Flucht nach Wildmoos - Judith Parker - E-Book

Flucht nach Wildmoos E-Book

Judith Parker

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. Der Landregen, der auf den nächtlichen Gewittersturm folgte, passte so recht zu Pünktchens trübsinniger Stimmung. Mit tränenfeuchten Augen stand sie am Fenster ihres Zimmers und blickte in die graue Welt hinaus. Dabei dachte sie an die kommenden zwei Wochen, in denen Dominik nicht hier sein würde. Für sie war das eine Ewigkeit. Natürlich gönnte sie Nick die Reise mit seinen Großeltern und deren Adoptivtochter Kati von ganzem Herzen, aber gleichzeitig fühlte sie auch Neid in sich. Wie schön wäre es doch, wenn man sie ebenfalls mitnehmen würde. Die bayerische Hauptstadt München hätte sie schon lange gern kennengelernt. Nick würde diese Stadt nun aber ohne sie kennenlernen. Pünktchen wischte sich die Tränen fort und atmete tief durch. Sie musste tapfer sein. Vor allen Dingen durfte sie keine verweinten Augen haben. Denn Nick würde gleich nach Sophienlust kommen, um sich von allen hier zu verabschieden. Gegen elf Uhr würden dann seine Großeltern und Kati kommen, um ihn mit dem Auto abzuholen. Und heute Abend würden die glücklichen Vier bereits in München sein. Pünktchen wusste, Nick konnte es nicht leiden, wenn sie weinte oder gerötete Lider hatte. Darum ging sie in das anschließende Badezimmer und wusch ihr Gesicht mit kaltem Wasser. Dann bürstete sie ihre Haare und band sie im Nacken mit einer hellblauen Schleife zusammen. Schließlich schlüpfte sie in ihre weiße Leinenhose und zog den kurzärmeligen Pulli über den Kopf. Obwohl es draußen in Strömen goss, war es doch noch immer recht schwül. Jetzt stellte Pünktchen sich wieder ans Fenster und wartete auf den Wagen von Tante Isi, die Nick gewiss nach Sophienlust bringen würde.

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Seitenzahl: 154

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Sophienlust – 527 –Flucht nach Wildmoos

Judith Parker

Der Landregen, der auf den nächtlichen Gewittersturm folgte, passte so recht zu Pünktchens trübsinniger Stimmung. Mit tränenfeuchten Augen stand sie am Fenster ihres Zimmers und blickte in die graue Welt hinaus. Dabei dachte sie an die kommenden zwei Wochen, in denen Dominik nicht hier sein würde. Für sie war das eine Ewigkeit. Natürlich gönnte sie Nick die Reise mit seinen Großeltern und deren Adoptivtochter Kati von ganzem Herzen, aber gleichzeitig fühlte sie auch Neid in sich. Wie schön wäre es doch, wenn man sie ebenfalls mitnehmen würde. Die bayerische Hauptstadt München hätte sie schon lange gern kennengelernt.

Nick würde diese Stadt nun aber ohne sie kennenlernen.

Pünktchen wischte sich die Tränen fort und atmete tief durch. Sie musste tapfer sein. Vor allen Dingen durfte sie keine verweinten Augen haben. Denn Nick würde gleich nach Sophienlust kommen, um sich von allen hier zu verabschieden. Gegen elf Uhr würden dann seine Großeltern und Kati kommen, um ihn mit dem Auto abzuholen. Und heute Abend würden die glücklichen Vier bereits in München sein.

Pünktchen wusste, Nick konnte es nicht leiden, wenn sie weinte oder gerötete Lider hatte. Darum ging sie in das anschließende Badezimmer und wusch ihr Gesicht mit kaltem Wasser. Dann bürstete sie ihre Haare und band sie im Nacken mit einer hellblauen Schleife zusammen. Schließlich schlüpfte sie in ihre weiße Leinenhose und zog den kurzärmeligen Pulli über den Kopf. Obwohl es draußen in Strömen goss, war es doch noch immer recht schwül.

Jetzt stellte Pünktchen sich wieder ans Fenster und wartete auf den Wagen von Tante Isi, die Nick gewiss nach Sophienlust bringen würde.

Aber nicht ihr Auto bog bald darauf in das Hoftor ein, sondern das von Onkel Alexander. Pünktchen beobachtete, wie zuerst Nick, dann Henrik und Tante Isi und schließlich Onkel Alexander ausstiegen.

Nach einem tiefen Atemzug und einem schnellen Blick in den Spiegel verließ die Kleine ihr Zimmer und lief nach unten. Die anderen Kinder hatten sich an diesem Vormittag alle in der Halle versammelt, um Nick auf Wiedersehen zu sagen.

Pünktchen blieb auf der halben Treppe stehen, denn wieder schossen ihr heiße Tränen in die Augen. Wie durch einen Nebelschleier sah sie, dass die anderen lebhaft auf Nick einredeten. Sie hörte auch sein munteres Lachen und dann die Frage: »Wo steckt denn Pünktchen?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Isabel. »Gleich nach dem Frühstück ist sie nach oben gelaufen.«

»Sie hat Abschiedsschmerz«, meinte die rundliche Vicky vergnügt. »Sie tut ganz so, als ob du monatelang fortbleiben wolltest.«

Pünktchen schluckte und flitzte wieder nach oben. Obwohl sie sich meist recht gut mit Vicky verstand, hatte sie manchmal auch eine richtige Wut auf sie wegen ihrer anzüglichen Bemerkungen.

Dominik hatte Pünktchen noch im letzten Augenblick erspäht und folgte ihr nach oben. Er holte sie auf dem Gang des Seitenflügels ein und hielt sie am Arm zurück. »Hallo, Pünktchen«, grinste er. »Du weinst doch nicht etwa meinetwegen?«

»Ich weine überhaupt nicht«, fauchte sie ihn an und wollte sich von ihm losreißen.

»Natürlich weinst du nicht.« Auf einmal klang seine Stimme ungewöhnlich sanft. »Weißt du, Pünktchen, die vierzehn Tage gehen schnell vorüber.«

»Ja, für dich!«, stieß sie schluchzend hervor. »Ich wäre doch auch so gern mitgefahren. Ich …«

»Ich weiß das ja, Pünktchen. Ich habe Omi auch gefragt, ob du nicht mitfahren könntest. Aber der Wagen ist doch voll. Opa fährt doch nicht selber. Ich sitze vorn neben dem Chauffeur, meine Großeltern und Kati hinten.«

»Ja, Nick.« Sie lächelte ihn unter Tränen an. »Nick, ich bin sehr glücklich in Sophienlust, aber manchmal tut es doch weh, wenn man niemanden hat.« Wieder flossen die Tränen.

»So etwas darfst du niemals sagen, Pünktchen. Du hast doch uns alle. Mutti hat erst neulich zu mir gesagt, sie liebe dich wie eine Tochter. Und Vati wünscht sich, dass du seine Tochter wärst. Eines Tages, wenn wir beide groß sind und ich dich heiraten werde, wirst du ja auch ihre Tochter.«

Plötzlich strahlte Pünktchen übers ganze Gesicht. Wenn Nick von ihrer gemeinsamen Zukunft sprach, fühlte sie sich wie im siebten Himmel.

»Nick! Nick!«, rief Fabian hinter ihm. »Deine Großeltern sind da! Sie wollen gleich weiterfahren.«

»Danke, Fabian.« Dominik lächelte dem Jungen zu, dann küsste er Pünktchen ungeschickt auf die Wange. »Also, bitte wein nicht mehr«, bat er leise und ließ sie dann einfach stehen.

*

Irene von Wellentin sah an diesem Tag auffallend gut aus. Sie trug ein überaus elegantes Sommerkostüm und einen dazu passenden Hut, der sie besonders jugendlich machte. Auch ihr Mann Hubert von Wellentin machte einen sehr lebhaften Eindruck, als er seinen Enkel begrüßte.

»Na, fertig, mein Junge?«, fragte er in bester Laune und blickte dann mit väterlichem Stolz auf seine Adoptivtochter. Kati hatte einen entzückenden hellroten Hosenanzug an, der wundervoll zu ihrem aschblonden Haar, das sie offen trug und das ihr weit über die Schultern fiel, kontrastierte. Die großen grauen Augen mit den langen dunklen Wimpern waren so klar wie ein frischer Quell. Ja, er würde sehr achtgeben müssen auf das Mädchen, damit es nicht einem unrechten Mann in die Hände fiel, dachte er mit plötzlicher Sorge. »Wir müssen jetzt fahren«, sagte er und reichte Denise die Hand zum Abschied. »Auf deinen Filius passen wir gut auf. Wir bringen ihn schon wieder gesund heim.«

Dominiks Koffer war bereits im Auto verstaut. Er selbst hatte sich schon von allen verabschiedet, nur noch nicht von seinen Eltern und Henrik. Das holte er jetzt schleunigst nach. Doch er war so aufgeregt vor Freude auf die kommenden Ereignisse, dass er nicht mehr nach oben schaute, bevor er in den Wagen stieg, sonst hätte er Pünktchen an einem der Fenster im oberen Stockwerk noch gesehen und ihr auch zugewinkt.

Pünktchen schluchzte leise auf, als der Wagen abfuhr. Denise zeigte ebenfalls ein trauriges Gesicht, denn wenn eines ihrer Kinder fortfuhr, war ihr jedes Mal sonderbar schwer ums Herz.

Alexander hakte sich bei ihr unter. »Er kommt ja bald wieder, mein Liebes«, flüsterte er ihr zu.

»Ich weiß, dass ich mich lächerlich benehme«, erwiderte sie ebenso leise. »Aber ich kann nichts dafür. Wirklich nicht.«

Henrik fasste nach ihrer Hand. »Nicht wahr, Mutti, wenn ich so groß bin wie Nick, dann darf ich auch mit Omi und Opa mal verreisen?«

»Natürlich.« Denise lächelte schon wieder.

Alexander fuhr seinem Jüngsten liebevoll durch den Haarschopf. Es amüsierte ihn immer wieder, dass der Kleine so fest davon überzeugt war, dass Irene und Hubert von Wellentin auch seine richtigen Großeltern seien.

*

Für Kati und für Nick wurde die Reise nach München ein großes Erlebnis.

Hubert von Wellentin hatte allerdings nur wenig Zeit für seine Familie, denn er hatte wichtige geschäftliche Konferenzen. Irene von Wellentin aber durchstreifte mit den beiden jungen Leuten die Isarmetropole. Sie war genauso wie diese über die Veränderungen begeistert. Trotzdem spürte sie doch ein bisschen, dass sie keine junge Frau mehr war, und gestattete deshalb den beiden, auch ein bisschen allein umherzulaufen.

Kati und Dominik fanden das wunderbar. Sie suchten in den Kaufhäusern Geschenke für ihre Lieben daheim aus und fuhren immer wieder mit der U-Bahn. Dabei bemerkte Nick, dass die Männer Kati immerzu anschauten, worüber er sich ein bisschen ärgerte. Denn Kati gab manchen Männerblick lächelnd zurück.

»So etwas darfst du nicht tun«, empörte sich der Junge später, als sie zum Hotel zurückgingen.

»Was darf ich nicht tun?«, fragte sie mit dem unschuldigsten Gesicht der Welt.

»Die Männer anlächeln.«

»Aber warum nicht, wenn sie freundlich sind? Du, Nick, es ist eigentlich schade, dass Sascha nicht hier ist.«

Überrascht blickte er sie an. »Sascha? Wieso Sascha?«

»Versprichst du mir, dass du niemandem erzählst, was ich dir jetzt sage?«, fragte sie und errötete bis zu den Ohren.

»Wenn du mich darum bittest, schweige ich natürlich wie ein Grab.« Dominik sah sie gespannt an. Alles, was mit Geheimnissen zu tun hatte, interessierte ihn nach wie vor brennend.

»Ach, ich traue mich doch nicht.« Ihre Wangen wurden noch rosiger, und der tiefe Glanz in ihren schönen Augen gab Nick zu denken.

»Sei keine Gans«, brummte er. »Erst deutest du etwas an, und dann spannst du mich auf die Folter. Das ist unfair.«

»Also gut. Ich bin in deinen Bruder Sascha verliebt. Er darf es aber nie wissen. Wenn ich wirklich einmal heirate, heirate ich nur ihn«, fügte sie schnell hinzu und senkte den Kopf vor Verlegenheit.

»Donnerwetter!«, rief Dominik burschikos. »Auf diese Idee wäre ich niemals gekommen. Aber warum nicht? Dann würde Sascha seine Tante heiraten.«

»Hör doch damit auf«, kränkte sie sich. »Immer wieder neckst du mich mit solch dummem Zeug. Ich bin doch nie und nimmer seine Tante.«

»Doch, das bist du. Also, pass mal auf«, begann er verschmitzt lächelnd. »Du bist meine Tante, das ist klar. Und weil Sascha mein Bruder ist, dann …«

»Nick, hör auf! Ich …« Plötzlich prustete sie los. »Ach, Nick, und wenn schon. In unserer Familie sind sowieso verzwickte Verhältnisse. Warum sollen sie nicht noch verzwickter werden?«

»Du, Kati, ich habe eine grandiose Idee. Wir werden Omi und Opa oder Mutti und Vati, wie du meine Großeltern titulierst, bitten, über Heidelberg nach Sophienlust zurückzufahren. Dann können wir Sascha dort besuchen. Ist das nicht ein großartiger Einfall?«

»O ja, Nick. Aber du musst sie fragen. Weißt du, bei mir könnten sie vielleicht auf den Gedanken kommen …«

»… dass du für Sascha lichterloh brennst«, fiel er ihr übermütig ins Wort.

Irene von Wellentin war schon in großer Sorge um die Kinder gewesen. Mit vorwurfsvollen Blicken bedachte sie die beiden, als sie quietschvergnügt das gemeinsame Wohnzimmer, das zu der gemieteten Zimmerflucht im Hotel gehörte, betraten.

»Bitte, nicht böse sein, Muttilein«, schmeichelte Kati und fiel Irene von Wellentin um den Hals. »Es war doch so wunderschön. Schau nur, was wir alles gekauft haben. Ja, und mit der U-Bahn sind wir auch noch einmal gefahren.«

»Ja, Omi, weil wir doch morgen abreisen wollen. Und da haben wir gedacht, dass wir eigentlich auf der Heimfahrt einen Abstecher nach Heidelberg machen könnten, um Sascha zu besuchen. Er wird sich darüber sicherlich riesig freuen.«

Kati blickte angelegentlich zum Fenster hinaus und tat so, als ob sie nicht zuhörte. Dabei saugte sie jedes Wort von Nick wie eine Verdurstende in sich auf.

»Eine gute Idee.« Irene lächelte hintergründig. »Was würdest du aber sagen, wenn dein Großvater und ich das längst eingeplant hätten?«

»Mensch, das ist aber eine Wucht«, entfuhr es dem Jungen, dann schlug er sich jedoch auf den Mund. »Verzeih, Omi, das ist mir nur so herausgerutscht.«

»Wirklich! Fahren wir wirklich nach Heidelberg?« Kati wandte sich lebhaft um.

Irene nickte ihr gütig zu. Längst hatte sie erkannt, wie sehr ihre Tochter an Sascha hing. Ihr würde es jedoch nur recht sein, wenn die beiden eines Tages ein Paar würden. Doch bis dahin würde noch viel Zeit vergehen. Glücklicherweise, dachte sie. Denn allein schon der Gedanke, dass Kati sie eines Tages verlassen würde, um dem Mann ihrer Wahl zu folgen und ihr eigenes Leben zu leben, schmerzte sie sehr.

»Die Tochter einer ehemaligen Freundin von mir lebt ebenfalls in Heidelberg«, erklärte sie nun. »Ich habe Cordula schon viele Jahre nicht mehr gesehen. Sie ist mit einem Großindustriellen, Lukas Wendelin verheiratet und hat zwei Kinder.«

»Jungen oder Mädchen?«, wollte Dominik wissen.

»Zwei Buben. Aber ihre Namen sind mir momentan entfallen. Sie sind ungefähr elf und zehn Jahre alt. Aber ihr werdet sie ja kennenlernen.«

»Aber ich kenne sie doch schon!«, rief Kati. »Ich war ja schon einmal dort.«

*

Die beiden Jungen, von denen die Rede war, saßen um dieselbe Zeit in ihrem Schulzimmer in der Villa ihrer Eltern und bauten aus zusammensetzbaren Kunststoffsteinen eine Ritterburg. Aber an ihren Gesichtern war abzulesen, dass ihnen dieses Spiel keine große Freude bereitete.

Viel lieber wären sie draußen herumgetollt. Doch der tagelange Regen fesselte sie ans Haus.

»Wenn Mutti ihr Versprechen gehalten hätte, könnten wir jetzt im Meer baden«, klagte Viktor, der ältere der beiden, wobei es in seinen tiefbraunen Augen empört aufblitzte. Er erhob sich unwillig von dem Teppich, auf dem er im Türkensitz gesessen hatte, und fuhr sich dann mit beiden Händen durch sein dunkelblondes Haar, das zu einer Pagenfrisur geschnitten war. »Aber wir haben eben solche Eltern«, fügte er verbittert hinzu.

Sein um ein Jahr jüngerer Bruder Volker stand ebenfalls auf. Er war bedeutend schmächtiger als Viktor. Auch hatte er braune Augen und viel dunklere Haare. Er hieß stets alles, was Viktor sagte oder tat, gut. Er hing sehr an seinem Bruder und war froh, dass er ihn hatte.

»Ja, Viktor, das ist wahr. Glaubst du, dass sie sich scheiden lassen werden?«, fragte er mit einem ängstlichen Unterton.

»Wissen kann man das nie, obwohl ich das grässlich fände. Komisch, dass sie überhaupt geheiratet haben, wenn sie sich gar nicht mögen. Findest du das nicht auch?« Viktor stellte sich ans Fenster und blickte in den Regen hinaus. »Wenn es doch wenigstens endlich zu gießen aufhören würde. Das Wetter ist wirklich Sche…« Er grinste. »Wenn Vati das hören würde, würde es etwas setzen.«

»Vati hat überhaupt keine Zeit mehr, auf so etwas zu achten«, erwiderte Volker altklug. »Er ist doch viel zu sehr mit dieser dummen Ziege beschäftigt.«

»Ja, die Aßfeld ist eine gemeine Person. Frauen, die versuchen, eine Ehe auseinanderzubringen, gehörten gesteinigt. Oder auf dem Scheiterhaufen verbrannt.«

»Ja, Viktor. Aber das wäre dann sehr schlimm für Mutti. Sie ist doch immer mit Herrn Beda zusammen. Ich kann ihn nicht leiden. Wenn ich größer wäre, würde ich ihn verprügeln, weil er Mutti dauernd nachläuft.«

»Unsere Mutti ist eine sehr schöne Frau«, erklärte Viktor schwärmerisch. »Ich verstehe nur unseren Vati nicht. Die Aßfeld ist eine richtige Ziege. Mutti ist viel hübscher als sie. Du, schau schnell! Die Sonne kommt durch. Und es regnet auch nicht mehr. Komm, Volker, wir laufen hinaus! Wir klettern den Hang hinter dem Haus hinauf und sehen nach, ob unsere Hütte aus Ästen noch steht. Bei dem gestrigen Sturm kann sie doch umgerissen worden sein.«

Das ließ sich Volker nicht zweimal sagen. Einige Minuten später verließen die beiden Buben das Haus und atmeten tief die klare Luft ein.

Cordula Wendelin saß vor ihrem Toilettenspiegel und bürstete ihr langes schwarzes Haar, das Lukas einmal so sehr geliebt hatte.

Lukas! Niemals hätte sie geglaubt, dass er sich so verändern würde. Als sie sich vor ungefähr zwölf Jahren auf den Balearen kennengelernt hatten, war es bei ihnen beiden Liebe auf den ersten Blick gewesen. Sie hatte damals geglaubt, dass er der wunderbarste Mann auf Erden sei. Aber sie hatte ihm Eigenschaften angedichtet, die er wohl niemals besessen hatte.

Bereits im ersten Ehejahr hatte sie begriffen, dass das Wort Treue nicht in seinem Wortschatz existierte. Nur in der allerersten Zeit war er ihr treu gewesen. Als sie aber ihr erstes Kind erwartete, hatte er sie schamlos betrogen. Und sie war bei ihm geblieben, weil sie ihn liebte mit all seinen Schwächen, die sie nach und nach bei ihm gefunden hatte. Und sie liebte ihn heute noch genauso wie früher. Nur aus Verzweiflung ließ sie sich auf Abenteuer ein, die sie im tiefsten Herzen anwiderten. Sie flirtete mit anderen Männern und suchte Trost in dem Luxus, den Lukas ihr bot. Dass sie dabei ihre beiden Kinder stark vernachlässigte, wurde ihr nicht bewusst. Sie liebte ihre Söhne innig, doch es fehlte ihr einfach der Kontakt zu ihnen. Auch hatte sie keine Ahnung, dass die beiden, in denen sie noch immer kleine unwissende Kinder sah, bereits eine scharfe Beobachtungsgabe besaßen, und dass ihnen nichts von dem entging, was ihre Eltern trieben.

Cordula schlug die Hände vors Gesicht, weil sie eben wieder an Susanne Aßfeld dachte. Lange hatte sie nicht gewusst, dass Lukas eine so attraktive Sekretärin hatte. Als sie sie dann nach Monaten kennengelernt hatte, hatte sie sofort gewusst, wie es um die beiden stand. Doch diese Liebesgeschichte zog sich nun schon über Monate hin.

Susanne Aßfeld war dreiundzwanzig Jahre alt. Ihre rotblonden Haare bildeten einen aufreizenden Kontrast zu ihren giftgrünen Augen, die so kalt blicken konnten. Aber wenn sie Lukas ansah, würden sie bestimmt leidenschaftlich glühen, dachte Cordula verbittert und schluckte verzweifelt die Tränen hinunter. Sie selbst war vier-unddreißig Jahre alt. Noch war sie schön – das sagte ihr nicht nur ihr Spiegelbild. Auch die Männer, die sie umschwärmten, beteuerten es immer wieder. Aber sie wollte das gar nicht von ihnen hören. Lukas war der einzige Mann, von dem sie solche Worte hören wollte. Doch Lukas schien das nicht mehr zu sehen.

Cordula ließ die Hände sinken und griff nach den Zigaretten. Mit fahrigen Bewegungen zündete sie sich eine an und fühlte sich nach dem ersten Zug etwas ruhiger. Jetzt las sie noch einmal den Brief von Tante Irene, in dem diese ihr ihren Besuch angekündigt hatte.

Cordula hatte sich schon als junges Mädchen sehr gut mit der besten Freundin ihrer Mutter, die sie vor drei Jahren verloren hatte, verstanden. Deshalb freute sie sich auf deren Besuch. Sie überlegte, dass die Wellentins und die beiden Kinder bei ihnen wohnen konnten, und griff schon nach dem Telefonhörer, um mit ihrem Mann darüber zu sprechen. Cordula wählte die Nummer des Geschäftshauses, in dem Lukas arbeitete. Als sie die Stimme ihrer verhassten Rivalin hörte, hätte sie am liebsten aufgelegt. Aber sie riss sich zusammen und verlangte kühl nach Lukas.

»Ich werde versuchen, ihn zu erreichen«, erwiderte Susanne Aßfeld in einem aufreizend geschäftsmäßigen Ton, der Cordulas Nerven zum Zerreißen anspannte. »Herr Wendelin hat im Augenblick eine Konferenz.«

»Das interessiert mich nicht«, erwiderte Cordula. »Ich muss ihn dringend sprechen.«

Wenig später war sie mit Lukas verbunden. Sie fragte ihn, ob er etwas dagegen habe, wenn sie die Wellentins einlade.

»Deshalb brauchst du mich doch nicht zu stören, Cordula!«, rief er gereizt. »Du weißt doch, dass ich solche Entscheidungen dir allein überlasse. Entschuldige mich jetzt, ich habe keine Zeit mehr.«

Cordula kam sich wie ein geprügeltes Kind vor, als sie auflegte. Wenn sie nur ein bisschen Stolz hätte, würde sie ihre Siebensachen zusammenpacken und Lukas verlassen. Die beiden Kinder würde sie mitnehmen. Aber sie hatte keinen Stolz mehr. Sie würde auch niemals die Kraft aufbringen, sich dem Kampf des Lebens zu stellen, weil die kummervollen Jahre sie völlig zermürbt hatten.

Cordula erhob sich und verließ das Schlafzimmer. Sie suchte nach ihren Söhnen, die sie seit dem Frühstück nicht mehr gesehen hatte. Denn über Mittag war sie in der Stadt geblieben, sodass die beiden allein zu Mittag gegessen hatten.

Zuerst ging Cordula in das Schul- oder Spielzimmer ihrer Söhne. Aber dort waren die beiden nicht. Auch fand sie sie nicht in ihren Schlafzimmern. Das Hausmädchen Bettina hatte auch keine Ahnung, wo sie sein konnten.