Flucht übers Watt - Krischan Koch - E-Book

Flucht übers Watt E-Book

Krischan Koch

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Kunstraub auf Nordfriesisch Kunststudent Harry Oldenburg klaut diverse Noldes aus dem Museum in Seebüll und flüchtet Hals über Kopf mit der erstbesten Fähre nach Amrum, wo er vorerst untertauchen will. Doch in der herbstlichen Inselidylle muss sich Harry einiger neugieriger und unbequemer Mitmenschen entledigen, sodass ihm das Pflaster auf Amrum zu heiß wird. Eine dramatische Flucht über die Inseln und das Watt beginnt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 320

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Krischan Koch

Flucht übers Watt

Ein Nordsee-Krimi

Für Gaby und die Austernfischer

Die folgende Geschichte von Harry Oldenburg und seinem ersten großen Kunstraub ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit der Wirklichkeit sind also rein zufällig und eigentlich auch höchst unwahrscheinlich. So einfach lässt sich kein Nolde klauen. Eine solche Häufung rätselhafter Todesfälle ist auf den Nordfriesischen Inseln nie vorgekommen. Bei der »Wyker Dampfschiffs-Reederei« gibt es keine unfreundlichen Fährleute, auf Amrum keine hässlichen Gästezimmer und an der Nordsee kein schlechtes Wetter.

1

Viel scheint sich nicht verändert zu haben in den letzten achtzehn Jahren. Auf der »Uthlande« gibt es noch immer dieselben lappigen Fischbrötchen, die von kroatischen Obern in abgetragenen Kellneranzügen mit einem unbeteiligten, aber verblüffend friesisch klingenden »Moin« an den Tisch gebracht werden.

»Aber heute Abend will ich richtigen Fisch. Und Oysters. Versprochen?« Zoe runzelt die Nase unter ihrer Sonnenbrille.

»Wollen mal sehen, was uns erwartet«, sagt Harry. »Damals musste man sich die Austern selbst sammeln.«

Die Resopaltische unter den Bullaugenfenstern im Passagierraum der Fähre und die angestaubten Hydrokulturen zwischen den Sitzecken sind dieselben und auch die Leute: Familien mit Kleinkindern, Ehepaare aus dem Ruhrpott, die seit Jahrzehnten in die Pension »Wattblick« fahren und nach vier Wochen Freikörperkultur wie ihre eigene Ledertasche aussehen, Hamburger Ferienhäusler in Edel-Matrosenshirts von »Hilfiger« und ein paar Einheimische, die sich auf dem Festland mit neuen Kaffeemaschinen eingedeckt haben oder was man sonst für die Vermietung von Ferienwohnungen so braucht. Zumindest haben die Vogelkundler in den altmodischen Anoraks inzwischen graue Bärte. Und vielleicht ist der Fahrkartenkontrolleur der »Wyker Dampfschiffs-Reederei« etwas freundlicher geworden. Auf den Inseln gibt es neben Aquarellkursen mittlerweile auch Ayurveda. Und die Rentnerinnen haben alle Walkingstöcke dabei. So ganz ist die Zeit an der nordfriesischen Inselwelt dann doch nicht vorübergegangen.

Zum ersten Mal nach seiner dramatischen Flucht über die Nordsee in jenen stürmischen Herbsttagen vor achtzehn Jahren kehrt Harry Oldenburg nach Deutschland zurück. Er will Zoe, die er nach seinem ersten Kunstcoup in New York kennengelernt hat, seine norddeutsche Heimat zeigen: Hamburg, die Inseln und das Nolde-Museum in Seebüll. Er will das Grab eines alten Freundes in Keitum auf Sylt besuchen, das heißt, ein Freund war er eigentlich nicht. Vor allem hofft Harry auf Amrum ein Bild zu finden, von dem er Zoe viel erzählt hat und durch das sie damals überhaupt erst zusammengekommen sind. Und vielleicht gibt es ja auch noch die Stelle im Watt, wo man bei Niedrigwasser wilde Austern sammeln kann. Ohne jedes Schwanken gleitet die »Uthlande« über die sommerlich glitzernde Nordsee. Zoe ist ganz erstaunt über die Weite und die Ähnlichkeit mit der Atlantikküste in Maryland, wo sie seit ein paar Jahren leben, in einem Leuchtturm an der Chesapeake Bay. Am Horizont ziehen die wie auf das Wasser gesetzten Halligen vorüber. Harry spürt diese Hochstimmung, die er von früheren Nordseeurlauben kennt. Sie ergreift ihn, sobald er sich auf einer Fähre zu den Nordfriesischen Inseln befindet. Ein Schwung, der bald einer müden Schwere weicht. Ein paar Möwen segeln träge vor dem tiefblauen Himmel über dem oberen Sonnendeck, auf dem die beiden jetzt auf einer der Polyesterbänke sitzen.

Zoe wendet ihr Gesicht der Sonne zu und lässt sich die laue Nordseebrise in ihr kurz geschnittenes schwarzes Haar wehen. Harry hat eine deutsche Zeitung aufgeschlagen. Aber er liest nicht, sondern beobachtet die Leute an Deck. Er sieht sich prüfend um, ob er jemanden kennt. Er weiß, wie unsinnig das ist. Aber er muss es tun.

»Aufgeregt, wieder hier zu sein?«, sagt Zoe, die seine Unruhe spürt.

»Na ja – geht so …«, erwidert Harry mit demonstrativer Gelassenheit.

Ein überaktives Kind turnt trotz der von der Mutter schrill über das ganze Deck gerufenen Verbote gefährlich an der Reling herum. Ein kleiner dicker Mann in einer bunt gezackten Trainingsjacke lehnt gegenüber an dem Geländer und verfolgt mit einem Fernglas einen vorüberziehenden Krabbenfischer. Die lang gelassenen Haare, die von einem tief liegenden Scheitel über den kahlen Kopf gelegt sind, wehen ihm immer wieder auf die falsche Seite über den Kragen seiner Jacke. Die Frau mit rotblonden Locken zwei Sitzreihen vor ihnen liest in einem Buch, dessen Titel Harry nicht erkennen kann. Er muss immer wieder hingucken, weil er wissen will, was sie liest.

Vor allem aber behält er den Mann in der blassblauen Sportjacke im Auge. Irgendwie kommt ihm der bleiche Typ mit dem graublonden Bart und der überdimensionalen gelb getönten Stahlrandbrille bekannt vor. Als er mit seiner Digitalkamera herumzufuchteln beginnt, wird Harry unruhig. Der Typ läuft auf dem Deck herum und blinzelt in die Sonne, dass seine schlechten spitzen Zähne zu sehen sind, die ihm zusammen mit dem dünnen hellen Bart etwas Rattenhaftes verleihen.

»Entspann dich«, sagt Zoe und streicht ihm das Haar aus der Stirn.

Wahrscheinlich hat sie recht. Ihm kommen alle möglichen Leute bekannt vor. Das ist ein Tick von ihm. Harry hat lange gezögert, nach Deutschland und gerade auch auf die Nordseeinseln zurückzukehren. Die Geschichte mit den Nolde-Bildern ist verjährt. Das hatte ein befreundeter Anwalt für ihn in Erfahrung gebracht. Aber dann sind da ja noch diese Todesfälle. Harry geht davon aus, dass die Behörden nach so langer Zeit nicht mehr ermitteln. Er hat nicht die leiseste Ahnung, wie weit er damals überhaupt mit den Leichenfunden in Verbindung gebracht worden war. Der Coup im Nolde-Museum war ja alles andere als glatt gelaufen.

Unglaublich jung war er damals gewesen, gerade mal fünfundzwanzig und restlos desillusioniert. Während sein Mitstudent Albrecht Ahlen aus der Malerei-Klasse von Herburger mit riesigen, wilden, surrealen Bildern schon erstaunliche Preise erzielte, war Harry, der ganz ähnlich malte, wenn auch in kleineren Formaten, am Kunstmarkt bis dahin kläglich gescheitert. Dabei war sein Stil damals eigentlich Mode. Und Harry Oldenburg, das klang doch irgendwie nach amerikanischer Pop-Art. In der Kunsthochschule hatte er streng darauf geachtet, dass sie ihn nicht Harald, sondern Harry nannten, damals noch deutsch ausgesprochen, nicht englisch, wie Zoe es macht. Harald ist kein Name für einen Künstler und für einen Kunstdieb erst recht nicht. Aber inzwischen hat er es durch die Kunst tatsächlich zu einigem Wohlstand gebracht. Wenn auch anders als gedacht. Seine nicht gerade bürgerliche Karriere hat ihm ein durchaus bürgerliches Leben beschert.

Als er jetzt zusammen mit Zoe auf dem Sonnendeck über die wie Silberlametta flirrende See gleitet, fühlt er sich jünger als damals. Sein immer noch volles Haar hat zwar inzwischen einige graue Strähnen bekommen, aber das steht ihm besser als das schmutzige Dunkelblond, das er als Mittzwanziger hatte. Eine längere Tolle, auf der Zoe besteht, fällt ihm immer wieder ins Gesicht, beim Tennis oder beim Hantieren mit den großformatigen Bildern in der kleinen Galerie, die sie mittlerweile in einem kleinen Nest in der Nähe von Annapolis an der Ostküste betreiben. Die große fleischige Nase, die er früher immer als Makel empfunden hat, ist inzwischen sein Markenzeichen. Und auch mit den verbliebenen Aknenarben hat er sich arrangiert.

Harry hat sich das Rauchen abgewöhnt und außerdem das Stottern, zumindest, wenn er Englisch spricht. Zoe tut ihm gut. Ihre amerikanische Art. Als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, in dem Kunsthandel ihres Vaters, war sie ein flippiges achtzehnjähriges New Yorker Mädchen aus dem East Village. Sie trug ein schwarzes Unterhemd, hatte schwarz geschminkte Augen und zottelige lange Haare. Er hatte sich sofort in sie verliebt.

Inzwischen sieht Zoe wie eine richtige Ostküstenamerikanerin aus mit ihren sportlich kurzen Haaren, den wachen graugrünen Augen und den etwas zu großen, ein wenig nach vorn stehenden Schneidezähnen. Harry mag es, dass sie beim Lachen ungeniert ihre Zähne zeigt, selbst beim Kaugummikauen. Ihr metallisch riechendes Parfüm mischt sich dann mit dem Minze-Aroma des Kaugummis. Wenn sie an der Bay zusammen in ihrem alten Volvo-Kombi zu dem Lokal auf dem Bootssteg fahren und Krebse mit Gabel und Hammer essen und Bier in Glaskaraffen dazu trinken, kommt er sich wie ein echter Amerikaner vor. Deutschland, seine missglückte Kindheit und Jugend sind dann in weite Ferne gerückt.

Heute Vormittag aber war Harry das erste Mal seit langer Zeit wieder ein bisschen ins Stottern geraten. Das deutsche Wort »Feriengäste« hatte er nicht gleich herausgebracht: »Feferiengäste.«

Aber es war für Harry auch eine böse Überraschung gewesen, die ihn heute Mittag im Nolde-Museum erwartete. Bevor sie in ihrem Golf, den sie am Hamburger Flughafen gemietet hatten, zur Fähre nach Dagebüll fuhren, wollte er Zoe unbedingt das kleine Museum in Seebüll zeigen, vor allem Noldes ›Ungemalte Bilder‹. In seiner Zeit an der Kunsthochschule waren Nolde, Schmidt-Rottluff und die anderen »Brücke«-Maler gerade wieder entdeckt worden von den »Neuen Wilden«, zu denen auch Harry gern gehört hätte. Dabei war ihm Nolde schon vorher vertraut. Seine Großmutter, bei der er aufgewachsen war, hatte in einem Schuhkarton lauter Kunstpostkarten gesammelt, darunter auch etliche Bilder von Emil Nolde: Vor allem Blumenaquarelle, aber auch rot-gelb brennende Wolkengebilde über der Nordsee, ein violett oder türkis leuchtendes Meer, dann wieder schwarz-blaue Wellen mit grellweißen Schaumkronen. Das war seine erste Kunsterziehung gewesen.

Die Räume in dem kleinen Museum waren schnell besichtigt. Im Erdgeschoss Noldes ehemaliges Atelier mit dem großen biblischen Triptychon. In den Fluren und den zu kleinen Kabinetten umgebauten Wohnräumen im ersten Stock hingen dicht aneinander die ›Ungemalten Bilder‹, kleinformatige Aquarelle, die Nolde, der während der Nazizeit nicht malen durfte, schnell vor seinen Verfolgern verstecken konnte. Er hatte sich auf Aquarelle verlegt, damit ihn der Geruch von Ölfarbe nicht verraten konnte. Tausenddreihundert dieser Bilder soll Nolde zwischen 1938 und 1945 gemalt haben.

Als sie den letzten verbleibenden Raum betraten, den sogenannten »Bildersaal« mit dem Glasdach, in dem die Gemälde in zwei Reihen übereinandergehängt waren, traf es Harry wie ein Schlag.

»Das ist dein Bild«, zischte Zoe ihm zu.

Das konnte eigentlich nicht sein. Aber dort hingen die ›Feriengäste‹. Und darunter wie schon damals ein Schild: »Leihgabe aus Privatbesitz«. Harry wurde fast etwas schwindelig, sodass er die drei sitzenden Frauen in Sommerkleidern und den Mann mit weißer Schirmmütze in der farbigen norddeutschen Landschaft nur noch flimmernd wahrnahm. Als hätte er zu viel getrunken. Die orange leuchtenden Haare der Frau in dem weißen Kleid begannen vor dem blauen Zaun im Hintergrund kurz zu flirren. Die Gesichter wurden unscharf. Und ihm war, als hätte die Frau in der Mitte, die den Betrachter mit zur Seite geneigtem Kopf ansieht, ihren roten Mund für einen kurzen Augenblick zu einem spöttischen Lächeln verzogen. Aber dann hatte Harry sich schnell wieder gefasst. Er besah sich das Ölbild von ganz nahem, insbesondere die weiße Schirmmütze des männlichen Feriengastes.

»Das Bild ist nicht echt«, sagte er schließlich bestimmt und etwas besserwisserisch. Zoe sah ihn verschwörerisch fragend an und rückte sich die Sonnenbrille, die sie sich ins Haar geschoben hatte, zurecht.

»Are you sure?«, flüsterte sie. »Woran siehst du das so schnell?«

»Die Schirmmütze des Mannes.«

»Schirm-muutze«, wiederholte sie langsam mit ihrem amerikanischen Akzent. »What means Schirmmutze?«

Eigentlich spricht Zoe gut Deutsch. Harry besteht darauf, dass zu Hause regelmäßig deutsch gesprochen wird. Vor allem auch wegen ihrer gemeinsamen Tochter Tippi, die zweisprachig aufwachsen soll. Aber das Wort »Schirmmütze« war offenbar bisher nicht vorgekommen. »Auf dem Weiß der Schirmmütze muss bei dem Original eine Delle zu sehen sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man das wieder vollständig restauriert hat.«

»Schirm-mutze?«, flüsterte Zoe etwas flüssiger, aber noch leiser, weil die Museumsaufsicht den Raum betrat. Die Frau sah immer wieder kurz zu den beiden hinüber, während sie betont beiläufig an den Bildern vorüberschlenderte, ohne diese eines Blickes zu würdigen. »Aber du wirst mir das schon erklären, Darling.« Dabei hatte sich Zoe noch einmal die Sonnenbrille im Haar zurechtgerückt.

Amrum kommt Harry beklemmend vertraut vor, als die Fähre auf den Hafen von Wittdün zusteuert: der breite, im Sonnenlicht strahlende Strand, der rot-weiße Leuchtturm, der aus den Dünen herausguckt und den Harry in gar nicht so guter Erinnerung hat, und der hässliche Hotelkasten mit der Aluminiumfassade aus den Spätsechzigern, der unpassenderweise »Zur Alten Post« heißt. Trotzdem wirkt jetzt in den fast karibischen Farben über dem Wattenmeer alles ganz anders als damals in den stürmischen Tagen und Nächten, als das Licht jede Stunde wechselte.

»Es ist ja wie zu Hause an der Chesapeake Bay«, sagt Zoe.

»Im Augenblick vielleicht. Aber wart mal ab.«

Am liebsten würde Harry seine Spur von damals gleich heute wiederaufnehmen. Aber Zoe besteht darauf, zuerst das Hotel in Norddorf zu beziehen.

»Heute Abend gibt es erst mal Austern und Nordsee-Crabs. Und morgen sehen wir dann vielleicht mal nach deinem Bild. Okay?«

Während die »Uthlande« mit einem metallenen Poltern an der Mole in Wittdün anlegt, drängen die Passagiere in dem schmalen Gang mit den Gepäckfächern dem Ausgang zu. Dem kleinen Dicken ist beim Hantieren mit seinem etwas überdimensionierten quietschegrünen Rollkoffer sein langer Scheitel wieder auf den Kragen gefallen. Und auf einmal glaubt Harry zu wissen, warum ihm der Typ mit dem graublonden Bart und den Mäusezähnen, der jetzt als Erster das Schiff verlässt, bekannt vorkommt.

2

Damals vor achtzehn Jahren war anfangs alles so gelaufen, wie Harry es sich vorgestellt hatte. Das Auto, einen unangemeldeten Kadett, braunmetallic, mit Heckspoiler und falschen Pinneberger Nummernschildern, hatte ihm ein Bekannter seines Mitbewohners besorgt. Diese vorgebliche Kneipenbekanntschaft von Ingo Warncke betrieb auf einem Industriegelände in Eidelstedt einen dubiosen An- und Verkauf von Autos, deren Fahrgestellnummern nicht unbedingt zu den Papieren passten. Den durchgerosteten Opel, dessen Maschine angeblich noch zuverlässig lief und den er am nächsten Tag gleich wieder zurückbringen wollte, hatte er in einem von Buschwerk gesäumten Feldweg abgestellt, etwa einen Kilometer vom Museum in Seebüll entfernt, das völlig einsam in der weiten baumlosen Landschaft stand. Auf einer kleinen Warft gab es einen alten Reetdachhof. Gleich daneben den dunkelroten kubischen Backsteinbau, den Nolde hier Ende der Zwanzigerjahre selbst gebaut und dann auch bewohnt hatte. Bald nach seinem Tode 1956 war das Haus Museum geworden.

Vom Auto war Harry zu Fuß gegangen, ein Stück die Landstraße zwischen Neukirchen und Krakebüll entlang und dann die lange Auffahrt von der Straße zum Museum. Das stürmische Herbstwetter trieb gewaltige Wolkenformationen über den Himmel, wie auf einem Nolde-Bild. Ausgerechnet auf seinem Fußweg gab es einen kurzen Schauer. Hier bei diesem Wetter als Fußgänger unterwegs zu sein, war schon ungewöhnlich. Aber auf der kleinen Allee kamen ihm nur abfahrende Museumsbesucher in einem Auto mit auswärtigem Kennzeichen entgegen. Eigentlich niemand, dem er verdächtig vorkommen musste. Dass die Innentaschen seines Anoraks neben einer Chesterfield-Schachtel zwei kleine Zangen, Schraubenzieher, weiße Baumwollhandschuhe, ein Teppichmesser, Taschenlampe und eine große Neckermann-Plastiktüte verbargen, konnte schließlich niemand erkennen.

Für sein Vorhaben hatte Harry sich dunkle Klamotten besorgt, einen anthrazitblauen Anorak, schwarze Jeans, einen schwarzen Rollkragenpullover und dunkle Sportschuhe. Außerdem hatte er sich in den letzten vierzehn Tagen einen Bart wachsen lassen und seine Frisur verändert, indem er sich die längeren Haare etwas ins Gesicht fallen ließ.

Er trug eine getönte Brille, mit der er sich richtig verkleidet vorkam. Aber gerade das gab ihm die Sicherheit und den Mut, sein unglaubliches Vorhaben in Angriff zu nehmen. Kurz bevor er das Museum betrat, hatte er noch überlegt, die Sonnenbrille abzunehmen und sich die Haare aus dem Gesicht zu streichen, die Ausstellung anzugucken wie ein normaler Besucher und ganz entspannt wieder nach Hause zu fahren. Aber er hatte die Brille aufbehalten, als er seine Eintrittskarte löste.

»Um siebzehn Uhr schließen wir«, rief ihm die Frau an der Kasse gleich triumphierend entgegen, die eine rote Lesebrille an einer Kette und einen grob gewebten Wollponcho mit den Ausmaßen eines Flokatiteppichs trug.

»Ich hab's gesehen«, sagte Harry. »Aber das lohnt sich doch noch, oder?«

»Ich sach's nur«, entgegnete der Wollponcho. »Normaler Erwachsener?«

»Ganz normal«, sagte Harry, dem diese Konversation eigentlich schon viel zu auffällig war.

»Einmal Erwachsener.« Die Frau, die ihre Brille jetzt auf der Nase hatte, schob ihm die Eintrittskarte über den kleinen Kassentisch zu.

Harry ging benommen die einzelnen Ausstellungsräume ab. Neben einem älteren Paar, einer Frau mit grauem Bubikopf und dicker Holzkette um den Hals und einem ständig etwas wirr lächelnden Mann in einem abgetragenen Tweedjackett, war er offenbar der einzige Besucher. Er überzeugte sich, dass das Bild, auf das er es abgesehen hatte, an seinem Platz war. Da hingen sie, in dem sogenannten »Bildersaal« im ersten Stock, an der Wand gegenüber der Tür als drittes Bild von links zwischen der sattroten ›Nordermühle‹ und der berühmten ›Blauen Iris‹: die in sommerlich klaren Farben, mit dickem Ölstrich herrlich lässig hingehauenen drei Frauen in Sommerkleidern und der Mann mit der weißen Schirmmütze, Emil Noldes ›Feriengäste‹ von 1911. Harry blieb wie elektrisiert stehen, nicht vor dem Bild, sondern mitten im Raum, um ja keinen Verdacht zu erregen. Er traute sich kaum, das Bild näher anzusehen.

Auch als Dieb hatte er seine Grundsätze. Für die ›Feriengäste‹ hatte er sich entschieden, weil ihm die Wucht gefiel, mit der Nolde das eigentlich konventionelle Sujet auf den Kopf gestellt hatte. Die danebenhängende ›Blaue Iris‹ war ihm zu gefällig, obwohl sie auf dem Markt sicher mehr Geld gebracht hätte, ein Postkartenmotiv wie viele von Noldes Blumenbildern. Für die ›Feriengäste‹ war ihm außerdem schon ein Abnehmer in Aussicht gestellt worden, ein anonymer Amerikaner, der deutschen Expressionismus sammelte. Der Kontakt sollte über einen etwas dubiosen Galeristen in New York laufen, von dem er bislang lediglich eine Adresse in der Lower East Side hatte.

Wie in Trance irrte Harry durch die Räume. Mehrmals lächelte ihn der Mann in der Tweedjacke unmotiviert an, während seine Frau grimmig wegguckte. Jetzt hätte er gern eine Zigarette geraucht. Aber zum Rauchen das Museum zu verlassen, wäre ihm zu auffällig gewesen. Ab und zu stieß ihm das alte Fett des Schaschliks auf, das er auf dem Weg in einer Imbissbude in der Nähe von Husum gegessen hatte.

Immer wieder sah er auf seine Uhr. Auf die Kunst konnte er sich kaum konzentrieren. Nur die kleinen ›Ungemalten Bilder‹, die ja tatsächlich in jede Aktentasche passten, nahm er noch einmal sehr genau in Augenschein. Spontan entschied er sich für zwei Meer- und Wolkenaquarelle in Kobaltblau, Rotorange und Schwarzviolett, außerdem das Bild ›Seltsames Paar‹, zwei fleckig schemenhafte Fratzen in Blau- und Rottönen, in das er sich bei seinem letzten Besuch gleich verguckt hatte. Wenn er schon einmal hier war, warum sollte er die drei kleinen ›Ungemalten‹ nicht ebenfalls einfach mitnehmen?

Kurz vor siebzehn Uhr konnte er dann endlich das Programm starten, das er in den letzten Tagen immer wieder vor seinem inneren Auge abgespult hatte. Er passierte die Frau mit dem Wollponcho an der Kasse mit einem flüchtig genuschelten »Wiedersehn«.

»Na, haben Sie es ja doch noch geschafft.« Dabei guckte sie ihm kurz über ihre Brille hinterher, während sie damit beschäftigt war, ihre Kasse abzurechnen und Blöcke mit Eintrittskarten in Schubladen zu verstauen.

»Das WC ist, glaube ich, draußen im Nebengebäude?«, fragte Harry schon halb im Hinuntergehen, obwohl er es natürlich genau wusste.

»Herren, aus der Tür raus, gleich rechts.«

Ohne es benutzt zu haben, betätigte Harry die Spülung des Pissoirs. Er ließ den Wasserhahn für einen kurzen Moment laufen, ohne sich die Hände nass zu machen. Als er sich im Spiegel sah mit der dunklen Brille, dem unregelmäßig, fusselig gewachsenen Bart und den lächerlich ins Gesicht gekämmten Haaren, wurde ihm noch einmal klar, wie unwirklich die ganze Situation war. Es gab immer noch die Chance, die Sache abzublasen und das Museum einfach zu verlassen.

Der Nolde war Harrys erster Coup. Dabei hatte die bildende Kunst ihn schon früher auf Abwege geführt. Es hatte damit begonnen, dass er im Kunstunterricht von den modernen Meistern abkupferte. Besonders perfekt imitierte er damals schon den deutschen Expressionismus. Das hatte ihm etliche gute Zensuren eingebracht, bis der Kunstlehrer ihn bei der Kopie eines bekannten Holzschnittes von Heckel erwischte. Als Abiturient hatte er seinen ersten erfolgreichen Diebstahl begangen. Auf einer Party im Haus einer Blankeneser Kaufmannsfamilie, mit deren Töchtern ein Klassenkamerad befreundet war, entwendete er eine kleine Klee-Grafik, deren sicher viel zu niedriger Erlös bei einem windigen Hehler ihm immerhin zu einem gebrauchten Triumph »Spitfire« mit einem durchgerosteten Unterboden verholfen hatte. Das schöne schlichte Haus des Südfrüchteimporteurs hing von oben bis unten voll mit Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts: echte Beckmanns, Kirchners und sogar ein Picasso. Keine großen Ölgemälde, sondern vor allem Grafik. Aber Harry war tief beeindruckt. Zu fortgeschrittener Stunde der wilden Feier, die natürlich in Abwesenheit der Eltern stattfand und bei der ein ständiges Kommen und Gehen herrschte, hatte er im Bügelzimmer die Klee-Radierung, die er sich bei einem früheren Besuch ausgeguckt hatte, mit einer von ihm vorbereiteten Kopie ausgetauscht. Sein Diebstahl war, soweit er wusste, nie aufgefallen. Die Geschichte hatte ihm Mut gemacht.

Harry sah in den Spiegel. Statt die Toilette zu verlassen und unverrichteter Dinge nach Hause zu fahren, strich er sich durchs Haar, damit er nicht mehr ganz so albern aussah. In einer der Kabinen klappte er den Klodeckel herunter, setzte sich und wartete ab.

Vor drei Wochen hatte er das Museum ausführlich inspiziert. Zu dem Zeitpunkt hatte es zahlreiche Besucher gegeben, unter anderem eine Schulklasse, die in den engen Räumen für einigen Trubel sorgte und von ihrer Lehrerin immer wieder zur Ordnung gerufen werden musste. So konnte sich Harry, ohne sonderlich aufzufallen, in aller Ruhe umsehen. Bei diesem Besuch hatte er auch den kleinen Abstellraum entdeckt, in dem Reinigungs- und Renovierungsutensilien, alte Farbdosen, Pappschachteln mit Nägeln, Schrauben und Ösen, Holzleisten und Drahtschnüre zum Aufhängen von Bildern aufbewahrt wurden.

Und er hatte in Erfahrung gebracht, was nach der Schließung des Museums passierte. Pünktlich zum Ende der Öffnungszeit fuhr die Putzfrau des Museums vor dem Nolde-Haus vor. Aus einem türkisfarbenen Polo stieg eine alterslos wirkende kleine Frau mit einer zu großen Brille und einer filzartigen Dauerwelle. Ihr dürrer Körper steckte in einem weiten Pullover, aus dem dunkle Leggings stakten. Kurz darauf verließen die Kassenfrau, vor drei Wochen bei deutlich wärmerem Wetter ohne Wollponcho, und ihre Kollegin von der Postkartentheke das Museum. In einem japanischen Kleinwagen fuhren sie mit aufheulendem Motor, aber langsam, im viel zu hoch ausgefahrenen ersten Gang die Auffahrt zur Landstraße hinunter. Die Tür des Museums blieb währenddessen unverschlossen.

Diesen Ablauf hatte Harry sich die Tage darauf noch einige Male angesehen, ohne das Museum zu besuchen, nur mit dem Fernglas von der nahe gelegenen Weide aus. Der Vorgang war immer derselbe gewesen.

Vorher bei seiner ersten Erkundung hatte er auch mal probehalber die Alarmanlage im Museum ausgelöst. Als die Schulklasse gerade besonders laut durch die Räume tobte, hatte er den schweren Rahmen des Bildes ›Badende mit roten Haaren‹ von 1912 ein Stück von der Wand gezogen. Sofort war ein schrilles Alarmsignal ertönt, worauf die Kinder noch unruhiger geworden waren. Dadurch war der Verdacht auf die Schüler gefallen und nicht auf Harry, der den Raum mit der ›Badenden‹ sofort verlassen hatte.

»Nee, nee, dat müssen gar nich die Kinder gewesen sein«, beruhigte der Hausmeister, der wenige Minuten später erschienen war und den schrillen Alarmton abgestellt hatte, die auf die Kinder einschimpfende Kassiererin und die sich hektisch verteidigende Lehrerin.

»Dat passiert manchmal wie von selbst.« Sein voluminöser Oberkörper steckte in einem knallblauen Kittel, so blau wie Noldes ›Iris‹. Er hatte einen auffällig kleinen Kopf mit einem Cordhut darauf und einen gutmütigen Gesichtsausdruck.

»Keine Ahnung wieso. Aber wie oft is dat Ding schon nachts losgegangen! Grad in letzter Zeit.«

Das war für Harry ein wichtiger Hinweis. Bei Gelegenheitsjobs als Museumsführer hatte er sich besonders für Alarmanlagen interessiert und vor allem auch dafür, wie nachlässig halbwegs sichere Systeme bedient wurden.

Bis hierhin war wirklich alles so gelaufen, wie er es geplant hatte. Er hatte auf der Herrentoilette gewartet, bis der Wollponcho mit Kollegin das Museum verließ. Er konnte es durch das schmale, einen Spalt weit geöffnete Milchglasfenster über der Pissrinne nur erahnen. Aber er hörte ihre Schritte auf dem Kies, eine Unterhaltung, die er nicht verstehen konnte, und das wieder viel zu weit durchgetretene Gas des Autos. Er hatte den Zeitpunkt abgewartet, an dem die Putzfrau in dem Atelierraum mit Noldes Kreuzigungs-Triptychon den Staubsauger anwarf. In diesem Moment betrat er das eigentliche Nolde-Haus wieder. Er schlich vorsichtig die gefährlich knarzende Holztreppe hinauf zu der ›Badenden mit den roten Haaren‹. Er holte die Handschuhe aus seiner Plastiktüte, streifte sie über und bewegte den Rahmen, wie er es vor drei Wochen gemacht hatte, und während der Alarm losschrillte, verschwand er schnell in dem nahe gelegenen Abstellraum mit den Werkzeugregalen. »Dat gibt's doch nich. Ich hab doch bloß den Boden gemacht«, hörte Harry die heisere Stimme einer langjährigen Raucherin auf Friesisch sagen. Sonderlich aufgeregt wirkte sie nicht. Sie verließ das Haupthaus und kam nach einigen Minuten mit dem Hausmeister zurück. »Zu der Alarmanlage sach ich gar nichts mehr«, hörte Harry, der neben zwei Holzböcken und einer Stellwand mit Plakaten früherer Nolde-Ausstellungen lauschend auf dem Boden saß, den Hausmeister.

»Ich hab das denen von der Stiftung immer wieder mitgeteilt. Aber, wie gesacht.« Dabei hatte Harry sofort seinen kleinen Kopf mit dem Cordhut vor Augen.

»Ich weiß sowieso nicht, wer diese Bilder klauen soll«, sagte die Putzfrau. »Hier nebenan, der Jesus mit sein' grünen Kopp. Ich krieg jedes Mal 'n Schreck. Aber sollen ja wohl was wert sein.«

»Grüne Augen, Frau Quarg. Un roode Hoor. Nix für unser Wohnzimmer, was?«, witzelte der Hausmeister.

»Ja, aber is doch so. Die von der Stiftung haben nur ihre Bilder im Kopp. Wie gründlich ich die Ecken mach, dat sehen die gar nich.«

Die Stimmen der beiden waren jetzt ganz nahe gekommen. Und plötzlich wurde die Türklinke von Harrys Abstellkammer runtergedrückt. Schlagartig spürte er das Blut in seinem Kopf pulsieren. Ein Lichtkegel fiel von draußen in den dunklen Raum.

»Auf den Schreck muss ich erst mal eine rauchen«, sagte die Putzfrau, und aus der Nähe klang ihre Stimme noch heiserer.

Aber bitte nicht hier bei mir in der Abstellkammer, dachte Harry.

Für einen kurzen Moment sah er das blaugeflammte Muster einer Kittelschürze und den Kopf der Frau mit der filzigen Dauerwelle im Gegenlicht. Harry hielt hinter seiner Stellwand die Luft an. Er sah ihre Hand, die sich von dem oberen Regal gleich neben der Tür eine »Peer Export«-Schachtel herunternahm, sich eine Zigarette herausholte und die Packung wieder zurücklegte. Nachdem sich die Tür geschlossen hatte, saß Harry wieder im Dunkeln. Jetzt hätte er auch gern eine geraucht. Er war fast versucht, sich auch eine »Peer Export« aus der Schachtel von Frau Quarg zu nehmen.

Nachdem der Hausmeister gegangen war und im Raum mit dem Altarbild der Staubsauger wieder lief, schlich Harry aus seinem Versteck und löste die Alarmanlage zwei weitere Male aus.

Frau Quarg holte den Mann mit dem Cordhut ein zweites und ein drittes Mal. Und der Ton der beiden wurde dabei immer unfreundlicher.

»Ich will hier ja auch langsam mal fertig werden«, motzte sie.

»Ja, was soll ich denn sagen. Ich hab grad 'ne Gulaschsuppe au Herd«, antwortete er. »Aber jetzt is Feierabend.«

Als Harry ein viertes Mal den Rahmen der ›Badenden‹ bewegte, blieb der Alarm aus. Jetzt wollte der Hausmeister offenbar in Ruhe seine Suppe essen und hatte die Anlage ausgestellt. In seinem Versteck horchte er, wie Frau Quarg noch eine Weile im Hause rumhantierte. Er hörte mehrmals einen Metallbügel an einen Wassereimer schlagen und einen Besen oder Schrubber umfallen. Schließlich verließ die Putzfrau über den Kiesweg das Museumsgelände. Im Museum war es jetzt stockdunkel. Nur im Flur brannte eine kleine Sicherheitsleuchte über dem Fußboden. Harry war allein, eingeschlossen im Nolde-Haus. Durch einen schmalen Fensterschlitz im ersten Stock, der sich von innen öffnen ließ, wollte er dann mit den Bildern das Museum verlassen. Ob er durch das Fenster hindurchpasste, hatte er vorher allerdings nicht ausprobieren können.

Doch bis dahin war sein Plan aufgegangen. Harry nahm die ›Feriengäste‹ von der Wand. Der Alarm blieb auch diesmal aus. Mit wenigen sorgfältigen Handgriffen und der Routine eines Malers, der schon etliche Bilder gerahmt und Leinwände bespannt hatte, löste er unter Zuhilfenahme der kleinen Zange das Bild aus dem Holzrahmen. Nur die

Baumwollhandschuhe waren ungewohnt. Im Schein der Taschenlampe, die er sich beim Hantieren zwischen die Zähne klemmte, hielt er die auf den inneren Rahmen geheftete Leinwand in den Händen. Das Bild wirkte jetzt kleiner als in dem schweren dunklen Holzrahmen an der Wand. Er ließ den schmalen Lichtkegel kurz über die Sommerkleider der Frauen und den Mann mit der weißen Schirmmütze streifen und verstaute das Bild in der Neckermann-Tüte.

Er hängte den leeren Mahagonirahmen an die Wand zurück und löste dann mit dem Teppichmesser nacheinander die papiernen Rückwände der zwei ›ungemalten‹ Nordsee-Landschaften und des ›Seltsamen Paares‹, die er sich ausgesucht hatte. Es ging ganz leicht. Er konnte die Passepartouts mit den bemalten Japanpapieren ohne Mühe herausziehen. Als er gerade das dritte Bild, das rot-orange-gelb und blau strahlende ›Meer im Abendlicht‹ aus dem Rahmen löste, leuchtete plötzlich gleißend die Deckenbeleuchtung auf, und im selben Moment stand die Putzfrau Quarg in der Tür. Er war wohl so vertieft in seine Arbeit gewesen, dass er sie überhaupt nicht hatte kommen hören.

»Wat machen Sie denn hier noch?« Wie angewurzelt blieb sie in der Tür stehen und guckte Harry durch ihre Brillengläser verblüfft an.

Dass er gerade mehrere Noldes klaute, schien sie noch gar nicht mitbekommen zu haben, obwohl er das Passepartout in der einen und einen Bilderrahmen in der anderen Hand hielt. Weit schlimmer war für sie, dass sich jemand außerhalb der Öffnungszeiten im Museum aufhielt.

»Dat darf doch wohl nicht wahr sein«, brach es aus ihr heraus. »Ich hab hier grad alles sauber!«

Sonderlich verängstigt wirkte sie dabei nicht. Statt der blauen Kittelschürze trug sie jetzt einen weiten Lurex-Pullover mit einem in Schwarz, Violett und Beige gehaltenen und von Silberfäden durchzogenen Gräsermotiv auf der Vorderseite.

Harry war einen Moment wie gelähmt. Am liebsten hätte er sich ergeben und der Putzfrau das ›Meer im Abendlicht‹ einfach ausgehändigt.

»B-b-b-b … Bleiben sie ganz ruhig«, wollte er nur sagen. Aber er brachte keinen weiteren Ton heraus. Stattdessen musste er nach dem Schaschlik aus Husum aufstoßen. In dem grellen Neonlicht der Deckenbeleuchtung bemerkte er, wie unglaublich fein gekrisselt die Dauerwelle der Frau war und dass die Haare nicht rot waren, sondern ins Violette spielten, passend zu den Gräsern auf ihrem Pullover.

»War'n Sie nicht neulich schon mal hier?«, erkannte die Frau doof glotzend, aber voller Stolz. Langsam kam wieder Leben in Harry. Und er wurde wütend auf die dämliche Putzfrau mit diesem unglaublichen Gräserpullover und der verbotenen Frisur. Warum musste die dumme Kuh hier unbedingt noch mal aufkreuzen? Und überhaupt: Wie konnte sich jemand seine Haare so zurichten lassen?

Harry Oldenburg überlegte nicht lange. Es gab aus dieser Situation nur einen Ausweg. Er schnappte sich die Neckermann-Tüte und verstaute auch das letzte Bild, das er aus dem Rahmen getrennt hatte, darin. Dann wollte er an der Putzfrau vorbei, die immer noch provozierend gelassen im Durchgang stand, die schmale Holztreppe hinunter aus dem Museum stürmen. Dabei stieß er Frau Quarg, die den Weg einfach nicht freigeben wollte, leider um. Irgendwie ließ sich das nicht vermeiden. Die nordfriesische Putzkraft purzelte vor ihm die Treppe hinunter, polterte mit aller Wucht gegen die Kasse, sodass der darauf stehende Ständer mit Postkarten ins Kippen kam und ein Schwung Karten des Nolde-Bildes ›Vor Sonnenaufgang‹ von 1901 auf ihren plötzlich leblos wirkenden Körper mit dem silbrigen Gräserpullover herunterfiel.

Die Brille mit den dicken Gläsern war ihr von der Nase gerutscht. Ein Bügel hing verbogen in den filzigen Haaren. Eine Blutspur auf dem grünen Teppichläufer unter ihrem Hinterkopf ergab einen farblich unschönen Kontrast zu dem violetten Rot der Dauerwelle. Frau Quarg guckte nicht einmal mehr dämlich. Sie hatte beide Augen geschlossen und blieb stumm. Harry hetzte mit seiner Plastiktüte die Treppe zum Ausgang hinunter. Kurz bevor er die Tür des Nolde-Hauses hinter sich schloss, glaubte er noch ein deutliches »Oah« gehört zu haben, ein Stöhnen, das sich halb wie ein Gähnen anhörte und irgendwie friesisch klang. In dem Moment wusste er nicht recht, ob ihn dieses »Oah« beruhigen oder beunruhigen sollte. Auf keinen Fall konnte er sich jetzt um die Putzfrau kümmern. Er musste sich und vor allem die ›Feriengäste‹ aus der Gefahrenzone bringen.

Harry rannte in die stürmische Nacht hinaus. Die Auffahrt zum Nolde-Museum war durch das Mondlicht hell erleuchtet und durch schnell aufziehende Wolken augenblicklich wieder verdunkelt. Während dieser dramatischen Lichtwechsel eilte er die kleine Allee entlang und blieb immer wieder stehen. Er trug immer noch die weißen Handschuhe, die hier draußen besonders auffielen. Während er sie auszog, überlegte er fieberhaft, ob es so schlau wäre, wie geplant zum Auto zurückzugehen. Falls Putzfrau Quarg wieder zu sich kommen und Hilfe holen sollte, würden über kurz oder lang die Polizei oder ein Unfallwagen anrücken. Mit seinem Auto wäre Harry in dieser einsamen weiten flachen Landschaft sofort auszumachen. Sollte er den Wagen nicht einfach stehen lassen? Der braunmetallicfarbene Kadett war nichts mehr wert und, soweit er wusste, auch nirgends registriert. An dem Schuppen beim Garten des Nolde-Hauses glaubte er ein Fahrrad gesehen zu haben.

Er lief zurück, packte das Rad, das glücklicherweise nicht angeschlossen war, und schob es erst mal ein Stück. Als er in die Allee einbog und sich auf das Rad schwang, sah er hinter sich im Mondlicht den Hausmeister im blauen Kittel, aber ohne Cordhut, über den Hof zum Haupthaus laufen. Ansonsten war alles menschenleer, die Auffahrt zum Museum und die Straßen. Solange er keine Autos kommen sah, konnte er auf dem Rad immer weiterfahren gegen den Wind unter den schnell dahinziehenden Wolken. Aber wohin eigentlich? Ursprünglich hatte er heute in der Nacht noch mit dem Auto nach Hamburg zurückfahren wollen. Dann hätte er ein paar Sachen zusammengepackt und den ersten Flug nach New York genommen, zusammen mit den ›Feriengästen‹, eingebaut in einen Hartschalenkoffer. Mit dem klapprigen Rad aus dem Nolde-Museum würde er Hamburg heute nicht mehr erreichen. Aber zumindest wollte er ein paar Kilometer zwischen sich und das Museums bringen. Am Deich entlang kämpfte er gegen den Wind an, der wie immer beim Radfahren von vorne kam.

Noch bevor er im Sturm die Sirene hören konnte, sah Harry das Blaulicht, das sein Leuchten kilometerweit über die Landschaft warf. Der Wagen kam ihm offensichtlich aus Richtung Niebüll entgegen. In hohem Tempo flog das gespenstische blaue Licht die parallel laufende Landstraße entlang, bis es die Abzweigung zum Nolde-Museum erreichte. Das Martinshorn heulte dabei nur zwei- oder dreimal kurz auf. Harry verfolgte das Blaulicht, das kurz hinter den Bäumen der Auffahrt zum Museum verschwand und schließlich, wieder weithin sichtbar, direkt vor dem Nolde-Haus stehen blieb.

Harry kam kaum voran. Der Wind kam jetzt direkt von vorn. Als ein plötzlicher Schauer einsetzte, der ihm waagerecht kalte Regentropfen ins Gesicht peitschte, suchte er schnell unter dem größeren Dachüberstand eines Schuppens Zuflucht. Vor allem sorgte er sich um die Aquarelle, die natürlich absolut keine Feuchtigkeit vertrugen. Der hohe Schuppen, in dem wahrscheinlich Traktoren und allerlei Gerätschaften Platz fanden, gehörte zu einem Hof, dessen Fenster alle dunkel waren. Nicht das kleinste Licht brannte. Alles wirkte unbewohnt und verlassen.

Besorgt überprüfte Harry die Bilder. Die Taschenlampe mochte er nicht herausholen. Soweit er es in der Dunkelheit sehen konnte, hatten die Aquarelle den Regen unbeschadet überstanden. Harry steckte die drei ›Ungemalten Bilder‹ zusätzlich in eine zweite dünnere Plastiktüte. Mit einem Taschentuch wischte er vorsichtshalber noch einmal die große Tüte aus, ehe er alles wieder hineinpackte. Er zündete sich eine Chesterfield an. Die Würze des Tabaks überlagerte das alte Bratfett aus Husum, nach dem er noch einmal aufstoßen musste. Von seinem Unterstand aus beobachtete Harry in weiter Ferne ein zweites Auto mit Blaulicht und diesmal auch mit fast durchgehendem Martinshorn, wahrscheinlich ein Krankenwagen. Die Putzfrau mit der feinen Dauerwelle hatte berechtigte Hoffnung, gerettet zu werden. Hinter Harry aber waren sie jetzt her.

Während er sich mühsam vom Tatort entfernte, suchte die Polizei inzwischen ohne Blaulicht die Gegend ab und hatte offensichtlich seinen Kadett entdeckt. In der Nähe des Feldweges, wo er den schrottreifen Opel abgestellt hatte, sah er ein Auto mit aufgeblendeten Scheinwerfern. Er war heilfroh, dass er den Wagen stehen gelassen hatte, sonst wäre er möglicherweise geschnappt worden. Wahrscheinlich gab es bereits Straßenkontrollen rund um Niebüll.

Der Wind hatte sich etwas gelegt. Es regnete nicht mehr. Im Mondlicht entstanden immer wieder andere dramatische Wolkenbilder am Himmel. In dem fahlen Licht leuchteten Schafe als helle Punkte auf dem Deich, an dem Harry, mit leichtem Rückenwind, jetzt auf einmal fast wie von selbst entlangfegte. Die krummen, naturbelassenen Holzpfähle der Weideumzäunung schienen jetzt vorbeizufliegen. Doch plötzlich war er sich unsicher, ob er sich nicht im Kreis bewegte. Die beiden Autos, deren Scheinwerferpaare er immer wieder von fern sah und die offensichtlich nach ihm suchten, veränderten ständig ihre Fahrtrichtung. Irgendwann, er hatte nur lange genug in die Pedale treten müssen, waren sie verschwunden.

Auf halber Strecke zwischen Klanxbüll und Emmelsbüll fand er einen offenen Bauwagen, eine schmutzig graue Bude auf zwei Rädern mit einem gewölbten angerosteten Dach, dem üblichen kleinen Schornstein und einem runden »25-km/h«-Schild am Heck. Der Wagen war nicht verschlossen. Zunächst erschien es ihm zu riskant, dort für ein paar Stunden unterzukriechen und vielleicht schlafend von früh anrückenden Bauarbeitern überrascht zu werden. Als er aber auf dem schmierigen Resopaltisch im Innern des Wagens eine ›Bild‹-Zeitung entdeckte, die etliche Monate alt war, war er sich sicher, dass der Wagen zurzeit nicht benutzt wurde. Ihm war gleich die Schlagzeile »Boris wie ein Donnergott« ins Auge gefallen. Boris Beckers Halbfinalsieg gegen Ivan Lendl in Wimbledon war fast ein halbes Jahr her. Eine Baustelle konnte er in der Nähe auch nicht entdecken.

Er versteckte das Fahrrad in einem trockenen, mit hohen Gräsern zugewachsenen Graben zwischen dem Bauwagen und dem Deich. Drinnen setzte er sich auf eine Holzbank vor den schmalen Tisch, auf dem drei leere Bierflaschen standen, eine mit Wachs auf einem Stück Pappe befestigte Kerze und eine zum Aschenbecher umfunktionierte Konservendose voller Kippen. Es roch muffig. An den Wänden hingen schmutzige Sicherheitswesten, und in einer Ecke standen zwei Blinkleuchten und einige übereinandergestapelte Verkehrshüte. Harry räumte die leere Stanniolverpackung einer Dauerwurst und eine alte Zigarettenschachtel beiseite.

Vorsichtig zog er die Noldes aus der Plastiktüte und begutachtete sie im Schein seiner Taschenlampe. Die Kerze wollte er nicht anzünden, um von außen nicht durch ein erleuchtetes Fenster aufzufallen. Aber seine Stablampe musste er doch kurz anknipsen, um die Bilder anzusehen. Harry kam es gänzlich unwirklich vor. Auf diesem Resopaltisch zwischen stinkenden Kippen und einer alten ›Bild‹-Zeitung lagen vier echte Noldes, die in dem schmuddeligen Bauwagen eine überirdische Leuchtkraft entwickelten. Aber ganz wohl war ihm dabei nicht. Schnell knipste er die Taschenlampe wieder aus.

Harry zündete sich eine Zigarette an. Er musste wieder an die Putzfrau denken. Mein Gott, er hatte nur ein Bild klauen wollen. Aber dabei sollte doch niemand zu Tode kommen. Das Blut auf dem Teppich hatte gefährlich ausgesehen. Hoffentlich bedeutete die Anwesenheit eines