Flecken - Christian Meyer - E-Book

Flecken E-Book

Christian Meyer

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Beschreibung

Erik hält nichts von Sex. Immer wieder stolpert er in absurde Situationen und über seine Männlichkeit und die Erwartungen daran. Aber damit kommt er klar. Er nimmt die übersexualisierte Gesellschaft als unterhaltsames Schauspiel wahr, in dem er nur Beobachter ist. In seiner eigenen Welt geht es ihm gut, und daran soll auch der Tod seiner Sandkastenfreundin Neele nichts ändern. Die unfreiwillige Rückkehr in den tristen Provinzort seiner Jugend, den alle nur den "Flecken" nennen, zieht ihn allerdings zurück in seine Vergangenheit und zwingt ihn aus seiner Komfortzone. Plötzlich bekommt Erik Antworten auf Fragen, die er sich nie gestellt hat. Die Wahrheit wird zu einer Entscheidung und die Einzige, die den Mut hatte, sie zu treffen, ist tot. Ein wilder, tragikomischer Roman über Wahrnehmung und Realität, platonische Liebe und Leidenschaft, Reden und Schweigen und die Peinlichkeit der Männlichkeit.

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Seitenzahl: 323

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Christian Meyer, geboren 1982 in Lüneburg, studierte Germanistik, Soziologie und Geschichte in Leipzig, arbeitet für Bühne und Bildschirm und lebt auf einem Campingplatz in der Elbmarsch. Mit Julius Fischer ist er auch musikalisch unterwegs. »Flecken« ist sein erster Roman.

© Verlag Voland & Quist GmbH, Berlin und Dresden 2022

Lektorat: Hanne Reinhardt

Erstkorrektorat: Mariela Peschke

Korrektorat: Kristina Wengorz

Umschlaggestaltung: pingundpong

Satz: Fred Uhde

Druck und Bindung: Balto print, Vilnius

ISBN 978-3-86391-317-5

eISBN 978-3-86391-356-4

www.voland-quist.de

Christian Meyer

Flecken

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Figuren

Zitate

Ich habe immer, immer dein gedacht;

Ich möchte schlafen, aber du musst tanzen.

Theodor Storm

Die Lust ist stets die beste,

die man sich selber macht.

Annette von Droste-Hülshoff

1

Neele ist tot.

Die Pastorin redet schon. Erik ist minimal zu spät. Bruno hat ihn mit seinem Tesla vom Zug abgeholt, der natürlich nicht pünktlich war, und trotz zweihundert Sachen auf der engen, von hohem Raps gerahmten Landstraße war es nicht gelungen, die Zeit aufzuholen. Die Umleitung um die gigantische Baustelle der Eisenbahnbrücke isoliert den Flecken noch mehr als sonst von der Außenwelt, hat Erik gedacht, als er sich während der Fahrt in seinen Konfirmationsanzug zwängte. Den Anzug hatte Bruno vorher bei Eriks Eltern abgeholt. Dabei ist er ohnehin viel zu klein, weil Erik gewachsen ist, seitdem er ihn vor über fünfundzwanzig Jahren das letzte Mal tragen musste, nicht, weil er zugenommen hätte, er ist schlank wie immer.

Im Gegensatz zu Bruno, der ein bisschen pumpen war. Um das Ergebnis zu präsentieren und weil die Sonne augustwarm ist, trägt er heute nur Muscleshirt und Shorts, immerhin beides in dem Anlass angemessenen Schwarz.

Als sie sich der Zeremonie nähern, unterbricht die Pastorin ihre Ausführungen und begrüßt Bruno freundlich. Er grüßt zurück und schickt einige Beileidsbekundungen in Form von Handküssen Richtung Trauergemeinde, während Erik mit einer dezenten Handbewegung in die trauernde Runde winkt.

Bruno bittet die Rednerin durch ein leichtes Kopfnicken fortzufahren.

Die Trauergemeinde besteht aus Neeles Mutter Elke, Neeles Großeltern Oma Doris und Opa Rüdiger, Onkel Freddie, ihrem Bruder Basti mit Frau und Baby, Natalie mit Freund, Helene, Sven, Ferdi, Patrick mit schwangerer Freundin und einigen, die Erik nicht kennt, nicht mehr kennt, nicht erkennt oder nicht erkennen möchte. Außerdem sind viele Leute aus dem Seniorenheim Sonnenblüte gekommen, und ein paar einsame Männer stehen etwas abseits verstreut um die Kerngäste herum.

»Wir sind zu spät«, flüstert Erik, Blick gen Sarg.

»Passt doch«, antwortet Bruno leise.

»Stimmt. Ist ja noch keine Erde drauf. Hättest aber trotzdem auch mal schneller fahren können.« Er grinst und hofft, dass es niemand gesehen hat.

»Pscht«, kommt es von der Seite, klar an Erik gerichtet.

»Wo ist denn Georg?«, flüstert Bruno.

»Hab gestern mit ihm telefoniert, kommt erst Dienstagnachmittag, hat keinen früheren Flug gekriegt. Tat ihm wahnsinnig leid.«

»Wäre auch schlimm, wenn nicht. Er ist ihr Vater.«

»War«, korrigiert Erik, ist sich allerdings gar nicht sicher, ob man das so sagt.

»Ich bin mir nicht sicher, ob man das so sagt …«, flüstert Bruno. »Na ja. Schade, dass du nicht länger bleiben kannst, sonst hätten wir uns Dienstag mit Georg treffen können. Schön ne Pizza spachteln.«

»Ja, blöd, aber geht echt nicht, erstens Gluten, und zweitens muss ich morgen wieder los«, sagt Erik bedauernd.

»Halt’s Maul, Erik!«, zischt Basti. Wenn Blicke töten könnten, läge Erik ebenfalls zeitnah im Grab.

Sie wenden sich wieder dem Loch zu. Die Pastorin spricht tonlos ihren offenkundig auswendig gelernten Text, der Neeles kurzes Leben auf die wichtigsten Aspekte reduziert. Auch Erik wird erwähnt, was ihm völlig unnötig vorkommt, aber es stört ihn auch nicht. Das, was zwischen ihnen war, war eine Ebene darüber. Oder darunter. Je nachdem. Auf jeden Fall bedeutender als die Schwimmpokale, ihre Großherzigkeit oder wie stolz ihre Eltern auf sie waren.

Erik versucht, etwas zu fühlen, aber da ist nichts. Das ist kein gutes Zeichen. In der Regel fühlt er sich wohl, wenn er nichts fühlt, und das gelingt ihm oft. Und wenn er fühlt, dann schafft er es in den meisten Fällen abzuwägen, ob das Gefühl seine Berechtigung hat oder nicht. Auf einer Beerdigung sollte man jedenfalls trauern, vielleicht sogar weinen. Wohlbefinden gehört nicht zu den Must-haves einer Beerdigung. Und wenn man es schon verspürt, sollte man sein Wohlbefinden in dieser Situation für sich behalten, sonst steht man plötzlich im Verdacht, ein Mörder zu sein, und so weit wäre er nie gegangen. Obwohl Neele es ihm nicht leicht gemacht hat, unschuldig zu bleiben.

Er presst Daumen und Zeigefinger in seine Augen, das kommt gut. Das ist authentisch. So drückt man Trauer aus. Und tatsächlich stellt sich in ihm ein Gefühl ein: Gleichgültigkeit. Erik empfindet völlig klar, dass Neele jetzt zwar nicht mehr physisch da, nicht mehr ansprechbar, nicht mehr berührbar ist, aber Häkchen dran. Dieses Häkchen ist auch ein Gefühl. Es geht ja weiter. Es war wichtig für ihn, dass es sie gab, aber das ist lange her. Sie war ohnehin schon seit einer Ewigkeit tot für ihn. Für ihn ändert sich nichts.

Um ihn herum sind die Gesichter matt, teilweise tränenfeucht, man schaut ins Leere, kann nicht begreifen. Hier entscheiden sich die meisten gerade dafür, den Gefühlen freien Lauf zu lassen. Oder werden schlichtweg von ihren Gefühlen kontrolliert. Das ist sicherlich üblich auf einer Beerdigung. Aber das unterscheidet den Menschen vom Tier, denkt Erik: bewusste Entscheidungen treffen zu können. Er fragt sich, warum die Menschen so selten davon Gebrauch machen, weiß aber auch, dass die Gesellschaft Emotionalität von einem erwartet, deshalb ist es wichtig mitzuspielen. Manchmal. Jetzt zum Beispiel.

Und so hält er es für eine gute Idee, mit dem Fuß aufzustampfen und heftig den Kopf zu schütteln. Das kommt aber nicht gut an. Besonders Neeles Bruder Basti versetzt ihm jetzt mit seinem bösen Blick den Todesstoß.

»Kommst du klar?«, flüstert Bruno ihm ins Ohr.

Erik ist kein guter Schauspieler. Dennoch setzt er sein schönstes Trauergesicht auf. Er hat es lange vor dem Spiegel geübt. Besser geht’s nicht.

»Musst du aufs Klo?«

»Bruno, Ruhe jetzt, ich trauere«, ermahnt er ihn etwas zu laut.

Er zeigt seine gespreizten fünf Finger in die Runde als Geste der Entschuldigung und flüstert so laut zu Bruno, dass es wirklich jede und jeder hört: »Ich begreife es nicht, sie ist nicht mehr da.«

Eine große, behaarte Männerhand legt sich auf seine Schulter, Erik riecht bekanntes Aftershave: Onkel Freddie. Er ist über zwei Meter groß und verdeckt seine wenigen Haare, die gerade so noch einen Zopf ergeben, schon immer mit einer albernen Kapitänsmütze. Die sieht zusammen mit seinem schwarzen Traueranzug noch lächerlicher aus, aber als Kind mochte Erik Onkel Freddie sehr. Je älter er wurde allerdings immer weniger.

»Du musst atmen. Tief atmen«, brummt ihm seine sonore Stimme eine Gänsehaut auf den Nacken.

Die Hand bleibt liegen. Für die nächsten fünfundvierzig Minuten. Unangenehm, aber Erik sagt nichts. Wie fast alle hier kennt er Onkel Freddie schon sein ganzes Leben. Jetzt steht der einfach nur da, mit seiner Pranke auf Eriks Schulter, die inzwischen warm und feucht ist, und guckt betreten auf den geschlossenen Sarg, über dem die Pastorin gerade die erste Schippe Erde nimmt, um sie ins Loch zu werfen. Die Gesellschaft tut es ihr gleich.

Nachdem ihn Onkel Freddie wieder aus seinem gut gemeinten Schultergriff befreit hat, nimmt Erik etwas zu hektisch die kleine Schaufel, die begleitet von einem selten dämlichen »Hoppla!« ins Loch fällt und mit einem dumpfmetallenen Geräusch auf den Sargdeckel knallt. Das müsste ihm peinlich sein. Er schluchzt kurz auf, damit alle sehen, wie traurig er ist, nimmt so viel Erde, wie er kann, in seine beiden Hände und wirft sie in hohem Bogen auf den Sarg.

Bruno zieht ihn mit großer Geste vom Loch weg, während hinter ihm zu laut getuschelt wird: »Hat er ihr nicht die Freundschaft gekündigt damals?«

Das ist nicht ganz richtig, aber sie hat es allen so erzählt, und für Erik geht es in Ordnung. Für ihn war es schlichtweg Logik. Das war vor fast zwanzig Jahren.

2

Unangemeldet stand Neele plötzlich vor Kälte zitternd an der Tür seiner Erasmus-WG in Helsinki. Sie roch nach Zigarette und hatte ihren Dutt unter eine riesige Wollmütze gesteckt. Seitdem er weggezogen war, hatten sie nicht viel Kontakt gehabt. Er fand, telefonieren werde ihrer Freundschaft nicht gerecht, und hatte gemeint, es sei besser, sich nur einmal im Jahr an Weihnachten zu sehen und dann alles Notwendige zu besprechen, als sich telefonisch vorzugaukeln, man habe einen Alltag. Noch dazu bleibe man so mehr im Hier und Jetzt. Er war erleichtert gewesen, als sie zustimmte, weil sie ihm bei jedem Anruf ein schlechtes Gewissen gemacht hätte, nicht derjenige gewesen zu sein, der angerufen hatte. Außerdem konnte er ihr eh nicht mehr helfen. Das hatte er jahrelang versucht, aber jetzt war sie auf sich allein gestellt, und er fand, das war sehr wichtig für sie. Es würde sie stärker machen. Er schaffte es, sie zu überzeugen, wie romantisch es sein würde, wenn man sich dann dieses eine Mal im Jahr sähe. Die beiden Jahre nach diesem Prinzip war es allerdings nicht besonders romantisch gewesen. Deshalb hatte es seit einer Weile immer mal wieder Notfallanrufe außer der Reihe gegeben, aber in diesem Falle hatte sie sich dafür entschieden, spontan und ohne Vorankündigung mit dem Billigflieger nach Helsinki zu kommen. Hätte sie ihn gefragt, hätte er sie abgewiesen, und das hätte sie vielleicht nicht verkraftet. Obwohl es im Nachhinein betrachtet vielleicht weniger schmerzhaft gewesen wäre.

Sein Gesicht, als sie plötzlich an der Tür stand, hätte er gerne gesehen. Wie immer hatte er es unter Kontrolle. Er freute sich überrascht und drückte sie zu fest.

»Was machst du denn hier?«

Sie war sich nicht sicher, ob sie den Moment genießen sollte oder sich direkt den echten Erik wünschte, sie durchschaute ihn ohnehin.

»Ich war in der Gegend. Darf ich vielleicht mal reinkommen, oder was?«, schimpfte sie und trat über die Schwelle.

»Okay, okay, wie lange bleibst du denn? Ich hab zu tun.«

Sie hätte den Moment genießen sollen.

»Dann geh ich wieder«, sagte sie und drehte sich wieder zur Tür.

»Kannst froh sein, dass ich überhaupt da war. Ich muss genau jetzt zur Uni.«

»Ich bleib auch nur eine Nacht, aber ich musste dich sehen. Ich wäre nicht gekommen, wenn es nicht wichtig wäre.«

»Ich hab halt nur ein neunzig Zentimeter breites Bett in meinem Acht-Quadratmeter-Zimmer.«

Sie zeigte auf die Isomatte, die an ihren Wanderrucksack geknotet war, den sie jetzt in den Flur stellte.

Erik zeigte Neele kurz in seinem Reiseführer, was es in Helsinki zu sehen gab, und begleitete sie noch ein paar Hundert Meter schweigend durch die eisige Luft Richtung Innenstadt. Sie verabredeten sich um sechs vor seiner Haustür.

Erik kam um halb sieben. Neele stand zitternd und rauchend vor der Tür. An den Filtern im Schnee sah er, dass sie mindestens seit sechs ohne Pause geraucht haben musste.

»Hättest doch klingeln können, meine Mitbewohnerin ist da«, sagte er kopfschüttelnd. Er vermutete, sie wollte leidend in der Kälte warten, um ihm ein schlechtes Gewissen zu machen.

Durchgefroren setzten sie sich in die WG-Küche, in der seine Mitbewohnerin Elsa gerade bei lauter lateinamerikanischer Musik etwas Fettiges mit maximaler Hitze briet.

»Wie läuft es bei dir? Was ist in den letzten drei Monaten passiert?«

Erik öffnete ungefragt zwei Bierdosen.

»Können wir in dein Zimmer gehen, hier ist so unruhig«, bat sie.

»Ich hab gar keine Stühle bei mir, und Elsa versteht eh kein Deutsch.« Er drehte wenigstens die Musik etwas leiser.

»Hm. Danke. Ich bin übrigens nicht mehr mit Helge zusammen. Er ist so ein Wichser, das glaubst du nicht.«

»Doch, glaub ich. Was ne Überraschung. Um mir das zu sagen, bist du nach Helsinki gekommen?«

»Nein. Es geht um was anderes. Wo soll ich anfangen?«, fragte sie mehr sich als ihn und hielt sich beide Hände vors Gesicht.

»Vielleicht Weihnachten?« Seitdem hatten sie sich nicht mehr gesehen.

»Okay. Ich fasse mich diesmal kurz.« Sie löste ihre Hände vom Gesicht und sah sehr konzentriert aus. »Es war Silvester. Ich hatte keine Lust auf dicke Party und bin zu Hause geblieben, wo natürlich meine Eltern deine Eltern eingeladen hatten. Ich war die meiste Zeit in meinem Zimmer, bis es gegen zehn im Wohnzimmer lauter wurde.«

»Unsere Eltern trinken halt gerne mal einen, wissen wir doch. Wird es noch spannend?«

»Warte. Meine Mutter schrie irgendwas, ich habe nicht verstanden, was, aber sie schrie, wie ich sie noch nie habe schreien hören. Es fiel auch irgendwas um oder flog gegen die Wand. Dann hat die Gartentür geknallt, und meine Mutter hat sich draußen eine Zigarette angezündet, das hat sie seit Jahren nicht gemacht. Ich habe mich aus dem Fenster gebeugt und gefragt, was los war, aber sie ist wortlos um die Ecke verschwunden.«

»Menopause?«

»Idiot.«

»Wann geht dein Rückflug noch mal?«

»Arschloch. Ich bin dann runter. Deine Mutter saß alleine im Wohnzimmer und hat sich an einem leeren Weißweinglas festgehalten, auf dem Tisch lag ein altes Fotoalbum. Unsere Väter habe ich aus dem Esszimmer gehört. Dann fiel Glas auf die Küchenfliesen. Meine Mutter kam wieder rein und schrie deine Eltern an, dass sie verschwinden sollen. Ich hab deine Mutter ein paar Tage später im nahkauf getroffen, sie kann sich auch nicht erklären, warum das so eskaliert ist. Meine Mutter will jedenfalls nichts mehr mit deiner zu tun haben.«

»Meine Mutter hat’s mir erzählt. Klingt dramatisch«, sagte er.

Neele holte ein Foto aus ihrer Hosentasche und legte es vor ihn auf den Tisch. Erik sah nur kurz darauf. Die junge Elke prostete in die Kamera.

»Guck es dir noch mal an.«

»Ich kenne das Bild.«

Neele legte einen DIN-A6-Umschlag auf den Tisch. Er war schon aufgerissen. Sein Name stand darauf.

»Mein Vater ist ausgezogen«, sagte sie wütend, und Tränen sammelten sich in ihren Augen. »Und weißt du auch, warum?«

»Ich wusste es schon lange«, sagte er gelangweilt.

Erik hatte schon immer ein sehr gutes Verhältnis zu ihrem Vater Georg gehabt, in den letzten Jahren nach seinem Auszug war es sogar noch enger geworden als zu ihrer gemeinsamen Zeit im Flecken.

»Was wusstest du?«

»Alles.«

»Seit wann?«

»Seit unserem achtzehnten Geburtstag.«

Sie massierte ihre Augenbrauen. »Warum hast du mir nichts gesagt?«

»Weil es dich traurig gemacht hätte.«

Neele schüttelte fassungslos den Kopf.

»Was hat er dir erzählt?«

»Warum soll ich’s dir erzählen, wenn du es selber weißt?«

Er nahm noch einen tiefen Schluck aus der Bierdose. »Wann geht dein Rückflug?«

»Morgen Abend«, flüsterte sie, und eine einzelne Träne floss ihre Wange herunter.

»Ich muss morgen acht Stunden zur Uni, sorry«, entschuldigte er sich. Eigentlich hatte er frei.

»Darf ich dein Bier?«, fragte Eriks Mitbewohnerin in perfektem Deutsch. Neele hatte noch keinen Schluck getrunken. Ihre Augen verengten sich, und sie ging ins Bad.

Erik trank den letzten Schluck seines Bieres, nahm Foto und Umschlag vom Tisch und steckte beides wieder in Neeles Rucksack.

Während sie einschliefen, hörte er ihr leises Schluchzen. Er spürte, dass sie noch etwas sagen wollte, half ihr aber nicht dabei.

»Und lass in der Nacht deine Finger bei dir, du notgeiles Stück.«

Der Spruch musste sein, das war Tradition, meistens lachte sie ihn weg, aber er wusste, dass er diesmal unangebracht gewesen war, als keine Antwort kam.

Stattdessen fragte sie leise: »Schreibst du eigentlich noch Tagebuch?«

»Schon lange nicht mehr.«

Eine Weile war Stille, und er war schon fast eingeschlafen, da stand sie noch einmal auf. Als sie wiederkam, roch Erik den Zigarettenrauch und drückte seine Nase ins Kissen.

»Ich auch nicht«, flüsterte sie, und er hörte, wie sie sich die blonden Armhärchen zupfte.

Am Morgen, als er aufwachte, war Neele schon gegangen. Erik hatte sie im Halbschlaf gehört, aber so getan, als schliefe er weiter. Er hasste ihre Dramatik, und sie musste gewusst haben, dass er ihre Erwartungen nicht erfüllen würde. Er würde ihr nicht schreiben, wo sie sei, dass sie doch zurückkommen solle und so weiter.

Sie sahen sich noch zweimal an diesem Tag, aus der Ferne. Helsinki war klein.

Abends saß Erik mit anderen Erasmus-Studierenden in einer Bar und amüsierte sich bei angeregten Gesprächen und Glögi, als sein Handy piepste. »Wir sind vorbei. Für immer.« Theatralisch wie gewohnt.

Er entschuldigte sich bei seiner Gesprächspartnerin, schloss sich in der Toilette ein und begann zu tippen. Sie hatte es provoziert, das konnte er auch. Er wusste, sie würde sich über ihn ärgern, aber egal, was er jetzt sagte, es wäre in ihren Augen falsch.

»Und magst du nie, was rettungslos vergangen, in schummerlosen Nächten heimverlangen«, schrieb er zurück.

Es war lange her, dass er Storm zitiert hatte. In der Jugend hatte er ein Faible für die Poesie der Romantik gehabt, schon fast eine Obsession für bestimmte Dichterinnen und Dichter, Fontane, Droste-Hülshoff, er kannte viele ihrer Gedichte auswendig. Während andere Fans von Musikerinnen und Musikern waren, war er Bewunderer von Architektinnen und Architekten, Malerinnen und Malern, Regisseurinnen und Regisseuren.

Er liebt bis heute das Schöne. Aber er hört auch heimlich die Schlager bis 1990. Und Wolfgang Petry und Andreas Gabalier. Vor allem der Rassist und Sexist Gabalier ist ihm sehr peinlich. Das darf niemand wissen.

Storm hatte er bewusst vergessen, nachdem er einen Artikel gelesen hatte, dem zufolge sich der Dichter zu präpubertären Mädchen hingezogen fühlte. Seither fand Erik ihn widerlich, aber das war ihm jetzt kurz egal, und vielleicht würde sie das sogar noch mehr provozieren. Ganz sicher sogar. Wie sehr sie Storm hasste …

Neele schrieb nicht mehr zurück. Nie wieder. Das hatte er nicht erwartet. Konsequenz war sonst nicht so ihre Stärke. Auch er schrieb nie wieder und beschränkte seine weihnachtlichen Fleckenbesuche auf zwei heimliche Tage, um ihr nicht über den Weg zu laufen. Es fühlte sich schlichtweg richtig an.

Etwa drei Monate nach Neeles Helsinkibesuch, kurz vor seiner Rückkehr nach Wien, wo er studierte und bis heute lebt, telefonierte Erik mit seiner Mutter.

»Neele wird in drei Wochen heiraten. Einen Ralf.«

Kurz herrschte Stille, dann holte Erik tief Luft. »Bitte erzähl mir unter keinen Umständen jemals wieder etwas über Neele, ja? Uns gibt es nicht mehr.«

»Weil du Angst vor deiner Liebe hast?«, fragte sie halbernst.

»Neele existiert nicht mehr für mich, es ist besser so, und sie scheint es ja auch nicht am Glück zu hindern«, befand Erik sehr treffend und formte in Gedanken Anführungsstriche um das Wort »Glück«.

»Was ist mit euch bloß passiert?«, fragte seine Mutter ernst, aber ohne eine Antwort zu erwarten.

Sie hatte ja selber keinen Kontakt mehr mit Neeles Familie. Erik fragte nicht nach Gründen. Auch seine Mutter schien nicht zu wissen, warum ihre beste Freundin Elke sie von einem Moment auf den anderen rausgeschmissen hatte. Wahrscheinlich konnte sie es erahnen. Das behielt sie aber für sich.

Aus der Hochzeit mit Ralf wurde dann übrigens leider doch nichts.

3

Nachdem Neeles Mutter Elke ihn bei der Kondolenzbekundung ein bisschen zu lang gedrückt hat, obwohl oder weil sie sich lange nicht gesehen haben, entschuldigen sich Erik und Bruno, Erik gehe es zu schlecht, um noch weiter in Gesellschaft zu sein.

Sie verlassen den Friedhof und gehen über die Straße zur Tankstelle. Hier haben sie früher viel Geld in Alkohol investiert. Eine von den Tanksäulen hat Erik bestimmt komplett alleine finanziert. Inzwischen ist nämlich alles neu gemacht worden. Er trinkt heute ein Wasser mit Kohlensäure. Das gönnt er sich nur selten. Leitungswasser reicht ihm sonst völlig. Bruno braucht ein kühles Bier. Sie setzen sich auf die neu gestrichene Bank neben der Waschanlage. Erik schält sich aus seiner Anzugjacke und hängt sie über die Lehne. Direkt über das alte, tief eingeschnitzte Ganglogo, das trotz der frischen Farbe deutlich zu erkennen ist: Blue Boys. Sie prosten sich zu und blicken über die Felder der holsteinischen Ebene.

Erik nimmt einen tiefen Zug Landluft, aber es riecht eher verbrannt, wie so oft im Flecken, seit vor einigen Jahren das Krematorium wiedereröffnet wurde, nachdem es jahrzehntelang nicht genutzt worden war. Auf eine Rauchgasreinigungsanlage wartet man hier seitdem vergebens, und so werden regelmäßig die Emissionswerte überschritten, aber ist ja nur der Flecken, wen stört das schon. Hier liegt Tod in der Luft.

»Du bist so ein schlechter Schauspieler.« Bruno stößt ihm in die Seite.

»Ich weiß«, sagt Erik lachend.

»Ist doch schon scheiße, dass sie tot ist, vor allem, wie sie …«

»Ja, ist schlimm«, unterbricht er Bruno.

Kurz schweigen beide wieder, Erik fährt sich von vorne nach hinten über seine kurzen Haare, die er der Praktikabilität halber einmal die Woche auf neun Millimeter trimmt.

Eine Wespe will in Brunos Bier kriechen, wird aber vorher unter fiesem Lachen in die Büsche geschnipst.

»Nicht an mein Bier, du Sau!«

Er wendet sich Erik zu.

»Wie geht’s dir denn eigentlich? Haben uns lange nicht gesprochen.«

»Ich hab viel zu tun. Die Agentur läuft richtig gut an.«

»Hab die Werbung gesehen. Ziemlich geile Bikinis. Wo habt ihr das gedreht? Karibik? Kronenwasser macht sexy – wie bist du darauf gekommen? Genial.«

Erik fühlt sich geschmeichelt. Die Kampagne ist ihm tatsächlich hervorragend geglückt. Inklusive öffentlichkeitswirksamen Shitstorms der Feministinnen und Feministen, dem ein Clip mit leicht bekleideten Männern folgte, der allerdings weit weniger gesendet wurde als der erste.

»Danke, dein Klokalender hat mich dazu inspiriert.«

»Der mit den nackten Anglerinnen?«

»Genau!«

»Hast aber schon eins von den Models geknallt, oder?« Bruno drückt seine Faust auf Eriks Oberschenkel.

»Natürlich nicht, ich bin ein Mann für keine Nacht, das weißt du doch. Wahrscheinlich bleibe ich einfach für immer ohne Beziehung, mir geht es bestens alleine.«

»Jaja, Sex sucks, weiß ich doch, ist klar. War ja nur Spaß.«

»Ein sexistischer Spaß. Aber er sei dir verziehen. In diesem Kaff sind halt alle so.«

»True. Trotzdem sorry. Auch an alle Frauen!« Er küsst seine Faust und streckt sie zum Himmel.

Kurz sagt keiner etwas, dann holt Bruno noch mal aus.

»Aaaaber: Und Gott der Herr sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht. 1. Mose 2,18. Erst als Gott die Frau macht, ist in der Schöpfungsgeschichte vom Mann die Rede, vorher heißt es immer ›Mensch‹. Mann und Frau sind also nur durch den jeweils anderen, was sie sind, verstehst du?«

»Beeindruckend, wie du nach all den Jahren als Atheist noch aus der Bibel zitieren kannst. Deine Eltern wären stolz auf dich. Ist da nicht auch noch von der ›Männin‹ die Rede?«

»Man wird sie Männin nennen, weil sie vom Manne genommen ist.«

Beide lachen, nehmen simultan einen großen Schluck und beobachten die Trauergäste, die gerade auf der anderen Straßenseite vom Friedhof kommen. Sie weichen einem Leichenwagen aus.

»Heute zu Dagmar, ne?«

»Voll gern«, lügt Erik, und Bruno weiß das, aber es ist sinnlos, Bruno zu widersprechen. Der versteht oft besser, was andere brauchen. Vor allem, was Erik braucht, und das schätzt Erik ungemein.

»Heute wird gesoffen!«, ruft Erik und stößt mit Bruno an. Es klingt lächerlich, wie die PET-Wasser- und die Glas-Bierflasche zusammenstoßen. »Auf Dagmar!«

»Weißt du, was das Geile ist? Heute ist …«

Bruno sieht Erik erwartungsvoll in die Augen: »… NEUNZIGER!«

Neunzigerparty bei Dagmar ergibt Sinn. Ihre Inneneinrichtung ist von 1994, das weiß man, weil damals so gut wie alle aus dem Ort bei der Sanierung geholfen haben, auch die Kinder. Der ganze Flecken half, nachdem Bei Iris, die Kneipe des Gasthauses, abgebrannt war. Vielleicht wäre der Brand nicht so verheerend gewesen, gäbe es im Flecken eine Feuerwehr, aber die gibt es bis heute nicht. Es war für Iris’ Schwester Dagmar jedenfalls eine Ehrensache, dass sie den wichtigsten Treffpunkt der Fleckler wieder aufbaute, prachtvoller als je zuvor, und den Namen beibehielt in Erinnerung an Iris, die Kneipenbesitzerin, die nicht mehr aus der brennenden Küche gefunden hatte. So wurde alles schön in Eiche vertäfelt und verziert mit Dutzenden Wappen, Wimpeln und Urkunden vom Schützen- und vom Sportverein, die Bei Iris auch als Vereinssitz nutzen. Urig, darf man euphemistisch behaupten. Dagmar ist die einzige Kneipe im Ort, vielmehr heißt die Besitzerin Dagmar. Obwohl man schon sagen könnte, Dagmar ist die Kneipe, und die Kneipe ist Dagmar. Sie wohnt sogar direkt darüber in dem hohen, rot verklinkerten Bau. In der Jugend waren sie jedes Wochenende da. Aber Erik trinkt seit Jahren keinen Alkohol mehr. Heute in diese Kneipe zu gehen, wäre wirklich unangebracht.

»Dann würde ich mal sagen: Coco Jamboo – und bis nachher! Ich muss erst mal nach Hause. Ich würde dich ja mitnehmen, aber mein Vater ist immer noch nicht so gut auf dich zu sprechen, du weißt …«

Bruno weiß. »Ich warte noch auf die anderen. Lass vorher doch noch mit allen zum Spielplatz.«

»Total Bock drauf.« Schon wieder gelogen.

Erik lässt sich von Bruno noch in den Amselweg bringen, wo sein Pressspan-Jugendzimmer noch exakt so aussieht und riecht, wie er es mit neunzehn verlassen hat.

4

Am Flughafen hatte er seinen Vater erwartet, aber am Gate stand Neele. Sie hatte im Hotelshuttlestil auf ein DIN-A4-Blatt ein großes rotes Herz gemalt, in dem Wissen, wie unangenehm ihm das sein würde. Er spielte aber nicht mit.

»Mein Schatz, wie schön von dir!« Er fiel ihr in die Arme. »Frohe Weihnachten!«

Damit hatte sie nicht gerechnet, oder vielleicht doch, er war schließlich unberechenbar. Er liebte es, Menschen mit unerwartetem Verhalten zu überraschen, um ihren Manipulationen den Wind aus den Segeln zu nehmen.

»Damit hast du nicht gerechnet, was?«, ergriff Neele das Wort. »Ich musste in den sauren Apfel beißen und dich holen, bin mit dem alten Astra deiner Mama da. Soll dich explizit von Bruno grüßen, der hätte es gerne gemacht, hat sich ja gerade so einen neuen BMW gekauft, der noch eingefahren werden muss, aber er hat Stress mit Frida.«

»Frida ist jetzt schon ein Grund, mich nicht abzuholen?«

»Eifersüchtig?«

Sie gingen Richtung Parkplatz.

»Das ist doch keine gesunde Beziehung, oder was meinst du?«, fragte er, obwohl in seinen Augen pauschal alle Paarbeziehungen ungesund waren, aber er musste jetzt zwei Stunden mit ihr im Auto sitzen und wollte die Stimmung noch nicht allzu sehr vergiften.

»Kann ich nicht beurteilen.«

Selten, dass sie zu einer Sache keine Meinung hatte.

»Mit ungesunden Beziehungen kennst du dich doch aus«, wollte er sie aus der Reserve locken. Es ärgerte ihn sehr, dass sie tat, als wäre zwischen ihnen alles in bester Ordnung.

»Mit Helge läuft es eigentlich ganz gut, danke der Nachfrage.«

»Warum ist mein Vater eigentlich nicht gekommen?«

»Das ist ja das Ding. Er ist vor zwei Stunden ins Krankenhaus gekommen, aber nichts Schlimmes.«

»Was heißt ›nichts Schlimmes‹?«, fragte er eher interessiert als besorgt. Sein Vater war zäh.

»Blinddarm.«

»Blinddarm?«

»Blinddarm.«

»Können wir noch vorbeifahren? Ist doch erst Mittag.«

»Meinetwegen.«

Erik graute vor der Autofahrt. Mit seinem Vater hätte er schön Schlagerradio gehört und so getan, als fände er die Musik furchtbar, wahrscheinlich hätte er die ganze Fahrt über kein Wort gesagt. Neele wollte immer gerne Dinge klären, vor allem, seitdem er nicht mehr im Flecken wohnte. Sie vergaß dabei oft das Autofahren und war unkonzentriert.

Klassische Dialoge:

»Warum bin ich dir eigentlich so egal?«

»Achtung, der bremst!«

»Bedeute ich dir gar nichts?«

»Du kommst von der Spur ab, lenk nach rechts!«

»Findest du mich hässlich?«

»Das ist eine Einbahnstraße!«

Mehr als einmal hatte er sie mit seinen Kommentaren vom Beifahrersitz zu wütendem Weinen gebracht, sodass schließlich er hatte weiterfahren müssen. Kurz überlegte er, ob er es noch mal mit ein wenig Provokation versuchen sollte, aber er entschied sich dafür, erwachsen geworden zu sein.

Auf der Fahrt verwickelte sie ihn dann zu seiner Überraschung nicht in irgendwelche Gespräche, sondern ließ eine Playlist mit Achtziger-Partyliedern laufen. Sie sprach kein Wort. Aber er wusste, dass sie erwartete, dass er sie fragte, wie genau es jetzt konkret mit ihrem aktuellen Freund lief, wie die Arbeit war, ob es ihr gut ging. Er hatte keine Lust auf Fragen. Noch weniger auf Antworten. Weil er sie ohnehin schon kannte. Sie überraschte ihn nicht mehr. Es fühlte sich zwar immer wieder wie ein Nachhausekommen an, wenn sie sich trafen, aber sie waren auserzählt. Es verband sie nichts mehr außer ihrer Vergangenheit. Aber nur er schien das begriffen zu haben. Er musterte sie kurz unmerklich aus den Augenwinkeln. Ihr perfekter Dutt kratzte an der Astradecke.

Er dachte an ein Gedicht von Theodor Fontane:

Mein Herze, glaubt’s, ist nicht erkaltet,

es glüht in ihm so heiß wie je,

und was ihr drin für Winter haltet,

ist Schein nur, ist gemalter Schnee.

Doch, was in alter Lieb’ ich fühle,

verschließ ich jetzt in tiefstem Sinn,

und trag’s nicht fürder ins Gewühle

der ewig kalten Menschen hin.

Ich bin wie Wein, der ausgegoren:

Er schäumt nicht länger hin und her,

doch was nach außen er verloren,

hat er an innrem Feuer mehr.

Wie in einem schlechten Roman lief dazu Tainted Love von Soft Cell. Verdorbene Liebe. Er liebte den Kitsch.

»Wie lange brauchst du?«, fragte sie, am Krankenhaus angekommen.

»Wie lange braucht man, um seinen kranken Vater zu besuchen, wenn man ihn ein Jahr nicht gesehen hat?«

Er schlug die Tür des Astras zu, ohne eine Antwort abzuwarten. Im Weggehen blickte er sich noch einmal zu ihr um und sah, wie sie sich einzelne Armhaare zupfte. Im Auto lief Karma Chameleon von Culture Club.

Sein Vater war gerade aus der Narkose aufgewacht und so neben der Spur, wie Erik ihn noch nie erlebt hatte. Normalerweise war er bedacht und kontrolliert, ganz der Mathelehrer. Er hatte Erik zu Disziplin erzogen, im Gegensatz zu seiner Mutter, die den liebenden Part übernommen hatte. Er war beiden dankbar. Erst denken, dann fühlen war der wichtigste Grundsatz seines Vaters, und den hatte Erik inzwischen perfektioniert. Ungefilterte Gefühle hatten schon viel kaputtgemacht in der Welt.

»Moin Moin, mein lieber Sohn. Wie schön, wie schön«, lallte sein Vater, freute sich und küsste Eriks Hand, bevor er sie in seine eigenen Hände nahm und ausgiebig rubbelte, was Erik etwas verstörend fand.

Im Nachbarbett lag jemand mit dem Rücken zu ihnen und stöhnte unentwegt.

»Moin, Papa, wie geht’s dir?«

»Hervorragend, mein lieber Erik, hervorragend«, sang Eriks Vater ausdrucksstark.

»Ich komm vielleicht morgen noch mal wieder, oder?«

»Ich hab Zeit, ich hab Zeit, bleib ruhig.«

»Neele wartet auch im Auto, wollte nur kurz Hallo sagen und schauen, ob es dir gut geht.«

»Wie lieb von dir, ich hab dich so lieb, weißt du?«

Sein Vater rubbelte immer noch Eriks Hand, aber mit jedem Satz wich mehr von seiner anfänglichen Energie.

»Ich dich auch, weißt du doch.«

Ruppig zog er seine Hand aus den Händen seines Vaters, dessen Augen langsam schmaler wurden. Ein Krankenpfleger kam herein. Das Stöhnen aus dem Nachbarbett wurde lauter.

»Ihr Vater sollte jetzt etwas schlafen«, sagte der Pfleger.

Erik war erleichtert. So wollte er seinen Vater nicht sehen. Er hoffte, dass der die Begegnung morgen vergessen hatte.

»Gute Besserung, Papa!«

Mit letzter Kraft stöhnte er: »Danke, Spatz!«

»Ist alles gut gelaufen, keine Sorge«, beruhigte ihn der Pfleger auf dem Flur, obwohl Erik gar nicht beruhigt werden musste. Er sorgte sich nicht.

In ihm stieg kurz Wut auf, aber er behielt sie für sich. Gefühlszuschreibung. Davon auszugehen, dass man in einer bestimmten Situation bestimmte Gefühle haben müsse, ohne sich aber den Menschen genau anzusehen und vielleicht unerwartete Zeichen zu erkennen. So weit war die Menschheit noch nicht.

»Solltest du irgendwann mal krank werden, zwing mich nicht, dich im Krankenhaus zu besuchen!«, sagte er zu Neele, als er wieder im Astra saß.

»Wie geht’s ihm?«

»Hervorragend«, gab Erik wieder.

»Ich hab übrigens aufgehört zu rauchen«, sagte sie stolz.

»Glückwunsch!«

Sie drehte Boys Don’t Cry von The Cure lauter und startete den Motor. Inzwischen hatte er den Verdacht, sie wolle ihm mit dem Inhalt dieser Playlist etwas sagen. Sie lief inzwischen zum zweiten Mal. Tainted Love, Karma Chameleon, Boys Don’t Cry. Immer diese ätzenden Spielchen, Erik mochte Klarheit, und wenn man ihm etwas durch die Blume sagen wollte, machte er zu, das wusste sie doch.

Noch eine halbe Stunde im Astra. Wieder sagte sie kein Wort. Als sie im Amselweg ankamen, fragte er nach dem Link zur Playlist. Sie verabschiedete sich mit einer herzlichen Umarmung.

»Bis später in der Kirche«, sagte sie.

Erik würde dieses Jahr nicht in die Kirche gehen, sagte aber trotzdem: »Bis dann.«

Heiligabend nur mit Mutter und Oma war ein Fest. Nicht dass sein Vater sonst gestört hätte, er saß normalerweise unbeteiligt in der Ecke und kommentierte unregelmäßig das Geschehen, aber seine Mutter war anders, wenn sein Vater nicht dabei war. Er wollte nicht sagen freier, aber ausgelassener, vielleicht, weil jemand wie sein Vater auch immer ein wenig Ruhe in seine Umgebung brachte.

Erik und seine Mutter schmückten dieses Jahr den Baum so grell und bunt, wie es sein Vater nie zugelassen hätte, holten Oma aus dem Seniorenheim, tanzten zu Techno um den Baum, tranken und aßen genauso viel wie sonst zu viert, wenn nicht mehr, und mussten am nächsten Tag völlig verkatert nachkochen, um seinem Vater was vom »Weihnachtsessen« mitzubringen, nachdem sie Oma ins Heim zurückgebracht hatten, da gab es Gans.

Eine Krankenschwester fing sie noch vor der Zimmertür ab.

»Sie sind verwandt mit dem Patienten?«

»Dem Blinddarm, ja«, sagte Erik überrascht und fand seine Antwort unpassend. Er wollte nur auf keinen Fall mit dem Stöhnenden in Verbindung gebracht werden.

»Es gab Komplikationen, er ist vor fünf Minuten noch mal in den OP gebracht worden.«

Seine Mutter legte die Tupperdosen auf zwei der Plastikstühle, die an der Wand befestigt waren, und fixierte die Schwester. »Können Sie da etwas genauer werden?«

»Leider nein, meine Schicht hat gerade erst angefangen. Müssen Sie warten, bis er aus dem OP kommt, das kann dauern.«

»Ist das Ihr Ernst?« Seine Mutter wurde laut, Leute drehten sich zu ihr um.

»Mama!«, ermahnte Erik sie. »Wird schon nichts Schlimmes sein.«

»Das ist doch zum Mäusemelken …«

Arm in Arm warteten sie im Neonlicht des Gangs und aßen irgendwann gedankenverloren den Inhalt der Tupperdosen. Ihre vollen Mägen verkrampften sich, und sie lehnten sich wieder aneinander. Seine Mutter schlug irgendwann eine Meditation vor, nahm Erik an die Hand und schloss die Augen. Erik tat es ihr gleich, spürte aber nur seinen Kopfschmerz. Zu viel Pernod. Kurz vergaß er dann doch alles um sich herum. Bis sein Handy vibrierte: Neele.

Er ging ran und flüsterte: »Grad schlecht.«

»Na, mein Weihnachtshase? Wie war der Heilige Abend?«

»Gut …«

»Bei mir auch. Die alten Leute sind so dankbar, es war wirklich herrlich. Bruno war auch da. Nächstes Mal komm doch auch mit«, trällerte sie.

»Ist grad wirklich schlecht bei mir.«

»Okay. Hat das was mit mir zu tun?«

»Nein, Kater.«

»Okay. Sehen wir uns nachher noch? Morgen bin ich wieder im Heim, und übermorgen bist du ja schon wieder weg, und in der Kirche haben wir uns auch nicht gesehen.«

»Kann ich noch nicht sagen, sorry.«

»Ist irgendwas?«

»ICH. KANN. ES. NOCH. NICHT. SAGEN!« Er wurde plötzlich sehr laut, sodass seine Mutter die Augen öffnete. Es hallte durch den Krankenhausflur, die Leute schauten zu ihm herüber.

Neele sagte nichts. Man hörte nur das Rauschen in der Leitung.

»Wer war das? Was war denn los?«, fragte seine Mutter.

Er legte auf.

»Neele.«

»Was wollte sie denn?«

»Mich treffen.«

»Warum hast du ihr nicht einfach gesagt, was hier los ist?«

»Es ist einfacher so.«

»Du bist ziemlich laut geworden. Bist du sicher, dass das sein musste?« Sie fragte das ohne Vorwurf, sie wollte tatsächlich wissen, ob er seinen Ausbruch bereute.

»In diesem Moment fühlt es sich richtig an.«

Er schrieb Neele eine SMS. »Ich melde mich später«, und erhielt sofort eine Antwort: »Bitte nicht.« Ihn erleichterte die Nachricht. Später würde sie eh trotzdem anrufen, sie würden sich treffen, und alles wäre wieder okay. Wie schon so oft.

Dazu kam es aber nicht. Sie sahen sich erst drei Monate später in Helsinki wieder.

Eine weitere Stunde verging, bis der Arzt Entwarnung gab.

»Es bestand eine Nahtinsuffizienz, aber eine Peritonitis konnte verhindert werden. Es wird ihm bald besser gehen. Kommen Sie am besten morgen wieder.«

Mit ihren leeren Tupperdosen fuhren sie direkt ins Seniorenheim zu Oma und bekamen sogar noch Gansreste.

Am Abend trafen sich Erik, Bruno, Georg und Onkel Freddie bei Dagmar.

»Ich bin wieder Single!«, rief Bruno. »Jetzt wird gesoffen! Dagmar, eine Runde BoKü für alle!«

Bokü, die abenteuerliche Mischung aus Bommerlunder und Küstennebel.

»Runter damit, bevor es nach Glas schmeckt!«, brüllte Onkel Freddie.

»Man bringt es nicht weit bei fehlendem Sinn für Feierlichkeit«, leitete Erik endgültig das Saufgelage ein.

»Droste-Hülshoff?«, fragte Bruno.

»Fontane«, sagte Georg.

5

Seine Mutter und Golden Retriever Emma empfangen Erik an der alten roten Tür mit dem geschnitzten Rahmen. Es ist ein Wunder, dass er noch nicht auseinandergebrochen ist. Das Holz ist verwittert, und Eriks kindliche Schnitzereien sind kaum noch erkennbar, weil der Holzwurm drin wohnt. Vor ein paar Jahren ist das sehr alte Haus komplett saniert worden, nur die Tür mit ihrem Rahmen wollte seine Mutter unbedingt im Originalzustand erhalten.

Erik wirft seine Konfirmantionsanzugjacke auf die Flurkommode.

»Der Anzug kann in die Altkleidersammlung. Den zieh ich nie wieder an.«

Seine Mutter hängt die Jacke fein säuberlich auf einen Bügel und an die Garderobe.

»Schön, dass du kommst, Essen ist gerade fertig. Schuhe aus!«

Das sagt sie jedes Mal, wenn er das Haus betritt. Er drückt sie und küsst ihre Wange.

»Moin, Mama.«

»Moin, Sohn.« Sie drückt und küsst zurück. »Schön, dass du mal im Sommer kommst. Da siehst du auch mal den Garten in Grün. Wie war die Beerdigung?«

»Spannend!«

»Oh, warum das denn?« Seine Mutter war noch nie gut in Ironie. Obwohl er es tatsächlich spannend fand.

»Viele Dinge sind spannend, wenn man sie zum ersten Mal tut.«

»Kommt auf die Erwartungen an. Wie geht es Elke?«

»Den Umständen entsprechend.«

Seine Mutter nickt geschäftig und schiebt ihn an den Küchentisch.

Es ist sicher nicht einfach für seine Mutter gewesen, nicht auf die Beerdigung zu gehen. Neele war für sie wie eine Tochter. Und auch Eriks Oma ist aus Solidarität ferngeblieben. Elke und seine Mutter waren beste Freundinnen seit Schulzeiten, aber das ist lange her.

Es gibt Kartoffeln mit Rotkohl und Sojaschnitzel.

»Gluten-, fleisch- und zuckerfrei, mein Schatz.«

Erik verzichtet auf alles, von dem er annimmt, dass es ihm nicht guttut. Seine Mutter war, zu seinem Ärgernis oft mehr als er selbst, schon immer eine Meisterin darin zu wissen, was ihm guttut.

Sein Vater kommt vom Klo und legt ihm kurz die Hand auf die Schulter.

»Alles okay?«

»Unbedingt. Hunger!«

Sein Vater lacht väterlich.