Flipped Classroom – Zeit für deinen Unterricht -  - E-Book

Flipped Classroom – Zeit für deinen Unterricht E-Book

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Beschreibung

Flipped Classroom bedeutet: Die üblichen Aktivitäten inner- und außerhalb des Klassenzimmers werden umgedreht. Die Schülerinnen und Schüler eignen sich die von der Lehrkraft digital zur Verfügung gestellten Inhalte - etwa in Form von Lernvideos - eigenständig zu Hause an. Da im Unterricht nicht in ein neues Themengebiet eingeführt werden muss, steht die "gewonnene" Zeit zur Verfügung, um die Kinder und Jugendlichen gezielt zu unterstützen und individuell zu fördern. Der Unterricht kann stärker für die Übung, Anwendung und Reflexion des Gelernten genutzt werden. So zumindest die Erwartungen an den Ansatz und die Theorie … Im Pilotprojekt "Flip your class!" haben Berliner Schulen unter wissenschaftlicher Begleitung der Pädagogischen Hochschule Heidelberg erste Unterrichtskonzepte zur Methode Flipped Classroom erstellt und in einem Design-Research-Ansatz erprobt. Dieser Band präsentiert Erkenntnisse aus dem Projekt und gibt Handlungsempfehlungen für die Praxis. Zudem dokumentiert er die Erfahrungen von Lehrkräften aus ganz Deutschland, die schon länger mit diesem Ansatz arbeiten: Beispiele aus unterschiedlichen Unterrichtsfächern, Schulformen und -stufen vermitteln die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten der Methode. Ergänzend fließt die Perspektive von Praktikerinnen und Praktikern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz von der Flipped Classroom Convention 2017 ein.

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Julia Werner, Christian Ebel, Christian Spannagel und Stephan Bayer (Hrsg.)

Flipped Classroom – Zeit für deinen Unterricht

Praxisbeispiele, Erfahrungen und Handlungsempfehlungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2018 Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh

Verantwortlich: Christian Ebel

Lektorat: Heike Herrberg

Herstellung: Sabine Reimann

Umschlaggestaltung: Elisabeth Menke

Umschlagabbildung: Christian Ebel/Bertelsmann Stiftung

Respektseiten: Veit Mette, Bielefeld

Alle Texte, Fotos, inkl. des Coverfotos und der Abbildungen im Text stehen unter CC BY-SA 4.0 Lizenz.

Layout und Satz: Katrin Berkenkamp, Bielefeld

Druck: Hans Kock Buch- und Offsetdruck GmbH, Bielefeld

ISBN 978-3-86793-790-0 (Print)

ISBN 978-3-86793-869-3 (E-Book PDF)

ISBN 978-3-86793-870-9 (E-Book EPUB)

Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung, Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International (CC BY-SA 4.0) Lizenz. Den vollständigen Lizenztext finden Sie unter:

https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode.de

www.bertelsmann-stiftung.de/verlag

Inhalt

Digitalisierung im Unterricht konkret: Ein vielfältiger Flipped Classroom ermöglicht spannende Lernreisen

Ulrich Kober und Dirk Zorn

1.Flipped Classroom – Zeit für deinen Unterricht

Julia Werner, Christian Ebel, Christian Spannagel und Stephan Bayer

Das Projekt »Flip your class!«

2.Der Flipped Classroom als Impuls für Schul- und Unterrichtsentwicklung

Christian Ebel

2.1Das pädagogische Potenzial des Ansatzes

2.2Ziele des Projekts »Flip your class!« – der Unterricht im Fokus

2.3Ein Blick auf Schule als Ganzes – systemische Schulentwicklung

2.4Eine vorsichtige Projektbilanz aus Schulentwicklungsperspektive

2.5Sieben Handlungsempfehlungen für gelingende Schul- und Unterrichtsentwicklungsprozesse (mit digitalen Medien)

3.Ausgewählte Ergebnisse aus der Begleitforschung

Julia Werner und Christian Spannagel

3.1Erforschung und Weiterentwicklung der Methode Flipped Classroom

3.2Die Projektschulen

3.3Beobachtungsergebnisse

3.4Befragungsergebnisse

3.5Interviewergebnisse

3.6Schlussfolgerungen

3.7Fazit

4.Design Patterns: Erfahrungsrezeptbuch

Julia Werner und Christian Spannagel

4.1Design Patterns für den Einsatz der Flipped Classroom-Methode

4.2Onboarding

4.3Auftragsgemäß

4.4Strategisch

4.5Lösungsvideos

4.6QR-Code

4.7Katerfrühstück

4.8Question & Answer

4.9Prioritätenliste

4.10Entweder … oder …

4.11Teamgeist

4.12Expedition

4.13Selbstbedienung

4.14Und Action!

5.Flipped Classroom mit sofatutor

Stephan Bayer, Marion Doßner und Stefanie Braun

5.1Die Online-Lernplattform sofatutor

5.2Geprüfte Lerninhalte ermöglichen Selbstständigkeit beim Lernen

5.3Dank Schulkooperation zu besserer Anwendbarkeit für Lehrkräfte

5.4Digitale Medien schaffen Freiräume für neuen Unterricht

5.5Unterrichten mit sofatutor: Die häufigsten Einsatzszenarien aus der Praxis

5.6Lernvideos zum Schließen von Wissenslücken

5.7sofatutor-Unterrichtsmaterialien für alle Schulen

5.8Workshops und Unterrichtsbesuche zum Erfahrungsaustausch

5.9Wünsche für die Schulen der Zukunft

Die Praxisberichte

6.Handlungsorientierung durch Scaffolding bei komplexen Lernaufgaben in einem modernen Fremdsprachenunterricht

Dirk Weidmann

6.1Lernaufgaben im Fremdsprachenunterricht

6.2Scaffolding unter Rückgriff auf das Flipped Classroom-Konzept

6.3Vorgehen bei der Erstellung eigener Selbstlernmaterialien

6.4Fazit

7.Der geflippte Fremdsprachenunterricht

Mareike Gloeckner

7.1Die ersten Schritte zu einem geflippten Spanischunterricht

7.2Der Grammatikunterricht wird geflippt

7.3Auch die Rolle der Lehrkraft wird geflippt

7.4Modifizierungen des ersten Flipped Classroom-Konzepts

7.5Zwischenfazit und Ausblick

8.Flipped Classroom im Deutschunterricht unter inklusiven Aspekten

Marcus von Amsberg

8.1Unterrichtsbeispiel

8.2Umsetzung des Flipped Classroom

9.Flipped Classroom im kompetenzorientierten Geschichtsunterricht: Flipped History Class

Josef Buchner

9.1Rahmenbedingungen

9.2Lernziele

9.3Vorbereitung

9.4Durchführung

9.5Nachbereitung und Reflexion

9.6Zusammenfassung und Fazit

10.Die Erarbeitung von Inhalten mithilfe interaktiver Medien am Beispiel des geflippten BwR-Unterrichts

Christian Mayr

10.1Der Flipped Classroom im Fach BwR

10.2Buchhaltung und betriebswirtschaftliches Denken in BwR

10.3Vernetzung und Austausch

11.Weiterentwicklung des eigenen Mathematikunterrichts mit dem Flipped Classroom

Sebastian Schmidt

11.1Mein Flipped Classroom

11.2Eine Unterrichtssequenz

11.3Mathematikdidaktische Begründung für den Flipped Classroom

11.4Veränderte Rolle der Lehrkraft

11.5Aktiv-konstruktiv oder instruktional

11.6Gewinner/innen und »Verlierer«

11.7Vor- und Nachteile

11.8Feedback: Eltern, Schülerinnen und Schüler sowie Öffentlichkeit

11.9Meine Entwicklung

12.Der »180grad-flip.de« im Fach Mathematik in der dritten Runde

Sebastian Stoll

12.1Die Entstehung meines Flipped Classroom

12.2Die Umsetzung des Themas »Stereometrie« im Schuljahr 2016/17

12.3Didaktische Einordnung

12.4Die Förderung aktiv-konstruktiver Tätigkeiten: von Schülern für Schüler

12.5Resümee nach drei Jahren im eigenen Flipped Classroom

13.»Mathematiika« – Flipped Classroom mal anders

Lena Florian und Sebastian Grabow

13.1Mathematiika – Forschen. Lesen. Sehen

13.2Selbstbestimmung – eine didaktische Einordnung

13.3Bewertung, Austausch und Weiterentwicklung

14.Flipped Classroom im naturwissenschaftlichen Unterricht: Didaktische Überlegungen und technische Umsetzung

Wolfgang Dukorn

14.1Flipped Classroom – eine Herausforderung im Chemieunterricht

14.2Beispiele aus dem Chemieunterricht

14.3Didaktische Überlegungen

14.4Was hat sich verändert?

Der Abschluss des Projekts

15.Die Flipped Classroom Convention

Julia Werner

16.Ein exemplarischer Workshop: Flipped Classroom in Betriebswirtschaftslehre mit Rechnungswesen (BwR) und Wirtschaftsinformatik

Andreas Ott

16.1Welche Inhalte eignen sich zum Flippen?

16.2Hinweise zur Erstellung von Videos

16.3Gestaltung des neuen Unterrichts

17.Angewandte Improvisation als Unterstützung im Harvesting von (Lern-)Ergebnissen

Christian F. Freisleben-Teutscher

Die Autorinnen und Autoren

Abstract

Digitalisierung im Unterricht konkret: Ein vielfältiger Flipped Classroom ermöglicht spannende Lernreisen

Der digitale Wandel verändert auch die Schulen und das Lernen – so lautet der nur noch von wenigen hinterfragte Konsens in der Bildungs- und Schulpolitik über alle ideologischen und Ländergrenzen hinweg. Tatsächlich stellen jetzt Schulträger, Kultusministerien und der Bund allmählich die dringend benötigten Mittel für die Entwicklung lernförderlicher IT-Infrastrukturen in den Schulen zur Verfügung.

In den meisten Schulen ist das neue, stärker digital geprägte Lernzeitalter allerdings noch Zukunftsmusik: Dort ist – abgesehen von einigen »Leuchttürmen« mit digital affinen Lehrerkollegien – von der vermeintlichen Bildungsrevolution noch nicht viel angekommen. Das liegt neben fehlender Technik hauptsächlich daran, dass die pädagogischen Konzepte für einen sinnvollen Einsatz digitaler Medien im Unterricht entweder noch nicht vorliegen oder noch nicht breit und selbstverständlich angewendet werden. Auf die pädagogische Praxis kommt es aber an, soll die digitale Bildungsrevolution mehr als Rhetorik sein und den Schülerinnen und Schülern tatsächlich bessere Lernchancen bieten. Ohne Mut zu Innovation und Experimenten wird es nicht gehen, will man ansprechende Konzepte zum digitalen Lernen im Unterricht entwickeln, erproben und in die Fläche bringen.

Ein denkbares Konzept ist der Flipped Classroom, der wie viele digitale Innovationen aus den USA kommt. Die Idee ist bestechend einfach und hat daher bei vielen Lehrkräften auch diesseits des Atlantiks Anklang gefunden. »Flipped« bedeutet, dass die bisherige Unterrichtsroutine umgedreht wird: Videos vermitteln den Schülerinnen und Schülern den Lernstoff außerhalb der eigentlichen Unterrichtszeit, beispielsweise zu Hause, und die Lehrkräfte konzentrieren sich dann im Unterricht darauf, diesen Lernstoff mit den einzelnen Schülern zu vertiefen. So sollen die Kinder und Jugendlichen mehr lernen und besser individuell gefördert werden.

In einem Pilotprojekt, das wir unter wissenschaftlicher Begleitung von Prof. Christian Spannagel und seinem Team an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg mit Schulen in Berlin zwei Jahre erprobt haben, wollten wir herausfinden, ob und wie das Konzept halten kann, was es verspricht. Ohne der Lektüre vorzugreifen: Es wurde eine spannende »Lernreise« für alle Beteiligten! Die oben skizzierte »Reinform« – zu Hause schauen die Schülerinnen und Schüler die Lernvideos, in der Schule vertiefen sie den Stoff – erlebte in der Praxis viele Modifikationen. So gab es überraschende Wendungen, etwa dergestalt, dass Schüler anfingen, selbst Lernvideos zu produzieren, statt die angebotenen, von Dritten erstellten Videos zu nutzen. Auf jeden Fall haben alle Beteiligten neue Einsichten gewonnen, wie Lernen funktioniert und verbessert werden kann.

Das vorliegende Buch berichtet im ersten Teil von den Erfahrungen des Berliner Pilotprojekts und den Erkenntnissen der Begleitforschung. Über Berlin hinaus stellt es aber auch den vielfältigen Einsatz von Flipped Classroom-Ansätzen an anderen Orten vor. Denn mittlerweile gibt es eine immer größer werdende Community von Lehrkräften in Deutschland und überall auf der Welt, die im »umgekehrten Klassenraum« ihre Schülerschaft für das Lernen begeistern wollen. Auf der Flipped Classroom Convention, die wir im Sommer 2017 in Berlin organisiert haben, stellten viele dieser innovativen Praktikerinnen und Praktiker aus Deutschland, Österreich und der Schweiz ihre Arbeit vor. Im zweiten Teil des Buches werden einige dieser Beispiele aus unterschiedlichen Unterrichtsfächern, Schulformen und -stufen präsentiert.

Mit dieser differenzierten Betrachtung des Flipped Classroom-Ansatzes aus den Perspektiven von Schulpraxis und Wissenschaft gelingt es uns hoffentlich, einen Entwicklungsbeitrag für einen zukunftsweisenden Unterricht zu leisten, in dem Kinder und Jugendliche besser individuell gefördert werden. Dabei sollte klar sein: Der »umgedrehte Klassenraum« ist auf keinen Fall ein Allheilmittel für schülerzentrierten Unterricht, und er sollte auch nicht als »digitale Revolution des Unterrichts durch Videos« missverstanden werden. Es gibt keine Unterrichtsmethode, die universal für alle denkbaren Unterrichtssituationen uneingeschränkt geeignet ist – und das gilt natürlich auch für den Flipped Classroom.

Dieser methodische Ansatz gibt Lehrkräften zusätzliche Möglichkeiten an die Hand, ihren Unterricht besser auf die Vielfalt im Klassenzimmer und den einzelnen Schüler, die einzelne Schülerin einzustellen – nicht mehr, und nicht weniger. Wenn eine Lehrperson etwa im Fach Mathematik von einem lehrerzentrierten Unterricht auf den Flipped Classroom umsteigt, ist fachdidaktisch noch nicht viel gewonnen. Das etablierte Muster »Erklären – Üben« bleibt bestehen. Es ist aber Zeit gewonnen, um auf individuelle Fragen einzugehen, gemeinsam zu üben und vertieft zu lernen – daher auch der programmatische Titel dieser Publikation: »Mehr Zeit für deinen Unterricht«. Dieses Mehr an Zeit birgt zudem die Chance, Umdenkprozesse bei der Lehrperson auszulösen, die zu weiteren Schritten der Unterrichtsentwicklung führen – möglicherweise hin zu einem Unterricht mit stärkerer Schülerorientierung und besserer individueller Förderung.

Unser Dank gilt zuallererst unserem Kollegen Christian Ebel, der das Pilotprojekt in Berlin für die Bertelsmann Stiftung mit hoher Motivation und Einsatzbereitschaft begleitet hat. Zu Dank sind wir auch all denjenigen verpflichtet, die Anteil daran haben, dass wir jetzt ein erstes Kompendium zum Flipped Classroom für die deutsche Schullandschaft vorlegen können. Das sind, in der Reihenfolge der Beiträge, Julia Werner und Christian Spannagel von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, Marion Doßner, Stefanie Braun und Stephan Bayer (sofatutor) sowie Dirk Weidmann, Mareike Gloeckner, Marcus von Amsberg, Josef Buchner, Wolfgang Dukorn, Christian Mayr, Lena Florian und Sebastian Grabow, Sebastian Schmidt, Sebastian Stoll, Heiko Rakoczy, Thomas Seidel, Ulrike Fraikin, Kerstin Haase, Andreas Ott und Christian F. Freisleben-Teutscher. Auch Manuela Mohr, Livia Manthey und Janna Spannagel danken wir für ihre Unterstützung im Projekt. Darüber hinaus möchten wir all den Personen (Lehrkräften, Schülerinnen, Schülern und den Schulleitungen) danken, die sich aktiv am Projekt »Flip your class!« beteiligt und uns geholfen haben, die an den Pilotschulen gemachten Erfahrungen zu dokumentieren und anderen zugänglich zu machen. Sie alle haben dazu beigetragen, ein Bild von den Möglichkeiten – aber auch den Herausforderungen und Grenzen – der Flipped Classroom-Methode zu zeichnen.

Ulrich Kober

Programmdirektor

Integration und Bildung

Bertelsmann Stiftung

Dirk Zorn

Senior Project Manager

Integration und Bildung

Bertelsmann Stiftung

1. Flipped Classroom – Zeit für deinen Unterricht

Julia Werner, Christian Ebel, Christian Spannagel und Stephan Bayer

Die Methode Flipped Classroom (auch: Inverted Classroom oder Umgedrehter Unterricht) ist seit einigen Jahren in der Diskussion über moderne Unterrichtsformen, auch unter Nutzung digitaler Medien, sehr präsent. Die Grundidee ist schnell erklärt: In real stattfindendem Unterricht ist der Redeanteil von Lehrerinnen und Lehrern oft übermäßig hoch. Wertvolle Unterrichtszeit, die für Schüleraktivitäten genutzt werden könnte, wird stattdessen für Lehrervorträge oder Lehrererklärungen verwendet. Die Schüleraktivität verlagert sich daher meistens in die Nachbereitung des Unterrichts in Form von Übungsaufgaben, die zu Hause allein gelöst werden sollen. Flipped Classroom dreht dies Prinzip um: Einführungen in ein Thema und Erklärungen der Lehrkraft werden vorverlagert in die Vorbereitung einer Unterrichtsstunde, oft per Video. Die Schülerinnen und Schüler kommen dann vorbereitet in die Unterrichtsstunde, um dort gemeinsam Aufgaben zu lösen und vertiefende Diskussionen zu führen. Die Lehrperson übernimmt dort die Rolle einer Helferin bzw. eines Helfers, der die Schülerinnen und Schüler beim Arbeiten unterstützt und Feedback gibt.

Dieses simple Konzept verspricht einige Vorteile: Bestimmte Lernaktivitäten lassen sich besser allein durchführen – etwa die Einarbeitung in bestimmte Themen –, andere besser zusammen – beispielsweise das Lösen komplexer Aufgaben, die in Gruppen bearbeitet werden oder bei denen man sich gegenseitig helfen könnte. Um komplexe Aufgaben zu lösen, benötigt man aber oft grundlegendes Wissen auf einem Gebiet, in das man sich zumindest ein Stück weit eingefunden haben sollte, bevor man mit der Bearbeitung der Aufgaben beginnt. Flipped Classroom scheint dieser Überlegung gut zu entsprechen: Die Schülerinnen und Schüler arbeiten sich zu Hause in ein Thema ein (z. B. mithilfe von Videos und geeigneter Aufträge), kommen dann in der Unterrichtsstunde zusammen, um dort anhand von gemeinsamen Aufgaben das zu Hause Vorbereitete anzuwenden, zu üben, zu diskutieren oder zu hinterfragen. Dies entspricht einem Wechsel von einem lehrerzentrierten zu einem schülerzentrierten Unterricht. Die gemeinsame Anwesenheit der Schülerinnen und Schüler im Unterricht wird dafür genutzt, wofür gemeinsame Präsenz notwendig ist: für die Zusammenarbeit und die gegenseitige Hilfe und Unterstützung. Dabei ändert sich auch die Rolle der Lehrperson. Sie agiert im Unterricht so, wie man es von einem Coach oder Lernbegleiter erwartet: Sie hilft den Schülerinnen und Schülern bei ihren Aktivitäten, kann sich intensiver mit deren individueller Förderung befassen und gibt persönliche Rückmeldungen.

Das Konzept Flipped Classroom ist eng verwoben mit dem Einsatz digitaler Medien, auch wenn diese nicht unbedingt notwendig sind, um die Methode anzuwenden. Kern des Konzepts ist nicht der Einsatz digitaler Medien, sondern die sinnvolle Nutzung der Präsenzzeit. Flipped Classroom ist ein Präsenzkonzept und keine Online-Lehre oder Ähnliches. Dennoch nutzen viele »flippende« Lehrerinnen und Lehrer digitale Medien: Für die Vorbereitung eignen sich oft Videos gut, weil diese Prozesse besser abbilden können als Texte. In Videos kann man zeigen oder vorführen, wie etwas funktioniert. Darüber hinaus bieten viele Online-Quiz den Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, ihr Verständnis aus der Vorbereitungsphase zu überprüfen, und Online-Kollaborationstools können für die Zusammenarbeit auch schon in der Vorbereitungsphase genutzt werden. Digitale Technologien im Klassenzimmer ermöglichen zudem den Zugriff auf Ressourcen während der Arbeitsphasen und bieten Tools für die kreative Erstellung von Produkten.

Bekannt wurde das Konzept durch das Buch »Flip your classroom« von Bergmann und Sams (2012). Beide Lehrer experimentierten an der Woodland Park High School mit Videos zur Vorbereitung und entwickelten dabei die Methode Flipped Classroom. Parallel dazu gab es ähnliche Entwicklungen im Hochschulbereich, dort zunächst eher unter dem Begriff »Inverted Classroom« (Handke und Sperl: 2012). Traditionell gehaltene Vorlesungen werden als Video für die Vorbereitung zu Hause zur Verfügung gestellt. Studierende kommen dann vorbereitet in die Vorlesung, in der kein Dozentenvortrag mehr gehalten wird, sondern wo gemeinsam diskutiert wird und die Inhalte mit unterschiedlichen Methoden vertieft werden. Der Mehrwert der Methode wird weniger in den Videos, als vielmehr in der anders gestalteten Unterrichtszeit gesehen: »Despite the attention that the videos get the greatest benefit to any flipped classroom is not the videos. It’s the in-class time that every teacher must evaluate and redesign.« (Bergmann und Sams 2012: 47). Seitdem wurde die Methode Flipped Classroom bzw. Inverted Classroom im Schul- wie auch im Hochschulkontext von zahlreichen Lehrenden weiterentwickelt und umfassend diskutiert.

Beim Einsatz ist zu beachten: Keine Methode ist prinzipiell besser als andere Methoden – es kommt immer auf den Kontext an. Dieser wird bestimmt durch die Klassenstufe, das Fach, den Inhalt, die zu erlernenden Kompetenzen, durch die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft der Schülerinnen und Schüler sowie die Methodenpräferenz und Persönlichkeit der Lehrperson, um nur einige wichtige Faktoren zu nennen. Das bedeutet: In einem bestimmten Kontext kann die Methode passen, in einem anderen nicht. Das Ziel dieses Buchs ist somit nicht, Flipped Classroom als Supermethode zu propagieren, sondern die Methode anhand von Beispielen, Erfahrungsberichten und Gestaltungstipps vorzustellen. Ob Sie in Ihrem Unterricht die Methode einsetzen wollen und gegebenenfalls in welchem Kontext, können nur Sie selbst entscheiden. Und diese Entscheidung sollte immer nach der Maßgabe erfolgen, ob die Methode zu dem entsprechenden Zusammenhang passt – nicht danach, ob sie hip, neu oder modern ist.

Darüber hinaus sollten Sie bedenken, dass das Modell »Erklären zu Hause, Üben im Unterricht« nur für einige Inhalte passt. Wenn am Anfang des Lernprozesses keine Erklärung stehen sollte, sondern eine gemeinsame, selbstentdeckende Erarbeitung durch Schülerinnen und Schüler, ist das Modell didaktisch völlig unpassend. Das bedeutet nicht, dass Schülerinnen und Schüler nichts vorbereiten können – vielleicht besteht die Vorbereitung aber nicht im Durcharbeiten eines Videos, sondern in einer anderen vorbereitenden Aufgabe. Doch vielleicht passt die Vorbereitung zu Hause auch überhaupt nicht zu einem bestimmten Inhalt. Das Flippen einer Unterrichtsstunde sollte daher nicht unreflektiert auf alle möglichen Inhalte übertragen werden, sondern es ist immer für die konkreten Unterrichtsinhalte und die dabei zu erlernenden Kompetenzen zu überlegen, ob zu Beginn des Lernprozesses eine Erklärung stehen sollte oder nicht, ob die Schülerinnen und Schüler zu Hause etwas vorbereiten können, und wenn ja wie, und welche Aktivitäten in welcher Reihenfolge mit großer Wahrscheinlichkeit zum angestrebten Lernziel führen.

Flipped Classroom sollte also nicht zu einem starren monomethodischen Vorgehen führen. Doch die Methode kann immer wieder daran erinnern und dazu bewegen, die Vorbereitung einer Stunde systematisch in den Verlauf einer Unterrichtseinheit zu integrieren und die Stunde selbst schülerzentrierter zu gestalten. Diese und ähnliche Überlegungen waren Ausgangspunkt des Projekts »Flip your class!«, das von der Bertelsmann Stiftung, der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und der Firma sofatutor gemeinsam durchgeführt wurde (zur Entstehung des Projekts vgl. Sprung 2017). Ziel war, zusammen mit Lehrerinnen und Lehrern unterschiedlicher Schularten, Schulstufen und Fächer die Methode Flipped Classroom zu erproben, anzupassen, weiterzuentwickeln und dabei Einsatzszenarien und gute Praxisbeispiele herauszuarbeiten. Dabei sollte insbesondere der Aspekt der individuellen Förderung von Schülerinnen und Schülern in den Blick genommen und die Frage untersucht werden, welche Rolle digitale Medien in diesem Kontext spielen können. Diese Publikation stellt den Abschluss des Projekts dar. Zahlreiche Erfahrungen aus dem Projekt – aber auch von flippenden Lehrerinnen und Lehrern außerhalb des Projekts – wurden hier zusammengetragen. Wenn Sie als Lehrerin oder Lehrer die Methode Flipped Classroom einsetzen wollen, können Sie von den Erfahrungen anderer profitieren. Genau diese Funktion soll dieses Buch erfüllen – wir hoffen, dass uns dies gelungen ist.

Im ersten Teil werden das Projekt und seine Ergebnisse näher erläutert. Im Rahmen eines Design-Based-Research-Ansatzes wurde die Methode in mehreren Zyklen in unterschiedlichen Berliner Schulklassen erprobt. Dabei wurden auch Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte intensiv dazu befragt. Über diese Ergebnisse wird im ersten Beitrag berichtet. Darüber hinaus wurden Erfahrungen, die sich über mehrere Iterationen als stabil erwiesen, in Gestaltungsempfehlungen (sog. Design Patterns) verdichtet. Hier lassen sich zahlreiche Anregungen für die Umsetzung des Flipped Classroom finden. Der Projektpartner sofatutor stellt in einem Beitrag die Umsetzungsmöglichkeiten der Methode mit professionell gestalteten Videos vor. Der Abschnitt schließt mit einem Resümee zu den zahlreichen Herausforderungen und Schwierigkeiten, die ein solch groß angelegtes Unterrichts- und Schulentwicklungsprojekt mit sich bringt, und wie mit ihnen umgegangen wurde.

Im zweiten Teil kommen zahlreiche Lehrerinnen und Lehrer mit Berichten aus der Praxis zu Wort, die entweder schon sehr lange oder erst seit Kurzem die Methode in ihrem Unterricht einsetzen, erproben und weiterentwickeln. Dabei wollten wir ein möglichst breites Spektrum an Fächern und Einsatzszenarien abdecken. Auch wenn Flipped Classroom und digitale Medien nicht notwendigerweise zusammengehören, werden beide doch oft zusammen gedacht. Daher beziehen sich viele Erfahrungsberichte in diesem Teil auf den Einsatz digitaler Technologien zu Hause und im Klassenzimmer. Diese Technologien können natürlich auch in anderen Unterrichtssettings eingesetzt werden – somit kann dieser Teil darüber hinaus Anregungen für den Einsatz digitaler Medien im Unterricht generell geben.

Der dritte Teil widmet sich den Ergebnissen der Flipped Classroom Convention im Juni 2017 in Berlin, die gleichzeitig den Höhepunkt und offiziellen Schlusspunkt der Zusammenarbeit im Projekt markierte: Rund 100 Lehrkräfte aus ganz Deutschland und den deutschsprachigen Nachbarländern tauschten sich über ihre Erfahrungen mit der Flipped Classroom-Methode aus, lernten von- und miteinander. Die Veranstaltung wurde im Flipped Classroom-Format durchgeführt: Die Themenpatinnen und -paten stellten vor der Konferenz Videos und Materialien online zur Verfügung, die der Vorbereitung der einzelnen Workshops dienten. Die Convention hat auf diese Weise ermöglicht, Flipped Classroom-Szenarien kennenzulernen und Einsatzmöglichkeiten für den (Fach-)Unterricht zu reflektieren.

Wir hoffen, mit diesem Buch zur weiteren Entwicklung und Diskussion der Methode Flipped Classroom beizutragen, Ihnen zahlreiche Anregungen für die Gestaltung Ihres Unterrichts zu geben und Ihnen vielleicht Mut zu machen, Ihren Unterricht einmal ganz anders zu denken. Weitere Anregungen, Ideen und Diskussionsbeiträge finden Sie online (www.flipyourclass.de) auf der Projektwebsite.

Literatur

Bergmann, Jonathan, und Aaron Sams (2012). Flip your classroom. Reach every student in every class every day. International Society for Technology in Education (ISTE). Eugene, OR.

Handke, Jürgen, und Alexander Sperl (2012). Das Inverted Classroom Model. Begleitband zur ersten deutschen ICM-Konferenz. München.

Sprung, Tina (2017). »Flipped Classroom – Wenn Lehrer ausflippen«. didacta Digital 27.7.2017. www.didacta-digital.de/lernen-lehren/flipped-classroom-wennlehrer-ausflippen (Download 27.4.2018).

2. Der Flipped Classroom als Impuls für Schul- und Unterrichtsentwicklung

Christian Ebel

2.1Das pädagogische Potenzial des Ansatzes

Beim Flipped Classroom im klassischen Sinne werden die zentralen Aktivitäten des Lehrens und Lernens umgekehrt: Die Wissensvermittlung und -aneignung erfolgt unabhängig von Ort und Zeit – beispielsweise zu Hause oder im Ganztag – mithilfe digitaler Medien. Die gemeinsamen Präsenzphasen bzw. der Unterricht können stärker für die Vertiefung, Übung, Anwendung oder Reflexion des Gelernten genutzt werden.

Wird die Wissensvermittlung nach Hause verlagert, bietet das den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, sich die Inhalte selbstbestimmt und im eigenen Tempo mit (digitalen) Lernmaterialien anzueignen. Oft sind dies von der Lehrperson erstellte oder von Bildungsanbietern zu gängigen curricularen Themen produzierte Erklärvideos; es können aber auch Podcasts, schriftliche Unterlagen und weitere Materialien zum Einsatz kommen.

Da im Unterricht kein neuer Stoff vermittelt wird, kann die gewonnene Zeit genutzt werden, um die Schülerinnen und Schüler gezielt zu unterstützen bzw. individuell zu fördern: Zunächst können im Unterricht Fragen, die während der Vorbereitung aufgekommen sind, von der Lehrkraft aufgenommen und vor versammelter Klasse geklärt werden. Anschließend können die Schülerinnen und Schüler die zu Hause erarbeiteten Inhalte möglichst selbstständig einüben und anwenden; die Lehrkraft kann dabei individuell auf Fragen oder Probleme einzelner Kinder oder Jugendlicher eingehen. Darüber hinaus kann die Unterrichtszeit nun zur gemeinsamen Diskussion, Reflexion und interaktiven Vertiefung genutzt werden. Der Flipped Classroom bietet Lehrerinnen und Lehrern somit mehr Möglichkeiten, in heterogenen Lerngruppen individuell auf die Bedürfnisse einzelner Schülerinnen und Schüler einzugehen.

Das Besondere am Flipped Classroom ist demzufolge, dass durch die Auslagerung der Wissensvermittlung im Unterricht mehr Zeit für das Wesentliche bleibt. Um es mit den Worten Aaron Sams‘ zu sagen: »The magic happens in the classroom« (Bergmann und Sams 2012: 47). Damit ist auch gemeint, dass sich mit der Einführung des Flipped Classroom-Ansatzes die Lernkultur im Klassenraum verändern kann – etwa von einem lehrerzentrierten Unterricht mit geringer Selbststeuerung aufseiten der Schülerinnen und Schüler hin zu einem stärker individualisierenden oder kooperativen Unterricht mit wachsenden Anteilen an selbst gesteuertem Lernen. Ein passendes Bild für diese veränderte Lehrerrolle findet sich in einem Fachartikel von Alison King mit dem sprechenden Titel »From Sage on the Stage to Guide on the Side« (King 1993), was etwas weniger poetisch übersetzt werden könnte mit: »Vom Wissensvermittler zum Lernbegleiter«.

Heute, mehr als zwanzig Jahre nach der Veröffentlichung von Kings Artikel, wird die Debatte darüber, was die richtige Lehrerrolle ist, immer noch vehement geführt – und hat im Kampf um die Deutungshoheit über die Ergebnisse der Hattie-Studie (Hattie 2008) neue Nahrung erhalten: Pädagogen, Wissenschaftlerinnen und Bildungspolitiker diskutieren über die Vorzüge traditioneller Lehrmethoden gegenüber konstruktivistischen Unterrichtsansätzen und vice versa. Dabei geht es nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein Sowohl-als-auch. Es bringt nichts, die verschiedenen Grundformen des Unterrichts gegeneinander auszuspielen, stellt Hilbert Meyer mit Blick auf die Unterrichtsentwicklung an deutschen Schulen zu Recht fest und wiederholt sein Credo: »Mischwald ist besser als Monokultur!« (Meyer 2013: 7).

Wenn man den Flipped Classroom-Ansatz in diesem Sinne als Impuls versteht, darüber nachzudenken, wie die Schülerinnen und Schüler in ihrer Heterogenität bestmöglich im Lernen unterstützt werden können, wie dementsprechend der Unterricht in seinen Oberflächen- und Tiefenstrukturen (Köller, Möller und Möller 2013) gestaltet sein sollte und was das für die Lehrerrolle bedeutet, dann wird deutlich, dass es beim Flipped Classroom um ganz fundamentale Dinge geht – und nicht um ein bisschen zusätzliches Online-Lernen mit Videos am Nachmittag.

Diesem Verständnis folgend, haben sich 2014 die Pädagogische Hochschule Heidelberg, die Bertelsmann Stiftung und die Online-Lernplattform sofatutor.com als Kooperationspartner im Pilotprojekt »Flip your class!« zusammengetan, um gemeinsam mit Schulen im Berliner Raum Flipped Classroom-Szenarien als Beitrag zur Unterrichtsentwicklung zu erproben.

2.2Ziele des Projekts »Flip your class!« – der Unterricht im Fokus

Für das Pilotprojekt konnten zunächst drei ganz unterschiedliche Berliner Schulen gewonnen werden, die bereit waren, sich in der dreijährigen Projektlaufzeit mit diversen Szenarien des Flipped Classroom-Ansatzes innerhalb ihrer Rahmenbedingungen und bestehenden Lernkonzepte zu beschäftigen. In der zweiten Hälfte des Projekts kamen dann zwei weitere Schulen hinzu. Die Bandbreite der Schulen sollte einen umfassenden Einblick ermöglichen in die Umsetzung des Ansatzes in der Primarstufe sowie in der Mittel- und Oberstufe und über zahlreiche Fächer hinweg.

Ziel des Projekts war, den Flipped Classroom-Ansatz an die spezifischen Bedürfnisse der Schulen und deren Lehrkräfte anzupassen und verschiedene Wege der Ausgestaltung im Unterricht zu finden. Von besonderem Interesse war dabei die Frage, ob und inwiefern der Ansatz zur stärkeren Schülerorientierung und individuellen Förderung beitragen kann. Ein Bestandteil der Erprobung sollten dabei auch Erklärvideos als Lernmedium sein. Allerdings sollten sie und auch die Grundidee des Ansatzes flexibel in bestehende Strukturen des Unterrichts eingebettet werden – nicht als Selbstzweck, sondern wo es aus didaktisch-methodischen Erwägungen passte.

Die operationalisierten Projektziele:

•An den drei Projektschulen sollen Lehrkräfte den Flipped Classroom-Ansatz in der Praxis (d. h. im Fachunterricht, in Lernbüros, im Ganztag, zu Hause …) erproben und dadurch ihr professionelles Handlungswissen erweitern.

•In einem Unterricht, in dem Flipped Classroom-Elemente zum Tragen kommen, soll sich auch für die Schülerinnen und Schüler spürbar etwas verändern: Der Unterricht soll stärker auf ihre individuellen Bedürfnisse, ihr Vorwissen und ihre Lernentwicklung eingehen. Dazu lernen sie im Projekt individuell, selbst gesteuert und auch gemeinsam mit anderen unter Zuhilfenahme verschiedener Medien und Lernmaterialien.

•Um den Schülerinnen und Schülern passende Lernarrangements anbieten zu können, konzipieren Lehrkräfte einzelne Unterrichtsstunden, Unterrichtseinheiten oder das Curriculum für Schul(halb)jahre, bei denen Flipped Classroom-Elemente gezielt eingesetzt werden.

•Die Entwicklung von Unterrichtseinheiten soll optimalerweise im Team (Fachteams, Jahrgangsteams …) erfolgen, sodass das Projekt einen Beitrag zur Unterrichtsentwicklung an der jeweiligen Schule leisten kann.

Damit wird deutlich, dass das Projekt zunächst von Prozessen der Unterrichtsentwicklung ausging: Gemeinsam mit den Projektpartnern entwickelten Lehrerinnen und Lehrer einzeln oder in Teams in ihren spezifischen Zusammenhängen und mit ihrer fachlichen, fachdidaktischen und pädagogischen Kompetenz Unterrichtskonzepte. Diese wurden im Verlauf des Projekts erprobt und auf Basis reflektierter Erfahrungen weiterentwickelt. Diese Prozesse unterstützten die am Projekt beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg durch theoretische und empirische Zuarbeit. Die Ergebnisse aus der Begleitforschung und die aus der Arbeit mit den Schulen abgeleiteten Design Patterns werden in den Kapiteln 3 und 4 vorgestellt.

In diesem Beitrag soll es dementsprechend nicht um die fachlichen Inhalte und Ergebnisse der Umsetzung des Flipped Classroom-Ansatzes gehen, sondern um die Reflexion der Prozesse an den Schulen und um Gelingensbedingungen für Schul- und Unterrichtsentwicklung im Allgemeinen.

2.3Ein Blick auf Schule als Ganzes – systemische Schulentwicklung

Im Projekt wurde davon ausgegangen, dass Schulentwicklung mit Unterrichtsentwicklung beginnt. Nach Hans-Günter Rolff sind die Initiativen, die von Lehrerinnen und Lehrern in konkreten Unterrichtskontexten ausgehen, »die plausibelsten Einstiege in pädagogische Schulentwicklungsprozesse. Sie setzen unmittelbar am Arbeitsalltag der Lehrpersonen an« (Rolff 2000: 5).

Gleichwohl kann die Unterrichtsentwicklung nicht völlig losgelöst von den anderen Handlungsfeldern von Schulentwicklung betrachtet werden, also der Personal- und Organisationsentwicklung sowie den spezifischen Kontextbedingungen der Einzelschule. Maßnahmen in einem Bereich wirken sich auch in einem anderen Bereich aus. Rolff (2010: 35) fasst dies in einem Satz zusammen: »Keine UE ohne OE und PE, keine OE ohne PE, keine PE ohne OE und UE.«

Abbildung 1: Handlungsfelder von Schulentwicklung

Quelle: angelehnt an Rolff et al. 2000, eigene Darstellung

Schulentwicklung ist demgemäß zu verstehen als ein komplexer, langfristiger Prozess, in dem Schulen als Einrichtungen ihre Arbeit zum Gegenstand ihrer Reflexion machen – mit dem Ziel, diese Arbeit besser auf die Anforderungen der Akteure auszurichten.

Auch wenn es Interdependenzen zwischen den einzelnen Handlungsfeldern von Schulentwicklung gibt und im Folgenden versucht wird, diese aufzuzeigen und zu beschreiben, muss doch noch einmal deutlich hervorgehoben werden, was der Anspruch des Pilotprojekts und der Kooperationspartner ist und war: Es ging darum, den Ansatz Flipped Classroom zu erproben und auf einzelne Unterrichtsszenarien zu fokussieren. Die Möglichkeiten der Methode sollten exemplarisch aufgezeigt werden, ohne dabei die Implementierung auf Systemebene anzustreben und die damit zusammenhängenden Fragen von Schulentwicklung zu berücksichtigen. Es ging in dieser ersten Projektphase also noch nicht darum, Nachhaltigkeit in dem Sinne sicherzustellen, dass

•der Ansatz den überwiegenden Teil der Kolleginnen und Kollegen einer Schule erreicht hat,

•eine Verbindlichkeit vorliegt, die in Vereinbarungen, Verantwortlichkeiten, Strukturen und Prozessen sichtbar wird, und

•die Schule Wege gefunden hat, ihre Ansätze und Lösungen zu reflektieren und weiterzuentwickeln (Schnoor 1997).

Die nachhaltige Implementierung auf Systemebene und die damit zusammenhängenden Fragen von Schulentwicklung können jedoch in einem Folgeprojekt angegangen werden, wenn die Schulen bereit sind, dem Flipped Classroom-Ansatz (oder allgemeiner: der Medienintegration zum Zwecke besserer individueller Förderung) einen entsprechenden Stellenwert einzuräumen.

2.3.1Unterrichtsentwicklung

»Unter Unterrichtsentwicklung werden alle Aktivitäten und Initiativen verstanden, die sich auf Verbesserung des eigenen Unterrichts und des dafür notwendigen professionellen Wissens und Könnens beziehen« (Helmke 2010: 305).

Das Berliner Pilotprojekt »Flip your class!« ist gemäß dieser Definition als Unterrichtsentwicklungsprojekt angelegt, das heißt, es standen primär unterrichtliche Fragestellungen im Zentrum. Wie kann der Flipped Classroom-Ansatz einen Beitrag zur individuellen Förderung leisten? Können damit leistungsschwächere und leistungsstärkere Schülerinnen und Schüler gleichermaßen gefördert werden? Welche digitalen Medien sollen zur Vorbereitung eingesetzt werden? Wo findet man diese Medien oder wie erstellt man sie selbst? Welche Aufgabenstellung sollte die Vorbereitung anleiten? In welchen Phasen des Lernprozesses sind diese Medien sinnvoll? Wie geht man damit um, wenn Schülerinnen und Schüler sich nicht mit den digitalen Materialien befasst haben?

Im Projekt wurden Unterrichtskonzepte zur Methode Flipped Classroom erstellt und im Rahmen eines Design-Based-Research-Ansatzes erprobt und untersucht. An jeder der folgenden drei Berliner Schulen wird Unterricht entsprechend geplant, umgesetzt, dokumentiert und reflektiert:

Gebrüder-Montgolfier-Gymnasium: Am Gebrüder-Montgolfier-Gymnasium beteiligte sich eine Gruppe aus Lehrkräften unterschiedlicher Fachbereiche der Mittel- und Oberstufe am Projekt. In Fachtandems wurden Unterrichtseinheiten geplant, in die Flipped Classroom-Phasen integriert wurden. Bereits im Schuljahr 2013/14 wurde eine solche Unterrichtseinheit zum Thema »Evolution« konzipiert und durchgeführt. Neben Biologie wurde in Chemie und Mathematik in verschiedenen Jahrgangsstufen nach dem Flipped Classroom-Ansatz unterrichtet. Während der Projektlaufzeit konnte von der klassischen Flipped Classroom-Stunde bis hin zur Integration von digitalen Materialien in die Prüfungsvorbereitung oder in das Ganztagsprogramm eine Vielfalt von Umsetzungsszenarien beobachtet werden.

Herman-Nohl-Schule: In der Herman-Nohl-Schule bildeten Lehrkräfte der 5. und 6. Klassen ein Projektteam und entwickelten für die Fächer Deutsch, Englisch und Mathematik Unterrichtskonzepte, in denen digitale Medien zum Einsatz kamen. Als Grundschule konnte die Herman-Nohl-Schule hier interessante Erkenntnisse vor allem hinsichtlich der Heranführung junger Schülerinnen und Schüler an individuelles und selbstständiges Erarbeiten von Themen sowie an die Nutzung von und den kompetenten Umgang mit digitalen Lernmaterialien direkt im Unterricht liefern. Zu Beginn des Schuljahrs 2015/16 wurde eine AG Digitales Lernen eingeführt, in der Kinder die Möglichkeit hatten, selbstständig mit Videos zu arbeiten. Im letzten Projektjahr wurde überlegt, statt des klassischen Flipped Classroom Unterrichtsvideos in der Stationsarbeit einzusetzen. Darüber hinaus wurden Schülervideos für den Unterricht konzipiert und produziert.

Evangelische Schule Berlin Zentrum (ESBZ): An der ESBZ gingen die beteiligten Lehrkräfte unter anderem der Frage nach, wie digitale Videos zur weiteren Individualisierung der Lernprozesse in die vorhandenen Lernbausteine der Lernbüros eingebunden werden können. Die Gemeinschaftsschule mit einer Jahrgangsmischung der Klassen 7 bis 9 bietet Lernbüros in den Fächern Deutsch, Mathematik, Englisch, Natur und Gesellschaft an, in denen Schülerinnen und Schüler Themen selbstständig erarbeiten. Der digitale Baustein für das Lernbüro Mathematik konnte im Herbst 2015 für einen Testdurchlauf fertiggestellt werden. Im Februar und März bearbeiteten die ersten Kinder und Jugendlichen aller drei Lernbüros den Baustein. Die Bearbeitung wurde in regelmäßigen Abständen beobachtet, Überarbeitungen wurden dokumentiert und umgesetzt und die teilnehmenden Schülerinnen und Schüler wurden zum Baustein befragt.

Ende 2015, Anfang 2016 wurde das Projekt für interessierte Schulen aus dem Berliner Raum geöffnet. Hinzu kamen zunächst zwei Schulen; eine dritte Schule konnte in der verbleibenden Projektlaufzeit keine eigenen Unterrichtsvorhaben mehr nach der Flipped Classroom-Methode durchführen.

Maria-Montessori-Grundschule: Der Kontakt zur Maria-Montessori-Grundschule entstand durch den Medienbeauftragten Thomas Seidel. Er hatte auf dem Bar- und Educamp Anfang September 2015 eine Session zum Projekt »Flip your class!« besucht und sich spontan für eine Teilnahme interessiert. Mitte Dezember 2015 wurde das Projekt an der Grundschule den interessierten Lehrkräften und der Schulleiterin vorgestellt. Im Februar 2016 fand der schulübergreifende Projektworkshop in den Räumen der Schule statt. Einige Lehrerinnen entschieden sich, zum darauffolgenden Schuljahr aktiv in das Projekt einzusteigen. Im Herbst 2016 wurde dann in den Fächern Mathematik und Naturwissenschaften mit Flipped Classroom-Stunden und -Lernstationen begonnen. Mit Thomas Seidel wurde im Verlauf des Projekts noch ein qualitatives Interview geführt.

Anna-Freud-Schule: Die Anna-Freud-Schule ist ein Oberstufenzentrum für Sozialwesen mit den Schwerpunkten Psychologie, Pädagogik, Sozialwesen, Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern sowie Sozialwissenschaften. Aus der Abteilung Gymnasiale Oberstufe beteiligte sich seit Anfang 2016 eine Lehrerin am Projekt »Flip your class!«: Mit Mareike Landeck konnte eine engagierte Lehrerin für Englisch und Spanisch für das Projekt gewonnen werden, die bereits Erfahrungen mit der Flipped Classroom-Methode gemacht hatte und diese auch oft in ihrem Unterricht einsetzte (vgl. Kapitel 7). Im Verlauf des Projekts fanden zwei Unterrichtsbesuche im Spanischkurs sowie ein Besuch im Englisch-Leistungskurs statt. Bei diesen Besuchen wurden die Schülerinnen und Schüler schriftlich zur Methode befragt und mit Mareike Landeck wurde ein qualitatives Interview geführt.

Heinrich-von-Stephan-Gemeinschaftsschule: An der reformpädagogischen Heinrich-von-Stephan-Gemeinschaftsschule fand 2015 die excitingEdu-Tagung statt. Drei junge Lehrerinnen und Lehrer der Schule wurden Anfang 2016 auf das Projekt aufmerksam und nahmen auch an den schulübergreifenden Projekttreffen teil. Der Wunsch der drei Lehrkräfte, ab dem Schuljahr 2016/17 vermehrt Lernvideos in ihren Unterricht einzubinden, insbesondere an Lernstationen, konnte im Pilotprojekt aber nicht mehr umgesetzt bzw. wissenschaftlich begleitet und ausgewertet werden.

2.3.1.1 Strategie der Unterrichtsentwicklung

Wenn man beim Projekt »Flip your class!« überhaupt von einer Strategie der Unterrichtsentwicklung reden kann, dann handelte es sich am ehesten um eine Mischform etablierter Strategien: Sie war durch den Fokus auf den Flipped Classroom gewissermaßen methodenorientiert (Klippert 2000), in Teilen reflexiv, wenn auch nicht mit dem Gesamtkollegium (Horster und Rolff 2006), berücksichtigte durch die wissenschaftliche Begleitung auch Schülerrückmeldungen (Combe, Bastian und Langer 2005), war immer fachbezogen (wie beispielsweise das Modellversuchsprogramm SINUS oder das Projekt PIKAS) und fand zumindest temporär in professionellen Lerngemeinschaften statt (Bonsen 2011), die durch die schulübergreifenden Treffen der Pilotschulen sogar über den Kontext des eigenen Systems hinausreichten.

Die Aufmerksamkeit bei der Unterrichtsentwicklung im Projekt richtete sich weniger auf die Organisation (im Sinne von Standards für den Unterricht an den Projektschulen), sondern eher auf die Erweiterung des Wissens, der Fähigkeiten und des Handlungsrepertoires von Lehrkräften zur Inszenierung von Lehr-Lern-Prozessen, auch unter Berücksichtigung fachdidaktischer Fragestellungen.

Generell zeigte sich an allen Pilotschulen, dass die Schul- und Unterrichtsentwicklung im Projektkontext durch die spezifische Organisation von Lehrerarbeit erschwert wurde: Im Arbeitsalltag blieb nur wenig Zeit für den Austausch mit anderen Lehrkräften; gemeinsame Planungs- und Reflexionszeit jenseits fest etablierter Formate (z. B. Fachkonferenzen) gab es so gut wie gar nicht. Die Abgeschiedenheit der Lehrerarbeit im Klassenzimmer, verbunden mit der pädagogischen Autonomie, führte dazu, dass Lehrkräfte neue Formen des Lernens wie beispielsweise Flipped Classroom-Szenarien umsetzten oder eben auch nicht – und sich dafür in der Regel nicht vor anderen rechtfertigen mussten. Hinzu kam, dass bestehende individuelle Unterrichtsskripte (scripts) und Überzeugungen (beliefs) von Lehrkräften und Kollegien sich als sehr stabil erwiesen – deren Veränderung ist nur langfristig in kooperativer und forschungsorientierter Auseinandersetzung mit der eigenen Praxis möglich. Dies ist kein Problem allein der Projektschulen, sondern von Schule allgemein.

Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Projektbegleitung werden in Kapitel 3 ausführlicher erläutert. An dieser Stelle sollen lediglich einige Erkenntnisse unter dem Aspekt »Unterrichtsentwicklung« vorgestellt werden, die sich aus Rückmeldungen beteiligter Lehrkräfte ableiten lassen:

•Der Flipped Classroom-Ansatz kann ein Beitrag zur Methoden- und Medienvielfalt sein. Es handelt sich aber nicht um eine Methode, die in jedem Fach, in jeder Jahrgangsstufe und in jeder Unterrichtsstunde sinnvoll ist. Der Einsatz sollte gezielt und fachdidaktisch begründet erfolgen – und nicht als durchgängiges Unterrichtskonzept missverstanden werden.

•Wenn die Wissensvermittlung ausgelagert wird, kann die Unterrichtszeit intensiver für die individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler sowie für eigenverantwortliches Lernen genutzt werden.

•Durch den Flipped Classroom mehr Zeit für den Unterricht zur Verfügung zu haben, bedeutet allerdings nicht, dass diese automatisch anders oder schülerzentrierter als zuvor gestaltet wird. Nicht immer wissen Lehrkräfte, wie sie mit der gewonnenen Zeit anders umgehen sollen, oder sie bleiben bei etablierten Unterrichtsskripten.

•Lernstrategien müssen gezielt vermittelt werden, auch der Umgang mit Lernvideos. Sonst profitieren eher die leistungsstärkeren Schülerinnen und Schüler von der Methode.

•Rückmeldungen von verschiedenen Lehrkräften im Projekt deuten darauf hin, dass sich durch den Flipped Classroom keine signifikanten Verbesserungen der Schülerleistungen ergeben. Je nach Alter, Vorkenntnissen, Leistungsbereitschaft und vorhandenen Lernstrategien kann sich der Einsatz der Methode positiv oder auch negativ auswirken (vgl. Kapitel 3).