinen meerblauen Augen. Und auch Alex kann die Frau, die seine Welt völlig unerwartet auf den Kopf stellt, nicht einfach vergessen. Doch lassen die Umstände es zu, dass sich die beiden näher kommen?

FÜR DAS LEBEN.

Das mir diesen einen Moment schenkte, in dem mir klar wurde, dass ich schreiben möchte.

Inhalt

1 Neuanfang

4 Mr. Unnahbar

5 Eine Zeitlang

6 Achterbahn

7 Tapetenwechsel

8 Wir Tanzen Farbe

9 Ziemlich Beste Freunde

10 So Sehr Dabei

11 Abstandluft

12 Weisse Wände

13 Offen Gestanden

14 Wiese Statt Asphalt

16 Pizza Und Bier

17 Rooftop - Date

18 Ich Kann Nicht Bleiben

19 Leerlauf

20 Tage Wie Dieser

21 Eistag

PROLOG

Ich höre dieses klickende Geräusch des Schlüssels im Türschloss. Mein Herz pocht und ich habe Mühe, nicht aufs Atmen zu vergessen. Langsam, aber zielsicher, kommt Raphael auf mich zu. In diesem Moment wirkt er noch größer als er es ohnehin schon ist. Reiß dich zusammen, Nathalie, sage ich mir in Gedanken immer wieder, während ich tapfer mit meinen Tränen kämpfe. Reiß dich zusammen!

Schließlich steht er vor mir. Sein Blick ist ausdruckslos und starr. »Ich denke, es ist das Beste, wenn wir unsere Beziehung beenden«, höre ich Raphael sagen. Seine Worte klingen leer, monoton und automatisiert, wie die Stimme aus einer Hotline-Warteschleife. Bitte warten, please hold the line, Ihr Anruf wird in Kürze entgegengenommen. Ich warte. Alles steht still.

Obwohl ich seit dem Telefonat heute Morgen damit gerechnet habe, durchbohrt dieser Satz meinen Körper von Kopf bis Fuß. Ich spüre eine Enge in meiner Kehle. Um mich dreht sich alles. Wieder und wieder hallen Raphaels Worte nach. Es ist das Beste, wir beenden das. Beenden. Ende. Beim Gedanken daran, dass ab sofort alles anders sein wird, fühle ich eine Mischung aus Angst und Schmerz in mir emporklettern. Verzweifelt warte ich auf eine Erklärung, die die Situation ein wenig tröstender macht. Doch nichts. Kein, wir können Freunde bleiben. Kein, es tut mir leid. Kein, es ist nicht deine Schuld. Keine Tränen. Keine Umarmung. Nichts. Außer einer Frage: »Kannst du mir bitte meine Wohnungsschlüssel geben?«

»Ist das deine größte Sorge?« Du verdammter Idiot!Denkst du, ich habe Bock plötzlich hier aufzutauchen? Du kannst mich mal!, ärgere ich mich in Gedanken.

»Es wäre mir lieber.« Arrogant streicht er durch seine dunkelbraunen, kurzen Haare, die frisch geschnitten aussehen.

»Du bist ein Arsch!«

»Wenn du das sagst.«

»Weißt du was? Vielleicht ist es wirklich besser so!«, fluche ich mürrisch, genervt von seinem gekonnt sarkastischen Unterton. Wie kann man bloß so eiskalt sein? Tränen rollen über meine Wangen. Wortlos geht Raphael auf den Balkon, um eine Zigarette zu rauchen. Er ist es einfach nicht wert, flüstert eine Stimme in meinem Kopf. Vergiss’ ihn! Planlos stolpere ich kreuz und quer in der Wohnung umher und packe meine Klamotten, die sich im Laufe der Monate angehäuft haben, in einen Koffer. »Bringst du mir den Rest nach?«, frage ich Raphael schließlich. Meine Stimme klingt zittrig und ungewohnt leise. Sein Blick schweift in die Ferne. Mit dem Ellbogen lehnt er am Balkongelände. In der Hand qualmt immer noch die Zigarette.

Raphael nickt. Dann seufzt er und wartet wahrscheinlich nur noch darauf, dass ich endlich verschwinde. Doch warum? Ich meine, es lief in letzter Zeit nicht besonders zwischen uns, aber wir hatten auch unsere guten Tage. Stumm betrachte ich ihn. Selbst hinter seiner Kälte ist keine Wärme mehr zu erkennen. Das Feuer ist weg. Wie lange wohl schon? Ich nehme meinen Koffer und gehe, ohne mich von der Wohnung zu verabschieden, die auch mein Zuhause geworden ist. Wie einen Schatten spüre ich Raphael hinter mir. Bestimmt will er sich vergewissern, dass ich auch wirklich weg bin! Benommen drücke ich die Taste am Lift, der dieses Mal viel zu schnell da ist. Ich spüre meine Tränen unkontrolliert die Wangen entlanglaufen und schmecke sie, wie sie als salziger Beigeschmack die Geschichte würzen und noch ungenießbarer erscheinen lassen.

Mit einem Ruck fährt der Lift ins Erdgeschoss. Ich steige aus und öffne die kalte, graue Eingangstür des Wohnhauses. Eine lähmende Schwere macht sich in mir breit. Meine Hände zittern. Es ist das letzte Mal, dass ich durch diese Türe gehen werde. Mit aller Kraft halte ich sie fest, obwohl ich am liebsten in mich zusammensacken würde. Doch ich weiß, wenn diese Tür ins Schloss fällt, fällt sie hinter mir zu und mit ihr dieser Teil meines Lebens.

Das Telefon klingelt. Vielleicht Raphael? Nervös blicke ich auf das Display. Doch es ist mein Dad. Unter Tränen hebe ich ab, obwohl ich nichts zu sagen vermag. Ich stammle irgendwelche Worte, während ich versuche seine zu verstehen, die wie Regentropfen auf einer Fensterscheibe verschwimmen. Um mich dreht sich alles und ich fühle mich, als ob ich den Boden unter meinen Füßen verliere. »Nathalie? Bist du noch dran?« Dumpf vernehme ich die Stimme meines Vaters. »Geht es dir gut?« Ich lasse los. Die Tür fällt ins Schloss und ich sinke weinend zu Boden. »Nathalie?«

Ich spüre ein unbeschreiblich intensives Gefühl. Es ist mächtig und hat etwas tief Befreiendes, da es einen zwingt, alles loszulassen. Sich auszuliefern.

Nicht mehr zu halten.

Sich hinzugeben.

Fallenzulassen.

All den Druck.

Loslassen.

All die Spannung.

Wie in dem Moment, bevor man das Bewusstsein verliert. Es ist das Gefühl der Ohnmacht und das einzige Gefühl, das mich in diesem Moment spüren lässt, dass ich da bin.

»Hallo? Nat?«

»Ich bin da, Dad. Alles okay. Ich rufe später wieder an.«

1

NEUANFANG

Die Stimmung, die das Novemberwetter mit sich bringt, spiegelt sich in mir wider. Es ist kalt und frustrierend nebelig. Zu dieser Zeit mag ich meine sonst so lieb gewonnene Heimat nicht besonders. Doch noch schlimmer ist es, morgens aufzuwachen und zu wissen, dass all das kein Traum ist. Plötzlich läuft mein Alltag von einem Moment auf den anderen völlig anders. Ich koche allein, esse allein und der Fernseher ist einzig ein bewegtes Bild, durch das ich hindurchsehe, um mich an den Abenden nicht noch verlorener zu fühlen.

Nach unzähligen Tagen, an denen die Einsamkeit an mir klebte wie Pech, fühle ich an diesem Morgen zum ersten Mal so etwas wie Wut. Und es fühlt sich überraschend gut an, wütend zu sein! Raphael hat es sich viel zu leicht gemacht! Er hat einfach alles hingeschmissen, ohne einen einzigen Versuch zu unternehmen, etwas zu verändern. Und in diesem Augenblick spüre ich nichts weiter, als den Wunsch, er würde irgendwann dasselbe fühlen müssen. Fünf Sekunden lang. Dann kriecht ein furchtbar schlechtes Gewissen in mir hoch und ich nehme meine düsteren Gedanken widerwillig zurück. Etwas in mir zwingt mich regelrecht dazu, mich daran zu erinnern, dass auch er so einiges in seinem Leben durchgemacht hat, aber daran hat er niemanden teilhaben lassen, selbst wenn er manchmal über seine Vergangenheit sprach, als er zu viel getrunken hatte. Es war seine innere Welt und er war stets bemüht sie verborgen zu hüten und mit sich allein herumzuschleppen, wohlwissend, dass sie eine unübersehbare Schwere auf ihn lud. Doch all das Verständnis nutzt wenig und ändert vor allem nicht die Situation, in der ich mich befinde. Alles scheint wie ein einziger schmerzhafter Prozess des Loslassens und neu Findens, der vor allem eines, nämlich Zeit und jede Menge nicht vorhandener Geduld, braucht. Egal, was ich auch unternehme, ich schaffe es nicht, mich aus dieser Tristesse heraus zu katapultieren, und das Schlimme ist: Ich will überhaupt nicht da raus! Ich will wütend und traurig sein! Und so lasse ich mich Tag für Tag, durch meine dunkelrot bis tiefschwarzen Stimmungslagen tragen, bis ich schließlich nach Wochen wieder das Gefühl habe, nach vorne blicken zu können, ohne der Hoffnung, dass Morgen wieder Gestern sein wird. Langsam werden meine Gedanken an Raphael weniger und weniger, bis sie sich in Luft auflösen und mich nicht mehr berühren. Etwas in mir hat aufgehört um den Plan zu kämpfen, wie er in meinem Kopf einst existierte. Erst jetzt schnalle ich, dass es immer nur meine Welt war. Nicht Raphaels. Ich hab mich in meiner eigenen Scheinwelt verlaufen, mir ein Labyrinth aus Ausreden gebaut und tausend Mauern um mich, um einen Zusammenbruch zu verhindern. Ich wusste, dass der Schmerz und die Enttäuschung, die darunter zum Vorschein kommen würden, unerträglich sein werden. Und so war es. An jenem Tag, und den vielen Tagen danach. Ich atme durch und schließe die Augen. In Gedanken sehe ich mich auf einem Stück übriggebliebener Mauer sitzen. Irgendwie fühle ich mich frei. In dem Moment erkenne ich die Chance, meine Welt neu aufzubauen, ohne Angst, dass schon beim kleinsten Beben, alles wieder zusammenbrechen könnte. Ich atme noch einmal tief ein und aus. Ja! Ich hab Bock auf Neues!

Sogleich tanzt meine Muse vergnügt vor mir auf und ab. Sie ist mein Freigeist, mein Gefühl, meine Inspiration. Sie ist immer da, wenn der Kopf voll ist. Sie ist es, die mich motiviert, Neues auszuprobieren, weiterzugehen, nach vorne zu sehen, Spaß zu haben und an das Gute zu glauben. Daran, dass alles einen Sinn hat. In meiner Vorstellung ist sie eine kleine Elfe, die so verletzlich und doch so ausdrucksstark zugleich ist. Unwillkürlich muss ich lächeln. Mit gerade mal vierundzwanzig Jahren sollte einem die Welt noch offenstehen! Es ist definitiv allerhöchste Zeit für einen Neuanfang! Und dazu gehören die legendären Frühstückstreffen mit zwei meiner insgesamt vier Schwestern Ana, und Lara und meinen Freundinnen Joss und Zoé.

Es ist ein ungewöhnlich milder Dezembertag. Trotz niedriger Plusgrade, hält sich die dünne Schneedecke erstaunlich hartnäckig. Zusammen mit meinen Schwestern, mache ich mich auf den Weg zu Zoé. Dieses Mal treffen wir uns bei ihr zum Frühstück.

»Kommt ihr nicht mit?«, frage ich, als ich mich aus dem Wagen hieve und sehe, dass sich meine Schwestern nicht von der Stelle rühren. Ein kalter Windzug streift meinen Nacken. Ich zucke unwillkürlich zusammen und stelle den Kragen meiner Jacke hoch.

»Wir warten auf Joss«, erklärt Ana. Lara nickt zustimmend.

»Man kann auch im Warmen warten, bei Kaffee und so«, antworte ich und husche achselzuckend in Richtung Wohnungstür, um anzuklopfen. Kurz darauf höre ich ein Knarren, dann ein Rumpeln und schließlich Zoés Stimme.

»Wir müssen uns für einen Tanzkurs anmelden, das ist jetzt genau das Richtige für dich!«

»Wieso weißt du, dass ich, ich bin, bevor du mich sehen kannst?«, frage ich verwundert und blicke durch die halb geöffnete Tür. Zoé kämpft gerade mit dem Vorhängeschloss.

»Ich bin eben Zoé«, antwortet sie und grinst verschmitzt.

Endlich ist die Tür offen und meine Freundin steht mir freudestrahlend und hellauf begeistert gegenüber. Ihre rotgefärbten Haare sind verspielt zu einem Knoten hochgebunden, was sie noch energiegeladener wirken lässt, als sie es ohnehin ist.

»Also was ist jetzt? Bist du dabei?«

»Wobei?«

»Tanzen.«

»Was meinst du? Welchen Tanzkurs?«, hake ich nach und bin nach wie vor irritiert, was dieses Thema anbelangt. Im Grunde ist Tanzen so ziemlich das Letzte, worauf ich gerade Bock habe.

»Tanzen mit Ella.«

»Ella?« Ich kenne keine Ella. Was habe ich denn bloß in den letzten Wochen versäumt?, frage ich mich selbst. Doch noch ehe ich eine Antwort bekomme, erzählt Zoé bereits Ana, Lara und Joss, die gerade um die Ecke kommen, dasselbe wie mir eben und bereits im nächsten Augenblick schon, telefoniert sie mit dieser Ella. Während sie in der Wohnung auf und ab spaziert und alle Details erfragt, trinken wir gemütlich eine Tasse Kaffee. »Wusstet ihr darüber Bescheid?«

»Noch nie davon gehört!«, antwortet Lara.

»Wer ist denn Ella?«

»Sie ist Tänzerin und Choreografin. Ziemlich gut. Sehr gut sogar. Ich bin mir bloß nicht sicher, ob wir da richtig sind«, meint Joss und zieht fragend die Schultern hoch.

»Ich auch nicht. Ich hab’ in meinem Leben noch nicht mehr getanzt als zur Mitternachtseinlage bei meinem Schulabschlussball und selbst da zur falschen Einlage.« Ich muss lachen, als ich mich an diesen Abend zurückerinnere. So gut ich das schaffe. Mein Gedächtnis weist wohl ein paar Lücken über dieses so besondere Ereignis auf.

»Du hast was?«, fragt Joss.

»Ich habe mich in die Einlage der Parallelklasse geschleust.«

»Und das hat funktioniert?«

»Offensichtlich. Irgendjemand hatte wohl keinen Tanzpartner mehr«, erkläre ich und grinse. Doch schon im nächsten Moment tut mir die Tanzpartnerin leid. Ich habe noch nie daran gedacht, wie sie sich wohl gefühlt hat. Sie hat bestimmt lange dafür geprobt und dann komme ich und nehme ihr einfach ihren Tanz weg. Ich schäme mich ein bisschen für mein Verhalten von damals und beschließe, dieses Thema besser wieder zu verdrängen.

»Ab sofort wird an jedem Mittwochabend getanzt!«, unterbricht glücklicherweise Zoé unser Gespräch. Erwartungsvoll sieht sie uns an.

»Echt jetzt?«, frage ich überrumpelt.

»Super!«, freut sich Joss.

»Eben hattest du noch Bedenken.«

»Die haben sich verflüchtigt.«

»So schnell?«

»Das liegt in der Natur der Sache.«

Fragend blicke zu Joss und warte auf eine Erklärung.

»V e r f l ü c h t i g e n , F l u c h t , s c h n e l l «, betont sie, als würde ich eine andere Sprache sprechen.

»Sehr gut.« Zoé nickt zufrieden. »Was ist mit euch?« Ihr Blick ist nun auf Lara, Ana und mich gerichtet und scheint uns zu durchleuchten.

»Mittwochs sind Lara und ich nicht hier, wie du weißt«, erklärt Ana. Toll, die beiden können sich wieder mal ganz easy aus der Sache rauswinden. Sie wohnen ja auch nicht hier. Bloß Anas Freund Gil. »Meinetwegen«, murmle ich, eher aus schlechtem Gewissen, abzusagen, als vor Freude über die bevorstehende Herausforderung. Ich kann mir bei Gott nicht vorstellen, wie ich mir eine ganze Choreografie merken, geschweige denn, tanzen soll. Aber vielleicht ist es tatsächlich die Ablenkung, die ich gerade nötig habe. Hungrig widme ich mich dem Frühstück. Während ich dem Gespräch der anderen lausche, ziehe ich genüsslich Erdbeeren und Weintrauben von einem Obstspieß und stecke mir eine nach der anderen in den Mund. Ich beschließe, mich dieses Mal ruhig zu verhalten, denn ich habe keine Lust, über das Beziehungsende zwischen Raphael und mir zu reden. Nach einer Weile stelle ich überraschend fest, dass Beziehungen offenbar heute so oder so kein Thema sind. Wir sitzen einfach gemütlich beisammen, essen, lachen und scherzen über dies und jenes. Es fühlt sich wie Heimkommen an und mir wird bewusst, wie sehr ich die gemeinsame Zeit vermisst habe.

»Ich muss dann los!«, erklärt Ana, als der Name ihres Freundes am Display des Handys erscheint. »Gil holt mich ab.«

»Wir auch, oder?« Ich blicke zu Lara, die zustimmend nickt. Wir wollen shoppen. Ich brauche Neuanfangsklamotten. Viele Klamotten. Einen ganzen Schrank voll am besten. Und Schuhe. Oh ja! Hohe Schuhe. Richtig hohe. Einfach nur, um sie anzusehen, nicht um sie zu tragen.

Nachdem ich mich mit meiner Schwester stundenlang durch sämtliche Geschäfte gequält und mein gesamtes Weihnachtsgeld mit Erfolg ausgegeben habe, beschließe ich, mich den restlichen Abend in meiner Wohnung zu verkrümeln. Das war genug Abwechslung nach all der Zeit, die ich brauchte, um Raphael zu vergessen. Zufrieden betrachte ich meine Tüten voll Klamotten, Schuhe und Bücher.

Während ich mir eine heiße Badewanne einlasse, male ich mir mein neues Leben aus. Ohne ihn. Selbstbestimmt und allein. So schnell lasse ich mich auf niemanden mehr ein. Ich komme gut alleine zurecht. Vielleicht sogar besser. Zufrieden über meinen Entschluss, genieße ich mein heißes Schaumbad. Eine Stunde später krieche ich in mein Bett und lese eines der neuen Bücher, bevor ich hundemüde einschlafe und erst wieder aufwache, als die zarten Sonnenstrahlen, die sich durch die Spalten meiner Jalousien kämpfen, einen neuen Tag ankündigen.

Es ist Sonntag und an Sonntagen fahre ich immer zu Mom, Dad und den Zwillingen zum Essen. Meine Eltern wohnen bloß eine halbe Stunde entfernt, doch ich wollte unbedingt eine eigene Wohnung, als ich vor Jahren mit meinem Studium an einem kleinen, aber feinen College begann. Ohne mich blieben ihnen immer noch vier Töchter. Mittlerweile sind auch Ana und Lara ausgezogen. Lara wohnt knapp zwei Stunden entfernt und schafft es nur dann und wann, ein Wochenende bei mir zu sein. Ana ist zusammen mit Gil in ein Studentenwohnheim in die Stadt gezogen, doch sie sind fest entschlossen, sich so bald wie möglich eine eigene Wohnung zu leisten. An den Wocheneden sind die beiden meist bei Gils Eltern, gleich hier in der Nähe. Dann wären noch die Zwillinge Paula und Josie. Sie sind vierzehn und werden meinen Eltern noch ein paar Jahre Gesellschaft leisten.

Ich blicke auf die Uhr. Es ist bereits zehn. Eilig schlüpfe ich in gemütliche Klamotten und schlendere ins Bad. In einer Stunde wollte ich los. Ich überlege kurz, ob ich noch eine halbe Stunde joggen soll, schiebe den Gedanken aber schnell wieder beiseite und nehme mir vor, unter der Woche abends mit Zoé laufen zu gehen. Ich muss meine Kondition wieder auf Vordermann bringen. Wochenlanges Heulen und viel zu viel Schokolade haben dazu geführt, dass sich die meisten meiner Jeans, nur noch unter angehaltenem Atem schließen lassen. Statt mit Sport vertrödle ich meine Zeit mit Kaffee trinken und in Zeitschriften blättern, bevor ich mich dann doch auf den Weg mache.

Es ist exakt halb zwölf, als ich die Zwillinge im Arm halte und Mom und Dad begrüße. Meine Mutter stellt sofort fest, dass ich endlich wieder besser aussehe. Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen, oder verärgert sein soll, dass diese Aussage im Umkehrschluss bedeutet, dass ich wohl wochenlang scheiße ausgesehen haben muss. Ich meine, ja, ich habe scheiße ausgesehen, aber das darf eine Mutter niemals finden.

Josie und Paula zerren mich in die Küche und zeigen mir stolz ihren selbst gebackenen Kuchen. Eine Stimme in mir will mich sogleich an mein Vorhaben, abzunehmen, erinnern, doch das kann ich den beiden unmöglich antun. Ich kann nicht ihren Kuchen ausschlagen und ganz ehrlich? Er sieht besser aus als alles, was ich bisher gebacken habe. Um Punkt zwölf sitzen wir am Tisch und genießen ein gemeinsames Mittagessen. Mein Vater erkundigt sich nach der Arbeit und Mom fragt, ob ich jemanden kennengelernt habe, was ich vehement verneine. Wahrscheinlich denkt sie, dass ich nur deshalb gut gelaunt wäre, aber da liegt sie falsch. Ich bin fast ein bisschen stolz darauf, dass ich es ohne jemanden aus meinem Jammertal geschafft habe und glücklich mit mir alleine bin. Und ich habe nicht vor, das so schnell zu ändern.

Es ist bereits später Nachmittag als ich zurück in meine Wohnung fahre und den Abend müde auf dem Sofa vor dem Fernseher ausklingen lasse.

Vor Schreck fahre ich hoch. Ein lautes Piepen ertönt. Ich muss wohl eingeschlafen sein. Müde reibe ich mir die Augen und spähe auf mein Handy. Es ist sechs Uhr morgens. Höchste Zeit aufzustehen und in die Gänge zu kommen. Montags jagt eine Besprechung die andere. Es werden die wichtigsten In-Themen besprochen, Artikeln für die nächsten Woche geplant und jene für diese Woche Korrektur gelesen und für den Druck abgesegnet. Und zwar Last-Minute. Wie immer.

Mit den neuesten Ausgaben diverser Fachzeitschriften unterm Arm und meinem Frühstück-to-Go schlendere ich zur Arbeit – meiner noch-Arbeit, denn leider ist mein Dienstvertrag, wie in dieser Branche üblich, befristet und eine Verlängerung eher die Ausnahme als die Regel. Die Selbstverständlichkeit, die mich als Journalistin tagtäglich das hölzerne moderne Redaktionsbüro ein- und ausspazieren lässt, ist augenblicklich dahin. Doch wenn ich ehrlich bin, wird tief in mir der Wunsch nach einem eigenen Magazin immer lauter, selbst wenn ich es liebe, zusammen mit meinem Kollegen Paul, über Trends im Bereich Nachhaltigkeit zu schreiben, was unser Job ist.

Wir verbringen einen Großteil unserer Zeit damit, Menschen zu interviewen. Mal sind es Firmeneigentümer, oder Geschäftsführer, die wir nach Aktivitäten im Bereich Nachhaltigkeit befragen, mal Politiker und meist versuchen wir, Trendsetter zu finden, die wirklich etwas bewegen. Diese Artikeln schreiben sich fast wie von selbst, während andere etwas, naja, mühsam sind. Doch mit der Zeit entwickelte ich bei jenen schwerfälligen Interviews meine eigene Strategie: Ich lernte nett zu lächeln und zustimmend zu nicken, um so mein nicht vorhandenes Interesse geschickt so lange zu überspielen, bis sich der Haken zum Einhaken ergab. Danach spiele ich meine Karten der Reihe nach aus. Am Ende habe ich meistens ein nettes Gespräch und Stoff für einen moderaten Artikel in der Tasche. Doch wenn es um konkrete Investitionen und wirkliche Schlagzeilen geht, verstummen die sonst so wortgewandten Gesprächspartner plötzlich.

Ich ärgere mich jedes Mal, wenn ich die langweilige bis fadenscheinige Argumentation, warum zum jetzigen Zeitpunkt keine Investition möglich wäre, über mich ergehen lassen muss und rühre absichtlich laut in meiner Kaffeetasse, oder lasse meinen Bleistift versehentlich fallen, um meinen Unmut kundzutun, ohne ihn aussprechen zu müssen. Aber Menschen sind schwer zu bewegen, wenn Bewegung bedeutet, die Komfortzone zu verlassen. Nur selten treffe ich auf Visionäre, deren Augen beim Wort Zukunftsinvestition zu leuchten beginnen – zumindest so lange, bis die Finanzabteilung für Angst und Schrecken sorgt.

Mit einem lauten Plumpsen lasse ich den Stapel Zeitungen auf die Anrichte in der Gemeinschaftsküche fallen. Ich liebe mein montagmorgendliches Ritual. Meine Affinität zu Printausgaben löst bei den meisten Kollegen Unverständnis aus, was dazu geführt hat, dass ich sie noch offensichtlicher zur Show stelle.

»Wie lange willst du diese Nummer noch abziehen?«, fragt Jan vom Marketing genervt.

»Solange es mir Spaß macht!«, erwidere ich knapp und lasse mich nicht beirren.

»Ich finde es ganz praktisch. Dieser unerwartete Krach regt meinen Kreislauf an«, meint Moritz aus der IT.

»Na siehst du«, sage ich zu Jan, diesem eingebildeten Schnösel.

»Was das alles kostet! Im Internet findest du doch viel mehr«, mischt sich nun auch noch Sophie aus der Buchhaltung ein.

Unbeirrt aller Worte drücke ich auf einen extra großen Kaffee und höre dem Surren der Maschine zu, während ich weiterhin provokant in einer meiner Zeitschriften blättere und das zunehmend ungeduldiger werdende Trippeln von Jans Füßen gegen seinen Stuhl ignoriere. Wie kann man als Herausgebereines Printjournals, Print nicht mögen?, denke ich mir, wie jedes Mal, und bemühe mich, möglichst arrogant an der Theke zu lehnen. »Ich wünsche einen schönen Tag«, verkünde ich schließlich und verschwinde schnaubend in mein Büro. Ich will meinen Lesestoff in Händen halten, dazu eine Tasse Kaffee trinken und mich mit meinem Drehsessel im Kreis drehen. Lesen. Kaffee. Drehsessel. Das sind meine Must-Haves. Ohne sie kann ich nicht denken.

»Na, hast du deine Montagsnummer mit Erfolg abgezogen?«, erkundigt sich mein Bürokollege, Paul, amüsiert.

»Aber sowas von. Du hättest Jan sehen sollen.«

»Braves Mädchen«, antwortet er schmunzelnd.

Dankbar erwidere ich sein Lächeln. Ich weiß ehrlich nicht, ob ich ohne ihn noch in diesem Laden wäre. Zufrieden setze ich mich und warte geduldig, bis der PC hochgefahren ist. Ginge es nach mir, könnte er sich ruhig noch ein bisschen mehr Zeit lassen. Ich kann gar nicht nachvollziehen, dass es Menschen gibt, denen das Hochfahren eines PCs zu langsam gehen kann. »Was spricht der Markt? Steigt endlich die Nachfrage nach mehr Nachhaltigkeit«, erkundige ich mich inzwischen bei Paul, der immer, und ich meine wirklich immer, alles weiß, wenn es um politische Maßnahmen und dergleichen geht. Ich hingegen weiß, wo es einen neuen veganen Schuhladen gibt. Deshalb sind wir zwei ein so tolles Team. Kaum zu glauben, dass mein befristetes Arbeitsverhältnis womöglich nicht verlängert wird! Die sollten sich alle zehn Finger abschlecken! Jawohl! Was macht Paul bloß ohne mich? Wie soll er der Politik einen Arschtritt geben, wenn ihm die High Heels aus den Läden dazu fehlen?

Paul streicht mit seinen Fingern gekonnt durch sein silbergraues Haar und legt die Stirn in Falten. Ich muss grinsen. Er liebt seine Haare. Ich wette, er verbringt mehr Zeit im Badezimmer als seine Frau. Seine Frisur ist immer perfekt.

»Viel zu langsam«, antwortet er schließlich und stößt einen tiefen Seufzer aus. »Wie sollen wir denn über etwas nachhaltig kommunizieren, wenn Nachhaltigkeit niemanden nachhaltig interessiert?« Ich atme tief ein um etwas Ruhe in meine aufgewühlten Emotionen zu bringen.

Paul lacht amüsiert. »Du schreibst viel zu nett.«

»Was willst du mir damit sagen?«

»Du musst an deiner Interviewstrategie arbeiten.«

»Du meinst, ich soll … dicker auftragen?« Erwartungsvoll blicke ich Paul mit großen Augen an. Diese Ansicht ist neu für mich.

»Frag’ das, was du wissen willst und nicht das, was die dir erzählen wollen. Lass sie nach deiner Pfeife tanzen. Es ist dein Artikel. Deine Show. Deine Regeln, verstehst du?«

»Hm«, murmle ich und schlürfe genüsslich meinen Kaffee. Die Vorstellung in die Offensive zu gehen, gefällt mir. »Vielleicht hast du recht.«

»Wusste ich doch, dass du die Idee gut findest«, sagt Paul und krempelt zufrieden die Ärmel seines Hemds hoch. Dann wird er plötzlich ruhig und nachdenklich.

»Was ist?«

»Ach nichts, ich weiß nur nicht, was ich bloß ohne dich mache. Bestimmt setzen sie mir einen Praktikanten vor die Nase.«

Ich lächle. »Ich kann es jedem Studenten nur wünschen. Du bist der beste Lehrer«, antworte ich und verbeuge meinen Kopf ganz leicht, als Zeichen meiner ehrlichen Anerkennung. Pauls Wange färbt sich ein kleines Bisschen rot.

»Ich danke dir«, flüstert er verlegen, was ihn noch sympathischer macht. »Außerdem läuft meine Stelle erst in ein paar Monaten aus. Wer weiß, was bis dahin noch alles passiert?«

»Ich kann’s dir sagen: Nichts.« »Warum?«

»Einsparmaßnahmen. Immer dasselbe. Für mehr als Praktikanten reicht das Geld nicht. Es war ein Wunder, dass sie dich so lange finanziert haben.«

»Das spricht für mich, oder?«, lache ich. Paul nickt und wir widmen uns schweigend den Zeitschriften und beschließen, dieses Thema erstmal zu vermeiden. Es ist zwar noch eine Weile hin, aber anscheinend offensichtlich klar, dass mein Vertrag nicht verlängert werden konnte. Etwas schwermütig mache ich mich an die Arbeit, hetze von einer Besprechung zur nächsten und heimse einen Top-Deal, jedoch auch drei Interviews mit Geschäftsführern ein, auf die ich gerne verzichten würde. Ab Mittag wird es ruhiger, was die Besprechungen betrifft und ich verbringe den Nachmittag damit, mich auf die Interviews vorzubereiten. Ich suche das Internet nach interessanten Details meiner Gesprächspartner ab. Dabei sind mir persönliche Infos stets wichtiger, als die Karriere – das erzählen ohnehin alle, ohne sie danach zu fragen, aber eine Story lebt durch Persönlichkeit. Die Menschen wollen etwas fühlen, während sie lesen. Wen interessiert der zehnte Abschluss an einer noch so elitären Uni, wenn die Figur einem Pappkarton gleicht? Aber eine alleinerziehenden Frau, die alles tut, damit sie ihren Kindern ein gutes Leben ermöglichen kann, die sich ihr Studium selbst finanziert hat, das interessiert. Oder der unscheinbare Brünette, um den sich niemand gekümmert hat, als er klein war, der mit all seinem Einsatz bloß die fehlende Liebe kompensiert hat und nun seinen Angestellten stets die Anerkennung entgegenbringt, die er so dringend selbst benötigt hätte. Die rebellische Jugendliche, die dem System trotzt und sich für NGOs einsetzt, als würde ihr Leben davon abhängen. Oder die ehemalige Prostituierte, die keinen anderen Weg sah, um zu überleben, bis sie ihre Liebe zu High-Heels zum Beruf machte und eine vegane Schuhboutique eröffnete. Es sind die Menschen hinter den Kulissen, hinter den Schlagzeilen, die mich bewegen. Aber meist sitzen mir Männer gegenüber, die in Selbstgefälligkeit baden. Die paar Frauen, die ich an der Spitze antreffe, haben sich oft angewöhnt, wie Männer zu sein und viele ihrer weichen und weiblichen Anteile am Weg nach oben verloren. Sie tun mir leid und insgeheim mache ich das System dafür verantwortlich, obwohl ich weiß, dass wir alle mitspielen. Wir alle sind das System. Mein Kopf brummt. Es fällt mir schwer, für den nötigen Abstand zu diesen Themen zu sorgen, daher beschließe ich nach einer Weile, mir den restlichen Nachmittag spontan freizunehmen, um mich um die Uni zu kümmern. Ich muss dringend mein Lerndefizit, das sich in den vergangenen Wochen multipliziert hat, schnellstmöglich nachholen.

Kurze Zeit später sitze ich wenig motiviert, mit einem Kaffee in der Hand, am Küchentisch und versuche etwas Ähnliches wie einen Lernplan zu erstellen. Meine Gedanken schweifen zu jenem Zeitpunkt zurück, an dem ich diese Entscheidung getroffen habe, ein weiteres Studium dranzuhängen. Ich hatte eben erst das College für Journalismus abgeschlossen. Obwohl ich von der Redaktion, nämlich jener, in der ich auch heute noch arbeite und in der ich bereits mein Praktikum absolviert hatte, eine befristete Stelle zugesagt bekam, entschied ich mich dafür, ein Jurastudium dranzuhängen. Ich denke der Grund dafür war, dass ich die Uni vermisste. Und so ein Studium der Rechtswissenschaften konnte man überall gut gebrauchen, dachte ich. Dass man Jura doch nicht nur so nebenbei studieren kann, wurde mir zu meinem Leidwesen auch ziemlich schnell klar. Doch mein Ehrgeiz lässt es nicht zu, alles hinzuschmeißen und mein Stolz will nicht zugeben, dass es das eine oder andere Mal von Vorteil sein könnte, der Phase der Entscheidungsfindung etwas mehr Zeit einzuräumen.

Damit muss es zu schaffen sein! Zufrieden betrachte ich meine Skizzen, während sich meine Muse in eine Ecke verkrümelt. Pläne planen ist nicht ihr Ding. Es ist auch nicht gerade meine Lieblingsbeschäftigung, aber wenn es sein muss, kann ich akribisch genau planen und mich konsequent an diesen Plan halten. Auf eine gewisse Art mag ich das sogar, denn es gibt mir Übersicht und diese Übersicht gibt mir Sicherheit, jedoch keine Freiheit. Freiheit gibt mir, was mir spontan in den Sinn kommt. Das sind meistens jene Ideen, die mir meine Muse flüstert, wobei es sich selten um ein Flüstern, sondern in der Regel um ein begeistertes in die Hände klatschen handelt.

Ich kann beispielweise stundenlang dekorieren, Wände bemalen und sämtliches Inventar umstellen - inklusive massiver Möbelstücke. Mit der richtigen Motivation hat selbst ein ganzer Schrank keine Chance meinem Vorhaben zu entfliehen. So ist es nicht selten der Fall, dass man am Abend das Gefühl hat, man wäre in einer völlig anderen Wohnung als noch am selben Morgen. In all diesen Stunden kann ich mich einfach fallenlassen, die Gedanken loslassen und die Welt um mich vergessen. Aber nun ist erstmal Lernen an der Reihe und damit meine Muse nicht ganz unglücklich ist, dekoriere ich meinen Schreibtisch mit bunten Stiften, Motivationskärtchen und jeder Menge Schokolade.

4

MR. UNNAHBAR

Das Feuerwerk leuchtet in prächtigen Farben. Raketen knallen, Menschen umarmen sich, ob sie sich kennen oder nicht. Es ist wohl dieses Gefühl, oder diese Sehnsucht, die uns zu Silvester hoffen lässt, dass alles gut wird und ein wunderbares Jahr mit neuen Möglichkeiten beginnen würde. Alle Fehler, die wir begangen haben, werden im Takt des traditionellen Walzers in eine Schublade gesteckt und mit einem aufgesetzten Lächeln verdrängt.

Ich nehme den ganzen Trubel wie durch Seifenblasen wahr. Immer wieder wünscht jemand Prosit Neujahr, will anstoßen, oder fragen, was sich tut. So gut es geht, versuche ich, diesen Gesprächen auszuweichen und lasse dem Abend einfach seinen Lauf. Dennoch holt auch mich die Silvestersentimentalität irgendwann ein und mir wird klar, dass nun wieder alles von vorne losgeht. Wieder starte ich alleine in ein neues Jahr und selbst wenn ich immer noch die Nase gestrichen voll von Männern und Beziehungen habe, wünsche ich mir insgeheim, meinem Traummann zu begegnen. Irgendwann. Nicht morgen schon, aber der Gedanke, ihm eines Tages gegenüberzustehen, beruhigt mich irgendwie. Joss drückt mir ein Glas Sekt in die Hand und holt mich zurück in die Realität: »Du wirst sehen, alles wird gut und wenn nicht, betrinken wir uns einfach so lange weiter, bis alles gut geworden ist«, lacht sie.

Dankbar für ihre Freundschaft lächle ich sie an und beschließe, das Beste aus dem Abend zu machen. Ich zerre Joss in eine randvolle Bar, aus der bereits von Weitem laute Musik zu hören ist. Wir drängen uns durch die Menschenmassen und tanzen uns frei. Ich befreie mich von Wut, Enttäuschung, Trauer und all den Gefühlen, die sich offensichtlich irgendwo gut versteckt haben mussten. Erst Stunden später lasse ich völlig erschöpft den Haustürschlüssel in das kleine, mit Blumen bemalte, Kistchen, das, seit ich hier eingezogen bin, an derselben Stelle am Schuhregal seinen Platz hat, fallen. Müde schleppe ich mich ins Badezimmer, ziehe mich bis auf die Unterwäsche aus und falle wie ein Stein in mein Bett. Zufrieden, Silvester hinter mich gebracht zu haben, kuschle ich mich in meine Decke und wünsche mir, solange zu träumen, bis ich in meinem perfekten Leben, in den Armen meiner großen Liebe wieder aufwache.

~

Es ist Anfang Jänner als Zoé, Joss, Lara, Ana und ich uns wieder gemeinsam verabredet haben. Und noch jemand ist bei diesem traditionellen Neujahrsfrühstück mit dabei: Emilia.

Emilia ist vor vier Jahren für ein Auslandsemester nach Stockholm gegangen. Aus einem Semester wurden zwei, dann drei und schließlich die gesamte verbleibende Studiendauer. Während dieser Zeit haben wir sie kaum zu Gesicht bekommen, denn in den Ferien fuhr sie mit dem Wohnmobil und ihrem schwedischen Freund in Skandinavien umher. Ich hatte schon die Befürchtung, wir bekommen sie nie wieder in unsere Kleinstadt zurück. Gott sei Dank entschied sie, dass Lars doch nicht der Mann fürs Leben ist und ein vergleichsweise kleiner Ort, wie dieser hier, auch seine Vorzüge hat. Eigentlich ist dieser Ort gar nicht einmal so unscheinbar. Wir haben Berge, und Schnee, was eine Vielzahl an Touristen in unsere Gegend lockt. Und wir haben auch einige hippe Läden und die wunderschönste Altstadt, wie ich finde, zu bieten. Aber verglichen mit Stockholm sind wir ein Punkt auf der Karte. Manchmal spiele ich mit dem Gedanken, in eine größere Stadt zu ziehen. Bestimmt hätte ich als Journalistin andere berufliche Möglichkeiten, doch irgendetwas hält mich hier fest. Es war tatsächlich Liebe auf den ersten Blick, als ich mir vor Jahren das hiesige College angesehen habe und ich habe es bis heute nicht eine Sekunde lang bereut, hierher gezogen zu sein. Verdammt nochmal, diese Türglocke treibt mich noch in den Wahnsinn!, fluche ich und halte mir die Ohren zu. Durch die milchig gläserne Eingangstüre erkenne ich Anas elfenhafte Silhouette mit ihren langen, dunkelbraunen Haaren.

»Du hast Klingelverbot«, schimpfe ich, anstatt sie zu begrüßen.

»Hallo, Schwester, ich hab’ dich auch lieb«, lacht Ana unbeirrt, oder gerade wegen meiner Worte. »Was ist denn mit deiner Glocke?«

»Sie ist furchtbar. Seit Wochen klingelt sie eigenartig. Ich bin sicher, sie will mir etwas sagen!«

»Die Glocke?«

»Ja! Es steckt eine subtile Botschaft dahinter.«

»Vielleicht ist sie einfach kaputt?«

»Nein, das wäre viel zu einfach.«

»Du bist verrückt!«

»Das wusstest du nicht? Ich bin ehrlich enttäuscht. Wie geht es dir? Du siehst irgendwie erfroren aus.«

»Es ist eiskalt da draußen«, jammert Ana.

»Nur herein in die warme Stube!« Mit einem höflichen Knicks und einer einladenden Handbewegung bitte ich meine Schwester in die Wohnung.

Ana versucht sich die Hände aufzuwärmen, indem sie ihren warmen Atem in die Fäuste haucht. Dann schlüpft sie aus ihren Stiefeln und geht samt Mütze, Schal und Mantel in die Küche.

»Kann ich mir bitte Tee machen?«, ruft sie, während ich im Wohnzimmer für das Frühstück aufdecke.

»Na klar, du weißt, wo du alles findest. Nimm dir einen Schuss Schnaps dazu, der wärmt«, antworte ich und grinse verschmitzt.

»Gute Idee! Hast du wirklich Schnaps?«

»Ja, hab’ ich und ich wäre froh, wenn ihn jemand trinkt.«

»Ich stell’ mich gerne zur Verfügung. Suchst du etwas?«, erkundigt sich Ana, als ich durch die Wohnung irre.

»Hast du das Gebäck gesehen?«

»Nein.«

»Gibt’s doch nicht. Eben war es noch hier!«

»Wo ist denn der Schnaps?«

»Trinkst du wirklich Schnaps?«

»Klar! Neujahrsfrühstück, einen besseren Anlass gibt es nicht.« Ana zwinkert mir schmunzelnd zu. Wo sie recht hat, hat sie wohl recht. Das Problem ist bloß, dass ich nicht die geringste Ahnung habe, wo sich der Schnaps befindet. Ich habe die Flasche von da nach dort gestellt und irgendwie hat sie nirgends einen Platz gefunden, was zu meiner Schande wohl daran liegen muss, dass ich Schnaps einfach nicht ausstehen kann. Ich schäme mich meiner Gedanken, da einige meiner Freunde mit Leib und Seele solch Gebräu brennen und das sogar mit Auszeichnung, aber ich spüre bloß den brennenden Schmerz in meiner Kehle, gefolgt von Hitzewallungen, wenn ich an die scharfe, klare Flüssigkeit, denke. »Der Schnaps ist beim Gebäck!«, antworte ich schließlich meiner Schwester und kichere.

»Echt jetzt?«

»Echt jetzt. Du musst mir also suchen helfen.«

»Ach komm schon, du weißt auch nicht, wo der Schnaps ist, gib’s zu! Warum sollte er beim Gebäck sein, wenn du nicht einmal weißt, wo das Gebäck ist?«

»Weil ich wusste, dass du heute Schnaps in deinen Tee haben möchtest.« »Jetzt wird es mir zu kompliziert. Weißt du eigentlich selbst noch was du redest?«

»Darum geht es. Man muss so lange reden, bis man nicht mehr weiß, was man sagt. Dann weiß auch der andere nicht mehr, was er eigentlich wissen wollte.«

»Ich hab allerdings immer noch nicht vergessen, dass ich Schnaps will, Schwester!«

Zu meinem Glück klingelt es in diesem Augenblick erneut an der Tür, und selbst wenn dieses Geklirre ohrenbetäubend ist, nehme ich es lieber in Kauf, als zuzugeben, dass ich tatsächlich nicht weiß, wo der Schnaps ist. Selbst das Gebäck ist spurlos verschwunden. Bestimmt liegt es daran, dass ich völlig überarbeitet bin. Die letzten Wochen waren wirklich am Limit, aber dafür habe ich einige Klausuren abschließen können. Es klingelt ein weiteres Mal und wir hören die restlichen Mädels draußen lachen.

»Schmeiß diese Klingel raus!!! Die ist furchtbar!«, jammert Ana gequält. »Sag’ ich doch. Ich hänge gleich ein Klingelverbotsschild vor die Tür.« »Repariere sie doch einfach.«

»Reparieren?«

»Na klar!«

»Ich weiß nicht einmal, wo ich diese Klingel suchen soll, um sie zu re … TRRRRRRRRRRRRKLINKLINTRRRR!! »Ich komme ja schon!!«

Um nicht ein erneutes ohrenbetäubendes Klingeln zu riskieren, eile ich zur Tür und falle als erstes Emilia um den Hals. »Wow du siehst fabelhaft aus!«, stelle ich fest und drücke sie erneut. Emilia hat braune lange Naturlocken, die symmetrischer als jede Dauerwelle sind. Ihre blitzblauen Augen leuchten. Der mintgrüne Trenchcoat, den sie trägt, hängt lässig bis zu den Knien herab. Irgendwie hat ihre Ähnlichkeit zu Lauren Graham aus den Gilmore Girls über die Jahre noch mehr zugenommen. Für mich war sie immer schon eine Art Lorelei.

»Du aber auch, Blondschopf«, erwidert sie lächelnd, bevor ich Emilia Ana überlasse, und Joss, Zoé und Lara begrüße. Lara reicht mir eine Tüte.

»Was ist das?«

»Das Gebäck! Du hast mich doch gebeten, es bei Erik abzuholen.«

»Hab’ ich das?«

»Hast du. Hier siehst du?«, erklärt Lara überzeugt und hält mir ihr Smart-phone mit meiner eigenen Nachricht unter die Nase.

»Tatsächlich.«

Ana stupst mich und grinst breit. »Und wer von euch hat den Schnaps?«, fragt sie augenzwinkernd.

Es wundert mich wenig, dass sich meine Schwester diese Gelegenheit nicht entgehen lässt. Das Blöde ist nur, dass niemand ihren Witz versteht und sie die Einzige ist, die Spaß daran hat, aber das scheint ihr herzlich egal zu sein, oder sind gerade die fragenden Blicke, die auf sie gerichtet sind, das Amüsante?

»Vergesst einfach, was sie gesagt hat. Es ist eine lange Geschichte«, beende ich Anas Triumphzug und heimse mir einen verärgerten Blick ein, den ich wohlwollend in Kauf nehme. Mein Magen knurrt und ich will endlich frühstücken. Mit allen möglichen Leckereien machen wir es uns im Wohnzimmer gemütlich. Jetzt geht es gleich los. Ich atme tief durch und trinke einen Schluck Kaffee. Neujahrsfrühstück. Eines der besonderen Art.

»Seid ihr bereit?« Joss reibt sich freudig die Hände.

»Ich weiß nicht«, murmle ich und ziehe unsicher die Schultern hoch. »Wofür?«, fragt Emilia und blickt ahnungslos in die Runde. Sie war tatsächlich noch nie bei unserem Neujahrsfrühstück dabei gewesen, was das Ganze noch spannender macht.

»Ich bin bereit, böse und warte darauf, dass es los geht«, scherzt Zoé. »Lasset die Spiele beginnen«, schließt Ana sich an.

»Welche Spiele?«, will Emilia wissen. »Das klingt nach den Tributen von Panem und ich bin nicht ganz sicher, ob ich hier richtig bin.«

»Alles gut, Katniss Everdeen. Es ist Zeit für unseren einzigartigen Neujahrsplan«, sage ich und grinse.

»Das beruhigt mich genauso wenig«, beschwert sich Emilia.

»Jede von uns bekommt heute ihren höchst persönlichen, von allen mitgestalteten Neujahrsplan. Schafft man es nicht, ihn umzusetzen, freut sich unsere Gemeinschaftskassa, um einhundert Euro reicher zu sein«, fasst Joss kurz und bündig zusammen.

»Autsch!« Emilia runzelt die Stirn.

»Jaja, das tut weh«, lacht Ana.

»Apropos Kohle: Wer, außer meiner Wenigkeit, hat noch Schulden zu begleichen?«, will Zoé wissen und bindet ihre Haare zu einem Dutt hoch, wohl um die Wichtigkeit ihrer Frage zu unterstreichen.

Joss und Lara melden sich zögerlich, worauf Zoé ihren Kugelschreiber zückt und sogleich eine Liste anfertigt. Zufrieden nickt sie, im Gegensatz zu Joss und Lara, denen es wohl weniger gefällt, dass sich ihre Namen in Zoés Bilanz auf der Haben-Seite wiederfinden.

»Sind nun alle so weit?«, erkundigt sich Joss erneut und rückt ihre Null-Dioptrien-Brille zurecht. Alle nicken und Joss teilt zu den Kategorien Liebe, Job, Frisur, Sport und Geld ein Stück Papier aus. Ich folge der Runde von Joss mit einer Flasche Weißwein und schenke jedem ein Gläschen ein.

»Was mache ich jetzt damit?«, fragt Emilia und wirbelt ungeduldig ihre Zettel in der Luft herum.

»Eine Kategorie, ein Vorhaben, ein Satz, ein Glas«, antwortet Lara knapp. »Mit dem Glas kann ich mich anfreunden, Prösterchen«, sagt Emilia und kichert. »Gilt der Rest für eine Kategorie?«

»Du musst ein Vorhaben für das kommende Jahr zu jedem Thema in einem Satz schreiben«, erkläre ich.

»Alles klar«, meint Emilia und schnappt sich einen Stift.

Dann bist du wohl die Einzige, für die alles klar ist, denke ich und lege meine Stirn angestrengt in Falten. Wie immer habe ich mir im Vorfeld keine Gedanken über meine Neujahrsvorhaben gemacht. Während wir Wein trinken, rauchen unsere Köpfe. Die Crux ist, dass am Ende nur ein Vorhaben übrig bleibt. Die am wenigsten interessantesten werden nämlich der Reihe nach von den anderen gestrichen. Somit liegt die wahre Kunst darin, die Vorhaben jener Kategorien, die man unter gar keinen Umständen umsetzen möchte, so wenig attraktiv wie möglich zu gestalten. Aber dazu gleich mehr.

Alle tüfteln. Bis auf Emilia. Sie schreibt freudig darauf los. Sie weiß auch nicht, wie das Spiel weitergeht. Im Gegensatz zu mir, freut sich meine Muse und präsentiert mir aufgeregt hüpfend die eigenartigsten Vorschläge. Sie flattert hin und her, sodass ich mich kaum auf etwas anderes konzentrieren kann. Aber vermutlich ist genau das ihr Ziel.

Was soll’s?, denke ich nach einer Weile, in der meine Gedanken einfach nicht klarer werden und nehme einen Stift in die Hand.

JOB: Ich finde einen neuen Job! Bei dem Gedanken werde ich traurig. Diese Kategorie muss ich durchziehen, ganz egal, ob sie heute ausgewählt wird, oder nicht.

GELD: Mehr. Viel. Urlaub. notiere ich kurz angehalten. Ich bin mit meiner Einnahmen/Ausgabenbilanz zufrieden. Sie lässt mich gut durchkommen, aber es reicht nie für Extras, wie Urlaub mit Vollpension, oder spontane Städtetrips. Vielleicht soll ich das in diesem Jahr ändern. Eilig kritzle ich bei Job gut bezahlt hinzu.

FRISUR: Ich lasse meine Haare bis Jahresende nicht schneiden, was eine echte Herausforderung darstellt. Irgendwie schaffe ich es nicht mehr als zehn Zentimeter über die Schulter, selbst wenn ich mich noch so bemühe. Meine Haare werden nervig und meine Ungeduld steigt zunehmend, sodass ich mich letzten Endes immer wieder am Stuhl meiner Lieblingsfriseurin wieder finde, die mir lächelnd erklärt, eine gute Entscheidung getroffen zu haben – eh klar.

SPORT: Ich mache dreimal zweimal die Woche für mindestens maximal eine Stunde Sport. Ich seufze. Sport ist so eine Sache. Mal macht er mir super viel Spaß, dann monatelang wieder nicht. Mich auf fixe Trainingseinheiten einzulassen, kostet mich Überwindung. Rätselratend betrachte ich das Stück Papier, auf dem in Großbuchstaben LIEBE steht. Auch meine Muse wird erstaunlich ruhig und blickt mich gespannt an. Ich denke an Raphael und verliere augenblicklich die Lust an diesem Thema. Vielleicht sollte ich einen Plan fassen, mich ein Jahr lang gar nicht zu verlieben, kommt mir in den Sinn. Schließlich entscheide ich mich doch fürs Verlieben. Wieder einmal. Irgendwann muss es doch klappen. Ich begegne meinem Traummann, notiere ich. Es ist mir bewusst, dass dieses Ziel hochgegriffen ist, aber ich finde, das Schicksal ist mir ehrlich was schuldig, nachdem Raphael mich eiskalt abserviert hat. Auch meine Muse nickt überzeugt. Zufrieden staple all meine Zettelchen.

»War’s das?«, fragt Emilia ein wenig erleichtert, als wir alle mit der Schreiberei fertig sind.

»Das ist erst der Anfang, meine Liebe«, antwortet Joss und grinst verschmitzt.

»Nun musst du diejenigen Ideen deiner werten Freundinnen streichen, von denen du denkst, sie seien zu einfach, oder unspektakulär«, versucht Ana der etwas irritiert wirkenden Emilia zu erklären.

»Und wie mache ich das?«

»Wir geben die Zettel in die Runde und streichen von jeder Person jeweils eine Kategorie. Solange, bis eine einzige übrigbleibt«, antworte ich.

»Aber zuerst – Prost und auf ein aufregendes neues Jahr! Neue Runde, neues Glas«, verkündet Zoé erfreut.

»Ihr seid echt verrückt! Hat euch das schon mal jemand gesagt?« Emilia schüttelt lächelnd ihre Lockenmähne und gibt ihre Notizen zögernd, wie wir alle, reihum weiter.

»Welche Kategorie habt ihr denn?«, will Joss wissen, als jeder wieder seine eigenen Zettel in Händen hielt. Sie sorgt wie immer dafür, dass alles notiert ist und nichts in Vergessenheit geraten kann. Nervös betrachte ich mein Ergebnis.

JOB:Ich finde einen neuen gut bezahlten Job!

GELD:Mehr. Viel. Urlaub.

FRISUR:Ich lasse meine Haare bis Jahresende nicht schneiden.

SPORT:Ich mache dreimal zweimal die Woche für mindestens maximal eine Stunde Sport.

LIEBE: Ich begegne meinem Traummann.

Es war sowas von klar, seufze ich innerlich, wenig verwundert über die auserwählte Kategorie. Ein bisschen habe ich das selbst verschuldet.

»Liebe«, antwortet Zoé zufrieden. »Ich werde heiraten! Wie schön und ihr seid meine Brautjungfern.«

»Steht das alles in deinem Plan?«, fragt Emilia verwundert.

»Noch nicht, aber das könntest du dazuschreiben!«

»Das verstehe ich nicht …«

»Wirst du gleich«, lacht Zoé.

»Zoé!«, seufzt Joss. »Du bringst Emilia noch vollkommen durcheinander!« »Mehr Verwirrung geht ohnehin nicht mehr«, stöhnt Emilia. »Ich glaube, ich brauche ein Glas zwischen all den verrückten Runden.«

»Siehst du, sie war bereits verwirrt, damit hab’ ich gar nichts zu tun«, rechtfertigt sich der Rotschopf und blickt vorwurfsvoll in Joss’ Richtung.

»Aber du irritierst mich! Dann musst du Protokoll schreiben!«

»Ich bin schon ruhig. Kein Wort mehr, versprochen!«, sagt Zoé kleinlaut. »Geht doch.« Zufrieden nimmt Joss ihren Notizblock wieder in die Hand und notiert die weiteren Kategorien.

»Ich habe Frisur, meine armen Haare!«, jammert Lara.

Emilia zückt ihre Zettelchen und gibt uns die Kategorie Job bekannt. »Liebe«, sage ich, so emotionslos wie möglich.

»Ohne zu meckern? Sie mal einer an«, staunt Joss. Verärgert blicke ich zu ihr. »Ist ja schon gut«, äußert sie geschwind und wendet ihren Blick Ana zu.

»Sport! Toll! Genau das, was ich wollte«, stöhnt Ana.

»Ich schließe mich mit Sport an und lege euch nahe, mit euren Ausformulierungen nicht zu übertreiben.« Zufrieden legt Joss ihre Notizen beiseite und trinkt einen Schluck Wein.

»Womit?« will Emilia wissen.

»Das wollte ich dir vorhin erklären«, seufzt Zoé.

»Dachtest du, das wär’s nun gewesen?«, frage ich Emilia.

»Mir würde es reichen.«

»Nun kommt die Kür.« Zoé schmunzelt.

Emilia nimmt ihr Glas und trinkt einen großen Schluck. Vorsichtshalber. »Du lernst schnell«, lacht Lara und prostet unserer Heimkehrerin zu, die sich in diesem Moment wohl nichts sehnlicher wünscht, als zurück nach Schweden, zu ihrer nicht ganz so großen Liebe, Lars, zu fahren.

»Also gut, wie geht es weiter?«, fragt sie.

»Dein ausgewähltes Vorhaben wird nun von jeder deiner hier anwesenden und geschätzten Freundinnen in maximal einem Satz ergänzt«, erklärt Ana.

»Am Ende solltest du ein hochkomplexes, lustiges, kaum zu erreichendes Jahresprojekt in deiner Hand halten«, fahre ich fort.

»Hm.« Emilia nickt. Ich bin mir nicht sicher, ob aus Zustimmung, oder ob sie einfach aufgegeben hat, den Sinn hinter unserem alljährlichen Beisammensein zu verstehen. Aufgeregt gebe ich meinen Plan vom Verlieben Zoé, die neben mir sitzt. Ich will gar nicht erst wissen, was mir nach dieser Runde bevorsteht. Die Kategorie Liebe löst bei allen andauernd das Gefühl aus, Unmögliches zu erwarten. Mit einem tiefen Seufzer beginne ich ein Projekt nach dem anderen um einen Satz zu ergänzen. Eine halbe Stunde später haben wir schließlich alle Neujahrspläne fertig.

»War’s das nun?«, will Emilia erneut wissen. Ihre Geduld scheint sich dem Ende zuzuneigen.

»Du hast es beinahe geschafft. Nur noch eines.« Joss macht eine kurze Pause, um sie noch ein bisschen auf die Folter zu spannen.

»Was?«

»Vorlesen.«

»Oh, ach gut. Das schaffe ich gerade noch.«

Traditionellerweise lesen wir die Final Statements, wie wir den fertig ausformulierten Neujahrsplan nennen, laut vor. Dieses Jahr eröffnet Emilia als Newcomerin die Runde. Alle lauschen gespannt.

»Hmg«, räuspert sie sich. »Also gut, was soll’s: Ich werde eine eigene Praxis eröffnen! Das war mein Satz und alles was danach kommt, sind eure verrückten Ideen! Sie ist in pastellfarbenen Tönen bis April eingerichtet. In ihr befindet sich eine Buddha-Figur, ein Teekocher, eine pinke Eieruhr, 25 Entspannungs-CDs und ein weißes Regal im Landhausstil, das mit unzähligen Bücher gefüllt ist. Ich habe einen dieser tollen Stühle, die sich drehen mit den großen gemütlichen Lehnen und einem kleinen Sofa mit kuscheligen Kissen für meine Patienten. Außerdem werde ich super erfolgreich sein und bis Jahresende einhundert Klienten therapiert haben.« Seid ihr noch bei Trost?« Emilia macht große Augen und blickt uns entsetzt an. »Wer bitte hat mir die Eieruhr aufgebürdet? Muss ich sie verwenden, oder reicht es, sie zu kaufen, um sie dann in einer Schublade ganz weit hinten zu verstecken?«

»Weißt du, im Grunde waren wir alle sehr zurückhaltend, da du das erste Mal dabei bist«, erkläre ich unserer Freundin, die das offensichtlich nicht ganz so sieht, denn sie hält bloß planlos ihren Plan in Händen und entscheidet sich erneut für einen großen Schluck Wein.

Während Lara, Joss und Ana ihre Statements vorlesen, bekomme ich beinahe Bauchweh vor Lachen und auch Emilia scheint sich nach und nach zu entspannen. Nun bin ich an der Reihe und habe bloß die leise Vorahnung, dass ich diesen Plan niemals schaffen werde.

Leicht angeheitert nehme ich mein Glas in die Hand und trinke noch einen Schluck. »Ich begegne meinem Traummann, lese ich meinen Satz laut vor. Mit meiner allseits bekannten Muse verzaubere ich ihn und verschlage ihn mit meinen ebenso bekannten Redeanfällen nicht in die Flucht. Ich höre auf meine Freundinnen, die mir wie immer mit Rat und Tat zur Seite stehen und lass die Finger von allen, an denen ich mir meine Finger verbrenne. Ich treffe mich mit keinen Männern, die gemeinhin als Snob gelten ...« Ich halte kurz inne und räuspere mich, um meinen Unmut zum Ausdruck zu bringen. Dann lese ich weiter. »… am besten wäre ein belesener Mittzwanziger, der im klassischen, schwarzen No-Name Mantel sexy und dennoch natürlich rüberkommt. Echt jetzt?« Ich blicke mehr fassungslos, als überfordert in die Runde, obwohl ich beides gleichermaßen bin. Die Mädels können sich nicht länger zusammenreißen und lachen Tränen. »Vielen Dank für dieses unmögliche Vorhaben. Wozu dieser Snob-Hinweis, ihr wisst, dass ich solchen Typen generell aus dem Weg gehe, oder?«

»Daniel?«

»Komm schon, echt jetzt?« Fragend blicke ich zu Lara.

»Raphael«, ergänzt Ana.

»Und – wie hieß er nochmal? Ach ja, Raoul, der tolle Halbspanier«, wirft Joss ein.

»Mann, das sind keine Snobs. Vielleicht ein kleines Bisschen, aber nicht der Rede wert. Soll ich mich mit Karohemden treffen, oder wie?«

»Es soll bloß ein nett gemeinter Hinweis sein, vielleicht etwas darauf zu achten, wie sich dein Gegenüber darstellt. Nichts gegen Hugo Boss und Co, aber weißt du, jemand der nur aus Marken besteht, kompensiert unter Umständen seine Schwäche und betont Einfluss und Macht und das wiederum, macht ihn zu einem Snob.«

»Du meinst, dass jeder der Boss gut findet, ein Snob ist?«, frage ich Lara. »Nö – achte bloß darauf, wie sich dieser Boss präsentiert.«

»Das wird kompliziert«, seufze ich und rätsle, ob ich nicht gleich das Geld in die Gemeinschaftskasse einzahlen soll. Wenigstens ist dieser Punkt nun abgehakt und wir können uns dem unspektakulären, aber entspannenden Teil widmen: Bleigießen, wobei wie jedes Jahr die Anzahl der Interpretationen, der Anzahl der anwesenden Personen entspricht. Wir verteilen Neujahrsglücksbringer und als krönenden Abschluss machen wir mit einem Gläschen Sekt in der Hand, einen winterlichen Spaziergang.

»Auf uns sechs und ein wunderbares neues Jahr!«, prosten wir uns zu und halten unsere Gläser hoch in die Luft.

In den nächsten Wochen unternehme ich viel mit meinen Freundinnen. Besonders mit Emilia verbringe ich jede Menge Zeit. Ich helfe ihr, einen geeigneten Praxisraum zu finden und sie nutzt jede Möglichkeit mein Beziehungsmuster, wie sie das nennt, zu analysieren. Ich bin nicht unbedingt der redselige Typ Mensch, wenn es darum geht meine Beziehungen zu durchleuchten, aber solange es bei einem Nebenbei bleibt, ist es ganz okay. Und schließlich haben wir einige Gespräche nachzuholen.