Florance Bell und die Melodie der Maschinen - Carsten Steenbergen - E-Book + Hörbuch

Florance Bell und die Melodie der Maschinen E-Book und Hörbuch

Carsten Steenbergen

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Beschreibung

Reise mit uns in eine Vergangenheit, in der die Melodie der Maschinen den Rhythmus deines Lebens bestimmt und werde Teil der Revolution! 1820: Napoleon hält England besetzt. Die 15-jährige Florance arbeitet als talentierte rechte Hand des Meistermechanikers eines maschinenverrückten Earls. Doch als dessen Anwesen plötzlich von Luftschiff-Rebellen überfallen wird, stehlen sie nicht nur den Prototypen einer revolutionären Erfindung, sondern auch die in dessen Maschinenraum unfreiwillig gefangene Florance. Von nun an als Rebellin gejagt, findet sich Florance mit einem Mal in einer Verschwörung wieder, die sie niemals für möglich gehalten hätte ... Ein aufregendes Abenteuer in einem alternativen England voll Intrigen, Kämpfen und der Sehnsucht nach Freiheit!

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Seitenzahl: 387

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Zeit:9 Std. 11 min

Sprecher:Peter Bieringer

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Über das Buch

1820: Napoleon hält England besetzt. Die 15-jährige Florance arbeitet als talentierte rechte Hand des Meistermechanikers eines maschinenverrückten Earls. Doch als dessen Anwesen plötzlich von Luftschiff-Rebellen überfallen wird, stehlen sie nicht nur den Prototypen einer revolutionären Erfindung, sondern auch die in dessen Maschinenraum unfreiwillig gefangene Florance. Von nun an als Rebellin gejagt, findet sich Florance mit einem Mal in einer Verschwörung wieder, die sie niemals für möglich gehalten hätte …

Ein aufregendes Steampunk-Abenteuer in einem alternativen England!

Lanbesweite Feierlichkeiten am europäischen Zusammcnführungstag

Samstag, 21. Oktober 1815

Anlässlich des 10. Jubiläums der glorreichen Zusammenführung der britannischen Inseln und dem Napoleonischen Kaiserreich finden allerorts aufwendige Feierlichkeiten zu Ehren dieses besonderen Tages statt. Da mit der persönlichen Anwesenheit seiner kaiserlichen Majestät in London gerechnet wird, wurden die Sicherheitsvorkehrungen in der früheren Hauptstadt verstärkt. Straßensperren zum Schutz der Triumph-Parade wurden entlang des Streckenverlaufs zwischen Kensington Palace über Trafalgar Square bis Tower of London errichtet. Britische Staatsbürger des Kaiserreichs, die nicht über eine Ausnahmegenehmigung verfügen, sind aufgefordert, für die eigene Sicherheit bis zum Ende der Feierlichkeiten in ihren Wohnstätten zu verbleiben. Der ehemalige, britannische Monarch König George IV, der aus freiem Entschluss die Zusammenführung des Kaiserreiches unterstützt hat und seitdem als geschätzter Gast seiner Majestät Kaiser Napoleons in Paris residiert, bittet die Bevölkerung um einen friedlichen und idyllischen Ablauf dieses historischen Festaktes.

Büro für Erfindungen seiner Majestät Kaiser Napoleon, öffentliche Mitteilung

Es wird hiermit bekannt gegeben, dass das Gesuch von Adolphe de Lomenault aus Welford, Leicester, im Verwaltungsbezirk Leicester, Kabelkettenproduzent, ein Patent für die Verbesserung der Maschine zum Herablassen und Aufziehen von Kabeln und Ketten zu genehmigen, am 12. Tag des Oktobers 1819 im Büro des Patentbeauftragten für Erfindungen seiner Majestät Kaiser Napoleon mitsamt einem vollständigen Register zur gleichen Zeit und im vorgenannten Büro hinterlegt und aufgezeichnet wurde.

Büro für Erfindungen seiner Majestät Kaiser Napoleon, öffentliche Mitteilung

Es wird hiermit bekannt gegeben, dass der Patentschutz an Bernard Vallemiez, von Greenwich, im Verwaltungsbezirk Kent, Konstrukteur, für einen verbesserten Rotationsmotor mit Dampf, Gas oder Luft; und an Célia de Thibarant, von Holloway, im Verwaltungsbezirk Middlesex, Chemikerin, für die Veredelung von Gasen und das Erzeugen weiterer Stoffe während dieses Prozesses; aufgrund diesbezüglich eingereichter Gesuche, aufgezeichnet am 1. Tag des März 1819, im Namen seiner Majestät vorläufig erteilt wird.

Theatre Royal, Covent-Garden, Drury Lane

Heute Abend! Wilde Bestien, exotische Kreaturen! Erleben Sie die unvergleichliche Raubkatzenvorführung des über den Kontinent hinaus bekannten Kunstreiters und Dompteurs Henri Martin. Spüren Sie den Nervenkitzel der Gefahr!

Morgen Abend! Premiere des Theaterstücks »Le Dernier Trésor« (Das letzte Kleinod)! Von Napoleons Sieg über die britannische Flotte. Auguste Fullier als triumphanter Admiral Pierre Charles Villeneuve, Mathieu Folemont als sein heimtückischer Widersacher Admiral Horatio Nelson.

Versorgungslager im Hafen von Liverpool geplündert

Montag, 04. Mai 1807

In einem nächtlichen Überfall wurde in der Nacht zum Sonntag ein Versorgungslager der Gendamerie de Britannia an der Scotland Road, Liverpool, vollständig geleert. Die dreisten Diebe erbeuteten unter anderem mehrere Kisten Munition, drei Dutzend Fässer Schmieröl, Ersatzteile für mobile Kesselanlagen und darüber hinaus ausschließlich der französischen Polizei vorbehaltenen Carabine-Gewehre. Anschließend wurde der Gebäudekomplex in Brand gesteckt. Die Flammen zerstörten das Gebäude bis auf die Grundmauern. Nur mühsam vermochte die alarmierte Feuerwehr eine Ausbreitung des Brandes auf die nahe stehenden Gebäude zu verhindern.

Zu dem Vorfall wurden die zuständigen britannischen Nachtwächter eindringlich befragt. Es wurden jedoch keinerlei Angaben über die Täter gemacht, eine Auskunft wurde vehement verweigert. Wegen Verletzung ihrer Dienstpflicht und Unterstützung der Rebellion gegen seine Majestät Kaiser Napoleon erfolgte daher die sofortige Überführung in eine Haftanstalt der französischen Polizei. Da von den Tätern bislang jede Spur fehlt, wird vermutet, dass der Überfall mit einem unbeleuchteten Rebellenluftschiff durchgeführt wurde. Dennoch ist die Gendarmerie de Britannia davon überzeugt, die Übeltäter bereits in kurzer Zeit ihrer gerechten Strafe zuführen zu können.

INHALT

1 NOTFALL IN DER MASCHINENHALLE

2 EIN SCHWÄCHEANFALL

3 DER TRAUM VOM WAISENHAUS

4 EINE GEHEIME LIEFERUNG

5 BEICHTE BEIM EARL

6 FAST VERHAFTET

7 EINE SAFTIGE STANDPAUKE

8 ZUR ERÖFFNUNG DES SYMPOSIUMS

9 EINE GROßARTIGE NEUIGKEIT

10 DER BESONDERE EHRENGAST

11 ALTE BEKANNTE

12 EINE BEMERKENSWERTE ERFINDUNG

13 ÜBERFALL DER REBELLEN

14 IN LETZTER SEKUNDE

15 GEFANGEN

16 IM VERGESSENEN FLUR

17 AUF DER IRONSIDE

18 EIN HEIMLICHER BLICK

19 HOCHVERRAT

20 IM KÄFIG

21 DAS VERHÖR DES EARLS

22 EINE NACHT IM HAREWOOD

23 WUT IN DER NACHT

24 EIN UNERWARTETES ANGEBOT

25 OHNE REPARATUR KEIN FLUG

26 DIE SOLDATEN KOMMEN!

27 ÜBERGABE EINER KARTE

28 EIN OFFENES WORT

29 MIT DEM SCHIFF DAVON

30 IM REBELLENVERSTECK

31 EIN SPAZIERGANG VON BORD

32 ANGRIFF DER TOTENKOPF-KOMPANIE

33 AUF UND DAVON

34 EIN HOF IM NIRGENDWO

35 IM ANGESICHT DER REBELLEN

36 NUTZLOSE PLÄNE

37 AUF DER LAUER

38 ZUR RETTUNG

39 AUGE IN AUGE MIT MAJOR WJATKA

40 EINE ALTE TAKTIK

41 NICHTS MEHR ZU SEHEN

42 EIN VERHÄNGNISVOLLER EINSTURZ

43 DURCHGEGRABEN

44 KAMPF UM DEN PALAST

45 DER KERKER EINES KÖNIGS

46 EIN AUSWEG IN DIE FREIHEIT

47 NACH HAUSE

1

NOTFALL IN DER MASCHINENHALLE

Die Explosion riss Florance Bell aus dem Schlaf. Ihr Bett bäumte sich auf wie ein wild gewordener Stier und instinktiv suchte sie nach einem Halt. Doch selbst der Bettrahmen war mit einem Mal viel zu weit weg. Wild mit den Armen rudernd landete sie unsanft auf dem Fußboden. Das gleichmäßige Rumpeln der Maschinen, das wie das Atmen eines Leviathans jede ihrer Nächte begleitete, seit sie in die Kammer neben der großen Halle gezogen war, war verschwunden. Den klangvollen Takt, den die Pumpkolben sonst für das Arbeiten der Maschinen vorgaben, fehlte. Stattdessen hatte sich der Rhythmus in die unregelmäßigen Schläge einer metallenen Riesenfaust verwandelt.

Florance rappelte sich auf. War gerade einer der Kessel hochgegangen? Das konnte doch gar nicht sein. Die gesamte Anlage war mit Sicherheitsmechanismen versehen, die das verhindern sollten. Sie schlüpfte in ihre graue Arbeitsjacke, die Hose und die Sicherheitsschuhe. Dann band sie sich eilig das lange, lockig schwarze Haar mit einem Tuch aus dem Gesicht. Sie musste sofort zu Monsieur Pignon und nachsehen. Ihr Vormund würde ihre Hilfe brauchen. Kaum hatte sie den Zugang zur Halle erreicht, hörte Florance ihn über den Lärm der Turbinen hinwegrufen.

»Wo steckt das Mädschen? Merde, dreht dieses verdammte Ventil dort endlisch zu. Muss ich denn wirklisch alles selber machen? Florance!«

Sie trat ein und wurde augenblicklich von einer dichten Dampfschwade eingehüllt. Ganz eindeutig, einer der Kessel war beschädigt. Vielleicht sogar mehr als einer. Behutsam bewegte sich Florance vorwärts. Der Dunst floss träge um sie herum, sodass sie kurz die Orientierung verlor. Wo war Monsieur Pignon? Der Lärm der beschädigten Maschinen wurde schlagartig von einem Kreischen unterbrochen, das ihr in den Ohren schmerzte. Das war vom anderen Ende der großen Halle gekommen. Florance zog zwei kleine Ballen Baumwolle aus ihrer Jackentasche hervor. Geschickt formte sie erbsengroße Kügelchen daraus, die sie sich links und rechts in die Ohrmuscheln stopfte. Das senkte den Geräuschpegel auf ein erträgliches Maß, während sie vorwärtseilte. Ein Trick, den ihr Monsieur Pignon an ihrem ersten Tag verraten hatte.

Endlich lichtete sich der Dampf etwas. Zu beiden Seiten schälten sich Zwillingsräder von gut dreißig Fuß Höhe heraus. Beharrlich drehten sie sich gegen und im Uhrzeigersinn, angetrieben von der enormen Kraft des Wasserdampfes. Sie schoben gewaltige Kolben an und bewegten Hebelarme. Der Herzschlag von Birch Manor, dem Landgut des Earl Hellingway. Britischer Grund und Boden, auf dem Florance nun schon seit fünf Jahren lebte und arbeitete. Ein Geruch von Feuer, Dampf und heißem Metall lag in der Luft.

Monsieur Pignon dirigierte die Arbeit lautstark um einen Druckverteiler herum, dessen Pumpkolben sich disharmonisch auf und ab bewegten. Philippe Pignon war ein kräftiger Mann von vierzig Jahren. Seine gedrungene Statur ließ Florance’ väterlichen Mentor beinahe zu kurz geraten wirken. Am Revers blitzte ein silbernes Abzeichen, ein Adler mit einem Schraubschlüssel in den Klauen. Das Symbol des französischen Technologie-Ministeriums. Pignons Mund wurde von einem gezwirbelten Schnauzer und einem scharf geschnittenen Vollbart umrahmt. Sein sympathisches Lächeln, das er in seiner Stellung als leitender Mechaniker von Birch Manor viel zu selten zeigte, suchte sie heute vergeblich. Als sein Blick auf Florance fiel, glitt Erleichterung über seine Züge.

»Da bist du ja endlisch, Florance. Diese englischen Cretins sind einfach nischt in der Lage, meine Anweisungen ordentlisch auszuführen. Der Druckverteiler, wir müssen ihn abkoppeln. Bevor er uns auch um die O’ren fliegt, n’est-ce pas? Schnapp dir dein Werkzeug! Los, los, los.«

»Sofort, Monsieur Pignon.«

Florance spurtete zum Kontrollpult. Die Anzeigen blinkten in rotem Warnlicht. Hektisch überflog sie die wichtigsten Symbole. Sie bestätigten, was Monsieur Pignon gesagt hatte. Sie mussten sich beeilen. Wenn die Pumpkolben weiterhin gegen den Rhythmus arbeiteten, würde das zu einem Druckstau führen, dem die Maschine nicht gewachsen war. Passierte das, waren die Folgen für das gesamte Anwesen verhängnisvoll. Florance griff sich eine der Zangen aus dem Werkzeugregal über dem Kontrollpult und kehrte zu Monsieur Pignon zurück.

»Isch brauche disch dort drinnen. Schaffst du das?« Monsieur Pignon deutete zwischen die Stangen und Leitungen, die den Kolben umgaben. Ein ausgewachsener Mann passte da niemals hindurch.

»Natürlich schaffe ich das, Monsieur«, antwortete Florance im Brustton der Überzeugung. Sie ging nicht zum ersten Mal zwischen die Leitungen. Allerdings hatte sie es noch nie während eines gefährlichen Druckstaus tun müssen. Trotzdem zögerte sie keine Sekunde. »Ich weiß, was zu tun ist.«

»Bon. Dann an die Arbeit. Und pass auf den Dampfausstoß auf. Er ist se’r, se’r heiß.«

Florance tauchte in die stampfenden Eingeweide des Verteilers ein. Wasserdampf trat zischend und spuckend aus den strapazierten Ventilen aus. Mühsam zwängte sie sich durch das Gewirr von Rohren aus Kupfer und Messing. Für Furcht blieb keine Zeit. Was sie jetzt brauchte, war absolute Konzentration. Ihre schlanke Statur ermöglichte es ihr, selbst die unzugänglichsten Stellen zu erreichen. Den Kopf hielt sie dabei sorgsam unten. Sie hatte nicht vor, sich das Gesicht kochen zu lassen, nur weil sie ausgerechnet jetzt unvorsichtig war.

»’örst du misch, Florance?«, rief Monsieur Pignon.

»Ja, Monsieur.«

»Du musst versuchen, das Ventil B28 zu erreischen. Schließe es, sobald isch dir das Signal gebe.«

»In Ordnung, Monsieur!«

»Es ist wischtig, dass wir gleischzeitig …«

Irgendwo über ihr zerplatzte mit einem kanonenschussgleichen Knall ein Verbindungsstück und verschluckte den Rest seiner Worte. Ein Strahl aus Wasserdampf stob zwischen den Leitungen hindurch. Der Dunst verteilte sich sekundenschnell und legte einen heißen Schleier über die Maschinen. Florance warf sich zur Seite. Ihr Ellbogen stieß dabei heftig gegen eines der Rohre. Der Aufprall schlug ihr die Zange aus der Hand, der Schmerz lähmte ihren Arm. Sie biss die Zähne zusammen. Jetzt bloß nicht ablenken lassen, ermahnte Florance sich selbst. Die Zeit lief ihnen davon. Das geplatzte Verbindungsstück war der beste Beweis dafür. Immer stärker vibrierte der ganze Bereich um sie herum. Einer der Haltebolzen löste sich, schoss mit einem sirrenden Geräusch an ihrem Ohr vorbei und hinterließ ein Loch in der Wand hinter ihr. Florance angelte nach der Zange, die zwischen zwei Abdeckungen gerutscht war. Ihre Fingerspitzen berührten beinahe den Griff. Komm schon, nur noch ein Stückchen. Sie musste doch zusammen mit Monsieur Pignon das Ventil schließen. Wenn sie sich nur ein bisschen mehr strecken könnte. Zitternd bewegte sich die Zange durch die Vibration aus ihrer Reichweite. In diesem Moment überschritt der Druck die kritische Grenze. Metall verbog sich und riss auf, der Lärm wurde ohrenbetäubend.

»Raus da, Florance!«, brüllte Monsieur Pignon. »Der Verteiler ist nischt mehr zu retten! Er wird gleisch explodieren!«

Florance ließ die Zange liegen, wo sie war. Sie sprang auf und wand sich geduckt am Kessel vorbei. Direkt neben ihrem Kopf bekam die Außenwand eine Beule. Noch hielt der Druckverteiler. Aber wie lange würde das so bleiben? Ein paar Sekunden? Die Arme schützend vor ihr Gesicht gehalten, quetschte sie sich zwischen den Rohren hindurch. In den Lücken dazwischen sah sie Monsieur Pignon winken. Kaum hatte sie die letzte Anordnung passiert, drückte etwas mit Wucht gegen ihren Rücken, hob sie an und schleuderte sie durch die Luft. Der Aufprall trieb ihr den Atem aus der Lunge. Unzählige Sternchen tanzten vor ihren Augen. Ein Sirren in den Ohren überdeckte jedes andere Geräusch. Florance schloss die Lider und atmete seufzend aus.

2

EIN SCHWÄCHEANFALL

Victoria, die Tochter von Earl Albert Hellingway, saß aufrecht auf der Armlehne des Sofas, auf das sich ihr Vater erschöpft gebettet hatte. Sie war sehr hübsch anzusehen in ihrem safranfarbenen, hochgeschlossenen Kleid. Es hatte einen bequemen und praktischen Schnitt und war ideal für eine Ausflugsfahrt am Vormittag. Um die Beine bauschte es sich keck auf. Der Stoff verbarg dennoch schicklich jeden Anblick von Knöchel oder Wade. Eine gleichfarbige Schleife hielt das weizenblonde, schulterlange Haar. Rund um ihre Lippen hatte sich ein vorwurfsvoller Ausdruck gegraben.

»Wie geht es ihm, Dr. Hancock? Bitte sprechen Sie offen. Er muss der Wahrheit endlich ins Auge sehen.« Victoria warf ihrem Vater einen tadelnden Blick zu. »Auf mich hört er nicht, obwohl ich ihn mehrmals täglich zur Zurückhaltung ermahne.«

Vor der Couch kniete Dr. Hancock, ein Gentleman in den mittleren Jahren, mit einem Zwicker auf der Nase. Er war gerade dabei, seine Tasche zu verschließen. Der Doktor erwiderte die Frage mit einer nonchalanten Verbeugung. Ein dezentes Schmunzeln schlich sich auf seine rundlichen Züge, die ihm das Aussehen einer weisen Eule verliehen.

»Dem Earl geht es den Umständen entsprechend gut, Lady Victoria. Ihr Vater hat sich etwas übernommen. Das ist nichts, was ein wenig Ruhe und eine kleine Dosis Laudanum nicht in den Griff bekäme. Dreimal täglich drei Tropfen zu den Mahlzeiten sowie vor der Bettruhe in einem großen Glas Wasser. Oder Sherry. Ganz wie es dem Earl beliebt. Und für die nächsten Tage empfehle ich dem Earl, eine Weile kürzerzutreten.«

Victoria schüttelte missbilligend den Kopf und stemmte die Fäuste auf die Hüften. »Eine Weile? Dr. Hancock, ich muss sagen, dass ich sehr enttäuscht von Ihnen bin. Ich hätte mir etwas mehr Unterstützung erhofft. Seit wie vielen Jahren sind Sie nun der Leibarzt meines Vaters?«

»Seit über fünfzehn, Lady Victoria.«

»Und da fällt Ihnen nichts Besseres ein, als ihn in seinem Irrsinn auch noch zu unterstützen? Er schläft nicht, vergisst zu essen und arbeitet bis zur Erschöpfung. Wie ein Verrückter. Das sehen Sie doch! Mein Vater muss damit aufhören, Dr. Hancock. Das Symposium darf nicht stattfinden.«

»Würdet ihr bitte aufhören, über mich zu sprechen, als ob ich gar nicht anwesend wäre?« Earl Hellingway stützte sich schnaufend und mit gerötetem Kopf in die Höhe. Seine knochige Brust hob sich schnell auf und ab. Das Spitzkragenhemd und die mattschwarze Weste waren für die Untersuchung des Arztes geöffnet worden. Der Frack ruhte sorgfältig zusammengelegt über der Lehne des Liegesessels. Mit der linken Hand zupfte sich Earl Hellingway die weißen Haare zurecht, die in einem wirren Kranz um seinen sonst kahlen Schädel abstanden. Anschließend strich er Spitz- und Schnauzbart unter dem Kinn in Form. »Das ist wirklich unerhört, mein Schmetterlingchen. Morgen Abend versammeln sich die klügsten Köpfe des französischen Kaiserreichs hier in diesem Hause. Das kann ich nicht einfach absagen. Ich bin nur ein bisschen aus der Puste. Da stimmst du mir doch zu, William?«

»Nun ja, es ist schon ein wenig mehr als eine leichte Kurzatmigkeit«, widersprach Dr. Hancock dem Earl.

»Siehst du, Vater?«, fuhr Victoria aufgebracht dazwischen. »Nun hörst du es endlich aus dem Mund eines Experten. Du brauchst Bettruhe. Die Vorbereitungen werden dich sonst ins Grab bringen.«

»Im Grab werde ich ausnahmslos schlafen. Versprochen.« Earl Hellingway grinste verschmitzt. Die Falten formten dabei über Kinn und Stirn mehrere Bögen, mit der Nase als Zentrum. Ein Anblick, mit dem der Earl Victoria sonst immer zum Lachen brachte.

»Das ist nicht komisch, Vater. Und nenn mich bitte nicht Schmetterlingchen. Ich bin vierzehn Jahre alt und damit beinahe eine erwachsene Frau.«

»Aber Schmetterlingchen, nun beruhige dich doch wieder …«

»Mich beruhigen?«

Empört sprang Victoria von der Sessellehne auf und tigerte im elegant eingerichteten Arbeitszimmer des Earls auf und ab. Vorbei an den flackernden Gasleuchten an den Wänden, die die Dunkelheit der Nacht vertrieben. Vorbei an den Stapeln aus Fachschriften und schweren Büchern, den mit technischen Spielereien beladenen Regalen, dem barocken Sekretär, der vor lauter bekritzelten Schriftstücken überquoll. Schließlich blieb sie an einem massiven Marmorglobus stehen, dessen unentwegte Rotation durch eine Anordnung von dünnen Zuleitungen und klickenden Hebeln gewährleistet wurde. Victoria schwärmte nicht sonderlich für das Arbeitszimmer ihres Vaters. Es platzte aus allen Nähten. Vollgestopft mit Krimskrams und den seltsamen Erfindungen, an denen Earl Hellingway unentwegt arbeitete. Und jetzt dachte er seit Wochen nur noch an dieses Symposium. Was für eine absurde Idee! Victoria versetzte dem steinernen Sockel des Globus einen Tritt, der ihr gesamtes Missfallen ausdrückte. Dann fuhr sie mit erhobenem Zeigefinger herum.

»Ich werde mich beruhigen, wenn du endlich vernünftig geworden bist, Vater! Deine Verpflichtungen mir gegenüber scheinst du jedenfalls völlig zu vergessen. Willst du mir denn überhaupt keine Gesellschaft mehr leisten?«

»Liebes, es ist eben sehr viel vorzubereiten«, rechtfertigte sich Earl Hellingway atemlos. »Selbst der Conseil du Roi hat sein Erscheinen angekündigt. Eine ganz wichtige Persönlichkeit von der Zentralregierung in Paris. Stell dir vor! Wer soll die ganze Arbeit denn erledigen?«

Victoria prustete Luft zwischen den Lippen hervor. »Jemand anderer, Vater. Dieser Monsieur. Wer auch immer.«

»Monsieur Pignon hat genug eigene Aufgaben. Das weißt du doch, Liebes. Ich habe mit ihm einige Verbesserungen der gesamten Maschinenanlage besprochen. Die Welt muss in Erstaunen versetzt werden. Das ist eine Notwendigkeit, kein beliebiger Zeitvertreib.«

»Hmpf. Kein Zeitvertreib«, ätzte sie. »Mutter würde vor Entsetzen über dein Betragen auf der Stelle in Ohnmacht fallen. Wenn sie noch am Leben wäre. Ach, liebste Mama, mit was für einem Klotz von Vater du mich allein gelassen hast!«

Ein dezentes Räuspern unterbrach die Schimpftirade Victorias. Irritiert wandte Victoria sich Dr. Hancock zu. Der hob beschwichtigend die Arme. »Ich werde hier wohl nicht mehr gebraucht. Daher möchte ich mich nun empfehlen. Es warten Patienten auf mich, die ebenfalls meiner Unterstützung bedürfen.«

»Natürlich, mein lieber William, natürlich«, antwortete der Earl. »Meinen Dank für deinen schnellen und hilfreichen Besuch. Aber dass du mich ausgerechnet in dieser misslichen Situation verlassen willst. Wehrlos brüsken Attacken ausgesetzt …« Earl Hellingway deutete unbestimmt, jedoch mit einem verschmitzten Lächeln in die Richtung seiner Tochter.

»Vater!«

»Nur ein kleiner Scherz, mein Schmetterlingchen. Nur ein Scherz. Nun sei mir nicht mehr böse, ja? Ich verspreche dir, dass ich mich ab sofort intensiver um dich kümmern werde. Soweit es die Zeit erlaubt.«

Victoria verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust. Ihre Lippen pressten sich so fest aufeinander, dass sie beinahe jede Farbe verloren. Schweigend sah sie zu, wie Dr. Hancock dem Earl die Hand schüttelte.

»Vergessen Sie bitte nicht meine Anweisungen, Earl Hellingway. Dreimal täglich drei Tropfen Laudanum, dann sind Sie bald wieder auf den Beinen und erleben Ihr Symposium außerhalb des Bettes. Lady Victoria, meine Empfehlung.«

Damit wandte sich der Doktor ab und verließ das Arbeitszimmer. Kaum hatte sich die Tür hinter dem Leibarzt des Earls geschlossen, brachte ein wummerndes Stampfen aus den tiefen Eingeweiden von Birch Manor den Kristallleuchter an der Decke zum Klingen. Victoria stieß erschrocken einen spitzen Schrei aus und eilte in die Arme ihres Vaters.

»Herrje, was ist denn da schon wieder los?«, schimpfte der Earl ungehalten. »Kann man sich nicht einmal eine Minute anderen Dingen widmen?«

»Vater, was war das?« Ihre Stimme zitterte, mehr, als sie es selbst zulassen wollte. Sie hasste diese Maschinen mit ihrem Gestank und dem ständigen Lärm. Allerdings genoss sie durchaus die eine oder andere Annehmlichkeit, die ihr das Leben auf dem fortschrittlichen Landgut ihrer Familie versüßte. Wer in aller Welt verzichtete schon gern auf Aufzüge? Sie jedenfalls nicht.

»Wahrscheinlich ist es nichts, über das man sich sorgen müsste«, versuchte Earl Hellingway seine Tochter zu beruhigen. »Wolltest du nicht mit Mrs Leboir in die Stadt fahren? Das wäre doch jetzt genau das Richtige, oder?«

Victoria seufzte theatralisch. »Du hast recht. Alison wird bestimmt schon auf mich warten. So entkomme ich wenigstens für ein paar Stunden diesem Irrenhaus. Ich hoffe nur, mein Zuhause steht noch, wenn ich zurückkomme.« Victoria drückte ihrem Vater einen Kuss auf die Stirn und löste sich aus seiner Umarmung. »Glaube ja nicht, dass du mir so leicht davonkommst. Du wirst dich ausruhen. Ich kann mich doch darauf verlassen, Vater?«

Earl Hellingway lächelte. »Aber natürlich, Schmetterlingchen. Ich wünsche dir viel Spaß. Kauf dir etwas Schönes, ja? Ein neues Kleid vielleicht? Ich möchte, dass du besonders hübsch aussiehst, wenn ich dir auf dem Empfang heute Abend die wichtigsten Männer Großbritanniens vorstelle. Schließlich müssen wir langsam an deine Zukunft denken. Ich hoffe, dass sich bald eine annehmbare Partie für dich findet, mit der du auch einverstanden bist.«

Victoria rollte mit den Augen, während sie die Arme entrüstet in ihre Hüften stemmte. Schon wieder das leidige Thema. »Du willst mir doch nicht erneut mit diesem erbärmlichen Langweiler kommen? Allein der Name: Joseph Newcomen. Vater, ich bitte dich. Eine tote Schildkröte vermag interessantere Gespräche zu führen.«

»Mein Schatz, Joseph entstammt einer äußerst gebildeten und angesehenen Familie«, erläuterte der Earl sachlich. »Sein Vorfahre war Thomas Newcomen. Der Thomas Newcomen. Eine Legende in der Geschichte Großbritanniens, ein brillanter Geist und Erfinder der Dampfmaschine. Joseph wird diesem Namen in Zukunft jede verdiente Ehre erweisen. Ich kann mir niemand Besseren für dich wünschen.«

»Dann heirate du ihn doch, wenn er dir so sehr gefällt«, gab Victoria pikiert zurück. »Ich bin mir sicher, ihr werdet euch hervorragend unterhalten und den ganzen Tag in deinem Arbeitszimmer verbringen.«

Erschöpft verzog der Earl das Gesicht. »Nun ist es aber genug, Schmetterlingchen. Das ist ein äußerst ungebührliches Betragen für eine junge Frau. Besonders für eine Tochter aus gutem Hause. Und insbesondere für dich.« Wie immer fiel es ihrem Vater überaus schwer, einen tadelnden Ton ihr gegenüber anzuschlagen. Seit dem Tod ihrer Mutter litt er unter Schuldgefühlen. Victoria wusste das. Es hielt sie dennoch nicht davon ab, ihn bei jeder Gelegenheit daran zu erinnern.

»Wie du meinst, Vater. Dann wird es dich bestimmt nicht stören, wenn ich mich besser den Vergnügungen hingebe, die sich für eine solche Frau gehören. Vielleicht besticke ich schnell ein Kissen, das ich dir unter den Kopf legen kann, falls du wieder eine Kurzatmigkeit erleidest.«

Damit rauschte Victoria aus dem Zimmer, bevor Earl Hellingways Gesichtsfarbe einen zarten Ton von Magenta annahm.

3

DER TRAUM VOM WAISENHAUS

Der Monsieur stand am Fenster des Besucherzimmers und betrachtete die Gewitterwolken, die stoisch über das Waisenhaus hinwegzogen. Der Himmel wanderte in Grau und Schwarz daher. Regen trommelte gegen die Fensterscheibe. Der Monsieur hielt seine Hände hinter dem Rücken verschränkt. Florance sah er nicht an und sie fühlte sich mehr und mehr unwohl dabei. Mit keiner Silbe hatte der Monsieur ihr erlaubt, sich zu setzen, daher war sie mitten im Zimmer stehen geblieben.

»Du bist se’r talentiert, mein Kind.«

Der Akzent des Monsieurs war nicht zu überhören. Er lag schwer auf jedem Wort des französischen Mechanikers. Florance war das von klein auf vertraut, auch die Erzieherinnen des Londoner Waisenhauses besaßen ihn. Er gehörte zu ihnen, so wie jedes Zimmer ein Porträt von Kaiser Napoleon aufwies, der diese Einrichtung höchstpersönlich gegründet hatte. Am Morgen nach dem Weckruf ließ die Leiterin des Waisenhauses die Kinder in der Andachtshalle antreten. Damit sie gemeinsam dem Kaiser, der Großbritannien nach dem großen Krieg unter seine Obhut genommen hatte, dafür dankten. Den Tag über sprachen sie ausschließlich Französisch mit den Kindern. So lernten sie die Ausdrucksweise am schnellsten. Bei den Kleinsten erlaubten sie für gewöhnlich immer wieder einmal eine Ausnahme, besonders, wenn diese Schwierigkeiten hatten, sich einzugewöhnen. Es wunderte Florance, warum der Monsieur mit ihr Englisch sprach, obwohl sie fließend Französisch beherrschte. Aber sie wagte nicht, ihn danach zu fragen.

»Es wäre eine Vergeudung, disch nischt zu fördern«, sprach der Monsieur weiter. »Metall und Dampf liegen dir im Blut. Ich habe misch da’er entschlossen, etwas Ungewö’nlisches zu tun. Etwas beina’e Anstößiges.« Der Monsieur atmete einmal tief ein und aus. »Du wirst bei mir in die Le’re gehen. Obwo’l du als Tochter englischer Eltern natürlisch niemals die Akademie in London besuchen wirst. Das ist nur uns Franzosen gestattet. Trotzdem kannst du es weit bringen, wenn du es willst. Das ist sischer.«

Obwohl Monsieur Pignon ihr keine Frage gestellt hatte, antwortete Florance artig. Sie war erst zehn Jahre alt, seit sie denken konnte hier im Waisenhaus, aber nicht dumm. Das war sicher einer der Gründe, warum der Monsieur sie zu sich holen wollte. Den anderen hatte er ihr eben genannt. Innerlich jubelte sie vor Freude. Sie kam hier endlich heraus. Zwar hatte sie in den letzten Jahren eine, vielleicht zwei Freundschaften geschlossen, doch die Mädchen waren recht schnell zu ihren neuen Eltern gezogen. Französische Waisen für französische Eltern. So war es eben. Florance war seitdem mehr für sich geblieben.

»Qui, Monsieur.«

»Bon. ’eute wird dein letzter Tag ’ier im Waisenhaus sein. Isch warte vor der Eingangstür auf disch. Du ’ast genug Zeit, deine ’abseligkeiten zusammenzupacken. Aber vor’er …«

Der Monsieur drehte sich abrupt zu ihr um und sah sie eindringlich an.

»Ja, Monsieur?«

»Vor’er musst du aufwachen, Florance. Du musst aufwachen.« Er eilte zwei Schritte vorwärts, stand plötzlich genau vor Florance, hatte sie an den Schultern gepackt und schüttelte sie.

»Was … was soll ich?«, antwortete sie begriffsstutzig.

»Wach auf! Wach um ’immels willen auf, Florance! Isch bitte disch!«

Mühsam öffnete sie die Augenlider, obwohl sie hätte schwören können, dass sie gar nicht geschlossen gewesen waren. Direkt über ihr schwebte das verschwommene Gesicht Monsieur Pignons. Seine Stirn war von Sorge zerfurcht. Ein Ölfleck zog sich quer über Nase und Wange. Eine Brandblase hatte sich auf der anderen Seite gebildet. Schmerzlich stellte Florance fest, dass er sie immer noch schüttelte. Warum sah sie ihre Umgebung nur so unscharf? Sie spürte, wie ihre Magensäure brodelte und ihr übel wurde.

»Monsieur … Pignon, Sie können jetzt … damit aufhören.« In ihrem Kopf schlug jemand dröhnend gegen einen riesigen Gong. Für einen Moment wünschte sie sich das Sirren zu Beginn ihrer Ohnmacht zurück. Das wäre erträglicher. »Bitte. Ich … bin doch … da«, stöhnte sie, während sie sich mühselig hochstemmte. Monsieur Pignon reichte ihr eine Hand und hievte sie auf ihre Füße. Die Explosion hatte sie tatsächlich mehrere Meter tief in die Maschinenhalle geschleudert.

»Isch befürschtete, du wärst …« Monsieur Pignon sprach es nicht aus, aber auch so wusste Florance, was er meinte.

»Bin ich nicht. Zum Glück. Aber was genau ist eigentlich passiert?« Stöhnend rieb sie sich die Stirn. Bei der Bewegung stieg ihr der Geruch von verschmortem Haar in die Nase. Seufzend zog sie die Reste ihrer Mähne nach vorne. Die Hitze hatte sie ein gutes Stück davon gekostet, sodass die übrig gebliebene Länge bis kaum auf die Schulter reichte.

»Was passiert ist? Wir wurden sabotiert!« Von einer Sekunde auf die andere verflog die Sorge des Monsieurs und tauschte den Platz mit der Wut des Gerechten. »Ein verfluchter irgendwer hat sisch eingeschlischen und den Druckverteiler beschädigt. Bevor isch mitbekam, was nischt stimmt, ist das Ding schon in die Luft geflogen. Dieser jemand wusste se’r genau, was er tat.«

Florance sah angestrengt zu der Stelle, an der sie vorhin zwischen die Rohre geklettert war. Langsam schärften sich Schemen zu Umrissen. Vom Druckverteiler war nur eine rauchende Ruine übrig geblieben. Teile des Kessels lagen verstreut herum. Einer der großen Kolben war umgestürzt und hatte eine der Zuleitungen verbogen.

»Ein Saboteur? Aber warum? Warum hier?«

»Was weiß denn isch? Nischt jedem Engländer gefallen die französischen Freunde des Earls, n’est-ce pa?«

»Die sind dann aber Unruhestifter, Monsieur, keine Saboteure«, überlegte Florance. Allmählich wurde das Dröhnen in ihrem Kopf leiser. »Womöglich ist es wegen dem morgigen Treffen der Erfinder. Das Symposium des Earls. Wir sollten schleunigst mit den Reparaturen anfangen.« Florance rückte ihre Jacke zurecht und klemmte sich eine lose Haarsträhne hinter das linke Ohr. Sie war bereit, sofort loszulegen, obwohl sich ihre Beine etwas wackelig anfühlten. Ihr Vormund hielt sie auf.

»Nischt einmal ein gewaltiges ’eer von Meschanikern wird dieses Durscheinander bis morgen Abend reparieren können. Selbst, wenn isch das überhaupt irgendwo’er bekäme. Und du musst dich ausru’en.« Monsieur Pignon seufzte ratlos. »Wir ’aben im Lager keinen Ersatz für den Verteiler. Und bis ein anderer aus London eingetroffen ist, ist es längst zu spät.«

»Aber wir müssen doch irgendwas tun können!«, protestierte Florance. »Mit Ihrem Wissen bauen wir im Handumdrehen selbst ein Ersatzgerät.«

»Florance, vielleischt dieses Mal nischt. Sogar isch weiß gerade nischt weiter. Ich werde nach oben ge’en und dem Earl beischten, dass er eine Weile auf einige Dinge verzischten muss. Die Aufzüge, die Verteidigungsanlagen … und vor allem die Neuerungen, die er seinen Gästen präsentieren wollte. Mit ein bisschen Glück bringt ihn das nischt um.« Monsieur Pignon verzog den Mund zu einem misslungenen Anflug von Galgenhumor. Erschöpft rieb er sich mit der flachen Hand über die Stirn. Florance hatte ihren Mentor noch nie so niedergeschlagen gesehen.

Ein Klingeln schallte durch die Maschinenhalle. Jemand hatte die Rufanlage des Hauses betätigt und Florance rechnete sich an zwei Fingern aus, wer es war.

»Ich fürchte, er weiß es bereits, Monsieur.«

Monsieur Pignon nickte. Dann eilte er zur Anlage herüber, nahm die beiden Messingtrichter von der Wand, hob den einen an sein Ohr, den anderen vor seinen Mund.

»Qui?«

Es folgte eine Pause, in der Monsieur Pignon schwieg und zuhörte. Dann nickte er, gab eine kurze Antwort und hängte die Trichter an ihren Platz. Mit einem ungehaltenen Gesichtsausdruck drehte er sich zu Florance um.

»Der junge Lord Edward ist von seiner Spazierfa’rt zurück. Und wie üblisch verlangt er nach dir. Wie es aussie’t, wurde dein Wunsch nach etwas zu tun soeben erfüllt. Geh und sie’ nach, was dieser …«

»Cretin?«, half Florance frech aus.

»… was der junge Lord für ein Problem mit der Droschke ’at«, berichtigte Monsieur Pignon. »Auch, wenn isch davon ausge’e, dass er selbst mal wieder die Ursache ist. Wenn du das erledigt ’ast, legst du disch für eine Weile ’in, verstanden? Isch werde Earl ’ellingway inzwischen Berischt erstatten.«

»Wenn Lord Edward die Droschke schon wieder verbeult hat, dann kann er was erleben.« Genervt verdrehte sie die Augen beim Gedanken an den Sohn des Earls, was ihr Kopf sofort mit einem schmerzhaften Stich bestrafte. »So furchtbar wie er kann doch niemand auf dieser Welt fahren.«

»Wollen wir es ’offen. Und, Florance …«

»Ja, Monsieur Pignon?«

»Vergiss nischt wieder, wer Lord und wer Bedienstete in diesem ’aus ist«, mahnte ihr Vormund. Damit wandte er sich um und verließ die Maschinenhalle. Florance sah ihm hinterher, bis er durch die Ausgangstür verschwunden war. Erst dann flüsterte sie zähneknirschend ihre Antwort.

»Natürlich, Monsieur.« Bestimmt würde ihr das leichter fallen, wenn Lord Edward sie nicht ständig mit seinen Angebereien von ihrer wichtigen Arbeit abhalten würde, grummelte sie in Gedanken.

4

EINE GEHEIME LIEFERUNG

Mit der Werkzeugtasche über ihrer Schulter eilte Florance den engen Flur entlang, der ausschließlich den Bediensteten vorbehalten war. Von den Herrschaften sah man hier unten nie jemanden. Obwohl es beinahe Mittag war, lag der Korridor in einem schummrigen Licht. Wenige, kleine Fenster und nur ab und zu eine Gaslampe an der Wand waren nicht genug, um für ausreichend Helligkeit zu sorgen. Gerade in diesem Moment war sie tatsächlich dankbar dafür. Kopfschmerzen ließen sich im Dunklen viel besser ertragen. Aus der offenen Küchentür roch es verführerisch nach Kohl und geschmortem Kaninchen. Vermutlich bereitete Margret gerade den Lunch für den Earl und seine Familie vor.

Wie auf Kommando knurrte ihr der Magen. Sie hatte nichts gegessen, seit sie am Ende ihrer letzten Schicht schlafen gegangen war. Eigentlich habe ich es doch nicht so eilig, entschied Florance grinsend. Lord Edward durfte sich ruhig noch etwas gedulden. Soll er doch warten, bis er vor Langeweile versauert. Ihr war klar, dass sie dem Sohn von Earl Hellingway und seinen Angebereien nicht für lange entkommen würde. Er fand immer neue Wege, sie zu irgendwelchen Arbeiten herbeizuzitieren, um sich dann vor ihr aufzuspielen. Dämlicher Angeber.

Sie drehte sich kichernd um und lugte in den gekachelten Raum hinein. Margret führte ihr Reich mit einer Strenge, die sogar die der verstorbenen Hausherrin übertraf. Wenn die Herrschaften gegessen und sich zufrieden zurückgezogen hatten, erst dann gab die Köchin das Essen für die Bediensteten frei. Sich ohne ihre Einwilligung etwas davon zu stibitzen, grenzte in Margrets Augen an ein Sakrileg. Beim Anblick der zubereiteten Köstlichkeiten lief Florance das Wasser im Mund zusammen. Die Übelkeit schien wie weggeflogen zu sein. Die Köchin stand mit dem Rücken zur Tür und hantierte summend mit den Töpfen am Ofen herum. Sie würde es gar nicht mitbekommen, wenn Florance sich heimlich eine Stärkung genehmigte. Immerhin hatte sie weder die Zeit für ein Frühstück gehabt, noch war jetzt der richtige Moment für eine ausgiebige Mahlzeit. Und zu fragen bereitete ihr einfach zu wenig Vergnügen.

Schritt für Schritt schlich sie auf Zehenspitzen vorwärts. Die kleinen Pasteten auf der Anrichte waren genau das Richtige. Vorsichtig stopfte sie sich eine in den Mund, zwei für später in ihre Jackentasche. Zufrieden kauend stahl sie sich rückwärts davon, die Arme nach hinten ausgestreckt, bis sie die Tür an ihren Fingern spürte. So gut wie geschafft. Triumphierend huschte ein Glucksen über ihre Lippen, bevor sie es unterdrücken konnte. Sie blieb stehen und wartete, die Köchin schien jedoch nichts gehört zu haben. Nur auf den Flur zurück und dann ab nach draußen. Da streifte Florance’ Werkzeugtasche den Türrahmen. Das Metall der Schraubschlüssel schepperte gegeneinander. Abrupt endete das Geklapper der Töpfe.

»Wenn du glaubst, ich wüsste nicht, was in meiner Küche vor sich geht, dann kennst du mich wirklich schlecht, Florance«, sagte Margret, ohne sich umzudrehen. »Aber das werden wir ändern, wenn du freche Göre den Abwasch erledigst. Du legst zurück, was du genommen hast, und machst dich sofort an die Arbeit.«

Der Tonfall der Köchin klang überaus energisch, trotzdem glaubte Florance, so etwas wie Belustigung herauszuhören. So entschieden, wie Margret sich gewöhnlich gab, so gewogen zeigte sie sich meist Florance gegenüber. Insgeheim beschloss sie, den Küchendienst als Strafe zu akzeptieren. Aber erst später, wenn sich dafür Zeit erübrigen ließ.

»Ich würde ja doch nur das Geschirr zerschlagen, so ungeschickt ich mich dabei anstelle«, antwortete Florance kauend, ohne ihre Tasche abzusetzen. »Und das sind die Pasteten definitiv nicht wert gewesen.«

»Du möchtest also gern den Rest der Woche bei mir in der Küche verbringen und auch noch den Boden schrubben?«, wetterte die Köchin und drohte mit der Scheuerbürste. »Du weißt sehr genau, dass meine Pasteten das Beste sind, was je in dieser Küche gekocht worden ist. Der Monsieur und der Earl sind sich da einig.«

»Dann sollten die beiden vielleicht den Abwasch machen«, lachte Florance ungeniert. Die Köchin stemmte die Hände in die Hüften und schnaufte erregt. Sie sollte schleunigst das Weite suchen, bevor Margret ihre Drohung wahr machte und sie tatsächlich abwaschen ließ. Florance ruckte die Werkzeugtasche auf ihrer Schulter zurecht und lief auf den Flur hinaus. Der Unmut der Köchin folgte ihr bis zur Rückseite des Gebäudes, wo der Sohn des Earls auf sie wartete. Graue Wolken zogen über den Himmel. Es sah nach Regen aus. Der Wind trug die Kühle des Herbstes mit sich und Florance fröstelte. Sie schloss die Knöpfe an ihrer Jacke und zog den Kopf zwischen die Schultern.

Edward verhielt sich mit seinen siebzehn Jahren bereits so, als gehöre Birch Manor ihm und nicht dem Earl. Florance ging die Prahlerei gründlich auf die Nerven. Seit Monsieur Pignon ihr aufgetragen hatte, sich um den Fuhrpark Earl Hellingways zu kümmern, ließ es sich nicht vermeiden, Edward immer wieder über den Weg zu laufen. Der Junge liebte es, mit den Dampfdroschken die Feldstraßen entlangzurasen. Steine, Unebenheiten oder andere Hindernisse störten ihn dabei herzlich wenig. Stolz präsentierte er ihr nachträglich die ramponierten Fahrzeuge, die sie dann zähneknirschend reparierte. Wie man derart rücksichtslos mit den teuren Maschinen umgehen konnte, war ihr ein Rätsel. Sie träumte seit Ewigkeiten davon, irgendwann selbst eine der Dampfdroschken zu besitzen. Schon mit sieben Jahren war Florance fasziniert von den Fahrzeugen gewesen. Am liebsten hatte sie sich am Zaun vor dem Waisenhaus aufgehalten und die vorbeifahrenden Droschken beobachtet. Für sie war es gewiss so gut wie ausgeschlossen, jemals das nötigte Geld für eine aufzubringen oder die Fahrlizenz aus eigener Tasche zu bezahlen. Edward begriff überhaupt nicht, welches Privileg er so selbstverständlich genoss.

Als sie den Kiesweg zu den Fahrzeughallen erreichte, drang ein kränkelndes Motorengeräusch zu ihr. Im Leerlauf gab die Droschke ein schleifendes Geräusch von sich. Ab und zu jaulte der Motor förmlich auf. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, wie es sich mit eingelegtem Gang anhören würde. Unwillkürlich beschleunigte sich ihr Schritt. Dieses Mal hatte er ganze Arbeit geleistet, das war überhaupt nicht zu bezweifeln. Edward lehnte mit verschränkten Armen gegen die rechte Fahrzeugseite. Die blonden Haare steckten unter einer Schirmmütze, die verstaubte Fahrerbrille hatte er nach oben geschoben. Damit und in der Lederjacke mit Halstuch sah er durchaus beeindruckend aus, das musste Florance zugeben. Sein Auftreten dagegen war eher zum Weglaufen. Edward wartete mit dem selbstgefälligen Lächeln eines Siegers auf sie.

»In nur 43 Minuten von Leeds bis nach Bradford. Das ist neuer Streckenrekord.«

»Beeindruckend, Lord Edward«, sagte Florance betont freundlich, während sie an das Fahrzeug herantrat. Sie bemühte sich wirklich, ein nettes Gesicht zu zeigen. Innerlich kochte sie vor Wut. Die Karosserie war schlammverschmiert und ein unterarmlanger Kratzer zog sich quer über den Kotflügel. Auf der abgewandten Seite der Droschke fanden sich garantiert noch ganz andere Schäden. »Ein weiterer Erfolg neben dem, die meisten Droschken in der Grande Nation zu Schrott gefahren zu haben.«

Edward ignorierte die Spitze achselzuckend und sonnte sich in seiner Zufriedenheit. »Wo Grenzen zerschmettert werden, gibt es eben ab und zu ein paar Verluste. Du solltest mich beim nächsten Mal begleiten. Dieses Gefühl ist atemberaubend«, schwärmte er. »Der Fahrtwind, die Geschwindigkeit, die absolute Kontrolle über ein Fahrzeug, das dir sofort den Garaus machen wird, wenn du nur eine Sekunde deine Konzentration verlierst.« Er beugte seinen Oberkörper in ihre Richtung. »Du sähest sehr hübsch auf dem Beifahrersitz aus, in einem Kleid. Du hast doch eins? Ein Kleid, meine ich.«

Florance atmete tief ein. In Gedanken fluchte sie lautstark. Was für ein Schwachkopf. Eher gab Napoleon seine Kaiserwürde ab, als dass sie mit ihm zusammen freiwillig irgendwo hinfahren würde. Edward hatte keinerlei Gefühl für die Maschinen, die er angeblich so sehr schätzte. Und er merkte es nicht einmal. Falls überhaupt, dann saß sie am Steuer.

»Ja, genau«, seufzte sie. »Wenn ich mir bitte anschauen dürfte, was von der Droschke übrig geblieben ist? Der Motor hört sich an, als ob ein gewisser jemand damit einen Steinbruch geschliffen hätte.«

Edward ignorierte auch diesen Vorwurf und zeigte weiter sein überhebliches Grinsen. Es juckte Florance in den Fingerspitzen, dem Sohn des Earls einmal zu zeigen, wie man im Waisenhaus mit ihm umgesprungen wäre. Sie wusste allerdings auch, dass sie diesem Gefühl nicht nachgeben durfte. Die Ermahnung Monsieur Pignons wog schwer. Er würde sie nicht vor einem Rauswurf bewahren können, sofern eine weitere Beschwerde über sie das Ohr des Earls erreichte. Es gab zweifellos wichtigere Aufgaben, um die er sich zu kümmern hatte. Monsieur Pignon zu enttäuschen, war das Letzte, was sie tun wollte.

»Ich möchte nach dem Lunch eine längere Runde drehen«, redete Edward unbeeindruckt weiter. Nicht einen Zentimeter rückte er zur Seite, um ihr Platz zu machen. »Es wäre großartig, wenn die Droschke bis dahin wieder repariert ist. Und sieh zu, dass du aus dem Motor noch etwas mehr Geschwindigkeit herauskitzelst. Für dich ist das doch bestimmt kein Problem, oder?«

»Wenn der Lord es wünscht, werde ich mein Möglichstes tun«, presste sie zwischen den Zähnen heraus.

Demonstrativ ließ Florance die Werkzeugtasche fallen. Edward sprang beiseite, damit sie nicht auf seinen Füßen landete. Die metallene Ausrüstung schepperte lautstark. Ein Glück, dass Monsieur Pignon das nicht mitbekommen hat, dachte sie. Werkzeug war der rechte Arm eines jeden Mechanikers und man behandelte es mit Respekt und Sorgfalt. So hatte er es ihr beigebracht.

Vorsichtshalber wich Edward einen weiteren Schritt rückwärts. Sein Grinsen verlor eine Spur der Selbstsicherheit, wie Florance zu ihrer Genugtuung bemerkte. Doch nicht so ein großer Held. Aus der Distanz beobachtete er, wie sie die Motorhaube öffnete und sie mit einer dünnen Stange feststellte. Dampf stieg unter der Abdeckung nach oben. Der Motorblock strahlte so viel Hitze ab, dass sie fast schätzte, er würde glühen. Sie wedelte mit beiden Händen, bis sich der Dunst einigermaßen verzogen hatte.

Schon auf den ersten Blick sah Florance, was das schleifende Geräusch verursachte. Die Ventile hatten bei der rücksichtlosen Fahrt des Lords einiges abbekommen und mussten ausgetauscht werden. Die Riemen sahen kaum besser aus. Vermutlich blieben das nicht die einzigen Probleme. Auf jeden Fall würde sie sich später unter die Karosserie legen und die Achsen prüfen. Die waren sicher ebenfalls beschädigt. Später, sobald Edward zum Lunch verschwunden war. Schwachkopf, wiederholte Florance in Gedanken. Es grenzte an ein Wunder, dass es die Droschke überhaupt zurück zum Landgut geschafft hatte. Sie sah über ihre Schulter, als sie Schritte auf dem Kiesweg hörte, und seufzte still. Die hatte ihr gerade noch gefehlt.

»Mit diesem verdreckten Ding sollen wir in die Stadt fahren? Alison, das ist eine Zumutung. Ich werde zum Gespött der Leute.«

Florance drehte sich um und verbeugte sich höflich. Edwards Schwester stürmte heran, den Schirm wie einen Säbel von sich gestreckt. Vor Florance und der Droschke blieb sie stehen. Hinter ihr folgte Mrs Leboir, die Mamsell von Birch Manor, die zugleich als Gesellschafterin für Lady Victoria diente. Während die Mamsell Florance freundlich und fast entschuldigend zunickte, zeigte Victoria nur zu deutlich ihre Entrüstung. Mit der Schirmspitze deutete sie auf Florance, fixierte aber mit Funken sprühendem Blick ihren Bruder Edward.

»Mich lässt man nicht derart warten«, schimpfte sie. »Ich hatte mehrfach läuten lassen, aber niemand hat über die Sprechanlage geantwortet. Nicht Monsieur Pignon und ebenso wenig seine Gehilfin. Es ist unfassbar! Man zwingt mich, selbst nach einem Fahrzeug zu suchen, anstatt dass man vorfährt und mich abholt. Das muss man sich einmal vorstellen! Wozu beschäftigen wir das ganze Personal, wenn es nicht das tut, was es soll?« Erbost stampfte sie mit dem Fuß auf den Kiesweg.

»Ich bin mir sicher, dass es sich um ein Missverständnis handelt, Lady Victoria«, erklärte die Mamsell. »Miss Bell wird bestimmt gleich eine andere Droschke vorfahren und uns dann umgehend nach Leeds bringen.«

»Das soll sie sofort tun! Ich habe bereits lange genug gewartet.«

»Dann wirst du dich leider noch etwas länger in Geduld üben müssen, Schwesterlein«, warf Edward ein. Die Entrüstung seiner Schwester beeindruckte ihn kein bisschen. »Ich brauche sie hier. Florance wird mit ihren überaus entzückenden Händen erst meine Droschke auf Vordermann bringen.«

»Damit du sie weiter so schamlos anschmachten kannst? Dieses hässliche Ding? Eine Bedienstete? Voller Dreck und mit Öl verschmiert? Und hast du ihre Haare bemerkt? Was ist damit eigentlich passiert?«, giftete Victoria und bedachte Florance mit einem herablassenden Blick. »Dass du dich nicht in Grund und Boden schämst, Edward.«

Die boshaften Worte trafen Florance sehr, sie griff sich zwar etwas betreten in die angeschmorten Haare, aber ließ sich ansonsten nichts anmerken. Wieso war die Tochter des Earls immer so gemein zu ihr? Ja, Florance war eine Bedienstete, die in einer eigenen, winzigen Kammer schlafen durfte, weil sie das Mündel des Meistermechanikers war. Darüber hinaus verdiente sie sich ihr Leben auf dem Landgut mit täglicher, harter Arbeit. Dabei machte man sich nun mal schmutzig. Aber war das Grund genug, sie deswegen so zu behandeln?

Mrs Leboir legte vorsichtig eine Hand auf Victorias Arm und versuchte, die Lady mit ruhigen Worten zu besänftigen. »Lady Victoria, es gehört sich wirklich nicht für eine Dame von Stand, sich derart auszudrücken. Ihrem Vater würde das bestimmt nicht gefallen. Wir werden eine Lösung finden, die allen gerecht wird. Mit ein wenig Nachsicht.«

»Meinem Vater«, schnaubte Victoria und verdrehte die Augen. »Alison, ich benötige jetzt keinen Unterricht.« Dann stach sie mit der Schirmspitze ein weiteres Mal in Florance’ Richtung. »Also, was ist jetzt? Können wir in die Stadt fahren oder nicht?«

»Kannst du nicht«, grinste Edward. »Wie gesagt, sie hat Wichtigeres zu tun.«

»Miss Bell wird bestimmt …«, versuchte es die Mamsell erneut.

»Ich warte«, schnaubte Victoria dazwischen. »Tu gefälligst, was ich dir sage.« Ihr Blick bohrte Florance in Grund und Boden, während sie gleichzeitig die Kiefer aufeinanderpresste.

Florance’ Blick flog zwischen Edward, der Mamsell und Victoria hin und her. Merkten sie denn nicht, dass sie alle an ihr herumzerrten? Tu dies, lass das, denk daran. Die Kopfschmerzen meldeten sich zurück und schossen kleine Blitze durch ihren Verstand. Obwohl sie es beinahe schon vergessen hatte, sie war vorhin erst nur knapp einem explodierenden Druckverteiler entronnen. Florance setzte zu einer Antwort an, in der Absicht zu berichten, dass Monsieur Pignon ihr aufgetragen hatte, sich auszuruhen, und dass es ihr gerade nicht möglich war, eine Droschke zu steuern, da durchschnitt ein gellendes, lang gezogenes Pfeifen die Luft. Victoria schrie erschrocken auf und schlug die Hand vor den Mund. Gleichzeitig drehten sich die Mamsell und Edward verwundert um. Ein bebendes Stampfen, begleitet von einem Grollen, ließ die Erde erzittern und die Motorabdeckung der Droschke klappern. Die Haltestange rutschte aus ihrer Position und fiel zur Seite. Die Abdeckung folgte ihr sogleich und schepperte auf das Chassis. Das Beben musste von vorne, von der Birken-Allee herkommen, die dem Landgut seinen Namen gegeben hatte und auf das Herrenhaus zuführte. Eine bessere Gelegenheit für eine Flucht würde Florance vermutlich nicht bekommen. Außerdem brannte sie darauf, zu erfahren, was da vor sich ging.

Sie schob sich zwischen der Mamsell und Victoria hindurch und eilte auf das Ende der Fahrzeughallen zu. Kaum hatte sie die letzte Ecke umrundet, blieb sie mit offenem Mund stehen. Ein haushohes Ungetüm wälzte sich unaufhaltsam über die gesamte Breite der Landstraße dem Anwesen entgegen. Dreck brandete an seinen Flanken auf und spritzte in kniehohen, schmutziggelben Wellen zur Seite. Gebannt starrte Florance das riesige Etwas an. Sie merkte kaum, wie Edward, seine Schwester und die Mamsell neben sie traten. Keiner wandte den Blick von dem heranstampfenden Fahrzeug ab. Selbst Victoria war ehrfürchtig verstummt.

Der Koloss auf der Straße sandte ein weiteres hohles Pfeifen gen Himmel, durchdringend und ohrenbetäubend. Florance schluckte und kämpfte gegen den Kopfschmerz an, den das Geräusch auslöste. Wie der wütende Aufschrei eines wilden Tieres, überlegte sie. Eines gewaltigen, wilden Tieres. Die Behemoth-Transporter der Gendarmerie de Britannia wurden auf dem Kontinent für die Verfrachtung von schweren Lasten gebaut, die ein normales Gefährt nicht bewältigte. Viele von diesen Fahrzeugen gab es nicht und sie außerhalb von militärischen Operationen zu Gesicht zu bekommen, glich einem Wunder. Sie wirkten trotz ihres Umfangs nicht schwerfällig, nein, viel eher majestätisch, fand Florance. Der Bauch des Ungetüms – eisenschwarz, quadratisch und mehr als drei ausgewachsene Männer hoch – war von einem breiten, rauchenden Schlot gekrönt, der Asche und schwarzen Dampf ausstieß. Direkt dahinter lag die Führungskanzel, ein schmaler Kasten aus Metallstreben und Glas. Florance meinte, eine Gestalt hinter dem Fenster zu erkennen, die an den Steuerinstrumenten hantierte. Es musste unendlich viele Yards kosten, einen solchen Transporter zum Halten zu bringen, war er erst einmal in Fahrt gekommen. Aber was tat dieser hier? Mitten auf dem Land und weit weg von Leeds und jeder anderen größeren Stadt.