Flo und der gestohlene Herzstein - Michael Frantze - E-Book

Flo und der gestohlene Herzstein E-Book

Michael Frantze

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Beschreibung

Hast du je eine Fee gesehen? Wahrscheinlich nicht. Denn Feen existieren nur für diejenigen, die an sie glauben. Flo ist eine neugierige Fee, entschlossen das Geheimnis hinter dem gestohlenen Herzstein zu enthüllen. Während ihrer fesselnden Reise offenbart sich ihr nicht nur die faszinierende Welt der Menschen, sondern auch die erstaunliche Gesellschaft der technikbegeisterten Kobolde. Zwischen Magie und Maschinen, Freundschaft und Gefahr, erwartet Flo ein Abenteuer, das ihre Vorstellungskraft übersteigt. Wird sie es schaffen, den gestohlenen Herzstein zurückzubringen und das Gleichgewicht zwischen den Welten zu bewahren? Tauche ein in eine Welt voller Magie und Technologie, in der Vertrauen und Freundschaft die stärksten Kräfte sind.

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Seitenzahl: 253

Veröffentlichungsjahr: 2024

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MICHAEL FRANTZE

FLO UND DER

GESTOHLENE HERZSTEIN

Roman

IMPRESSUM

Veröffentlicht Juni 2024

Texte

© Copyright by Michael Frantze

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise.

Umschlaggestaltung

Elettra Cudignotto

Autor

Michael Frantze

An der alten Tuchfabrik 3, 52078 Aachen

Druck

epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Für Romy und Anna,

mögen eure Träume euch stets Flügel verleihen.

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL 1: DER HERZSTEIN

KAPITEL 2: DICHTUNG UND WAHRHEIT

KAPITEL 3: BEGEGNUNGEN

KAPITEL 4: EINE ANDERE WELT

KAPITEL 5: SIEG UND NIEDERLAGE

KAPITEL 6: DIE FLUCHT

KAPITEL 7: REISENDE DER NACHT

KAPITEL 8: DER SCHLEIER DES BÖSEN

KAPITEL 9: HELDEN BIS IN ALLE EWIGKEIT

KAPITEL 10:MEISTER DER TECHNIK

KAPITEL 11: AUF SPURENSUCHE

KAPITEL 12: KLOPFGERÄUSCHE

KAPITEL 13: ENTHÜLLUNGEN IM DUNKEL

KAPITEL 14: ZU VIELE GEHEIMNISSE

KAPITEL 15: ALTE BEKANNTE

KAPITEL 16: WO ALLES BEGANN

KAPITEL 17: SPIEL MIT DEM FEUER

KAPITEL 18: DER GEIST IN DER MASCHINE

KAPITEL 19: VON ANGESICHT ZU ANGESICHT

KAPITEL 20: LÜGEN HABEN KURZE BEINE

KAPITEL 21:HELDEN IM FEENREICH

ÜBER DEN AUTOR

KAPITEL 1

DER HERZSTEIN

In der Finsternis der Nacht, als der Mond sein blasses Licht wie einen scheuen Kuss auf die Welt hauchte, lag ein Raum in tiefem Schweigen gehüllt. In diesem stillen Refugium fand sich eine außergewöhnliche Erfindung – eine Traummaschine. Ein Meisterwerk der Technik, entsprungen dem Geist eines begabten Erfinders, mit dem Versprechen, den Menschen unvergessliche Abenteuer in den Gefilden des Schlafes zu bescheren.

In genau dieser sternenklaren Nacht, als die Bewohner des Dorfes tief in ihren Federn lagen, geschah etwas, das sich nicht alle Tage ereignete. Eine kleine, geheimnisvolle Gestalt stieß die knarrende Tür auf und betrat den Raum. Im fahlen Mondlicht, das durchs Fenster fiel, zeichnete sich ihr Gesicht deutlich ab. Es war ein Kobold, mit frecher roter Nase und flinken Augen. Sein Ziel: Magie stehlen!

Lautlos und flink huschte er durch den Raum, ein Schatten auf Zehenspitzen. Man hätte meinen können, die Luft selbst halte den Atem an, um ihn nicht zu verraten.

Das Knarren des Holzbodens war seine alleinige Begleitung, als er schließlich die Traummaschine erreichte. Sie bestand aus einem zierlichen Gehäuse, verziert mit funkelnden Kristallen. In ihrem Inneren barg eine komplexe Konstruktion aus winzigen Zahnrädern und federleichten Federn. Angetrieben wurde dieses technische Wunderwerk von einem besonderen Quellwasser, das die Energie der Fantasie und der Träume nährte.

Der Kobold musterte die sonderbare Maschine vor ihm mit einem verschmitzten Grinsen. In seinen flinken Fingern fuhr ein prickelndes Verlangen nach Macht. Mit einem beherzten Sprung landete er auf dem Gerät, bereit, die Kontrolle über die Träume der Menschheit zu übernehmen und seine wildesten Fantasien in ihre schlafenden Köpfe zu pflanzen.

Unheimliche Geräusche drangen aus ihrem Inneren, und bunte Funken sprühten wie glühende Glühwürmchen um sie herum. Doch plötzlich fiel sein Blick auf einen glitzernden Kristall, der im Gehäuse eingebettet war. Es war der Herzstein, der das Zentrum der magischen Energie der Traummaschine bildete.

Kaum war der funkelnde Stein verschwunden, durchzuckte ein Zittern die Traummaschine. Als wäre ihr magisches Herz herausgerissen worden. Ohne den Kristall, der ihr als Energiequelle diente, sah sie einem trostlosen Dasein als nutzloses Gerät entgegen. Ihre eigene, sonderbare Art des Protests: ein ohrenbetäubendes Ächzen und Quietschen, das durch den Raum hallte.

Schließlich verstummte die Maschine mit einem tiefen, mechanischen Seufzer. Die Funken, die zuvor wie wilde Glühwürmchen um sie herumgetanzt hatten, erloschen, und der Raum, der kurz zuvor in einem surrealen Licht gebadet war, tauchte zurück in die Stille der gewöhnlichen Realität.

In einem Überschwall aus purem Frohsinn, befeuert durch den Triumph seines gelungenen Streichs, sprang der Kobold aus dem Raum und tauchte in die nebligen Tiefen der Nacht ein.

WUMS! Ein dröhnender Paukenschlag erschütterte die Tür, gefolgt von einer Stimme, die kraftvoll und selbstbewusst klang. Die Tür schwang auf, und herein stolperte eine Hauselfe. Mit einem entschlossenen Ruck schaltete sie das Licht ein.

Mit einem Seufzer und einem müden Stöhnen fuhr sie sich mit der Hand über das Gesicht. Kurz flackerte der Wunsch auf, ins Reich der Träume zurückzukehren, doch Elara, die Urheberin des morgendlichen Übels, besaß die unheimliche Fähigkeit, jeglichen Widerstand im Keim zu ersticken. Ihr blieb deshalb gar nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Aufstehen, kurz mit kaltem Quellwasser erfrischen, Zähne putzen und ein neuer Tag hatte begonnen.

Während Elara den Raum verließ, rieb sich Flo den Schlaf aus den Augen, gähnte herzhaft und streckte sich genüsslich, als würde sie versuchen, die letzten Reste der Nacht aus ihren Knochen zu schütteln.

Die Uhr tickte unaufhörlich, und Flos Magen knurrte ihr ein dringliches ›Frühstück!‹ entgegen. In Windeseile huschte sie durch ihr Zimmer, sammelte ihre Sachen ein und machte sich auf den Weg zum Frühstückssaal. Mit jedem Flügelschlag nahm sie Fahrt auf, ihr Haar tanzte wild im Luftstrom, während sie sich durch ein Labyrinth aus Zweigen und Blumenranken wand. Sie kannte jeden Winkel und jede Abzweigung.

Mit einem eleganten Schwung flog sie an der großen Bibliothek vorbei und erreichte schließlich die Westseite des majestätischen Feenbaums. Überall traf sie auf andere Feen, die in verschiedene Richtungen eilten.

Die Gänge weiteten sich zu großzügigen Hallen, die Luft roch nach Frühling und Abenteuerlust, während Flo tiefer in den Bauch des Feenbaums vordrang. Ab und zu kicherten neckische Laute aus den Wänden, gefolgt vom Trippeln winziger Füße.

Unbeeindruckt schwirrte Flo weiter und stieß bald auf eine Gruppe von Kobolden. Diese kleinen, schelmischen Kerle mit spitzen Ohren und schlichter Kleidung wirkten trotz ihrer geringen Größe erstaunlich kräftig. Ihre muskulösen Arme und Schultern sahen aus, als könnten sie problemlos einen Amboss stemmen. Doch das Beeindruckendste waren ihre Augen: Sie funkelten wie frisch polierte Goldmünzen.

Flo kannte die Kobolde wie ihre Westentasche. Mal mürrisch, mal ausgelassen, waren sie vor allem eines: Meister des Schabernacks.

Ihre Streiche waren legendär, vom harmlosen ›In-die-Irre-Führen‹ bis hin zu absurden Erfindungen, die selbst den schlauesten Magiern Kopfschütteln entlockten.

Mit flinken Flügelschlägen setzte Flo ihren Weg zum Frühstückssaal fort. Und obwohl sie sich im Feenbaum sehr gut auskannte, ahnte Flo, dass noch Geheimnisse in seinen knorrigen Ästen schlummerten und Abenteuer auf sie warteten.. Schließlich war ihr Zuhause kein irdisches Bauwerk, sondern eine majestätische Eiche, die wie eine Königin auf einer Lichtung thronte. Im Windhauch wiegte sich das Laub wie ein sanftes Meer. Von außen wirkte der Baum unscheinbar, doch in seinem Inneren verbarg sich ein magisches Labyrinth.

Im Laufe der Zeit hatte der Feenbaum, vom Wurzelwerk bis zum Blätterdach, verschiedene Renovierungen und Modernisierungen über sich ergehen lassen müssen. Seine Korridore präsentierten sich als harmonische Verschmelzung natürlicher Elemente mit zauberhaften Details. Sanft geschwungene Holzwände, verziert mit Moos, Flechten und winzigen Blumen, säumten den Weg. Hin und wieder gewährten kleine Fensteröffnungen Einblicke in den umliegenden Wald. In seinem Inneren barg der Baum ein Labyrinth aus geräumigen Kammern und offenen Räumen, so zahlreich, dass selbst der gewiefteste Mathematiker an ihrer Zählung verzweifelt wäre.

Flo war keine gewöhnliche Fee. Statt auf Blumen zu tanzen und glitzernden Feenstaub zu verstreuen, war sie von unbändiger Neugier und Abenteuerlust getrieben. Die verwinkelten Korridore und Treppen, die sich durch den uralten Feenbaum schlängelten, waren ihr Tummelplatz.

Jeder Pfad, jede Biegung versprach neue Entdeckungen, verlockte sie, die geheimnisvollen Seiten des Baumriesen zu erkunden. Und Flo wurde nicht enttäuscht. Ihre Erkundungen führten sie zu Orten, von denen andere Feen nur träumten: ein vergessener Ballsaal, wo einst rauschende Feste gefeiert wurden, ein verstaubtes Labor, in dem magische Experimente stattfanden, und eine riesige Bibliothek, die die Weisheit der Feen und die Geheimnisse ihrer Magie bewahrte.

Die Bibliothek war ihr Königreich, und sie verbrachte viele Stunden damit, zwischen den Regalen hin- und herzulaufen, auf der Suche nach aufregenden Geschichten und geheimnisvollen Rätseln. Mit diesem Wissen erforschte Flo die Welt des Feenbaums.

Die Zeit drängte. Flo eilte in den Frühstückssaal und drückte die Tür auf. Ein verlockender Duft strömte ihr entgegen, prickelnd für die Nase und gleichzeitig den Magen verlockend: eine Mischung aus Minze, Lavendel und Kamille. Ein Potpourri, das selbst den grimmigsten Morgenmuffel in Frühlingsstimmung versetzen konnte.

Der Saal selbst war in das warme, bernsteinfarbene Licht mehrerer Kerzenlampen getaucht, die auf Kamin- und Fenstersimsen ruhten. Er wirkte geräumig, mit Holzvertäfelungen und zahlreichen Statuen und Gemälden zur Dekoration. Dazwischen rankten sich prächtige Blumen in allen Farben des Regenbogens.

Inmitten des Saals stand ein großer, runder Tisch, der mit zarten Blütenblättern bedeckt war. Diese sahen aus wie ein farbenfroher Teppich, auf dem sich kleine Kristallvasen tummelten, gefüllt mit duftenden Blumen, die den Raum mit ihrem süßen Aroma betönten.

Beim ersten Blick schien es, als sei niemand da. Doch dann erschien Elara hinter einer Säule, die mit filigranen Ranken aus grünen Blättern und zarten Blüten verziert war.

»Komm rein, du kannst doch nicht den ganzen Tag auf der Schwelle herumstehen!«

Elara trug ein dunkelblaues Kleid und darüber eine graue Schürze, die mit einer Schleife auf dem Rücken gebunden war. Niemand kannte ihr genaues Alter, aber sie musste uralt sein, obwohl sie nicht diesen Eindruck machte. Ihre großen Augen, die wie zwei funkelnde Sterne in ihrem zarten Gesicht strahlten, spiegelten tiefe Weisheit und unermüdliche Güte wider. Es waren die Augen von jemandem, dem man vertrauen konnte.

»Du bist spät dran, Flo! Falls du es vergessen hast - Schule ist angesagt«, ermahnte sie Flo, begleitet von einem ernsten Blick. Doch Flo nahm ihre Worte kaum wahr, denn ihre Gedanken schweiften bereits in ferne Gefilde. In ihr brodelte die Sehnsucht nach Abenteuern und dem Ungewöhnlichen, das ihrem Leben den nötigen Pfiff verleihen sollte.

Plötzlich verspürte Flo eine zarte Berührung auf ihrer Schulter.

»Flo, höchste Zeit für die Schule!«, erklang Elaras Stimme, durchzogen von einem unterdrückten Lächeln. »Aber komm erst mal mit in die Küche, eine Tasse dampfender Minztee vertreibt jeden Morgennebel.«

Das brauchte sie nicht zweimal sagen. Flo liebte Minztee und setzte sich an den gedeckten Tisch, während Elara in die Teeküche ging.

Die Wände dort waren mit wunderschön bemalten Fliesen verziert, die kleine Szenen aus dem Feenwald zeigten – tanzende Blumen, fliegende Schmetterlinge und fröhliche Feen. Auf einem Holztisch stand eine Auswahl von duftenden Teedosen. Jede Dose war mit einem anderen Symbol verziert – eine Beere, eine Blume oder ein Baum. Hier fanden sich alle Zutaten für köstliche Teemischungen der Feen. Es gab auch kleine Schalen mit getrockneten Beeren, Nüssen und zarten Blütenblättern, die als Zugaben für den Tee dienten. Neben den Teedosen standen Tassen und Teekännchen.

Elara holte zwei Tassen aus einem Schrank und öffnete eine Teedose mit Minzblättern. Anschließend legte sie einige Blätter in jede Tasse, übergoss sie mit heißem Wasser und reichte Flo ihren Tee.

Flo nahm einen kleinen Schluck. Sofort spürte sie, wie sich ein wohliges Kribbeln durch ihren Körper ausbreitete. Sie schloss ihre Augen und ließ den Geschmack auf ihrer Zunge tanzen. Es war, als würde sie den Hauch des Feenwaldes einfangen. Flo nippte weiterhin genüsslich an ihrem Tee. »Oh, das ist wahrlich ein wundervoller Tee, liebe Elara! Ich kann die Minze auf auf meiner Zunge spüren.«

In wohligem Schweigen saßen die beiden beieinander, nippten an ihren Tassen und genossen den Tee. Flo kannte Elara seit Kindesbeinen. Für sie war Elara mehr als nur eine Hauselfe, sie war eine gute Freundin, der man jedes Geheimnis anvertrauen konnte.

Elara stieß ein glockenhelles Lachen aus. »Hopp hopp, Flo«, rief sie mit einem Augenzwinkern, »die Weisheit wartet nicht auf müde Köpfe!«

Flo, die gerade noch genüsslich an ihrer Tasse nippte, verdrehte die Augen. »Schon gut, schon gut! Ich bin doch schon fast fertig.« Sie nahm einen letzten, tiefen Schluck aus ihrer Tasse, setzte sie vorsichtig auf den Tisch und betrachtete sie einen Moment lang.

Mit einem leichten Seufzer der Zufriedenheit ging Flo schließlich hinaus auf den Korridor und schlug den Weg zur Schule ein. Sie eilte durch das Labyrinth des Feenbaums, ohne sich umzusehen. Ihr Herz schlug schnell, während sie die vielen Korridore, Passagen und Treppen des Baumes durchquerte. Ehe sie sich versah, war sie an einer Weggabelung falsch abgebogen und fand sich in einem Geheimgang des Feenbaums wieder. Sofort hielt sie inne.

In schummrigem Zwielicht, lediglich von flackerndem Kerzenlicht erhellt, lag der Raum begraben. Die Schatten tanzten einen grotesken Reigen um Flo herum, als wollten sie ihr etwas zuraunen. Auf den ersten Blick schien es, als wäre schon seit Jahren niemand mehr hier unten gewesen.

Ein erdiger Hauch, so schwach wie der Duft eines vergessenen Pilzes, kitzelte ihre Nasenflügel, während sie sich tiefer in den dunklen Korridor vorwagte. Wie oft war sie schon durch die verwinkelten Gänge des Feenbaums geirrt, ohne diesen verborgenen Winkel zu entdecken? Eine leichte Gänsehaut kräuselte sich über ihre zarten Flügel, denn die Luft war kühl und feucht, und ihr Atem hallte gespenstisch in dem engen Raum wider.

Trotz des unbehaglichen Gefühls wagte Flo es, tiefer in den Korridor vorzudringen. Sie blinzelte, versuchte ihre Augen an die Finsternis zu gewöhnen, und sah allmählich schemenhafte Formen vor sich auftauchen. Die Wände des Korridors schienen mit uralten Mustern und Symbolen bedeckt zu sein, die von vergangenen Zeiten erzählten.

Flo verharrte regungslos, umhüllt von der Stille, die so drückend war, dass sie zu flüstern schien. Ihre anfängliche Furcht wich einer Mischung aus Faszination und ungläubigem Staunen. Plötzlich durchdrang ein dumpfes Rumpeln die Stille, scheinbar nur wenige Schritte entfernt. Mit jedem Schritt, den sie vorwärts wagte, schwoll das Rumpeln an, bis die Wände des Korridors selbst zu zittern begannen. Unmissverständlich drang es aus dem Ende des Korridors.

Flo umrundete die Ecke und stieß auf eine schwere Holztür, die wie aus einem anderen Jahrhundert stammte. Sie war tief in die Wand eingelassen, als würde sie ein dunkles Geheimnis hüten. Staub wirbelte unter der Tür hervor, wie ein winziger Wüstensturm in Miniatur. Fasziniert blieb Flo stehen und beobachtete das Schauspiel.

»Was war das?«, murmelte Flo im nächsten Augenblick, als ein Schatten durch die Öffnung am Boden vorüberhuschte. Sie blinzelte ungläubig. War das etwa nur ihre blühende Fantasie gewesen?

Sie streckte die rechte Hand aus und beäugte die Tür mit skeptischem Blick. Das massive Eichenholz wirkte wie ein Bollwerk gegen die Neugier der jungen Fee. Fest verschlossen, verriegelt, und ohne sichtbare Schwachstelle. Und siehe da! Inmitten der kunstvoll geschnitzten Blume, kaum wahrnehmbar für das bloße Auge, entdeckte sie einen kleinen, unscheinbaren Knopf. Mit leichtem Druck auf das zarte Schmuckstück spürte sie, wie sich der Riegel mit einem sanften Knacken löste. Die Tür gab nach, und Flo trat ein, voller Spannung und Vorfreude auf das, was sie hinter der Schwelle erwartete.

»Wow«, hauchte Flo, ihre Augen so weit aufgerissen, dass man befürchten musste, sie würden aus ihren Höhlen springen. »Was für ein sonderbarer Ort!«

Flo wagte einen vorsichtigen Schritt näher, ihre Stirn in tiefe Falten gelegt. Was sich vor ihren Augen abspielte, war so bizarr, dass es ihr die Sprache verschlug. Lichter flimmerten in kleinen Glaskolben, Rauch strömte aus langen Röhren, Wasser tropfte gleichmäßig in einen Auffangbehälter und brachte die Flüssigkeiten in einer seltsamen Vorrichtung in Bewegung. Um die Möbelstücke wirbelte Nebel und hüllte den gesamten Raum in einen undurchdringlichen Dunst. Sie befand sich in einer vollkommen anderen Welt.

Flos Verstand arbeitete auf Hochtouren – angetrieben von Erinnerungen aus dem Magie-Unterricht. Überall brodelte und zischte es, ein Dampfkessel der Alchemie. Zugegeben, es war beeindruckend, aber gleichzeitig weckte es in ihr ein mulmiges Gefühl. Ihr Blick wanderte durch den Raum, ratlos, was sie von diesem Sammelsurium halten sollte. Es war eine Mischung aus erfinderischen Wunderwerken und handwerklichem Geschick. Regale waren gefüllt mit alten Büchern, winzigen Zahnrädern und kleinen, metallenen Skulpturen.

Die Wände trugen den bunten Schmuck unzähliger Zeichnungen und Diagramme, die handwerkliche Techniken und magische Formeln in akribischer Detailtreue festhielten. Wie funkelnde Sterne am Firmament der Weisheit hingen Kristalle von der Decke, deren Lichtstrahlen ein faszinierendes Spiel auf dem staubigen Boden zeichneten.

Flo erkundete die wundersame Welt. Neugierde kribbelte in ihren Fingerspitzen, während sie die Umgebung in Augenschein nahm. Was war dies für ein Ort? Ein vergessenes Museum voller verblassender Erinnerungen? Ein Hort des Wissens, der darauf wartete, enthüllt zu werden?

Inmitten des Raumes thronte ein wuchtiger Arbeitstisch, der unter der Last von allerlei Werkzeugen und Apparaturen zu ächzen schien. Schraubenzieher, Zangen und Lötkolben tummelten sich in geselliger Unordnung. Mikroskope, Lupen und Vergrößerungsgläser blinzelten neugierig auf die winzigsten Details.

Flo näherte sich dem Tisch und beäugte die dort ausgebreiteten Schätze mit Argusaugen. Ein Buch erregte ihre Aufmerksamkeit. Vorsichtig hob sie es empor, pustete den Staub hinweg und blätterte die Seiten um, als würde sie ein uraltes Märchen aufschlagen. Das Papier war hauchdünn, die Tinte verblass. Doch die Illustrationen! Neben dem verblassenden Text prangten Zeichnungen von technischen Finessen, die der Fantasie freien Lauf ließen.

Traummaschinen, die aus Sehnsüchten Wirklichkeit formten, Traumtransformer, die Emotionen in Farbe und Klang verwandelten – die Bilder sprühten vor Ideenreichtum.

»Wie kann man einen Traum herstellen?«, murmelte Flo vor sich hin. Ihre Flügel flatterten nervös, und sie spürte eine gewisse Unsicherheit in ihrem Herzen. Träume waren schließlich so etwas Zerbrechliches, Intimes. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken wie aufgeregte Schmetterlinge, und ihr Herz hämmerte wie ein Trommelwirbel.

Ein tiefes Räuspern durchbrach die Stille des Raumes und ließ Flo vor Schreck das Buch aus der Hand fallen. »Ja, das ist eine Kunst!«, erklang eine Stimme, die aus den Tiefen des Zimmers zu kommen schien. Flos Mund klappte auf, doch die Worte stockten ihr in der Kehle. Schritte hallten durch den Raum, näher und näher kommend. Ihr entsetzter Blick huschte umher, doch niemand war im dichten Dunst zu erkennen. Keine Silhouette, kein Schatten - nur Leere.

Aus dem Nichts tauchte ein hagerer Kobold auf. Er trug einen abgetragenen Umhang. Seine smaragdgrünen Augen funkelten intensiv und strahlten im Vergleich zu seiner braunen Gesichtsfarbe eine gewisse Magie aus. Silbergraue Haare, die an uralte Spinnweben erinnerten, zierten seinen Kopf und verliehen ihm ein Aussehen von Weisheit und Erfahrung, die er in unzähligen Lebensjahren angesammelt haben musste.

Flo musterte den Kobold schon eine ganze Weile mit argwöhnischem Blick. Tief gebeugt stand er da. In seiner knorrigen Hand hielt er einen langen, eichenholzfarbenen Stab, in den kunstvolle Symbole geschnitzt waren.

Was Flo jedoch wirklich faszinierte, waren die knallbunten Wollsocken des kleinen Kerls. In einem fröhlichen Streifenmuster aus Rot, Grün und Gelb strahlten sie an seinen dürren Beinchen und schrien geradezu: ›Achtung! Ungewöhnlicher Kobold in Sicht!‹

»Du bist bestimmt Flo!«

Flo blinzelte verdutzt. Wie konnte dieser winzige Kobold ihren Namen kennen?

»Ich habe schon viel von deinen Abenteuern gehört!«, erzählte der Kobold mit sanfter Stimme.

»Ach ja?«

Der Kobold schnaubte leise. »Bilde dir bloß nichts darauf ein!«, rief er aus. »Wegen dir musste ich mir schon einiges einfallen lassen, um die geheimen Räume zu verstecken. Aber wie du siehst, hatte ich keinen großen Erfolg damit.«

Ein schmales Lächeln umspielte seine Lippen. Dann wandte sich der Kobold wieder seiner Schöpfung zu, die auf der Werkbank hinter ihm lag. Seine flinken, geschickten Finger tanzten über die winzigen Zahnräder, Knöpfe und Hebel.

»Hmm, ja, das muss so passen«, murmelte er vor sich hin, während er die Apparatur mit routinierter Präzision weiter vervollständigte.

Flo rückte neugierig näher an den Kobold heran, ihre Augen scharf auf seine Finger gerichtet, die sich geschickt über die Werkbank bewegten. Es war offensichtlich: Hier werkelte ein wahrer Meister der Ingenieurskunst. Überall auf dem Tisch stapelten sich filigrane Zahnräder, zarte Federn und funkelnde Kristalle, die er mit einer Präzision zusammenfügte.

»Was für ein sonderliches Gerät ist das denn?«, fragte Flo neugierig.

Der Kobold drehte sich kurz zu ihr um, sein Blick durchdrang sie förmlich. Er rieb nachdenklich sein Kinn mit den Fingern, blieb jedoch eine Antwort schuldig. Offensichtlich vertieft in seine Arbeit schien es ihn doch zu amüsieren, dass jemand Interesse daran hatte, wie man Träume herstellt.

»Früher oder später wirst du es sowieso herausfinden, also kann ich es dir auch gleich jetzt erklären«, sagte der Kobold schließlich.

»Was du hier siehst, ist ein Teil einer Erfindung, um Träume künstlich zu erzeugen und sie noch intensiver erlebbar zu machen.«

Der Kobold vollendete den letzten Feinschliff an der Traummaschine, indem er einen kleinen Kristall hervorzog, der wie ein funkelndes Juwel aussah. Dieser spezielle Kristall sollte der Maschine die benötigte magische Energie verleihen.

Flo war überwältigt, doch zugleich runzelte sie die Stirn. Sie hatte begriffen, dass man Träume künstlich erzeugen konnte, und kam zu einer beunruhigenden Schlussfolgerung: »Das klingt, als wollte man die Natur austricksen!«

Der Kobold trat einen Schritt zurück und betrachtete stolz seine Apparatur. Doch zugleich schüttelte er den Kopf. »Nein, auf keinen Fall!« Seine Augen strahlten Entschlossenheit aus.

»Und was ist mit Albträumen?«, fragte Flo den Kobold. Er schaute ihr tief in die Augen und hielt einen Moment inne, um seinen nächsten Worten den nötigen Nachdruck zu verleihen. »Diese Maschine wird etwas Wunderbares sein. Sie wird den Menschen schöne Träume schenken und ihre Herzen mit Freude erfüllen!« Mit diesem Gedanken erschien ein strahlendes Lächeln auf seinem Gesicht. Seine Augen glänzten vor Stolz, aber auch mit einem Hauch von Besorgnis, denn er wusste, dass die Existenz dieser Maschine im Verborgenen bleiben musste. Denn ihre Magie war zu mächtig, um in falsche Hände zu geraten.

»Es ist von höchster Wichtigkeit, dass alles, was ich dir gezeigt habe, vertraulich bleibt. Niemand darf erfahren, was du weißt!«

Flo nickte bedächtig. »Ich verstehe.« In ihrem Kopf wimmelte es vor Fragen, doch der Kobold wandte sich seiner Apparatur zu und signalisierte damit, dass die Fragerunde nun beendet war.

Es wurde Zeit, aufzubrechen. Die Schule war bereits aus, und vermutlich machte sich Elara schon Sorgen. Flo schenkte dem Kobold zum Abschied ein Lächeln und berührte seine Hand. »Ich weiß noch nicht einmal, wie du heißt!«

Der Kobold drehte sich leicht zur Seite. »Oh! Wie ungeschickt von mir. Wir haben uns ja noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Monty.«

Monty lächelte und nickte Flo zu. »Auf ein baldiges Wiedersehen!« Er öffnete die Tür, und Flo huschte durch die Öffnung. Sie drehte sich ein letztes Mal um und winkte ihrem neuen Freund zu, der ihr ebenso freundlich winkte.

KAPITEL 2

DICHTUNG UND WAHRHEIT

Flo schloss die Tür ihres Zimmers geräuschlos hinter sich und ließ sich mit einem erleichterten Seufzer auf den Fenstersims sinken. Das Fenster stand immer offen, trotz der kälteren Temperaturen draußen. Flo liebte es, die Geräusche des Waldes zu hören.

Ein warmer Wind strich ihr durch die Haare und trug tausend Frühlingsdüfte zu ihr. Überall flatterten Schmetterlinge umher. Flo betrachtete die Blumen und grübelte darüber, welche Namen sie wohl trugen. An keinem anderen Ort der Welt wäre sie lieber gewesen.

Flo versank in ihren Gedanken, während sie die magische Atmosphäre genoss. Sie fragte sich, ob die Begegnung mit Monty wirklich stattgefunden hatte oder ob es nur ein wunderschöner Traum gewesen war. Doch die Erinnerung an die Traummaschine ließ keinen Zweifel zu.

Plötzlich erklang ein Klopfen an der Tür und riss Flo aus ihren Gedanken.

»Darf ich reinkommen?«

Mit einem Ruck richtete sich Flo auf. Sie war überrascht, als ihre Mutter eintrat. Diese war schlank, mit spitzen Ohren wie alle Feen. Ihr kurzes, rotbraunes Haar umrahmte ihr Gesicht, und ihre Augen leuchteten in einem warmen Haselnussbraun.

»Gewiss, tritt ein!«

Die Fee sah Flo schräg an und fragte: »Wie war es heute in der Schule?«

Flo schwieg schuldbewusst. Die spürbare Enttäuschung in der Stimme ihrer Mutter gefiel ihr überhaupt nicht. Offensichtlich wusste sie also Bescheid. Flo blieb nichts anderes übrig, als ihr die Wahrheit zu sagen. Als sie fertig war, von Monty und der Traummaschine zu erzählen, schaute sie fragend zu ihrer Mutter hinüber..

»Nun«, begann sie, wobei sie sich zwang, ein Lächeln zu unterdrücken. »Es ist immer dasselbe: Du bist einfach zu neugierig! Eigentlich wollte ich nur wissen, wie du deinen Tag verbracht hast.«

Stille senkte sich über den Raum. Dann blickte Flo in die Augen ihrer Mutter, die schließlich lächelte und sie fest an sich drückte. Flo schluckte und war sehr erleichtert. Dennoch spürte sie, dass ihre Mutter etwas beunruhigte. Sie versuchte zwar, ihren Kummer mit einem Lächeln zu verbergen, aber sie konnte ihrer kleinen Fee nichts vormachen.

»Was hast du? Was ist los?«, fragte Flo besorgt und legte liebevoll eine Hand auf die Schulter ihrer Mutter. »Vielleicht kann ich dir helfen! Und wie du immer selbst sagst: Wenn du deine Sorgen teilst, wirst du entdecken, dass du nicht allein bist.«

Ihre Mutter seufzte.

»Es wird immer Leute geben, die aus eigenem Antrieb versuchen, die Welt aus den Angeln zu heben, um ihre Ziele zu erreichen.« Mehr sagte sie nicht.

Flo schob die Unterlippe vor und runzelte die Stirn. Sie hatte keine Ahnung, was ihre Mutter damit sagen wollte. Je mehr sie versuchte, darüber nachzudenken, desto heftiger begann Flos Kopf zu pochen.

»Tut mir Leid, aber das kapiere ich nicht!«, meinte sie niedergeschlagen.

»Eines Tages wirst du alles verstehen«, sagte ihre Mutter und schaute Flo aufmerksam an. Sie zog sie in ihre Arme und drückte sie fest an sich. Anschließend tippte sie mit dem Zeigefinger auf ihre Nasenspitze. »Es ist jetzt Zeit, ins Bett zu gehen!«

»Aber ich bin noch nicht müde«, erwiderte Flo mit einem Gähnen, das sie sogleich hinter ihrer Hand versteckte. Sie sahen einander an, und plötzlich begann Flo zu kichern.

»Wirklich?«, fragte ihre Mutter mit einem verschmitzten Zwinkern. Dann erhob sie sich von ihrem Sitz.

»Kannst du nicht noch ein bisschen hierbleiben?«, bettelte Flo.

»Das würde ich ja ungemein gerne tun, aber leider liegt noch ein Quäntchen Arbeit auf meinem Schreibtisch.«

»Hat dies etwa mit den dubiosen Gesellen zu tun, die du eben erwähntest?, bohrte Flo neugierig nach.

»Schlaf jetzt!«, ordnete die Mutter an und schloss die Tür eilig hinter sich.

Flo sprang vom Fenstersims und ging im Zimmer auf und ab. In ihrem Inneren tobte ein Sturm der Gefühle. Sie fühlte sich einsam, trotz ihrer vielen Feenfreunde. Sie war traurig, obwohl sie eigentlich allen Grund hatte, glücklich zu sein. Und sie quälte sich mit Schuldgefühlen, weil sie mal wieder nicht in der Schule gewesen war.

Ihre Flügel fühlten sich plötzlich schwer an, und sie seufzte leise. Tief Luft holend, versuchte sie, sich zu beruhigen. Doch gleichzeitig spukten die Worte ihrer Mutter unaufhörlich in ihrem Kopf herum. Sie hatte das unheimliche Gefühl, dass ihre Mutter ihr etwas Wichtiges verheimlichte.

»Na schön!«, platzte es schließlich aus Flo heraus und durchbrach die Stille des Raumes. »Mutter hat mir nicht gesagt, dass ich mich aus der ganzen Angelegenheit raushalten soll.«

Es war kühl geworden, und der silberglänzende Mond stand hoch am Himmel. Nur ein blaugrauer Schleier am Horizont ließ dunkle Regenwolken erahnen.

Mit einem Mal war die Ruhe vorbei, als reges Treiben vom Flur her drang. Spannung breitete sich wie eine Wolke aus. Flo versuchte zu ergründen, was draußen vor sich ging. Sofort huschte sie zur Tür und öffnete sie so weit, dass sie hindurchsehen konnte.

Eine große Schar verängstigter Feen hastete mit aufgeregten Flügelschlägen über den Flur. Flo konnte nicht viel erkennen, aber sie wusste, dass sie dieser Sache auf den Grund gehen musste.

»Verrückt!«, seufzte Flo und zog die Tür leise ins Schloss. Kaum war die letzte Fee um die Ecke verschwunden, eilte sie in sicherem Abstand hinterher. Obwohl Flo die hastenden Feen nicht sehen konnte, konnte sie ihre deutlichen Geräusche hören, was es ihr ermöglichte, ihnen einfach zu folgen. Sie stieg eine Treppe empor und lief einen langen Korridor entlang, bis sie plötzlich mitten auf einem Balkon stand, während die kühle Abendluft ihre Nase kitzelte.

Verdutzt blickte Flo in alle Richtungen, doch niemand war zu sehen, und sie hatte das unangenehme Gefühl, die Feen verloren zu haben.

Die können doch nicht einfach spurlos verschwunden sein!, dachte sie und warf einen weiteren Blick über beide Schultern. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie hoch oben in der Baumkrone stand, gewissermaßen auf dem Dach eines Hauses. Die Sterne funkelten auf sie herab, und der Wald glänzte silbern, als das Mondlicht ihn in einen sanften Schleier hüllte.

KAPITEL 3

BEGEGNUNGEN

Schön, schön, schön«, flüsterte Flo. »Die Feen müssen doch irgendwo sein; wahrscheinlich verstecken sie sich.«

Plötzlich erschien aus der Dunkelheit ein riesiger schwarzer Schatten über den Baumspitzen, was sie zusammenzucken ließ.

»Was ist das nur?«, flüsterte Flo leise zu sich selbst. Ihre kleinen Augen blickten ängstlich durch das Blätterwerk, während der Schatten über den Wald hinwegzog. Im nächsten Moment unternahm sie alles, um nicht gesehen zu werden, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Rasch zog sie sich in eine dunkle Ecke zurück, ohne den Schatten aus den Augen zu verlieren.

Der erste Gedanke, der ihr durch den Kopf sauste, war, dass das ein Drachen gewesen sein musste.

»Blödsinn... die sind doch seit Generationen nicht mehr gesehen worden und galten als ausgestorben. Das muss irgendetwas anderes sein«, flüsterte Flo zu sich selbst. Sie rappelte sich wieder auf und bemerkte, dass der Schatten keine Kreatur war, sondern das beeindruckende Bild fliegender Feen darstellte. Da sie in enger Formation flogen, warf der Mond einen gewaltigen Schatten von ihnen, der sich langsam und majestätisch bewegte. Flo lächelte erleichtert und begeistert zugleich. »Unglaublich!«

Jetzt oder nie, sie musste sich beeilen. Denn je länger sie darüber nachdachte, desto weiter entfernten sich die Feen. Prompt flatterte Flo aufgeregt mit den Flügeln, und ihr Herz klopfte heftig, als sie sich darauf vorbereitete, ihren ersten Flug außerhalb des Flugunterrichts zu wagen. Wollte sie das Geheimnis der Feen lüften, blieb ihr wohl kaum etwas anderes übrig, als sich in die Luft zu schwingen.

Vorsichtig breitete Flo ihre Flügel aus und stieß sich mit einem kräftigen Satz vom Boden ab. Sie stieg höher und höher. Es folgte ein langgezogenes »Ooooh«, als sie mehrere schnelle Drehungen machte. Ihr wurde leicht schwindlig. Dennoch bemühte sie sich, die Augen weit geöffnet zu halten.

»Das ist wirklich kinderleicht!«, keuchte Flo vor Freude. Zum ersten Mal wurde ihr klar, wie schön Fliegen sein konnte, wenn nicht ihre Lehrerin Henrietta in der Nähe war, um zu begreifen, dass man Fliegen nicht aus Büchern lernen konnte, sondern nur durch regelmäßiges Üben. Schließlich war sie eine Fee; diesen Wesen wurde das Fliegen regelrecht in die Wiege gelegt. Aber Henrietta war ein besonderer Fall: Sie war eine feingliedrige und ängstliche Feenfrau, die schon bei dem bloßen Gedanken ans Fliegen eine Gänsehaut bekam.

Flo genoss die ungebundene Freiheit des Soloflugs. In der Tat, sie fühlte sich nie wohler als in luftigen Höhen, ganz auf sich allein gestellt. Plötzlich jedoch packte sie eine hinterhältige Windböe, und Flo verlor den Rhythmus ihrer Flügelschläge. Unkontrolliert torkelte und taumelte sie durch die Luft.

»Finde dein Gleichgewicht, so wie es uns Henrietta beigebracht hat«, flüsterte Flo aufgeregt. Sie atmete tief ein und versuchte, ihre Flügel gleichmäßig zu bewegen. Doch es war schwieriger als gedacht. Jedes Mal, wenn sie glaubte, die Kunst des Fliegens gemeistert zu haben, geriet sie erneut ins Taumeln.

Trotz aller Bemühungen stürzte Flo in die Tiefe, vorbei an dicken Zweigen und Ästen, die wie hungrige Arme nach ihr griffen. »Nur keine Panik!«, mahnte sie sich selbst, während der Waldboden mit unaufhaltsamer Geschwindigkeit näher rückte. In ihren Ohren brauste der Wind wie ein wütender Chor, und ihr Magen rebellierte mit einem schmerzhaften Krampf.