Flucht aus Syrien -  - E-Book

Flucht aus Syrien E-Book

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Beschreibung

Die Stiftung Respekt! hat sich ein Jahr lang mit jungen Geflüchteten aus Syrien beschäftigt, Wissenschaftler*innen u. a. Expert*innen befragt – und vor allem junge Geflüchtete selbst. In diesem Buch kommen sie zu Wort. Denn Wissen und Empathie schützen vor Vorurteilen und Hassschürern.

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Klaus FarinRafik Schami(Hrsg.)

FLUCHT AUSSYRIEN —

neue Heimat Deutschland?

Ein Respekt!-Buch

Originalausgabe

© 2018 Hirnkost KG, Lahnstraße 25, 12055 Berlin

[email protected]

www.jugendkulturen-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage Juli 2018

Vertrieb für den Buchhandel: Runge Verlagsauslieferung ([email protected])

Privatkunden und Mailorder: shop.hirnkost.de

Layout: Linda Kutzki, textsalz.de

ISBN:

PRINT: 978-3-945398-80-7

PDF: 978-3-945398-81-4

EPUB: 978-3-945398-82-1

Dieses Buch gibt es auch als E-Book – bei allen Anbietern und für alle Formate.

Unsere Bücher kann man auch abonnieren: shop.hirnkost.de

Dieses Buch wäre nicht möglich gewesen ohne die Förderer der

Respekt!-Projekte zu jungen Geflüchteten aus Syrien:

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Klaus Farin

„Überall in der Stadt fielen Bomben. Nur Glück, der Zufall entschied, ob man überlebte oder nicht.“

„In Deutschland kann ich mich endlich unabhängig bewegen, ohne Hijab.“

„Über Religion, Politik und Sport spreche ich ungern. Jeder hat seine Meinung und ändert sie nie.“

„Faulheit ist auf jeden Fall nicht gewollt im Ramadan.“

„Sie haben mit uns an der Militärakademie eine systematische Gehirnwäsche gemacht.“

„Die Revolution ist tot. Wir haben verloren.“

„Meine Zukunft liegt hier in Deutschland.“

Von der Revolution zum Stellvertreterkrieg

Kristin Helberg

„Ich habe keine Angst. Nie.“

„Wir können in Deutschland viel Gutes machen.“

„Dort hatte ich ein Leben, hier habe ich ein Ziel.“

„Es ist falsch, mit Gewalt für den Frieden zu kämpfen.“

„Es fehlt Forschung, die den urbanen Alltag zum Sprechen bringt.“

Umfrage unter Wissenschaftler*innen zum Thema Flucht

Klaus Farin

„Als der Islamische Staat unsere Stadt eroberte, hörte das Leben dort auf, als könne das Herz der Stadt nicht mehr schlagen.“

„Vor dem Krieg war das Leben in Syrien richtig schön.“

„Diese Nazis stören mich.“

Ankommen, Alltag und Zukunft in Deutschland – Perspektiven junger Männer aus Syrien im Bundesfreiwilligendienst

Gesa Köbberling, Barbara Schramkowski

„Die Sprache ist der Schlüssel des Landes.“

„Viele Leute hier wissen nicht, dass wir auch einen Kühlschrank haben. Sie denken, dass wir aus der Wüste kommen, in einem Zelt wohnen und auf einem Kamel reiten.“

„Ich kann nicht einfach nur herumsitzen, ich muss etwas machen.“

Die Kopftuchfrage

Klaus Farin

„Ich bin wegen dem Krieg hier. Aber ich will meine Religion behalten. Sie ist mein Leben. Ich bin so glücklich, dass ich Muslimin bin.“

„Das Wichtigste am Islam ist eigentlich, dass man ein guter Mensch ist und sich verantwortungsvoll verhält.“

„Es ist viel Hass entstanden.“

Männliche* Geflüchtete: Von der Teilnahme zur Teilhabe in pädagogischen Angeboten

Olaf Jantz, Helge Kraus

„Es gibt viele Gesetze hier, und das ist, was ich wirklich mag.“

„Auch bei einer Hand sind nicht alle Finger gleich.“

„Den Geruch unseres Kaffees vermisse ich jeden Tag.“

„Verglichen mit Deutschland gibt es in Syrien viel mehr Kulturen.“

Mehrsprachigkeit als Chance

Ingrid Gogolin

„Ich werde mein ganzes Leben lang überall auf der Welt immer, wenn jemand mich böse anguckt, denken: Der kommt aus Deutschland.“

„Eigentlich habe ich mich in Syrien wie ein Fremder gefühlt.“

„Die Proteste haben die Seelen der Menschen befreit.“

Die Insel der Glückseligen und die Geflüchteten

Rafik Schami

Anhang

„Berlin ist besser als Damaskus. Hier findet man alles, was man will: arabisches Essen, arabische Märkte, ganze Straßen voller arabischer Bewohner …“

Kein Ort auf dieser Welt hat es verdient, das ganze Leben dort zu verbringen.“

„Ich habe noch nicht einen Deutschen kennengelernt.“

„Deutschland hat mich ermüdet.“

„Ich finde die Deutschen nett. Die mögen es, zu helfen.“

„Vor der Revolution fühlte ich nie Unterschiede oder Probleme zwischen den Religionen.“

„Ich glaube an etwas, was ich in der Schule gelernt habe: Du sollst ein guter Mensch sein, du sollst nicht lügen.“

„Allein sitzen und keine Freunde und mit keinem reden, das ist sehr schwer.“

„Hunde sind sehr wichtig hier. Fast gleich wie ein Kind.“

„Die deutsche Gesellschaft ist multikulturell und ethnisch sehr reich.“

„Man fühlt sich hier manchmal wie in einem Laufrad. Man rennt und rennt, obwohl man nicht rennen will.“

„Die deutsche Bürokratie ist ein ewiges Ding, wie ein Berg, der niemals abgetragen werden kann.“

„Die Deutschen sind keine Expressionisten.“

„Solange ich mich gut mit dem verstehe, juckt es mich nicht, was der für eine Nationalität hat.“

„Den ISIS-Leuten durfte man nicht sagen, dass man Jura studiert. Sie halten das für eine Sünde, weil sie nur die Scharia anerkennen, keine weltlichen Gesetze.“

„Vor dem Krieg wusste man, dass Syrien eines der schönsten Länder der Welt ist. Heute ist nur noch eine Sache typisch syrisch, nämlich das syrische Leid.“

„Die Revolution geht weiter, ich möchte weiter daran teilnehmen und die Ergebnisse sehen.“

„Deutschland ist sehr emanzipiert und liberal. Aber die Deutschen fühlen sich wie Götter.“

„Die Menschenrechte sind ein wichtiges Gut in Deutschland, aber die deutsche Politik interessiert sich nicht so sehr für die Verletzung der Menschenrechte in Syrien.“

„Die Deutschen möchten keine neue Parallelkultur in ihrer Gesellschaft. Das finde ich in Ordnung.“

„Zwei Tage haben sie gebraucht, um das viele Blut von der Straße zu waschen.“

„Ich habe nie solches Essen hier gegessen wie in Syrien.“

„Der religiöse Eifer nimmt in jedem Krieg zu; das ist ein Phänomen, das sich nicht auf die Muslime beschränkt.“

Klaus Farin: Umfrage unter Wissenschaftler*innen zum Thema Flucht

Vorwort

Klaus Farin

Rund 70 Millionen Menschen – fast so viele, wie die Bundesrepublik Deutschland Einwohner*innen hat – sind weltweit auf der Flucht. Jede*r zweite von ihnen ist unter 18 Jahre. Die große Mehrzahl flüchtet lediglich in andere Regionen ihres eigenen Landes oder in direkte Nachbarstaaten. So hat allein der Libanon – ein Land mit 6,3 Millionen Einwohner*innen – bisher mehr als eine Million Geflüchtete aus Syrien aufgenommen. Lediglich rund 2,8 Millionen Geflüchtete beantragten seit 2015 Asyl in der Europäischen Union. Allerdings: Mindestens 35.000 Menschen sind in diesem Jahrhundert bereits bei dem Versuch, Europa zu erreichen, ums Leben gekommen.1

Deutschland und andere Länder sind stolz darauf, aus den Erfahrungen des Nationalsozialismus gelernt zu haben. Eine Lehre daraus ist die, dass Staaten Menschen in Not, die vor Krieg, Diktatur und Verfolgung aus ihrer Heimat fliehen, helfen müssen. Von den Nazis verfolgte Jüdinnen und Juden mussten auch deshalb sterben, weil andere Staaten Europas und die USA sie nicht aufnehmen wollten. 1951 unterzeichneten deshalb 147 Staaten die Genfer Flüchtlingskonvention, deren zentrale Botschaft auch bereits in Artikel 16a unseres Grundgesetzes formuliert wurde: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“

Anders als in den frühen 1990er Jahren, als das Thema Asyl ebenfalls gewalttätig explodierte, gab es ab 2014/15 eine breite Welle zivilgesellschaftlichen Engagements für Geflüchtete. Dies nicht nur in demonstrativer Form – Begrüßungsgruppen an den Bahnhöfen, Kundgebungen und Appelle gegen eine restriktivere Asylpolitik –, sondern vor allem im kontinuierlichen, ganz praktischen ehrenamtlichen Engagement Hunderttausender von Menschen im Alltag: von der Begleitung der Geflüchteten zu Behörden, Unterstützung bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, Deutschunterricht, Kinderbetreuung, Kleidersammlungen, medizinische Betreuung u. v. m. „In vielen Unterkünften und Erstaufnahmeeinrichtungen sind Freiwillige deutlich präsenter als Amtsträger und Hauptamtliche“ (Teune 2016). Sogar die Bild titelt im August 2014: „Flüchtlingen helfen – Was ich jetzt tun kann“ und weist im Beitrag dazu „die sieben größten Lügen über Asylbewerber“ zurück, etwa die, dass Geflüchtete Deutschen die Arbeitsplätze wegnähmen oder besonders kriminell seien.

Auch die ab November 2011 bekannt gewordenen Mordtaten der neonazistischen Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU), die sich fast ausschließlich gegen Menschen mit Migrationsgeschichte richteten, hatten die Sensibilität vieler Menschen für die schwelende Gefahr des Rassismus erhöht.

2016 kippte die Stimmung. Die Übergriffe in der Silvesternacht und terroristische Anschläge in Frankreich, Belgien und dann auch Deutschland weckten Empörung und Ängste, die von konservativer und rechtspopulistischer Seite geschürt wurden. So wurden nach den Ereignissen von Köln plötzlich Politiker zu Verteidigern der Frauenrechte, die ansonsten eher für ihre frauenfeindlichen Haltungen bekannt waren – etwa Vertreter der CSU, die erst wenige Jahre zuvor, 1997, die Vergewaltigung in der Ehe als Straftat anerkannte und damit eher widerwillig das Recht des Ehemannes auf jederzeitige sexuelle Dienstleistungen seiner Gattin einschränkte.

„Schämt euch, dafür das deutsche Volk anzubetteln!“

Am 22. Juni 2017 posteten wir auf Facebook Infos über unser Projekt, verbunden mit der Bitte um Spenden. Innerhalb von wenigen Minuten trudelten die ersten Kommentare ein, bis Ende der Woche waren es über 130. Vier Fünftel davon kamen von „Wutbürgern“. Interessanterweise hatten Admins von AfD-nahen und weiter rechts stehenden Seiten („Deutschland zuerst!“ etc.) unser Post sofort und kommentarlos auf ihren Seiten geteilt – offenbar, um schnell und zahlreich entsprechende Kommentare auf unserer Seite zu organisieren. In der Tat fanden sich bei fast allen der „besorgten Bürger“ Likes auf ihren eigenen Facebook-Seiten für die AfD, die „Deutsche Mitte Sachsen“ und ähnliche Gruppierungen. Das entspricht dem Strategiekonzept rechtspopulistischer und rechtsextremer Gruppen, die sozialen Netzwerke manipulativ zu nutzen und den Eindruck zu erwecken, „die Deutschen“ wären z. B. gegen Geflüchtete eingestellt. Nichtsdestotrotz spiegeln sich auch in den organisierten Postings die Einstellungen von etwa 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung authentisch auf den Punkt gebracht und damit auch für Andersdenkende lehrreich wider.

Wer sich hier aufführt, als Vergewaltiger, Schläger und Dieb der hat hier nix verloren. Jeden Tag liest man es doch, das wieder ein Kind oder Mädchen vergewaltigt wurde.

Ich helfe nur jemandem, der geprueft wurde als syrer und kontrolliert wurde, welche politische neigung er hat, wie viel geld er bei sich hat. Da das wohl nicht moeglich ist, werde ich sicher weder geld, kleider, zeit spenden und schon gar keinen in haus aufnehmen. Sonst koennte ich auch jedem obdqchlosen, bettler etc. Geld, kleider ind die hand druecken und ihn bei mir aufnehmen. Also, erstmal an grenzen wo auch immer wohncontainer bauen, die leute menschlich versirgen und kontrollieren was wahr ist. Waer ja das gesetz

85 % sind nur Wirtschaftsflüchtlinge. Ein Flüchtling ist Dankbar für Schutz und Hilfe, aber die Mehrzahl will nur in Deutschland eine hohe Grundsicherung aber nichts dafür Arbeiten. Den Angeblichen Flüchtlingen geht es Besser als vielen Rentnern und Hartz IV Empfänger. Und dennoch Meckern viele es gäbe zuwenig Geld

Wirkliche Flüchtlinge waren früher die Vietnamesen und die aus dem ehemaligen Jugoslawien die waren dankbar sehr höflich fleißig und sind auch zurück gegangen.

Ja es ist richtig, wir wissen viel zu wenig über die Ursachen und die Flucht der Menschen die hier ankommen ! Sie werden uns auch nicht die Wahrheit erzählen sondern nur das was für sie zur Erlangung des Asylstatus und den damit verbundenen Annehmlichkeiten beiträgt ! Was wir aber wissen und das kommt von der UNO, nur 3 % ! ! ! Aller über das Mittelmeer ankommenden “Hilfesuchenden” sind wirkliche Flüchtlinge. Auch die Syrer kamen über das Mittelmeer. Genau da sollte man ansetzen und auch nur diese 3 % aufnehmen. Für alle anderen ist keine Hilfe erforderlich und sie sollten sofort ohne Aufenthalt in ihre Heimatländer zurückgeführt werden. Dann wird auch die Hilfsbereitschaft der Menschen hier steigen !

Muss gerade lachen wenn ich so manche Kommentare lese. Flüchtlinge ??? Ahja Papiere alle weg aber das teure Smartphone konnte gerettet werden, weiter geht’s mit der Märchenstunde wer über mehr als 5 sichere Länder hier her kommt ist kein Flüchtling mehr sondern Sozialschmarotzer. Weiter wer hier her kommt vergewaltigt mordet seine Behausung abfackelt ist kein Flüchtling sondern ein Verbrecher. Euch Gutmenschen Teddybärchenwerfer sollte es mal treffen damit euch die Augen endlich aufgehen.

Ich weiß auch warum Sie flüchten aber was zu viel ist, ist zu viel schon gar nicht wenn wir Deutschen darunter leiden müssen

postet euren Müll doch nur auf Seiten der naiven Zombis und gut isses. Bei so vielen Bahnhofsklatschern müsste doch ein schönes Spmmchen zusammenkommen. Wärendessen sammeln unsere Rentner leere Pfandflaschen.

Altparteien Gutmenschen hängen mir zum Halse raus. Bettel in der Moschee, da wirst du Staunen was die Scheinasylanten für Geld besitzen. Für Jugendliche Flüchtlinge ist meine Rente zu schade.

Fluchtursache Nummer 1 ist das Angebot jeden aufzunehmen, der kommt und ihn fürstlich zu versorgen.

Das sind größtenteils Faulenzer, anstatt ihr Land aufzubauen hauen sie ab und überlassen ihre Frauen und Kinder im Dreck dahin vegetieren. Von mir keinen Cent

Von mir noch nicht mal das schwarze unter den fingernägeln, schämt euch, dafür das deutsche volk anzubetteln

Der komplette Thread ist auf der Facebook-Seite des Hirnkost Verlags dokumentiert.2

Viele schauen auf die AfD, Pegida und ähnliche Gruppierungen am rechten Rand der Gesellschaft, in der sich Xenophobe, Rassisten und neoliberale Empathieverweigerer lautstark sammeln (siehe dazu Farin 2018). Vergessen wird dabei, dass all diese Gruppen im Grunde genommen über keine legitimierte gesellschaftliche Macht verfügen. Sie sitzen zwar derzeit in fast allen deutschen Parlamenten, sind aber, anders als in Österreich und anderen europäischen Ländern, an keiner einzigen Regierung beteiligt, weder im Bund noch in den Ländern. Es stünde also der Mehrheit der Bevölkerung und ihren Repräsentant*innen frei, sie einfach zu ignorieren, ihnen mit Argumenten in die Parade zu fahren, wenn sie wieder einmal lautstark hanebüchene Forderungen aufstellen. Doch leider reagieren Politiker*innen aus allen anderen Parteien anders, vermeintlich oppositionell, in Wirklichkeit opportunistisch: Sie übernehmen Forderungen etwa der AfD, mitunter leicht abgeschwächt, entweder aus inhaltlicher Übereinstimmung oder aus dem naiven Glauben heraus, man könne diesen Spuk verschwinden lassen, wenn man selbst Forderungen dieser Gruppen aufnehme und zum Teil umsetze. Als ein rassistischer Mob im August 2015 zwei Nächte lang eine Unterkunft von Geflüchteten im sächsischen Heidenau attackierte, forderte der Erfurter Oberbürgermeister Andreas Bausewein (SPD) in einem Offenen Brief schnellere Abschiebungen und Kinder von Geflüchteten nicht mehr einzuschulen, bis ihr Status geklärt sei – um ein „zweites Heidenau“ zu verhindern.3 Als im Februar 2018 die „Essener Tafel“, eine von über 930 „Tafeln“ in Deutschland, die Lebensmittelspenden aus Supermärkten etc. sammeln und an Bedürftige verteilen, bekannt gab, dass sie ab sofort einen Aufnahmestopp für „Ausländer“ verhängen würde, damit auch „die ältere deutsche Dame oder die alleinerziehende Mutter“ wieder eine Chance habe, ernteten sie dafür zwar viel Kritik – u. a. von Bundeskanzlerin Merkel –, aber auch Zustimmung und Verständnis – u. a. von der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht: „Es kann nicht sein, dass die Ärmsten jetzt auch noch die Hauptlasten der Zuwanderung tragen sollen.“4

Geflüchtete waren nicht mehr Menschen, sondern „Lawinen“, „Fluten“, „Wellen“, „Stürme“, es ging immer häufiger nicht um Hilfe, sondern um „Eindämmung“ durch „Obergrenzen“ und Neudefinition von Kriegsgebieten und Staaten, in denen nach wie vor Menschenrechte mit Füßen getreten und Minderheiten brutal verfolgt wurden, als „sichere Herkunftsländer“. Die Menschen, die nach Europa flüchteten, waren nicht mehr Hilfsbedürftige, sondern „Sicherheitsrisiken“: „Fundamentalisten“, „Terroristen“, „Sozialschmarotzer“. Nachdem die damalige AfD-Bundesvorsitzende Frauke Petry im Januar 2016 in einem Interview erklärte, die Grenzpolizei müsse „notfalls auch von der Schusswaffe Gebrauch machen“, um Geflüchtete an den Grenzen aufzuhalten, und ihre Stellvertreterin Beatrix von Storch auf ihrer Facebook-Seite bestätigend gepostet hatte, das gelte auch für Frauen und Kinder, griffen große Teile der Medien und der Politik das Thema auf und debattierten ernsthaft mehrere Wochen lang über ein Pro und Contra. Warum so viele Menschen eigentlich ihre Heimat und ihre ganze Existenz aufgaben und in die Welt flüchteten, war kein Thema mehr.

Mehrere Studien haben inzwischen die Medienberichterstattung zu diesem Thema untersucht und den Stimmungswandel auch in den Medien widergespiegelt gefunden. So hat das ARD-Magazin Monitor alle TV-Talkshows im ZDF und in den ARD-Anstalten des Jahres 2016 ausgewertet – insgesamt 141 Sendungen. „Das erstaunliche Ergebnis: 40-mal ging es um Flüchtlinge und Flüchtlingspolitik, 15-mal um den Islam, Gewalt und Terrorismus, 21-mal um Populismus, vor allem von rechts. ‚Andere Themen hatten keine Chance‘, bilanzierten die Politjournalist_innen in der Sendung vom 19. Januar 2017.“ (taz vom 25./26. Februar 2017; www.taz.de/!5383982/). Ein Team um den Hamburger Journalistenprofessor und Ex-Spiegel- und Zeit-Redakteur Michael Haller, das im Auftrag der Otto-Brenner-Stiftung der IG Metall 35.000 Beiträge vor allem aus sogenannten Leitmedien wie FAZ, Süddeutsche, Welt und Bild auswertete, hat ermittelt, dass „nur rund sechs Prozent der analysierten Artikel authentisch recherchierte Berichte oder erzählende Reportagen sind. Die Untersuchung zur Frage, wer alles in den berichtenden Texten zur Sprache kommt, ergab, dass in der Kategorie der relevanten Akteure und Sprecher zwei von drei Nennungen zur institutionellen Politik zählen. Mit knapp neun Prozent weit abgeschlagen, gleichwohl zweitgrößte Gruppe, sind Vertreter der Judikative (Polizei, Strafverfolger, Gerichte, Anwälte), also jene, die sich von Berufs wegen mit Rechtsverstößen befassen. Die eigentlichen Hauptakteure – die Helfergruppen, Einrichtungen, freien Träger und Initianten, die sich, viele freiwillig, in erster Linie um Flüchtlinge kümmerten – stellen nur rund 3,5 Prozent aller relevanten Personen, die in den redaktionellen Beiträgen genannt werden. Fachleute und Experten, die über akute Problemfelder (wie den Umgang mit Fremdenhass, ethnische Besonderheiten, Ehe- und Familienrecht in islamischen Gesellschaften, Verhältnis zwischen Sunniten und Schiiten u. a. m.) Auskunft geben könnten, kommen praktisch nicht vor. Die Hauptbetroffenen (Flüchtlinge, Asylsuchende, Migranten) bewegen sich bei vier Prozent.“ (Haller, S. 1335) „So wird aus einem Thema, das pragmatisch gelöst werden könnte, eine ideologische Debatte, in der es vor allem darum geht, wer Recht hat.“ (taz vom 31. August 2017; www.taz.de/!5440637/).

In diesem Punkt sind sich alle Studien einig: Geflüchtete selbst sind in den deutschen Medien kaum zu Wort gekommen. In diesem Buch wollen wir ihnen (wieder) eine Stimme geben – bzw. viele Stimmen, denn die Ansichten, Erfahrungen und Schicksale der insgesamt weit über fünfzig syrischen Geflüchteten und weiteren syrischen Expert*innen, mit denen wir 2016/17 dank der Förderung u. a. der Bundeszentrale für politische Bildung biografische Interviews führen konnten, sind sehr verschieden.

Was wissen wir wirklich über die Flucht und deren Ursachen, die Menschen, die hierherkommen, und deren Bedürfnisse? Schon seitdem die ersten „Gastarbeiter“ in den 1950er Jahren nach Deutschland kamen, wird beklagt, dass die Migrationsforschung, von der Politik stiefmütterlich behandelt und vernachlässigt, zu wenig Wissen produziere, geschweige denn für die Praxis taugliches Wissen – und wenn, dann werde es zumeist wiederum von der Politik ignoriert. Hat sich das vielleicht im Zuge der jüngsten Fluchtgeschichte geändert? Wir befragten im Rahmen eines Respekt!-Projektes, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Monika Grütters, 252 Flucht- und Migrationsforscher*innen. Die Ergebnisse werden ebenfalls in diesem Buch dokumentiert.

Die Zahl der Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte, darunter viele Brandanschläge, stieg von 58 im Jahr 2013 auf 1.578 im Jahr 2016, in dem es weitere 2.545 Straftaten gegen Geflüchtete außerhalb der Unterkünfte mit 472 zum Teil schwer Verletzten gab.6 Auch 2018 werden in Deutschland täglich drei Unterkünfte angegriffen und Geflüchtete überfallen, zusammengeschlagen, ausgeraubt – in die Medienberichterstattung schaffen es, mit Ausnahme kurzer Meldungen in der Lokalzeitung unter der Rubrik „Sonstiges“, nur noch die spektakulärsten Fälle. So sehr scheinen diese Vorfälle Alltag geworden zu sein, dass sie keine besondere Aufmerksamkeit mehr verdienen.

Gewalttäter sind nicht repräsentativ für „die Deutschen“, auch wenn mit einem Täter zwei weitere sympathisieren (vgl. Küpper/Zick 2016); und obwohl in der aktuell letzten Erhebung zum Thema (der Marktforschungsinstitute Sinus und YouGov) von November 2017 55 Prozent der Befragten angaben, die „große Zahl fremder Menschen in Deutschland“ mache ihnen Angst, sprechen sich doch zwei Drittel der Befragten dafür aus, dass Menschen, die vor Krieg und Gewalt fliehen, geholfen werden müsse. „31 Prozent können sich ein ehrenamtliches Engagement für Flüchtlinge vorstellen oder geben an, sich in der Vergangenheit bereits für sie engagiert zu haben.“ (Die Welt vom 15. Dezember 20177) In einer Studie des Infas-Instituts für Die Zeit vom Sommer 2017 zur Frage, wer denn zum kollektiven „Wir“ in Deutschland gehöre, meinten 71 Prozent, auch Geflüchtete gehörten dazu, 82 Prozent zählten „Menschen anderer Religionen“ zu Deutschland.8

Syrien: keine Lösung in Sicht

„Seit einigen Monaten behaupten hier immer mehr Menschen, Assad habe den Krieg bereits gewonnen“, berichtet die syrische Journalistin Ameenah Sawwan, die als Aktivistin der Aufstandsbewegung 2013 das Land verlassen musste und nun in Berlin lebt, in der Bewegungszeitung adopt a revolution Winter 2017/2018 (www.adoptrevolution.org). „Manche freuen sich gar darüber. Ich bin verwundert, wie ausgerechnet Deutsche vor dem Hintergrund ihrer eigenen Geschichte immer wieder Stabilität mit Frieden oder sogar Gerechtigkeit gleichsetzen.“

In Syrien findet „der am besten dokumentierte Völkermord in der Geschichte der Menschheit statt“, stellt Kristin Helberg in ihrem Beitrag in diesem Buch fest. So flüchtete ein syrischer Militärfotograf 2013 mit 53.275 Aufnahmen aus dem Land. „Die Fotos belegen die systematische Folter und die Massenhinrichtungen in den Kerkern.“ Einer anderen Kommission gelang es, über 70.000 offizielle Dokumente außer Landes zu bringen, die eine „Entscheidungskette für die systematische Anwendung von Folter in den Gefängnissen, die bis in die Spitze der syrischen Regierung reicht“, belegt (Le Monde diplomatique Oktober 20179). Für das Regime blieb das ebenso folgenlos wie alle anderen Beweise. Im August 2017 legte schließlich die ehemalige Chefanklägerin Carla del Ponte ihr Amt als Sonderermittlerin der Untersuchungskommission der Vereinten Nationen frustriert nieder. Kristin Helberg: „Das Assad-Regime tötete bisher mindestens 183.827 Zivilisten, darunter 19.594 Kinder – zehn Kinder pro Tag. Assads Raketen zerstören gezielt die Infrastruktur der befreiten Gebiete: Krankenhäuser, Schulen, Bäckereien, Umspannwerke, Getreidesilos, Katasterämter. Die Folgen der Fassbomben, die aus Helikoptern über Wohngebieten abgeworfen werden, sind so grausam, dass die Videos in westlichen Medien nicht gezeigt werden.“ Die Hälfte aller Krankenhäuser in Syrien sind zerstört, mehr als dreizehn Millionen Syrer*innen auf der Flucht.10 Und der Westen handelt immer noch nicht, ist nicht einmal bereit, wie sich im Februar 2018 wieder gezeigt hat, ernsthaft Flugverbotszonen durchzusetzen und das Abwerfen der eigentlich geächteten Fassbomben durch das Regime zu verhindern.

Der Frieden in Syrien ist noch lange nicht in Sicht. Und der Wiederaufbau des Landes, nicht zuletzt die Aussöhnung unter den verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die seit Jahren vom Assad-Regime gegeneinander aufgehetzt und ausgespielt werden, wird noch viel länger dauern. Und Hunderttausende Syrer*innen werden, ob sie es heute wollen oder nicht, in Deutschland bleiben und zu einem Bestandteil der Bevölkerung dieses Landes werden. Hier leben, arbeiten, Kinder bekommen. Und die Bundesrepublik Deutschland mitgestalten. Die Kultur, die Jugendarbeit, die Nachbarschaften. Die Bevölkerungsmischung wird sich weiter ändern. „Weltweit existieren derzeit 193 Staaten. Menschen aus 190 Staaten leben in Deutschland“, stellt die Hamburger Erziehungswissenschaftlerin Ingrid Gogolin in ihrem Beitrag fest. Die derzeit mehr als 600.000 Syrer*innen in Deutschland sind nun bei den Ausländer*innen, also Menschen ohne deutschen Pass, die drittgrößte Einwanderergruppe nach den Türk*innen und Pol*innen.

Fast alle von uns Interviewten betonten die enorme Bedeutung der Sprache für die Integration in Deutschland. Wer hierzulande nicht Deutsch spricht, hat weniger Chancen auf dem Arbeitsmarkt und trifft auch tagtäglich auf Kommunikationsbarrieren. „Die Sprache ist der Schlüssel zu jeder Gesellschaft“ betont Jackleen, ehemalige Grundschullehrerin aus Damaskus. Deshalb ist die Forderung nach möglichst kurzfristigen Deutschkursen ein zentrales Anliegen der Geflüchteten. Viele müssen monatelang warten, und das bedeutet zumeist: monatelang keine Kontakte zu Einheimischen.

Seitdem Deutschland auch offiziell ein anerkanntes Einwanderungsland ist, sollte man annehmen, dass auch Mehrsprachigkeit eine Selbstverständlichkeit ist. In der Realität stimmt das: „Einsprachige Deutsche sind ein Auslaufmodell“, stellt Ingrid Gogolin fest, eine kleine und weiter schrumpfende, meist ältere Minderheit. In deutschen Großstädten leben mehr als die Hälfte aller Familien mit ihren Kindern mehrsprachig. „Die deutsche Gesellschaft hat dadurch einen sprachlichen Reichtum gewonnen, den sie als Ressource – besonders in der Schule – nutzen sollte. Bisher wird aber eher Verschwendung betrieben“, kritisiert ihre Fakultätskollegin Ursula Neumann. Auch wenn Die Zeit schon im Dezember 2015 euphorisch prognostizierte: „Mehrsprachigkeit liegt im Trend, nicht nur bei Eltern und Pädagogen, sondern auch unter Wissenschaftlern. Linguisten, Psychologen und Hirnforscher loten seit einiger Zeit den ‚kognitiven Nutzen‘ der Bilingualität aus. Wer polyglott ist, hat nicht nur bessere Chancen im Job oder beim Eintauchen in fremde Kulturen. Er soll auch flexibler im Denken und schneller im Kopf sein.“11 – so sieht die Praxis vor allem in den Schulen noch anders aus. Die Mehrsprachigkeit der Jugendlichen mit Migrationsgeschichte – und das werden eben auch viele syrische Geflüchtete in einigen Jahren sein – gilt an vielen Schulen als Handicap. Sie wird nicht nur im Unterricht nicht genutzt, sondern sogar auf den Schulhöfen unterdrückt, indem Schüler*innen gezwungen werden, auch in ihrer Clique deutsch zu reden. Noch 2014 forderten führende CSU-Politiker in einem Leitantrag zu ihrem Parteitag sogar, dass Migrant*innen zu Hause in ihrer Familie Deutsch sprechen müssten. Ingrid Gogolin erinnert in ihrem Beitrag in diesem Buch daran, dass Mehrsprachigkeit noch im 19. Jahrhundert auch in Deutschland vollkommen normal war und erst zur Legitimation des in Gründung befindlichen Nationalstaates „die Erfindung einer gemeinsamen Kultur, Geschichte und Sprache“ begann. „Je früher Kinder mehrsprachig aufwachsen, desto größer die Vorteile.“

Gesa Köbberling und Barbara Schramkowski weisen in ihrem Beitrag über die „Perspektiven junger Männer aus Syrien im Bundesfreiwilligendienst“ auf das noch viel zu selten genutzte Angebot hin, jungen Geflüchteten ein Freiwilliges Soziales Jahr zu ermöglichen, Helge Kraus und Olaf Jantz geben in ihrem Fachbeitrag „rassismuskritische Hinweise aus der Sicht einer Transkulturellen Jungenarbeit“. Rafik Schami, Mit-Herausgeber dieses Buches und Schirmherr unseres Projektes, beschließt den Band. Ausführlichere Materialien, auch zur Weiterarbeit, finden sich in der E-Book-Version dieses Buches.

An diesem Buch haben außer den Interviewten, denen natürlich ein ganz besonderer Dank für ihre Zeit, Bereitschaft und Offenheit gebührt, mehr als 30 Personen mitgearbeitet. Stellvertretend seien genannt:

Das Interviewteam

Ahmad Alkurdi, geboren 1989 in Hama/Syrien, studierter Sportwissenschaftler, lebt als anerkannter Flüchtling, Sportlehrer und Student der Informatik in Berlin.

Ranya Allouch, Jahrgang 1993, lebt in Marburg. Studiert Humanmedizin und Vergleichende Kultur- und Religionswissenschaften.

Saria Almarzook, Jahrgang 1979, lebt in Berlin. Promovendin an der Humboldt-Universität.

Johanna Bröse, Jahrgang 1984, lebt als Sozialwissenschaftlerin und freie Autorin in Tübingen.

Jana Ikhlef, Jahrgang 1988, lebt in Stuttgart. Absolventin des Master-Studiengangs Friedensforschung und Internationale Politik an der Eberhard Karls Universität Tübingen.

Samir Matar, Jahrgang 1971, lebt in Berlin, Redakteur der Deutschen Welle und Autor.

Rüdiger Rossig, geboren 1967 in Mannheim, lebt in Berlin. Der studierte Balkan-Historiker und Journalist ist Leiter der bosnisch-kroatisch-serbischen Redaktion der Deutschen Welle.

Dušan Solomun, geboren 1978 in Belgrad/damals Jugoslawien, lebt als Dokumentarfilmregisseur und Kameramann in Berlin.

Mehari Tewoldemedhin, geboren 1990 in Eritrea, lebt in Berlin.

Anja Tuckermann, geboren 1961, Autorin von Romanen, Erzählungen, Theaterstücken, Libretti, Bilderbüchern. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet und in 13 Sprachen übersetzt.

Essays und andere Beiträge

Klaus Farin, Jahrgang 1958, lebt in Berlin. Autor, Gründer und bis 2011 Leiter des Archiv der Jugendkulturen e. V., heute Vorsitzender der Stiftung Respekt!.

Ingrid Gogolin, Jahrgang 1950, ist Senior-Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg und Koordinatorin des bundesweiten Forschungsschwerpunkts „Sprachliche Bildung und Mehrsprachigkeit“, den das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert.

Kristin Helberg, Jahrgang 1973, lebt in Berlin. Politikwissenschaftlerin, freie Journalistin und Autorin mit Schwerpunkt Nahost. Zuletzt: Verzerrte Sichtweisen – Syrer bei uns. Von Ängsten, Missverständnissen und einem veränderten Land (Herder 2016) und Der Syrien-Krieg. Lösung eines Weltkonflikts (Herder 2018).

Olaf Jantz, Jahrgang 1965, lebt in Hannover. Autor, Jungenbildungsreferent und Gesprächstherapeut (GwG) bei mannigfaltig e. V. – Institut für Jungen- und Männerarbeit und Leiter der Fachstelle für minderjährige Geflüchtete bei mannigfaltig e. V.

Gesa Köbberling, Jahrgang 1977, lebt in Freiburg. Professorin für Soziale Arbeit mit Schwerpunkt Zusammenleben in der Migrationsgesellschaft an der Evangelischen Hochschule Freiburg.

Helge Kraus, Jahrgang 1965, lebt in Hannover. Jungenbildungsreferent bei mannigfaltig e. V. – Institut für Jungen- und Männerarbeit und Mitarbeiter der Fachstelle für minderjährige Geflüchtete bei mannigfaltig e. V.

Rafik Schami, Jahrgang 1946, promovierter Chemiker und Erzähler. Zuletzt: Ich wollte nur Geschichten erzählen. Mosaik der Fremde. Hirnkost/Hans Schiler Verlag 2017. Schirmherr des Projektes.

Barbara Schramkowski, Jahrgang 1975, lebt in Freiburg. Professorin für Soziale Arbeit mit Schwerpunkt Erziehung und Bildung an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Villingen-Schwenningen.

Dank gilt auch allen privaten Spender*innen sowie den Förderern und Partnern der Respekt!-Projekte 2016/17 zu jungen Geflüchteten aus Syrien, ohne die dieses Buch nicht möglich gewesen wäre; vor allem der Bundeszentrale für politische Bildung und den Landeszentralen für politische Bildung von Berlin, Brandenburg und Thüringen, der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, dem Sammelfonds für Bußgeldauflagen der Berliner Justiz, der Stiftung Genshagen und der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße der Stiftung Ettersberg, Gangway e. V. und mannigfaltig e. V.

Literatur

Klaus Farin (Hrsg.): Unsere Antwort. Die AfD & wir. Schriftsteller*innen und der Rechtspopulismus. Hirnkost, Berlin 2018.

Michael Haller: Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien. Tagesaktueller Journalismus zwischen Meinung und Information. Eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung, Frankfurt am Main 2017; https://www.otto-brenner-stiftung.de/fileadmin/user_data/stiftung/02_Wissenschaftsportal/03_Publikationen/AH93_Fluechtingskrise_Haller_2017_07_20.pdf.

Beate Küpper/Andreas Zick: „Zwischen Willkommen und Hass. Einstellung der deutschen Mehrheitsbevölkerung zu Geflüchteten“, in: Demokratie gegen Menschenfeindlichkeit 1/2016. Wochenschau, Schwalbach, S. 13-32; hier 20f.

Simon Teune: „Zwischen Hetze und Hilfe. Die Einwanderung von Geflüchteten als zivilgesellschaftliches Konfliktfeld“, in: Demokratie gegen Menschenfeindlichkeit 1/2016. Wochenschau, Schwalbach, S. 48–58, hier 55.

1www.proasyl.de/news/die-hingenommenen-toten-jedes-jahr-sterbentausende-auf-der-flucht/

2https://www.facebook.com/Archiv.der.Jugendkulturen.Verlag.KG/

3https://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/4807308/Kein-zweites-Heidenau

4www.derwesten.de/staedte/essen/die-aermsten-sollen-die-hauptlast-der-zuwanderung-tragen-linkenpolitikerin-wagenknecht-poltert-nach-essenertafel-streit-gegen-sozialpolitik-id213550923.html

5https://www.otto-brenner-stiftung.de/fileadmin/user_data/stiftung/02_Wissenschaftsportal/03_Publikationen/AH93_Fluechtingskrise_Haller_2017_07_20.pdf

6Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Fl%C3%BCchtlingsfeindliche_Angriffe_in_der_Bundesrepublik_Deutschland

7www.welt.de/politik/deutschland/article171612440/Deutsche-wuenschen-sich-von-Fluechtlingen-bessere-Integration.html

8www.zeit.de/2017/35/bundestagswahl-deutschland-umfrage-toleranz-liberalismus

9https://monde-diplomatique.de/artikel/!5451654

10https://de.statista.com/infografik/13542/beinahe-13-millionen-syrische-fluechtlinge/

11www.zeit.de/2015/47/mehrsprachigkeit-kinder-vorteile

Hannah aus Damaskus, 23 Jahre

„Überall in der Stadt fielen Bomben. Nur Glück, der Zufall entschied, ob man überlebte oder nicht.“

Wie kam es, dass du nach Deutschland gekommen bist?

Es war nicht geplant, dass ich Syrien verlasse. Ich habe dort angefangen zu studieren und vorgehabt, dort auch mein Studium zu beenden. Die Situation ist jedoch so schwierig und gefährlich geworden, dass ich mich entschieden habe, Syrien zu verlassen. Zu Deutschland hatten meine Familie und ich bereits einen Bezug. Meine Eltern waren vor ungefähr 20 Jahren in Deutschland. Der Kontakt hat sich durch mehrmalige Besuche im Jahr gehalten. Daher war für uns klar, wenn wir Syrien verlassen sollten, dann nach Deutschland zu immigrieren.

Wie kam deine Entscheidung zustande?

Es gab mehrere Gründe, doch der entscheidende Moment war: Es fiel eine Bombe in der Nähe unserer Wohnung. Uns ist nichts passiert, aber es hätte komplett anders verlaufen können. Wir haben es überlebt. Trotzdem blieb das Gefühl zurück, dass wir nicht mehr sicher sind. Wir waren bemüht, bestimmte Orte zu meiden oder nicht so spät rauszugehen, um gefährliche Situationen zu vermeiden. Doch mit der Bombe in der Nähe unseres Hauses wurde uns klar, dass wir nirgendwo sicher sind, auch nicht zu Hause. Das war für mich der Auslöser. Generell war die Situation für mich als Frau schwierig. Meine Universität befand sich auf der anderen Seite der Stadt, daher hatte ich einen längeren Weg dorthin, der nicht sicher war. Es war generell nicht sicher, aber erst durch den Bombenangriff in der Nähe unseres Hauses haben wir die Entscheidung getroffen, dass ich weggehen will. Dann ging alles recht schnell.

Inwiefern war die Situation generell nicht sicher?

Überall in der Stadt fielen Bomben. Das ließ sich nicht berechnen. Nur Glück, der Zufall entschied, ob man überlebte oder nicht. Bekannte von mir sind eines Abends zum Chor gegangen und nie wiedergekommen. Meine Situation als Frau in einem jungen Alter hat meine Situation ebenfalls verschärft. Man sah mir an, dass ich aus einer Familie komme, die in einem guten Zustand lebt. Außerdem spielte die Religion auch eine Rolle. Das waren alles Punkte, die Angst erzeugt haben, vor Entführungen zum Beispiel. Die Angst davor, in der Stadt zu sein und zu sterben, hat mich immer begleitet.

Wie hat die Angst deinen Alltag geprägt?

Ich habe zum Beispiel versucht zu vermeiden, spät rauszugehen. Wenn es dunkel war, bin ich lieber zu Hause geblieben. Oder ich habe bestimmte Orte gemieden oder Partys oder irgendwelche Feiern. Man hatte so sehr Angst, dass man gesagt hat: „Das ist eine Versammlung. Eine Feier. Da könnte etwas passieren.“ Man hatte vor allem Angst. Ich habe versucht, Ereignisse mit vielen Menschen zu meiden. Ich war die ganze Zeit fast nur zu Hause oder in der Uni. Wir haben auch zu Hause ein paar Dinge verändert. Wir haben zum Beispiel alle Fenster mit Klebeband abgeklebt. Falls eine Bombe in der Nähe einschlägt, sollten die Glasscherben nicht so weit in die Wohnung fliegen, um niemanden zu verletzen. Diese Veränderungen sind an sich nicht schlimm, aber sie sind nicht normal. Dadurch hatte ich das Gefühl, dass mein Leben sich sehr einschränkt. Ich konnte nicht mehr so häufig raus, wie ich wollte, und auch nicht mehr wohin ich wollte. Und auch nicht mehr feiern gehen. Das war so gut wie ausgeschlossen.

Wie war dann der Weg nach Deutschland?

Ich bin mit dem Studentenvisum nach Deutschland gekommen. Ich brauchte dafür einen Studienplatz in Deutschland und musste eine Deutschprüfung bestehen. Als die Entscheidung getroffen war, Syrien zu verlassen, habe ich sofort angefangen, Deutsch zu lernen. Dafür habe ich zwei Monate gebraucht. Und dann war ich in Beirut, um die Prüfung zu schreiben, weil es in Syrien keine deutsche Botschaft mehr gab. Und auch kein Goethe-Institut mehr. Durch den Krieg haben diese Institute geschlossen. Als ich alle Unterlagen beisammen hatte, habe ich einen Termin in der deutschen Botschaft in Beirut gemacht. Einen Termin dort zu bekommen, war sehr schwierig. Man musste sich online anmelden. Es wurden irgendwann nachts ein paar Termine freigeschaltet und du musstest ganz schnell einen der Termine buchen. Ich meine mich zu erinnern, eine Woche lang bis vier Uhr morgens wach gewesen zu sein, bis zwei, drei Termine freigeschaltet wurden. Erst eine Woche später habe ich einen Termin erhalten. Und dann wurden meine Unterlagen nicht angenommen, denn die Mitarbeiterin meinte, der Studienplatz, den ich habe, würde nicht reichen. In der Bescheinigung stand drin, dass ich in Deutschland noch Deutsch lernen muss, und für die Mitarbeiterin der deutschen Botschaft war es damit kein richtiger Studienplatz. Sie hat den Antrag abgelehnt. Ich bin zurück nach Damaskus mit nichts in der Hand. Sofort danach habe ich versucht, einen neuen Termin zu bekommen, aber dieses Mal in Jordanien. Das hat dann auch geklappt. Dort habe ich auch das Visum bekommen. Mit den gleichen Unterlagen. Meine Entscheidung fiel im April, im September oder Oktober habe ich die Antwort bekommen, dass ich ein Visum habe. Ende Oktober bin ich dann nach Deutschland gekommen.

Wie hast du die Entscheidung in Beirut erlebt?

Ich habe mich richtig geärgert. Dieser Prozess war mit viel Zeit und mit viel Geld verbunden. Außerdem ist es nicht sicher, dahin zu fahren und wieder zurückzukommen. Für den Weg muss man über die Grenze zwischen Syrien und Libanon. Wir haben immer versucht, solche gefährlichen Orte wie Grenzen zu vermeiden. Und über diese Frau der deutschen Botschaft habe ich mich richtig geärgert, muss ich sagen. In dem Schreiben der Uni stand, dass ich damit ein Visum beantragen darf, aber das hat sie trotzdem nicht akzeptiert. Ich habe mich in dieser Situation sehr hilflos gefühlt. Wenn sie sagt, es geht nicht, dann geht es halt nicht, auch wenn die schriftliche Bestätigung der deutschen Universität was anderes sagt. Aber letztendlich hat es funktioniert.

Du meintest, dass sich das Leben nicht mehr normal angefühlt hat. Kannst du mir das genauer beschreiben?

Ich musste immer vorsichtig sein. Eine Zeitlang fuhren auch die öffentlichen Verkehrsmittel nicht. Dann bin ich halt eine Stunde zur Uni gelaufen und wieder eine Stunde zurückgelaufen, weil keine Busse fuhren oder sie so viele Umwege gemacht haben, dass es keinen Sinn gemacht hätte, sie zu nehmen. Wenn etwas passiert, wird nämlich alles abgesperrt und dann kommst du nicht weiter. Selbst bei den einfachsten Erledigungen musste ich immer überlegen, welchen Weg ich gehe oder lieber doch nicht hinzugehen. Sieht es zum Beispiel heute ruhig aus oder nicht? Ich habe mehrmals die Situation erlebt, dass ich unterwegs war und es zu einer Schießerei kam. Dann musste ich mich erst mal verstecken. So etwas ließ sich nicht vermeiden, weil es überall passiert ist. Ich konnte auch nicht sagen, ich gehe nicht mehr zur Uni.

Du hast erzählt, dass ihr alle, also deine Familie und du, den Entschluss gefasst habt, nach Deutschland zu gehen. Wie kam deine Familie dann nach Deutschland?

Ich bin erst mal allein gekommen. Es war nicht geplant, dass meine Familie auch nach Deutschland kommt, da meine Eltern in Syrien arbeiteten und mein Bruder zur Schule ging. Aber dann hat sich die Situation so schnell so sehr verschlechtert, dass meine Familie sich eingestehen musste, Syrien verlassen zu müssen. Meine Eltern haben recht schnell ein Arbeitsvisum erhalten, weil sie ja früher in Deutschland waren. Das hat die ganze Sache sehr erleichtert. Mein Bruder ist minderjährig und durfte deswegen mit meinen Eltern in Deutschland bleiben. Das ereignete sich ungefähr einen Monat, nachdem ich in Deutschland angekommen war.

Wie hast du die Zeit in Deutschland erlebt?

Ich muss sagen, ich habe eigentlich sehr positive Erfahrungen in Deutschland gemacht. Ich habe sofort mit dem Deutschkurs angefangen, das ging recht schnell. Eine Woche hatte ich bei meiner Tante verbracht, sie wohnt auch in Deutschland. Danach bin ich am Wochenende mit meinem Bruder nach Gießen gefahren. Am Montag musste ich eine Einstufungsprüfung machen und am nächsten Tag habe ich sofort angefangen. Das lief ganz gut und echt schnell. Ich hatte nicht das Gefühl, dass es zu anstrengend ist. Das Ankommen war wegen der Sprache ein bisschen schwierig, aber das ging auch. Ich habe auch von vornherein Menschen um mich gehabt, die wirklich eine Unterstützung waren. Es war auch schön, neue Sachen zu erleben, einen komplett neuen Anfang zu haben. Ich kannte niemanden hier und habe mit allem neu angefangen. Neues Land, neues Leben. Es hat eigentlich alles sehr gut funktioniert. Ich habe zwei Deutschkurse von November bis März gemacht. Danach hatte ich ein Semester lang nichts zu tun, denn du kannst hier nur im Wintersemester mit dem Medizinstudium anfangen. Ich konnte die Zeit genießen und habe zum Beispiel an den Sportkursen der Uni teilgenommen. Neue Menschen kennengelernt. Das Ankommen in Deutschland war insgesamt gut, muss ich sagen.

Das ist schön. Du meintest, das mit der Sprache war schwierig. Was meinst du damit?

Ich konnte nicht so gut Deutsch sprechen, als ich nach Deutschland gekommen bin. Ich hatte zwar für die Prüfung gelernt, aber das war nur mit einem Lehrer jeden Tag zu Hause, um die Prüfung zu bestehen. Aber dann lebst du plötzlich in einem Land, in dem Deutsch die Muttersprache ist. Ich habe mir auch vorgenommen, wirklich alles auf Deutsch zu sagen. Das habe ich auch versucht durchzuziehen. Und kein Englisch zu benutzen. Letztendlich habe ich nur mit meiner Familie auf Arabisch gesprochen, wenn wir zum Beispiel telefonierten. Zu Anfang wohnte ich bei einer deutschen Frau zur Untermiete. Das war richtig gut, weil ich in meinem Alltag alles auf Deutsch kommuniziert habe. Das habe ich mit meinen Freunden auch gemacht. Es hat mir echt geholfen, weil ich das Gefühl hatte, dass sich meine Sprache schnell sehr stark verbesserte. Schwierig für mich waren förmliche Angelegenheiten wie das Eröffnen eines Bankkontos oder der Besuch der Ausländerbehörde. Da benutzt du ja eine andere Sprache als im Alltag. Zu Hause habe ich daher immer vorbereitet, was ich sagen könnte und was sie mich fragen könnten. Alle Wörter, die ich gebrauchen könnte, habe ich gegoogelt. Den ersten Satz habe ich immer vorbereitet, denn ich war der Ansicht, dieser Satz muss irgendwie klappen und dann läuft das Gespräch. Es war trotzdem sehr schwierig für mich, auch wenn alles gut funktioniert hat. Wenn ich daran denke, dass ich das alles in meiner ersten Woche in Deutschland gemacht habe, weiß ich nicht, wie ich das geschafft habe. Ansonsten war ich in der Zeit, die ich mit meinen Freunden verbracht habe, eher passiv. Ich habe zwar viel verstanden, aber nicht viel gesagt, was eigentlich gar nicht zu mir passt. Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich eigentlich besser Deutsch sprechen kann. Ich musste mir dann bewusst sagen: „Hey, du musst jetzt ein bisschen mehr sagen. Du kannst das.“ Ich hatte das Glück, dass ich sehr tolerante Menschen um mich herum hatte. Sie haben immer zugehört und hatten auch immer Geduld. Es hat immer ein wenig gedauert, bis ich einen Satz formuliert habe. Oder bis ich das, was ich sagen wollte, richtig ausdrücken konnte. Ich habe das immer wieder versucht, aber ich wollte nicht jeden Satz laut aussprechen. Ich hatte die Empfindung, dass das Gespräch läuft und wenn ich jetzt mit einsteige, wird es langsamer. Das ist nicht schlimm, aber ich wollte nicht jedes Mal das Gespräch verlangsamen. Deswegen habe ich mich ein bisschen zurückgenommen und war eher passiv und habe zugehört. Ich hatte nur in sehr wenigen Situationen das Gefühl, dass die Menschen gerade keine Lust hatten, mit mir zu kommunizieren. Bei ein paar Personen habe ich gemerkt, dass sie ein bisschen genervt sind. Ich habe versucht, komplizierte Gespräche mit diesen Menschen zu vermeiden. Es war für mich auch anstrengend, dass ich für eine Idee so viel erzählen musste, bis der Gedanke verstanden wurde. Das hat sich in den ersten Monaten ereignet. Und dann habe ich mir gedacht, dass ich jetzt mehr sprechen kann, und habe mir das Sprechen in der Gruppe bewusst vorgenommen, und dann ist es langsam auch anders geworden. Im ersten Semester hatte ich ein wenig Schwierigkeiten, aber es wurde sehr schnell besser. Das Studieren auf Deutsch hat mir echt geholfen.

Ich habe die Erfahrung im Libanon gemacht: Ich kann nicht so gut Arabisch. Ich kann es verstehen, aber nicht so gut sprechen. Ich hatte das Gefühl, dass ich von den anderen deshalb als dümmer gesehen werde. Es hat mich genervt, weil ich nicht dagegen ansprechen konnte. Hattest du auch mal so ähnliche Erfahrungen?

Ich hatte das Gefühl, dass ich nicht ernst genommen werde, vor allem, wenn wir über ernste Themen gesprochen haben. Ich kann dieses Verhalten aber auch verstehen. Am Anfang habe ich eher eine Kindersprache gesprochen. Man benutzt die einfachsten Wörter und kann sich nicht so kompliziert ausdrücken. Wenn du ein richtig ernstes Gespräch hast oder über ein kompliziertes Thema sprichst und dann nur das Verb „machen“ sagen kannst, klingt das auch eher kindlich. Das war nicht schön und es hat mich echt genervt. Aber irgendwann war es dann besser.

„Häufig wird davon ausgegangen, dass ich nur daraufwarten würde, zurückgehen zu können. Das istnicht so. Ich habe hier ein neues Leben angefangen.Für mich fühlt es sich hier wie ein Zuhause an.“

Wie sehen deine Träume für die Zukunft aus?

Diese Frage wurde mir oft gestellt. Ob ich mir vorstellen kann, hierzubleiben. Oder ob ich zurückgehen möchte. Ich kann mir sehr gut vorstellen, hierzubleiben. Häufig wird davon ausgegangen, dass ich nur darauf warten würde, zurückgehen zu können. Das ist nicht so. Ich bin mit 19 Jahren nach Deutschland gekommen. Das war vor vier Jahren. Seitdem habe ich mich sehr verändert. Ich habe hier ein neues Leben angefangen. Für mich fühlt es sich hier wie ein Zuhause an. Vor allem Gießen. Wenn ich zu meiner Familie hier in Deutschland fahre, fühle ich mich zu Hause, aber nur, weil es meine Familie ist. Die Stadt, in der sie leben, bedeutet mir nichts. Hier fühle ich mich aber zu Hause und es gibt viele schöne Sachen hier, die mich binden. Von hier wegzugehen, bedeutet für mich, wieder eine Heimat zu verlassen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass ich mein Leben hier einfach weiterführen werde.

Du meintest, du hättest dich verändert. Wie kann ich mir das vorstellen?

Mit 19 Jahren verändern sich die Menschen, ob sie in ihrer Heimat bleiben oder an einen anderen Ort gehen. Das ist eine normale Entwicklung, man wird erwachsener. Du machst neue Erfahrungen. Ich bin sehr unabhängig geworden. Ich weiß nicht, ob es nur daran liegt, dass ich in Deutschland bin. Oder ob in dieser Lebensphase, in der ich mich befinde, sich die Dinge so verändern. Ich habe das Gefühl, mein Leben ist jetzt einfach hier.

Hast du noch andere Träume bezüglich deiner Zukunft?

Ich bin für alles offen. Ich weiß nicht, wo ich nach dem Studium hingehen werde. Wo ich später arbeiten und leben werde. Ich habe kein festes Bild im Kopf. Das ist sehr schön, denn es kann alles passieren.

Hast du Ängste oder auch Sorgen auf die Zukunft bezogen?

Keine, die jetzt speziell mit meiner Situation zusammenhängen. Ich bin nur gespannt, was das Leben mir bringt. Es hat nichts damit zu tun, dass ich in Deutschland bin oder im Ausland. Das sind einfach die Gedanken, die jeder Mensch hat, der noch studiert. Es sind eher Erwartungen, aber keine Sorgen. Es ist einfach die Frage, wo ich im Endeffekt landen werde. Was ich mit meinem Studium machen werde, in welche Richtung ich mich spezialisiere. Welcher Facharzt, ob Arbeiten in der Klinik oder in einer Praxis. Ob ich in einer kleinen oder großen Stadt leben werde.

Gibt es Erfahrungen, die dich sehr geprägt haben?

Die Summe von vielen Dingen hat mich geprägt. Ich habe zum Glück keine Person in Syrien während des Krieges verloren, die sehr nah zu mir war, keiner meiner engen Familie oder meiner engen Freunde. Aber ich kenne mehrere, die im Krieg gestorben sind. Das hat mich eine Zeit lang sehr erschrocken, dass du jederzeit sterben kannst. Das kann aber auch hier passieren. Ich kann jeden Tag durch einen Unfall sterben. Darüber habe ich kürzlich mit einer Person gesprochen. Sie ist 49 Jahre alt. Sie befindet sich gerade in einer schwierigen Situation; ihr fehlt sehr viel Hoffnung. Sie hat mir in diesem Zusammenhang gesagt: „Was weißt du denn. Du hast ja so viel Zeit.“ Es kann aber auch sein, dass die 49-jährige Person viel mehr Zeit hat als ich. Ich denke, diese Erkenntnis kam durch meine Erlebnisse in Syrien zustande. Es fühlt sich für mich nicht danach an, als hätte ich ewig Zeit, weil ich 23 Jahre alt bin. Ich weiß es einfach nicht. Es kann sein, dass ich noch ein Jahr, einen Monat oder fünfzig Jahre lebe. Ich glaube, wenn man diese Lebensansicht teilt, verhält man sich anders. Oder sieht die Dinge ein bisschen anders. Diese Einstellung bringt mich dazu, die Dinge, die ich tun möchte, jetzt zu tun. Nichts zu verschieben. Natürlich kann ich jetzt nicht alles machen. Aber ich möchte nichts aus dem Gedanken heraus verschieben, dass ich noch Zeit hätte. Denn ich weiß nicht, ob ich noch viel Zeit habe oder nicht.

Und du bist gerade im Prozess zu gucken, was du machen willst, oder hast du schon Gedanken im Kopf?

Ich will leider viel zu viel machen. Anfänglich wollte ich einfach sehr viele Sachen machen und war fast nur enttäuscht, weil ich es nicht geschafft habe. Mittlerweile versuche ich, realistischer zu denken, ein bisschen ruhiger mit allem umzugehen. Ich mache auch sehr viel. Aber ich bin trotzdem nicht zufrieden. Für mich sind der Sport und die Musik sehr wichtig. Diese Dinge brauchen Zeit. Ich möchte sie zwar gerne machen, aber das schaffe ich nicht immer. Es sind halt so viele Dinge, die mich interessieren. Ich bin dabei, sie nach und nach auszuprobieren, denn alles gleichzeitig zu machen, funktioniert nicht.

Sport und Musik sind für dich wichtig?

Ja, sehr. Ich spiele selbst Klavier. Noch nicht sehr gut. Ich habe sehr spät angefangen und dann wegen der Uni, des Abis und der Reise nach Deutschland abgebrochen. Das mache ich weiter. Es kommt immer wieder ein bisschen unter, wegen des ganzen Alltagsstresses. Aber unter dem Semester gehe ich dem regelmäßig im Musizierhaus nach. Ich habe den Wunsch, etwas anderes zu lernen – und zwar Ukulele. Aber das habe ich bis jetzt noch nicht geschafft. Ich habe mir dieses Semester überlegt, dass ich mehr Zeit für das Klavier spielen investieren und nicht mit einem neuen Instrument anfangen möchte. Aber Lust habe ich auf jeden Fall. Und wegen des Sports: Ich habe das letzte Semester versucht, in den Kletterkurs reinzukommen. Das hat leider nicht geklappt, weil alles voll war. Direkt am Anfang war alles ausgebucht. Ich gehe ab und zu mal bouldern. Aber ich werde es dieses Semester noch mal versuchen, in den Kletterkurs reinzukommen. Und ich tanze Salsa. Ich gehe zum Schwimmen. Das mache ich total unregelmäßig. Es gibt Phasen, in denen ich jede Woche zwei- oder dreimal schwimmen gehe, und es gibt Phasen, in denen ich gar nicht schwimmen gehe.

Und beim Klavier machst du da auch selbst Musik?

Ich habe früher Musik selbst gemacht. Ein bisschen ausprobiert. Ich habe mir keine komplizierten Sachen ausgedacht. Ich kann leider nicht so gut Noten lesen. Ich habe es zwar am Anfang gelernt. Aber das habe ich wieder total verlernt. Ich konnte das damals auch nicht gut. Ich mache das jetzt ohne. Ich gucke mir meistens die Sachen im Internet an, so wie die anderen das spielen, und spiele das ein paar Mal nach und dann ist es drin. Oder ich spiele es vom Hören aus. Das finde ich schön, so macht es mir mehr Spaß als mit Noten. Und ich bin auch viel schneller. Aber es hat den Nachteil, dass man es auch schnell verlernt. Wenn ich die Stücke lange nicht mehr spiele, dann vergesse ich sie. Von den Sachen, die ich früher konnte, kann ich jetzt gar nichts mehr. Da muss man halt dranbleiben und es immer wieder wiederholen. Aber es klingt schön.

Welche Musik hörst du am liebsten?

Das ist auch eine schwierige Frage, weil ich sehr unterschiedliche Sachen höre, je nach Laune. Es läuft bei mir meistens Musik im Hintergrund oder aktiv im Vordergrund. Es ist einfacher, wenn ich sage, was ich nicht so oft höre. Das ist zum Beispiel Rap. Das ist eine Sache, die kaum bei mir läuft. Ich höre eigentlich sehr gerne Jazz. Heavy Metal höre ich auch nicht so gerne. Sobald die Melodie nicht mehr zu erkennen ist, habe ich keine Lust mehr. Wenn das nur noch Geschrei ist. Rock mag ich aber sehr gerne. Ich höre auch sehr oft instrumentale Musik von für mich unbekannten Künstlern. Sehr oft höre ich auch über YouTube irgendetwas, auch immer wieder arabische Musik. Aber nicht die ganz aktuelle, welche im Radio läuft. Ich habe vor kurzem einen Künstler aus Israel entdeckt. Und er spielt Kamancheh. Das ist ein Instrument, das das gleiche Prinzip hat wie eine Geige. Aber es sieht ganz anders aus. Es ist auch ein Streichinstrument. Der macht richtig gute Musik. Klassik höre ich auch manchmal. Ich würde auch gerne singen. Ich war früher in einem Chor und da hieß es auch immer, dass ich gut singen kann. Ich weiß nicht, ob ich gut singen kann, aber ich singe gerne.

Hast du noch andere Leidenschaften oder Interessen, denen du in deiner freien Zeit nachgehst?

Ja, ich habe mehr Sachen im Kopf, die ich gerne machen würde. Ich würde auch gerne malen. Es gab eine Phase vor zwei oder drei Jahren, da habe ich das auch gemacht. Und leider auch wieder aufgehört. Ich bastle unglaublich gerne. Ich habe jetzt schon mehrere Sachen im Kopf, die ich in meinem Zimmer machen werde. Handarbeit mache ich sehr gerne. Lesen. Das kommt eigentlich auch sehr oft zu kurz. Dadurch, dass ich für die Uni oft sehr viel lesen muss und mir auch nicht so viel freie Zeit zur Verfügung steht, geht es eigentlich in der letzten Zeit sehr oft unter. Früher als Kind habe ich sehr viel gelesen. Meine Eltern waren nur am Bücher kaufen. Sie haben immer gleich zehn Bücher auf einen Schlag gekauft.

Du hast gesagt, dass du nach Deutschland gekommen bist und dann hattest du sehr viele Sachen zu tun. Es hat sich für mich so angehört, als wäre es ein Berg voller Sachen, die noch zu erledigen sind. Wie war es für dich, mit diesem Berg klarzukommen?

Es hat zum Glück gut funktioniert. Es hat nur ein bisschen Zeit in Anspruch genommen, bis die Dinge erledigt waren. Ich habe auf der einen Seite gemerkt, dass ich noch viel für die Sprache lernen muss, auf der anderen Seite habe ich aber auch die Verbesserung gespürt. Jeden Tag wurde es ein bisschen besser. Und danach kam die Prüfung, die allergrößte Prüfung. Davor hatte ich Angst. Doch dann war sie schnell vorbei. Es waren nicht viele Sachen, die ich bewältigen musste, aber dafür recht große. Allein das Deutsch lernen. Und es auch so gut zu können, dass ich mich im Alltag wohlfühle. Ich wollte es nicht nur für die Uni oder für den Sprachkurs lernen, sondern auch so sprechen können, dass mein Alltag gut funktioniert. Ich wollte mich mit Menschen so unterhalten können, wie ich das möchte, und nicht das Gefühl haben, dass ich wegen der Sprache eingeschränkt bin. Das war mein Ziel. Als ich dieses Ziel erreicht hatte, kam auch schon das nächste: Studieren auf Deutsch. Es war sehr schwierig für mich, weil ich sehr langsam war. Ich musste erst mal die Texte übersetzen, um sie zu verstehen. Und erst danach konnte ich mit dem Lernen beginnen. Zum Glück habe ich immer weitergemacht, obwohl es schwierig war. Ich habe auch mit anderen gelernt, deren Muttersprache Deutsch ist, und dabei habe ich gemerkt, dass ich viel langsamer bin als sie. Das war schon nervig. Aber es hat dennoch funktioniert.

Wie hat sich die Schwierigkeit gezeigt?

Ich musste viel mehr Zeit investieren. Ich erinnere mich noch gut an meine allererste Prüfung. Das war die Anatomieprüfung im letzten Semester. Wir hatten ungefähr 25 Minuten. Das war zeitlich sehr knapp, und die Fragen und Texte waren sehr lang. So lange Sätze konnte ich nicht gut verstehen, und man ist in Prüfungssituationen sowieso sehr gestresst. Es war nicht einfach. Wovor ich auch viele Sorgen hatte, waren mündliche Prüfungen. Ich hatte auch in der Anatomie mein erstes mündliches Testat. Aber das lief super. Ich merkte aber dabei auch, dass ich viel mehr Fehler mache, wenn ich aufgeregt bin. Der Prüfer war gut drauf. Er hat mir nicht gezeigt, dass ihn meine Verzögerung beim Sprechen nervt. Er hat mir viel Zeit gegeben. Aber ich musste erst mal die Erfahrungen mit Prüfungssituationen machen, um mir zu beweisen, dass ich das auch kann.

Wünschst du dir, dass die Gesellschaft hier in bestimmten Dingen anders wäre?

Du weißt, wie das in Gießen ist. Hier ist alles so studentisch, offen und bunt. Das hat gut zu mir gepasst. Ich habe nicht das Gefühl, dass es hier in Gießen anders sein soll. Es war total gut so. Es gibt gute und schlechte Seiten. Aber es gab nichts, mit dem ich überhaupt nicht leben konnte. Ich bewege mich aber immer noch im studentischen Milieu. Alle kommen aus anderen Orten. Wenn ich später zu arbeiten anfange, kann ich mir vorstellen, dass es anders werden könnte, aber das wird sich noch zeigen. Gerade fühle ich mich sehr wohl.

„Ich finde es nicht schön, dass ich in eine Schublade gestecktwerde, wenn ich erzähle, dass ich aus Syrien komme. Mangeht dann automatisch von einer Religionszugehörigkeitaus oder dass ich keinen Alkohol trinke.“

Ich bin immer irritiert, wenn mich Menschen auf meinen Migrationshintergrund ansprechen. Wie ist das bei dir?

Das passiert mir auch häufig. Ich werde häufig gefragt, wo ich herkomme, wo meine Wurzeln sind. Viele gehen davon aus, dass, vor allem weil ich Hanna heiße, meine Eltern immigriert sind, aber wir schon lange in Deutschland leben. Ich finde das Fragen nicht schlimm. Vor allem am Anfang empfand ich es nicht als schlimm, weil es für mich klar war, dass man bei mir einen Unterschied sieht. Diesen Unterschied sieht man und spricht ihn an. Ich fand es schön, dass mein Gegenüber aufmerksam ist und offen nachfragt. In der letzten Zeit hat es mich ein wenig gestört, weil sehr viele gefragt haben. Das ist aber nicht schlimm. Ich finde es jedoch nicht schön, dass ich in eine Schublade gesteckt werde, wenn ich erzähle, dass ich aus Syrien komme. Man geht dann automatisch von einer Religionszugehörigkeit aus oder dass ich keinen Alkohol trinke. Am Anfang dachte ich eben, dass viele sich mit Syrien nicht auskennen. Aber mittlerweile leben hier so viele Menschen aus Syrien, dass es klar sein müsste, dass auch in Syrien sehr unterschiedliche Menschen leben. Mittlerweile sollte man einen differenzierteren Blick gelernt haben.

Spielt Religion für dich persönlich überhaupt eine Rolle?

Ich bin in einer christlichen Familie groß geworden. Aber so religiös ist meine Familie eigentlich nicht. Ich war mit ungefähr 14 Jahren sehr oft in der Kirche. Das war für mich eine Freizeitaktivität. Es gab Jugendgruppen. Ich habe selbst für vier Jahre Kinder betreut. Das habe ich sehr gerne gemacht. Und das war für mich auch eine Gelegenheit, Zeit mit meinen Freunden zu verbringen. Als ich nach Deutschland gekommen bin, ist mein Engagement komplett verschwunden, weil dieser Rahmen nicht mehr da war. Jetzt bin ich überhaupt nicht mehr religiös. In meinem Alltag ist das gar nicht mehr vorhanden. Weil ich damals so gläubig war und Religion eine große Rolle für mich gespielt hat, frage ich mich: Ist das Thema für mich nicht mehr wichtig? Oder müsste ich mich später damit beschäftigen? Aber aktuell spielt Religion für mich überhaupt keine Rolle.

Und – trinkst du Alkohol?

Ja.

Vermutlich hat Alkohol in der deutschen Gesellschaft eine ganz andere Bedeutung als in Syrien, oder? Wie hast du das erlebt?

Mit meinen Eltern habe ich mal einen Schluck Alkohol getrunken oder auch mal ein Bier. So wie man das hier auch kennt. Ich kenne das einfach von meiner Familie, dass man beim Feiern oder Essen gehen auch Alkohol trinkt. In meiner Familie war das zumindest so und ist es immer noch. In Syrien hängt das von dem Rahmen ab, in dem du dich befindest. Bei offiziellen Treffen wird nie Alkohol getrunken. Es gibt zum Beispiel auch Restaurants, in denen kein Alkohol angeboten wird. Je nachdem, in welcher Region du bist. In der Umgebung, in der ich groß geworden bin, ist es sehr ähnlich wie hier.

Und wie ist das mit anderen Rauschmitteln? Kiffen usw. Sind die deiner Erfahrung nach in Deutschland anders verbreitet als in Syrien?

Ich habe das in Deutschland viel öfter mitbekommen als in Syrien. Ich habe es selber noch nie probiert. Ich war zwar zwei Semester in der Uni in Syrien, habe aber trotzdem zu Hause bei meiner Familie gewohnt. Damals habe ich kaum etwas mitbekommen. Es ist in Syrien auf jeden Fall nicht so locker wie hier. Ich glaube schon, dass in Syrien auch Rauschmittel genommen werden. Es ist hier häufiger und du kriegst es mit. Man versucht hier nicht, es zu verstecken.

Deine Eltern waren vor zwanzig Jahren schon in Deutschland, deine Tante lebt ebenfalls hier – ist das Zufall oder hat deine Familie eine besondere Beziehung zu Deutschland?

Meine Eltern waren als Studenten im Rahmen der Ausbildung hier. Das war einfach ein universitäres Austauschprogramm zwischen Damaskus und Deutschland. Dadurch ist der Kontakt überhaupt entstanden. Der Kontakt wurde von meinen Eltern aufrechterhalten. Sie waren auch immer wieder in Deutschland. Die Freunde und Bekannten, die sie damals kennengelernt haben, sind immer noch Freunde und Bekannte von meinen Eltern.

Haben Syrien und Deutschland Gemeinsamkeiten?

Ich empfinde diese Frage als schwierig. Die Menschen sind so unterschiedlich. Ich kann Syrien nicht in einem Wort beschreiben und Deutschland auch nicht. Vielleicht war das früher anders, das weiß ich nicht. Aber mittlerweile ist es so bunt hier. Es gibt Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Beide Länder sind sehr bunt. Ich möchte es nicht einordnen, was ich zu Deutschland zähle und was zu Syrien.

Zum Beispiel Freundschaften. Ist es dir leicht gefallen, hier in Deutschland Freund*innen zu finden?

Ja, es hat sehr gut funktioniert. Ich hatte in der Hinsicht gar keine Probleme. Es sind sehr schnell Kontakte entstanden und daraus auch sehr enge Freundschaften, die immer noch vorhanden sind, auch wenn die Menschen nicht mehr in Gießen leben. Aber die Freundschaft ist immer noch so innig, wie sie davor auch war.

Du hast erzählt, dass du eine Philosophie hast, auf jeden Tag zu achten und nicht alles auf die Zukunft zu verschieben, weil man nie weiß, wann das Leben vorbei ist. Was ist für dich ein erfülltes Leben?

Das weiß ich nicht. Das hängt von der Betrachtungsebene ab. Man kann für sich feststellen, dass noch lange nicht alles erreicht ist, was man erreichen wollte, und sich viele Sachen wünschen, die man noch nicht besitzt. Oder man kann der Ansicht sein, dass man zu diesem Zeitpunkt glücklich mit dem ist, was man erreicht hat. Oder man kann auch das Gefühl besitzen, dass man ein anderes Leben führen möchte. Ich denke, man kann den Zustand erreichen, dass man für sich glücklich ist und das Leben in eine Richtung läuft, die man sich wünscht. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass man wunschlos glücklich ist. Ich denke, es gibt immer irgendetwas, das man sich wünscht. Ein erfülltes Leben bedeutet für mich, dass man akzeptiert, dass man bestimmte Sachen nicht erreicht hat oder nicht erreichen kann. Ich kann mir schlecht vorstellen, dass man keine Wünsche besitzt. Es ist sinnvoller zu sagen, dass Ziele erreicht wurden. Dass andere Ziele auch nicht erreicht wurden. Und dass man beides akzeptiert. Vielleicht hat man dann ein erfülltes Leben.

Deema aus DeirAlzour, 15 Jahre

„In Deutschland kann ich mich endlich unabhängig bewegen, ohne Hijab.“

Wie geht es dir, Deema?

Mir geht es momentan nicht gut. Wir benötigen eine Unterstützung von der Nordkirche, aber wir haben bis jetzt niemanden gefunden, der uns unterstützen kann.

Wofür brauchst du die Unterstützung?

Das deutsche Gericht hat unseren Fingerabdruck in Rumänien herausgefunden und sie sagten meiner Mutter, dass wir nach Rumänien zurückkehren müssen. Wir haben aber große Angst, dorthin zurückzukehren. Der Anwalt hat uns gesagt, dass wir, wenn wir sechs Monate bei der Kirche unterkommen, hier in Deutschland bleiben können.

Wo wohnst du?

Ich wohne momentan mit meiner Mutter und meinen drei jüngeren Geschwistern in einem Heim mit vielen Syrern und Afghanen zusammen.

Gehst du zur Schule?

Eigentlich bin ich jetzt in der neunten Klasse, aber ich bin seit einem Jahr nicht mehr zur Schule gegangen, da es mir nicht möglich war, eine Schule zu besuchen.

Warum nicht?