Flucht vor dem Krieg -  - E-Book

Flucht vor dem Krieg E-Book

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Beschreibung

Vorarlberg war im Zweiten Weltkrieg ein Hotspot der Desertion von Soldaten der Wehrmacht und der Waffen-SS aus dem gesamten Deutschen Reich. Die vermeintlich leicht zu überwindende Grenze zur Schweiz lockte Hunderte kriegsmüde Soldaten in das Montafon, an den oberen Rhein und den Bodensee. Das Buch dokumentiert neben gelungenen Fluchten die Verfolgung durch die zivile Sonderjustiz und die Militärjustiz, Solidarität und Denunziation von Seiten der Bevölkerung sowie den Nachkriegsumgang mit den ungehorsamen Soldaten und ihren Helfer:innen durch die österreichischen Sozial- und Justizbehörden. Neben einer Gesamtdarstellung zu Wegen und Bedingungen der Flucht, zur Identität der Deserteure und zur Aufnahme in der Schweiz analysieren Fallstudien tiefergehend die Entscheidungen von Deserteuren und ihren Helfer:innen, von Richtern und Polizisten und beleuchten besondere Schauplätze des Phänomens. Abgerundet wird der Band mit zahlreichen historischen und aktuellen Fotos.

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Peter Pirker / Ingrid Böhler (Hrsg.)

Flucht vor dem Krieg

Deserteure der Wehrmacht in Vorarlberg

UVK Verlag · München

Titelbild: Das Bruggerloch bei Höchst; © Miro Kuzmanovic

 

Gefördert durch:

 

DOI: https://www.doi.org/10.24053/9783381105120

 

© UVK Verlag 2023

‒ ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

 

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 0949-4103

ISBN 978-3-381-10511-3 (Print)

ISBN 978-3-381-10513-7 (ePub)

Inhalt

Zur Erforschung des (transnationalen) Desertionsgeschehens in einer GrenzregionFlucht vor dem KriegI. EinleitungII. Rahmenbedingungen2.1 Vorarlberg als Teil des Wehrkreises XVIII2.2 Erfassung, Musterung, Stellung2.3 Entziehungshandlungen im Militärstrafrecht2.4 Das Soldatenbild der Wehrmacht und seine Traditionsbezüge2.5 Die Behandlung von Militärflüchtlingen durch die Schweiz und Schweden2.6 QuellenIII. Wehrdienstentziehungen und Desertionen mit Bezug zu Vorarlberg3.1 Wer ist ein Deserteur?3.2 Entziehungsformen und HerkunftIV. Deserteure und Wehrdienstentzieher aus Vorarlberg4.1 Sozialprofil4.2 „Genug vom Krieg“ – Kriegsablehnung, Kriegserfahrung, KriegsfluchtV. Fluchtbewegungen5.1 Nach Schweden und in die Schweiz5.2 Nicht-heimische Soldaten in der Fluchttransitzone Vorarlberg5.3 Andere Wege: Tirol, Partisanen, besetzte Gebiete5.4 Deserteursgemeinden: Sozioökonomische und politische Erfahrungsräume5.5 „Kehrt um die Flinten, der Feind steht hinten“ – Im transnationalen WiderstandVI. Polizeiliche, außergerichtliche und juristische Verfolgung6.1 „Er soll nicht mehr in den Krieg gehen“ – Gestapo-Einvernahmen6.2 Außerjuristische Verfolgung: Züge von Sippenhaft, rassistische Sonderbestrafung6.3 Deserteure vor GerichtVII. Deserteure und ihre Helfer*innen im Nachkrieg7.1. Nachkriegsjustiz7.2 Deserteure und Helfer*innen in Opferfürsorgeverfahren7.3 Mein Vater war Deserteur – Positive Tradierung innerhalb von FamilienVIII. ResümeeAnhang – 55 TodesfälleA. Herkunft Vorarlberg (27)B. Herkunft von außerhalb Vorarlbergs (28)Wehrdienstentziehungen vor dem Sondergericht FeldkirchI. EinleitungII. Die Sonderjustiz des NS-Staates und das Sondergericht FeldkirchIII. Die Akten des Sondergerichts Feldkirch zu Wehrdienstentziehung und FahnenfluchtIV. Beschuldigte in den Akten des Sondergerichts FeldkirchV. Die Spruchpraxis des Sondergerichts Feldkirch zu Wehrdienstentziehungen bis 1944VI. 1944/45: Das „Bedürfnis der Volksgemeinschaft nach Schuld und Sühne“VII. Besonderheiten der Sondergerichte Feldkirch, Innsbruck und BozenVIII. SchlussbetrachtungKrumbachI. EinleitungII. Formen der Wehrdienstentziehung2.1 Fingierte Uk-Stellung und Selbstverstümmelung2.2 Desertion vor der Frontabstellung2.3 Desertion nach Fronteinsatz und Verwundung2.4 Übergänge zu WiderstandIII. Widerstand in der KriegsendphaseIV. Conclusio„Wir wollten unser junges Leben nicht für eine aussichtslose Sache opfern“I. Familiärer und sozialer Erfahrungsraum: Der Erste Weltkrieg als FolieII. Militärischer Erfahrungsraum: Leningrad und EismeerIII. Erfahrungsraum Grenzgebiet I: Der FluchtaktIV. Erfahrungsraum InternierungslagerV. Erfahrungsraum Grenzgebiet II: Rückkehr und VersteckVI. Nachkriegszeit und SchlussbemerkungenGeschichte(n) mit sich tragen und überwindenPublikationsverzeichnisDigitales VerzeichnisLiteraturverzeichnisAbkürzungsverzeichnisRegisterPersonenregisterOrtsregisterAutorinnen und Autoren

An der Grenze südlich der Rheinbrücke zwischen Lustenau und Höchst (Brugger Horn), Blick auf die Eisenbahnbrücke zwischen Lustenau und St. Margarethen. Foto: Miro Kuzmanovic.

Streuzettel der transnationalen Widerstandsorganisation Patria. Quelle: Bundesarchiv Bern.

Zollamt Schmitter-Brücke, Lustenau. Foto: Miro Kuzmanovic.

Freischwimmbad Rheinauen, Hohenems. Foto: Miro Kuzmanovic.

Auf dem Röhrenkanal, Lustenau. Foto: Miro Kuzmanovic.

Zur Erforschung des (transnationalen) Desertionsgeschehens in einer Grenzregion

Eine Einleitung

Peter Pirker / Ingrid Böhler

Seit 2015 erinnert am Sparkassenplatz in BregenzBregenz ein Mahnmal an Vorarlbergerinnen und Vorarlberger, die gegen das nationalsozialistische Unrechtsregime Widerstand geleistet haben.1 Wir wissen, dass diese Menschen aus unterschiedlichen Motiven, auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichen Konsequenzen für sich oder ihre Angehörigen handelten. Ihnen allen ist aber gemeinsam, dass sie während der NS-​Herrschaft an einen Punkt gelangten, an dem sie Gehorsam und Gefolgschaft aktiv verweigerten und dafür ein großes Risiko in Kauf nahmen. In einer Endlosschleife präsentiert das Mahnmal abwechselnd die Namen von hundert exemplarisch ausgewählten Personen. Unter ihnen finden sich auch Wehrdienstverweigerer und Deserteure.

Das vorliegende Buch rückt diese Gruppe in den Mittelpunkt. Es widmet sich Männern (und ihren Helfer*innen), deren persönliche Entscheidung, ihre Pflicht als Soldat nicht (mehr) erfüllen zu wollen, zugleich eine politische war: Sie wiesen mit diesem Schritt nicht nur die Autorität eines totalitären Regimes zurück, sondern lösten sich aus einem Angriffs- und Eroberungskrieg, den HitlerHitler, Adolf-DeutschlandDeutschland vor allem im Osten und am Balkan als Vernichtungskrieg führte. Die österreichische Nachkriegsgesellschaft – eine Gesellschaft der Veteranen der Wehrmacht, in der Deserteure, deren Angehörige und Helfer*innen eine kleine Minderheit bildeten – sah dies nicht so. Am deutlichsten trat die grundsätzliche Skepsis gegenüber der Desertion im Bereich der Opferfürsorge zutage. Meistens lehnten die Behörden Anträge auf staatliche Entschädigung für Haftzeiten oder etwa die Unterstützung von Hinterbliebenen mit der Begründung ab, dass lediglich private, keine politischen Gründe nachweisbar seien. Erst 2009, und damit sieben Jahre nach der Bundesrepublik Deutschland, beschloss das Parlament der Republik ÖsterreichÖsterreich ein Gesetz zur generellen Rehabilitierung und Anerkennung von Wehrmachtsdeserteuren und anderen von der NS-​Militärjustiz verfolgten Personen als Opfer von NS-​Unrecht. Nach jahrzehntelanger negativer Bewertung würdigte es insbesondere damalige Entziehungs- und Verratsdelikte als positiven Beitrag zur Niederlage der Wehrmacht und damit zur Befreiung vom Nationalsozialismus.2

Das letztlich erfolgreiche Einfordern dieser geschichtspolitischen und juristischen Korrekturen verdankte sich neben anderen Faktoren auch einem Ende der 1980er-​Jahre einsetzenden Interesse der militärgeschichtlichen Weltkriegsforschung für abweichendes, ungehorsames bis widerständiges Handeln von Soldaten und die Verfolgungspraxis von Kriegsgerichten und ziviler Sonderjustiz.3 Im Jahr 2003 erschien im AuAuftrag des Nationalrats die erste Studie auf einer breiteren empirischen Grundlage zu ÖsterreichÖsterreich.4 Die bundespolitische Debatte regte auch auf regionaler Ebene eine neue Beschäftigung mit Desertion, Kriegsdienstverweigerung und Wehrkraftzersetzung an,5 die in Vorarlberg auf frühere regionalhistorische Arbeiten und Initiativen insbesondere der Johann-​August-​Malin-​Gesellschaft aufbauen konnte.6 Das Stadtmuseum DornbirnDornbirn zeigte 2011 in Kooperation mit der Johann-​August-​Malin-​Gesellschaft, dem Katholischen Bildungswerk und erinnern.at die Wanderausstellung „‚Was damals Recht war…‘ Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht“, zu der auch ein Begleitband erschien.7 Im Jahr 2015 wurde mit Mitteln des Landes Vorarlberg, des Vorarlberger Gemeindeverbandes und der Landeshauptstadt BregenzBregenz das eingangs erwähnte Mahnmal für Widerstandskämpfer*innen und Deserteure enthüllt. Die Koalition aus ÖVP und Grünen vereinbarte in ihrem Regierungsprogramm für die Legislaturperiode 2019–2024, den Weg der Auseinandersetzung mit der NS-​Geschichte fortzusetzen. In diesem Kontext kam auch das Forschungsprojekt „Deserteure der Wehrmacht. Verweigerungsformen, Verfolgung, Solidarität, Vergangenheitspolitik in Vorarlberg“ zustande, dessen Ergebnisse in diesem Band präsentiert werden.8

In den vergangenen vier Jahren wurden für den Projektverbund – unter nicht ganz einfachen Bedingungen aufgrund der Corona-​Pandemie – Archivrecherchen durchgeführt und große Quellenbestände zum Teil erstmals systematisch gesichtet, in Vorarlberg etwa die Strafakten des Sondergerichts FeldkirchFeldkirch und die Akten der Opferfürsorge. Rückgrat der Forschungsprojekte war der Aufbau einer gemeinsamen Datenbank mit strukturierten Informationen, welche den erschlossenen Quellen entstammen, um quantitative Auswertungen zu ermöglichen, aber auch um Daten für qualitative Analysen aufzubereiten und effizient zu verknüpfen. Parallel dazu erfolgten weiter ins Detail gehende Erhebungen bei besonders aussagekräftigen Fallbeispielen. Und nicht zuletzt ergänzten zusätzlich gewonnene Informationen, die sich dem Kontakt zu Angehörigen von Deserteuren und Helfer*innen von Deserteuren verdanken, die sich infolge von Medienberichten über das Projekt meldeten, den Quellenfundus.

Die vorliegende Publikation verbindet nun alle auf Vorarlberg bezogenen Ergebnisse und Erkenntnisse zu einer Synthese. Ziel war es von Anfang an, das Thema sowohl in quantitativer als auch qualitativer Hinsicht auszuleuchten und neben der Darstellung und Analyse der für das Gesamtbild relevanten Merkmale auch vertiefende Einblicke zu gewähren. Als Desertionsgeschehen verstehen wir nicht bloß das Agieren entflohener Soldaten, sondern erfassen damit ebenso das Handeln der Verfolgungsbehörden und ihrer Informant*innen sowie vor allem jenes von Helfer*innen der Deserteure in ihrem sozialen Kontext. Im Buch werden dementsprechend unterschiedliche Perspektiven involvierter Akteur*innen vorgestellt und analysiert.

Der umfangreiche Eröffnungsbeitrag von Peter Pirker arbeitet auf Basis von rund 650 gefundenen Fällen von Desertion und Verweigerung, begangen von Soldaten aus bzw. in Vorarlberg, zunächst den Kontext und die Eckpunkte des Phänomens heraus. Dabei wird dessen Vielschichtigkeit und Vielfältigkeit ebenso deutlich, wie einige aussagekräftige Muster zutage treten. Sie betreffen unter anderem das Sozialprofil von Deserteuren, ihre Herkunft, den Zeitpunkt der Flucht, die Fluchtrichtungen, die Kriegserfahrungen und schließlich politische und soziale Bedingungen, die in einigen Gemeinden Vorarlbergs Fluchten aus der Wehrmacht und die Bildung von Widerstandsgruppen begünstigten.

Der Fund bislang verschollen geglaubter Gerichtsakte ermöglichte in diesem Kontext erstmals eine genauere quellenbasierte Darstellung der dramatischen Geschichte der Deserteursgruppe in SonntagSonntag im Großen Walsertal und ihrer Verfolgung durch Gendarmerie, Gestapo, das Reichskriegsgericht in TorgauTorgau und das Sondergericht FeldkirchFeldkirch. Kurz vor Drucklegung dieses Buches wurde auch der verlegte Akt des Reichskriegsgerichts im Voralberger Landesarchiv entdeckt. Er bietet weitere Einblicke, an den Grundaussagen ändert sich aber nichts. Wie der interregionale Vergleich offenbart, war für das Geschehen in Vorarlberg außerdem die Grenze zur neutralen, Sicherheit verheißenden SchweizSchweiz von enormer Bedeutung – hier kommt auch der Aspekt der häufig von Frauen geleisteten Fluchthilfe ins Spiel. Abschließend zeigt der Beitrag auf Basis von Interviews mit Angehörigen das positive Vermächtnis, das Deserteure in manchen Familien hinterlassen haben. Zentrale und betroffen machende Ergebnisse des Forschungsprojekts enthält der Anhang: Eine Zusammenstellung von 55 Kurzbiografien erinnert an diejenigen Männer, für die der Versuch, sich dem Dienst in der Wehrmacht zu entziehen, tödlich endete und die entweder aus Vorarlberg kamen oder deren Fahnenflucht hier endete.

Zu den Umständen, die das behördliche Agieren bestimmten, zählten die Kontinuitäten, die – trotz des offiziell vollzogenen Bruchs – aus der NS-​Zeit in das demokratische ÖsterreichÖsterreich hinüberreichten. Die Zweite Republik übernahm in den Bereichen von Justiz, Polizei und Militär einen nicht geringen Teil des Personals aus dem Beamtenapparat des Dritten Reichs. Dadurch stieß die Ansicht, dass die polizeiliche und juristische Verfolgung von Fahnenflüchtigen grundsätzlich legitim gewesen war, kaum auf Widerspruch. Nicht weiter verwunderlich, wenn auch noch im Nachhinein verstörend, sind daher die Beispiele für nach 1945 nahezu nahtlos fortgesetzte Juristenkarrieren, die sich im zweiten, von Peter Pirker und Aaron Salzmann gemeinsam verfassten Beitrag finden. Dessen eigentliches Thema bilden jedoch Wehrdienstentziehungen im Spiegel der Akten des Sondergerichts FeldkirchFeldkirch. Für das Nachzeichnen der regionalen Geschehnisse besitzt dieser Bestand besondere Relevanz, denn neben den Militärgerichten, die Delikte von bereits zur Wehrmacht Eingezogenen ahndeten, fielen in die Zuständigkeit der zivilen Sondergerichte Männer, die vor oder nach der Musterung zu flüchten versuchten, und Personen, darunter viele Frauen, denen vorgeworfen wurde, in irgendeiner Form Deserteuren geholfen zu haben. Häufig entschlossen sich Wehrmachtsangehörige nach einem Heimaturlaub, nicht mehr zu ihrer Einheit zurückzukehren und fast immer benötigten sie, um den Entschluss in die Tat umsetzen zu können, Unterstützung. Dies wussten auch die ermittelnden Behörden. Häufiger als mit Hilfsdelikten beschäftigte sich das Sondergericht Feldkirch jedoch mit Stellungspflichtigen, worin es sich markant vom Sondergericht InnsbruckInnsbruck unterschied. Signifikant ist darüber hinaus, dass in dieser Gruppe Einheimische eine Minderheit bildeten. Der Großteil war auf der Flucht vor der Uniform nach Vorarlberg gereist und beim Versuch, die Staatsgrenze in die SchweizSchweiz zu überwinden, festgenommen worden.

Isabella Greber und Peter Pirker nehmen im dritten Beitrag ein Dorf in den Blick. Die katholisch-​bäuerlich geprägte Gemeinde KrumbachKrumbach verzeichnete eine bemerkenswert hohe Zahl von Wehrdienstverweigerungen und anderen Versuchen, sich dem Kriegsdienst zu entziehen; darüber hinaus organisierten untergetauchte Soldaten Anfang Mai 1945 auch Widerstandsaktionen gegen die SS. Die Mikrostudie zeigt, dass das nonkonforme Handeln der Wehrpflichtigen einerseits von der Solidarität ihres sozialen Umfelds abhängig war, andererseits aber auch vom ambivalenten Verhalten einzelner Funktionsträger des NS-​Staates auf regionaler und lokaler Ebene begünstigt wurde. Der „Fall“ Krumbach ist auch deshalb interessant, weil die Deserteure aus angesehenen Familien stammten.

Der Erklärungsansatz, wonach Randständigkeit als Sozialisationserfahrung normabweichendes Verhalten wahrscheinlicher mache, greift dagegen im vorletzten, von Nikolaus Hagen verfassten Beitrag. Im Mittelpunkt steht die Flucht dreier Brüder, die ebenfalls im Bregenzerwald in Vorarlberg aufgewachsen waren, über die Berge in die neutrale SchweizSchweiz. Hagen räumt der Besitz- und Wurzellosigkeit der jungen Männer für ihren Entschluss zur Desertion ein entscheidendes Gewicht ein, führt aber genauso situative Dynamiken, innerfamiliären Zusammenhalt und nicht zuletzt einschlägige lebensgefährliche Erfahrungen an der Ostfront ins Treffen.

Um Familie, aber dieses Mal aus der subjektiven Perspektive, geht es auch im letzten Beitrag des BuchsBuchs. Delphina BurtscherBurtscher, Delphina aus SonntagSonntag im Großen Walsertal verlor den Vater ihres ersten Kindes und ihren Bruder, die beide als Deserteure hingerichtet wurden; sie selber erhielt, weil sie deren Fahnenflucht unterstützt hatte, eine Zuchthausstrafe. Auch andere Mitglieder der Familie waren schweren Repressalien ausgesetzt. Lydia Arantes und Erika Moser, Enkeltocher und Tochter von Delphina, reflektieren deren erstaunliche Gabe, trotz des im Krieg zugemuteten Leids voller Zuversicht weiterzuleben.

Abschließend bleibt noch zu danken: Zuallererst Ulrich Nachbaur und seinem Team im Vorarlberger Landesarchiv für das dem Projekt entgegengebrachte Wohlwollen und Interesse sowie die fachkundige Unterstützung, die bestimmt nicht wenig Zeit in Anspruch genommen hat. Hinweise und Material stellten dankenswerterweise lokale Museen und Archive zur Verfügung, namentlich die MontafonMontafon Museen, das Jüdische Museum HohenemsHohenems, die Stadtarchive von BregenzBregenz, DornbirnDornbirn, FeldkirchFeldkirch und BludenzBludenz, das Bregenzerwald Archiv, die Gemeindearchive von LustenauLustenau und NüzidersNüziders. Allen kontaktierten Archivar*innen gebührt Anerkennung für ihre verdienstvolle Arbeit. Ganz besonders zu danken haben wir Nachkommen von Betroffenen für das uns entgegengebrachte Vertrauen. Mitarbeiter*innen der Meldeämter von Vorarlberger Gemeinden haben mit Auskünften rasch und unkompliziert geholfen. Im Tiroler Landesarchiv waren Martin Ager und Christoph Penz kompetente Ansprechpartner, im Österreichischen Staatsarchiv gebührt Roman EccherEccher, Heinrich Dank, ebenso dessen Generaldirektor Helmut Wohnout, der für eine Forscherkabine gesorgt und damit das Weiterarbeiten am Projekt trotz Corona-​Containment entscheidend erleichtert hat. Ohne die fleißige und gewissenhafte Mitarbeit von Aaron Salzmann und Simon Urban an der Datenerhebung in verschiedenen Archiven wäre es nicht möglich gewesen, tausende Akte durchzusehen und auszuwerten. Aaron Salzmann war außerdem an der Organisation der internationalen Konferenz „Deserteure der Wehrmacht. Neue Forschungen zu Entziehungsformen, Solidarität, Verfolgung und (digitaler) Gedächtnisbildung“ und der Vermittlung von Forschungsergebnissen beteiligt.12 Bei Isabella Greber und Nikolaus Hagen, die im Rahmen des Projekts Fallstudien zu Vorarlberg übernommen haben, möchten wir uns für die ausgezeichnete kollegiale Zusammenarbeit herzlich bedanken, ebenso bei Brigitte Haidler und Sylvia Eller im Sekretariat des Instituts für Zeitgeschichte der Universität InnsbruckInnsbruck. Für wertvolle Unterstützung und Hinweise danken wir außerdem Markus Barnay, Hannes Metzler, Werner Bundschuh und Meinrad Pichler. Last but not least sei den Mitgliedern des Beirats des Förderschwerpunkts Erinnerungskultur des Landes TirolTirol für die produktiven Diskussionen und Rückmeldungen gedankt.

Im Buch sind Fotografien von Flucht- und Zufluchtsorten von Deserteuren zu finden, die der Fotograf Miro Kuzmanovic im Jahr 2022/23 aufgenommen hat. Sie zeigen Schauplätze historischen Geschehens im Hier und Jetzt – sie sind neben der Dokumentation von Landschaften der Flucht und des Widerstands Erinnerungen daran, dass die Geschichte der Emanzipation aus repressiven und lebensfeindlichen Systemen weitergeht. Die Bilder sind im Rahmen des Projekts „Flucht- und Zufluchtsorte von Wehrmachtsdeserteuren“ entstanden. Das Projekt wurde vom Zukunftsfonds und vom Nationalfonds der Republik ÖsterreichÖsterreich für die Opfer des Nationalsozialismus gefördert. Dafür bedanken wir uns herzlich. Die Fotografien sind mit Texten versehen auch im gleichnamigen Fotoblog online abrufbar (https://www.uibk.ac.at/zeitgeschichte/flucht-und-zufluchtsorte-von-wehrmachtsdeserteuren/).

Maisäß Tanafreida, St. Gallenkirch, Montafon. Foto: Miro Kuzmanovic.

Herkunft von Deserteuren aus Vorarlberg. Grafik: Mathias Breit.

Flucht vor dem Krieg

Deserteure der Wehrmacht in der Grenzregion Vorarlberg

Peter Pirker

I.

Einleitung

21

 

II.

Rahmenbedingungen

24

 

2.1

Vorarlberg als Teil des Wehrkreises XVIII

24

2.2

Erfassung, Musterung, Stellung

26

2.3

Entziehungshandlungen im Militärstrafrecht

27

2.4

Das Soldatenbild der Wehrmacht und seine Traditionsbezüge

31

2.5

Die Behandlung von Militärflüchtlingen durch die Schweiz und Schweden

34

2.6

Quellen

37

 

III.

Wehrdienstentziehungen und Desertionen mit Bezug zu Vorarlberg

40

 

3.1

Wer ist ein Deserteur?

40

3.2

Entziehungsformen und Herkunft

43

3.2.1

Vorarlberger Akteure

45

3.2.2

Ortsfremde Akteure

49

 

IV.

Deserteure und Wehrdienstentzieher aus Vorarlberg

53

 

4.1

Sozialprofil

53

4.2

„Genug vom Krieg“ – Kriegsablehnung, Kriegserfahrung, Kriegsflucht

55

 

 

V.

Fluchtbewegungen

64

 

5.1

Nach Schweden und in die Schweiz

64

5.2

Nicht-heimische Soldaten in der Fluchttransitzone Vorarlberg

73

5.3

Andere Wege: Tirol, Partisanen, besetzte Gebiete

77

5.4

Deserteursgemeinden: Sozioökonomische und politische Erfahrungsräume

80

5.4.1

Sozioökonomische Bedingungen

80

5.4.2

Avantgardisten der Illegalität

82

5.4.3

Politische Erfahrungen im Dorf und in der Familie

85

5.4.4

Erfahrung mit lokalem Verfolgungsdruck

89

5.4.5

Von widerständigem Entziehen zu aktivem Widerstand

92

5.5

„Kehrt um die Flinten, der Feind steht hinten“ – Im transnationalen Widerstand

101

 

 

VI.

Polizeiliche, außergerichtliche und juristische Verfolgung

106

 

6.1

„Er soll nicht mehr in den Krieg gehen“ – Gestapo-Einvernahmen

106

6.2

Außerjuristische Verfolgung: Züge von Sippenhaft, rassistische Sonderbestrafung

114

6.3

Deserteure vor Gericht

117

6.3.1

Vor dem Reichskriegsgericht – Die Dämonisierung des Deserteurs Wilhelm Burtscher

117

6.3.2

Deserteure und Wehrdienstverweigerer vor Standort- und Divisionsgerichten

121

 

 

VII.

Deserteure und Wehrdienstverweigerer im Nachkrieg

130

 

7.1

Nachkriegsjustiz

131

7.1.1

Die Aufhebung von Urteilen gegen Deserteure und Helfer*innen

131

7.1.2

Mordermittlungen gegen Deserteure

135

7.2

Deserteure und Helfer*innen in Opferfürsorgeverfahren

137

7.3

Mein Vater war Deserteur – Positive Tradierung innerhalb von Familien

155

 

 

VIII.

Resümee

167

 

Anhang

55 Todesfälle

175

I. Einleitung

„[…] ich bin Deserteur. Vom Kriege habe ich über und über genug“, erklärte der Obergefreite Hermann HannemannHannemann, Hermann aus BerlinBerlin, nachdem ihn Polizisten der Schweizer Grenzwache am 26. Mai 1942 um ein Uhr früh in der Nähe des Alten Rhein in St. MargarethenSt. Margarethen aufgefunden hatten. HannemannHannemann, Hermann war völlig durchnässt und erschöpft. Er blickte auf eine illegale Reise von mehr als 800 Kilometern zurück. Seinen Fluchtgenossen Werner BusseBusse, Werner hatte er beim Durchschwimmen des Rheins verloren. Ihm selber war der letzte Schritt auf der Flucht aus der Wehrmacht, der Grenzübertritt in die SchweizSchweiz, geglückt.

Es war nicht die erste Grenze, die HannemannHannemann, Hermann auf verbotene Weise gekreuzt hatte und es sollte nicht die letzte bleiben. Österreichische und deutsche Soldaten, die der Kriegsführung der deutschen Streitkräfte entkommen wollten, um ihr Leben abseits der anbefohlenen Bahnen von Töten und Sterben neu auszurichten, mussten viele Arten von Grenzen überwinden, durchbrechen, durchlöchern oder umgehen. Sie gaben die Sicherheit eines militärischen Systems auf, das ihnen Versorgung und Sinn versprach, mussten sich Brot und Orientierung selbst verschaffen, sie verließen den Männerbund des Militärs und gingen verbotene Beziehungen – vielfach zu Frauen – ein, sie wechselten in fremde Umgebungen, deren Sprache und Gepflogenheiten ihnen fremd waren, sie verletzten und brachen militärische Gesetze, die von der Drohung mit der Todesstrafe gestützt waren, sie verließen die „deutsche Volksgemeinschaft“ und begaben sich ins Reich der Schande, der Ächtung und des Verrats, sie nahmen den Verlust der Bürger- und Ehrenrechte in Kauf und sie riskierten die Verfolgung von Verwandten und Helfer*innen. Was nach den Grenzüberschreitungen kam, war meist ungewiss. Wie die Nachkriegsgesellschaften ihre Handlungen bewerten würden ebenso. All das machte Desertieren zu einem hochriskanten Unterfangen mit offenem Ausgang. Dass die Fahnenflucht das Programm nur einer kleinen Minderheit war, kann vor diesem Hintergrund kaum verwundern.

Die Forschung zur Praxis des Desertierens aus den deutschen Streitkräften im Zweiten Weltkrieg ist relativ jung. Die erste Phase in den 1990er- und 2000er-​Jahren stand weitgehend im Zeichen einer geschichtspolitischen Auseinandersetzung zwischen althergebrachten Anschauungen, die Desertieren als illegitimen Regelbruch und die Verfolgung von Deserteuren als legitime Sanktion jeder Militärjustiz betrachteten, und – wenn überhaupt – nur bei Nachweis ganz bestimmter Motive als nicht zu verdammendes Handeln durchgehen ließen. Bei Deserteuren wurden moralische Messlatten angelegt, die bei der Beurteilung von bis zuletzt gehorsam gebliebenen Soldaten wieder in der Schublade verschwanden. Umgekehrt blieb bei Vorwürfen gegen die „Pflichterfüller“ bisweilen unbeachtet, dass der Handlungsspielraum von (Front-)Soldaten stark limitiert war, vor allem jener der unteren Ränge.

Gegen die Ablehnung der Deserteure wandten sich seit den 1990er-​Jahren Positionen, die Desertieren als Beitrag zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus und die Wehrmachtsjustiz als eines der Instrumente eines verbrecherischen Unrechtsstaats sahen. Die Forschung konzentrierte sich angesichts der jahrzehntelangen Weißwaschung der Wehrmacht und ihrer Justiz durch Militärs, Politiker und Veteranenverbände weitgehend auf die Beschreibung und Analyse der radikalen Verfolgung von nonkonformistischen Soldaten durch eine terroristische Militärjustiz.1 Mit der Rehabilitierung der Deserteure der Wehrmacht durch den österreichischen Nationalrat im Jahr 2009 setzte sich die neue Sichtweise zumindest auf politisch-​symbolischer Ebene mehrheitlich durch und es gelang, Zeichen der Erinnerung für jene, die sich der deutschen Kriegsführung früher oder später entzogen, und Menschen, die ihnen dabei geholfen hatten, im öffentlichen Raum in WienWien, BregenzBregenz und anderen Orten zu schaffen.2

Selten blieb jedoch Zeit und Raum dafür, die Praxis des Desertierens und ihre Rahmenbedingungen – abgesehen von der Repression durch die NS-​Militärjustiz – genauer und systematisch auszuleuchten, also den Fragen nachzugehen, wem und wie die Flucht aus dem Krieg möglich war, welche Wege dabei beschritten wurden und wer auf welche Weise aus der zivilen Gesellschaft heraus Deserteuren „hilfreiche Hand“ bieten konnte, um eine damals negativ besetzte Formel der Militärjustiz neu zu verwenden – unter dem Strich: die Verengung auf das Opferwerden auszuweiten, um das antisystemische, widersetzliche und widerständige Handeln in den Blick zu nehmen.

Einen fruchtbaren Ansatzpunkt für eine sozialhistorische Beschäftigung mit dem Phänomen des Desertierens bot der Historiker Felix RömerRömer, Felix, der in seiner wegweisenden Studie „Kameraden“ über die Soldaten der Wehrmacht zwar auf den hohen Grad des Konformismus und den starken Truppenzusammenhalt hinwies, zugleich aber auch betonte, dass der Konformismus der Soldaten vielgestaltig war. Handlungsoptionen vor allem der unteren Ränge waren zwar sehr limitiert, konnten aber unter bestimmten Umständen so genutzt werden, dass es für die einzelnen einen Unterschied machte: „Wie sie ausgenutzt wurden, war oft zufällig und spontan, aber selten einheitlich, sondern viel häufiger individuell.“3 Fast alle Wehrmachtssoldaten teilten einen gewissen militärischen Konsens, davon abgesehen fand RömerRömer, Felix jedoch merkliche Unterschiede im Verhalten, die er auf deren Geschichte, also ihre Erfahrungen vor dem Krieg und als Soldaten, zurückführte. Dies legt die Vermutung nahe, dass Deserteure, bevor sie abweichend handelten, im Krieg nicht unbedingt und durchwegs ganz „anders“ als bis zuletzt gehorsame Soldaten waren, etwa was Einsatzbereitschaft, Pflichterfüllung und Auszeichnungen betraf.4

Spezifische Erfahrungen, so kann man im Anschluss an RömerRömer, Felix weiter postulieren, beeinflussten auch, ob und wie Soldaten Chancen erkannten, um sie für Fluchtbewegungen nutzen zu können. Handlungsspielräume existieren nicht per se. Sie entstehen erst im Erkennen von Situationen. Dieser Gedanke führte dazu, RömersRömer, Felix Plädoyer, die Soldaten als denkende und handelnde Subjekte ernst zu nehmen, für die Forschung über Deserteure zu adaptieren – sie in ihren biographischen Prägungen, persönlichen Erfahrungen, sozialen und militärischen Situationen und auch in ihren Kenntnissen von Raum und Landschaft, gerade in einer alpinen Grenzregion, zu erfassen und zu verstehen. Ob es patriotische, ideologische oder persönlich-​individuelle Impulse waren, welche die Deserteure und ihre Helfer*innen motivierten, tritt dabei in den Hintergrund des Forschungsinteresses. Die alte Frage nach den Motiven5 transportiert eine Hierarchie männlich geprägter moralisch-​politischer Bewertungen, die der staatlichen Perspektive von Justiz und Sozialbehörden eigen war, für eine sozialhistorische Betrachtung aber unbrauchbar ist.

Desgleichen blieb in der Forschung zu den Deserteuren der Wehrmacht die Rolle von Frauen oft unterbelichtet. Dabei ermöglichten in vielen Fällen gerade sie es, dass desertionsbereite Männer die maskuline Kriegskameradschaft hinter sich lassen und stattdessen auf Solidarität bauen konnten. Aus geschlechtshistorischer Sicht folgt aus der Überlegung, dass Desertieren in vielerlei Hinsicht bedeutete, Grenzen zu überschreiten, die Notwendigkeit, den Übergang von maskuliner Kameradschaft zu Hilfsangeboten und der Solidarität von Frauen zu rekonstruieren und deren aktive Rolle in diesem widerständigen Prozess zu beleuchten.6

Welche Umstände und Faktoren begünstigten die Wahrnehmung und das Erkennen von abweichenden Handlungsmöglichkeiten? Welche Erfahrungen befähigten unzufriedene, widerwillige oder kriegsmüde Soldaten dazu, das Wagnis der Desertion einzugehen? Im vorliegenden Beitrag wird im vierten und fünften Kapitel der Versuch unternommen, diese Fragen vorwiegend am Beispiel von Soldaten aus Vorarlberg und streckenweise auch von ortsfremden Soldaten in Vorarlberg zu beantworten. Dabei werden vor allem gelungene Desertionen entlang verschiedener Fluchtwege analysiert. In manchen Fällen entstanden aus Fluchtwiderstand offensive Widerstandsleistungen gegen das Regime. Diesen Übergang zeichne ich genauer und vergleichend an vier Gemeinden nach, die relativ viele Deserteure hervorgebracht haben. Es können Erfahrungsräume beschrieben werden, die Desertionen begünstigten, und es können Unterschiede herausgearbeitet werden, die glückliche Verläufe auszeichneten und traumatische kennzeichneten. So alt wie die Frage nach den Motiven, ist die Frage, ob Deserteure als Widerstandskämpfer gelten können oder nicht. Sie soll hier nicht mehr weiter diskutiert werden. Die Flucht aus der Wehrmacht wird als eine Form widerständigen Handelns betrachtet – als fugitiver Widerstand7 bzw. Fluchtwiderstand im Sinne einer individuellen bis kleinkollektiven Selbstbehauptung in einem System, das mit einem kriegerisch-​aggressiven völkischen Gemeinschaftskonzept die totale Verfügung über das Leben der darin eingeschlossenen Menschen beanspruchte. Man kann Desertieren mit diesem Verständnis auch in eine Tradition der persönlichen Selbstverteidigung gegen ungehörige politische Zurichtungen durch Staat und Regierung stellen.8 Die Rettung des persönlichen Lebens und Emotionen wie Liebe zu und Sorge um Flüchtende werden hier nicht – wie es der staatlichen Perspektive sowohl des NS-​Staates als auch der postnationalsozialistischen Demokratie auf je eigene Weise entsprach – als mindere Beweggründe betrachtet.

Vor diesen beiden zentralen Kapiteln werden im zweiten die Rahmenbedingungen und Quellen skizziert und im dritten ein quantitativer Überblick zum Phänomen der Wehrdienstentziehung in der Grenzregion Vorarlberg geboten, wobei die Verlaufsformen und die Herkunft der Akteure im Vordergrund stehen. Das sechste Kapitel widmet sich dem tristen Thema der polizeilichen, außerjuristischen und juristischen Verfolgung, letzteres mit einem Schwerpunkt auf den Kriegsgerichten. Hier werden im Überblick und dann genauer am Beispiel der Deserteursgruppe von SonntagSonntag das verschränkte Vorgehen von Gendarmerie, Gestapo und Militärjustiz ausgeleuchtet und resistentem Verhalten der Verfolgten nachgespürt. Das letzte Kapitel ist dem Umgang der Nachkriegsgesellschaft in Vorarlberg mit den einheimischen Deserteuren und Wehrdienstentziehern sowie ihren Helfer*innen gewidmet. Vier Dimensionen wurden für die Darstellung ausgewählt: Die juristische Rehabilitierung von Verurteilten, Mordermittlungen von Polizei und Justiz nach 1945 gegen Deserteure, die Behandlung von Anträgen auf Opferfürsorge und schließlich die positive Tradierung von geglückten Fluchten in Familien.

II. Rahmenbedingungen

2.1 Vorarlberg als Teil des Wehrkreises XVIII

Zum Verständnis der Thematik ist es hilfreich, sich zumindest einige für Vorarlberg und seine Bevölkerung relevante Grundstrukturen der militärischen Organisation zwischen 1938 und 1945 vor Augen zu führen. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall der Habsburgermonarchie untersagten die alliierten Mächte im Vertrag von Saint-​GermainSaint-​Germain (1919) der neu gegründeten Republik ÖsterreichÖsterreich den Aufbau einer „Volkswehr“ mit allgemeiner Wehrpflicht. Zugelassen wurde ein Bundesheer mit einer maximalen Truppenstärke von 30.000 Berufssoldaten. Erst das austrofaschistische Regime unter Kanzler Kurt SchuschniggSchuschnigg, Kurt führte im Rahmen einer Remilitarisierung 1936 mit dem „Bundespflichtgesetz“ durch die Hintertür faktisch die allgemeine Wehrpflicht für 18- bis 42-jährige Männer ein.1 Den westlichen Bundesländern SalzburgSalzburg, TirolTirol (ohne OsttirolOsttirol) und Vorarlberg wurde der Bereich der 6. Division mit dem Divisionskommando in InnsbruckInnsbruck zugeteilt. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich und der Eingliederung des Landes in das Deutsche Reich im März 1938 erlangte die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht für Männer im Ausmaß von zwei Jahren ab dem vollendeten 18. Lebensjahr Gültigkeit und die Truppen des österreichischen Bundesheeres wurden in die deutsche Wehrmacht integriert. Mit ganz wenigen Ausnahmen schworen die Offiziere und Mannschaften des Bundesheeres dem „Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf HitlerHitler, Adolf, dem Oberbefehlshaber der Wehrmacht unbedingten Gehorsam“ und jederzeit bereit zu sein, „für diesen Eid mein Leben einzusetzen.“2 Mitte Juli 1938 begann die Neuorganisation der bestehenden Truppen und die Erfassung der Wehrpflichtigen. Das bisherige österreichische Bundesgebiet wurde in die Wehrkreise XVII und XVIII unterteilt. Letzterer entstand aus den Bereichen der 6., 5. (SteiermarkSteiermark) und 7. Division (KärntenKärnten, Osttirol). Das Generalkommando XVIII erhielt in Salzburg seinen Sitz.3 Im Wehrkreis XVIII wurde aus den Formationen der bisherigen 6. und aus Teilen der 7. Division des Bundesheeres die 2. Gebirgsdivision gebildet. Sie setzte sich aus dem in Innsbruck und LandeckLandeck beheimateten Gebirgsjägerregiment 136, dem Gebirgsjägerregiment 137 (LienzLienz, SpittalSpittal/Drau, Salzburg, SaalfeldenSaalfelden), dem Gebirgs-​Artillerie-​Regiment 111 (HallHall), dem Gebirgs-​Pionier-​Bataillon 82 (SchwazSchwaz) und einigen kleineren Abteilungen an weiteren Tiroler Standorten zusammen. Das Kommando über die 2. Gebirgsdivision erhielt der ehemalige Generalmajor des Bundesheeres, der Vorarlberger Valentin FeuersteinFeuerstein, Valentin. Hinsichtlich weiterer Großverbände mit vielen Vorarlberger und Tiroler Soldaten ist neben der 3. und 6. Gebirgsdivision, die in GrazGraz bzw. am Truppenübungsplatz HeubergHeuberg (Baden-​WürttembergBaden-​Württemberg) aufgestellt wurden, die Division 188 zu nennen, die 1939 zunächst in Salzburg beheimatet war. Ihr unterstanden unter anderem die Gebirgsjäger-​Ersatz-​Regimenter (GJER) 136 (Innsbruck), 137 (Salzburg), 138 (Graz), 139 (KlagenfurtKlagenfurt), die Kraftfahr-​Ersatz-​Abteilung 18 (BregenzBregenz) und einige kleinere, breit über den Wehrkreis verteilte Einheiten mit dynamischen Unterstellungsverhältnissen und Einsatzorten, etwa das Infanterie-​Ersatz-​Bataillon 499 in BludenzBludenz und die ab 1942 ebenfalls dort stationierte Gebirgs-​Nachrichten-​Ausbildungs-​Abteilung 18. Im April 1943 wurde der Divisionsstandort nach Innsbruck verlegt, die 188. in eine Reserve-​Gebirgs-​Division umgebildet und anschließend in Norditalien zur Partisanenbekämpfung stationiert.

Die Führung der Ersatztruppen der 188. Division übernahm ab November 1943 die von KlagenfurtKlagenfurt nach SalzburgSalzburg verlegte Division 418 – auch die Bregenzer Kraftfahr-​Ersatz-​Abteilung 18 wurde ihr unterstellt. Keineswegs alle, aber doch ein erheblicher Teil der Wehrpflichtigen im neu geschaffenen Reichsgau TirolTirol und Vorarlberg erhielten Einberufungsbefehle zu diesen Einheiten oder waren ihnen bei Beurlaubungen und Lazarettaufenthalten im Heimatgebiet zugeordnet.

In Vorarlberg bestanden während des Zweiten Weltkriegs für die Versorgung und Genesung verwundeter und kranker Soldaten mehrere Reservelazarette. In BregenzBregenz und Umgebung gab es Standorte in den Klöstern Riedenburg und Marienberg und im Sanatorium MehrerauMehrerau, ebenfalls im Schloss Hofen in LochauLochau. Das Reservelazarett FeldkirchFeldkirch war im Antoniushaus, das bei einem Luftangriff im Oktober 1943 vollständig zerstört wurde, und im Jesuitenkolleg Stella Matutina untergebracht. Auch in BludenzBludenz und in RankweilRankweil (Heil- und Pflegeanstalt Valduna) befanden sich Lazarette. Wie sich zeigen wird, verschaffte ein Aufenthalt in Lazaretten mit anschließendem Genesungsurlaub Vorarlberger Soldaten nach Verwundungen und Erkrankungen Zeit, sich mit Fluchtgedanken zu beschäftigen.

2.2 Erfassung, Musterung, Stellung

Werfen wir noch einen Blick auf das System der Erfassung, Musterung, Überwachung und Einziehung der wehrpflichtigen Männer.1 Im Wehrkreiskommando XVIII war für die Reichsgaue TirolTirol und Vorarlberg bzw. SalzburgSalzburg die Wehrersatzinspektion InnsbruckInnsbruck zuständig. Ihr waren die Wehrbezirkskommandos Salzburg, Innsbruck und BregenzBregenz unterstellt. Die zentrale Aufgabe eines Wehrbezirkskommados bestand in der Überwachung wehrpflichtiger Männer, sodass diese der Wehrmacht für den Dienst mit der Waffe zur Verfügung gestellt werden konnten. Seine wichtigsten Organe hierfür waren die Wehrmeldeämter, in Vorarlberg bestanden solche in Bregenz und in BludenzBludenz. Sie legten Karteien und Verzeichnisse über die wehrpflichtige Bevölkerung an, die laufend aktualisiert wurden. Wehrpflichtige zwischen dem vollendeten 19. und 45. Lebensjahr sowie Freiwillige wurden hier registriert und gemustert, bevor sie von der Wehrersatzinspektion Einberufungsbefehle zu bestimmten Einheiten im Wehrkreis XVIII oder anderswo erhielten. Diese Aufgabe der Bereitstellung des „Menschenmaterials“ für den Krieg konnte jedoch nur in enger Zusammenarbeit mit zivilen Organen der Gauverwaltung erreicht werden, dem für die „Reichsverteidigung“ zuständigen Dezernat Ia4 des Reichsstatthalters Tirol und Vorarlberg Franz HoferHofer, Franz, den nachgeordneten Landräten der Kreise BregenzBregenz, FeldkirchFeldkirch und BludenzBludenz und den Bürgermeistern, die als polizeiliche Meldebehörde die Aufgabe hatten, die Daten der relevanten Wohnbevölkerung ihrer Gemeinde zu sammeln und an die Wehrmeldeämter weiterzugeben.2 Bürgermeister nutzten diese Position durchaus unterschiedlich – manche zeigten weniger Enthusiasmus, die strengen Vorgaben des Wehrbezirkskommandos umzusetzen und wurden gemaßregelt, die Wehrfreudigkeit in ihrer Gemeinde gefälligst zu heben, andere zeigten sich übereifrig, etwa um missliebige – meist sozial randständige – Mitglieder ihrer Gemeinde ehebaldigst loszuwerden. Generell verlief der Aufbau dieses wehradministrativen Systems 1938 zur vollen Zufriedenheit des Dezernats für Reichsverteidigung in Innsbruck.3

Bei Problemen mit Musterungs- oder Stellungspflichtigen schritt die lokale Gendarmerie ein, die vom Wehrbezirkskommando BregenzBregenz um volle Unterstützung ersucht wurde, damit „besonders jeder Versuch zu Drückebergerei unterbunden wird“.4 Die enge Verzahnung von militärischen, polizeilichen und zivilen Institutionen auf unterschiedlichen staatlichen Ebenen wurde ebenso bei der Verfolgung von Wehrpflichtigen und Soldaten wirksam, wenn sie sich der Musterung, der Stellung oder dem Wehrdienst entzogen.5

Eine statistische Aufstellung mit Daten der Wehrmeldeämter BregenzBregenz und BludenzBludenz zum Stichtag 1. März 1945 zeigt uns die quantitative Dimension des Dienstes von Vorarlberger Männern in der Wehrmacht. Demnach wurden insgesamt 24.817 Männer einberufen und im Verlauf des Krieges zwischen 1. September 1939 und 8. Mai 1945 an den meisten Kriegsschauplätzen in Europa und AfrikaAfrika eingesetzt.

Dienststelle

In Wehrüberwachung

Einberufene

Uk-​Gestellte

WMA Bregenz

33.672

19.667

12.633

WMA Bludenz

9.233

5.150

3.792

Summe

42.905

24.817

16.425

Tab. 1: Erstellt anhand einer Übersicht des Wehrbezirkskommandos Innsbruck, 1. März 1945. Bundesarchiv Militärarchiv, RH 15/429. WMA=Wehrmeldeamt. Die Gemeinde Mittelberg (Kleinwalsertal) wurde 1938 dem Land Bayern zugeschlagen und gehörte zum Wehrbezirk Kempten, ist hier also nicht enthalten.

2.3 Entziehungshandlungen im Militärstrafrecht

Ein wesentliches Instrument der Disziplinierung der Soldaten bildete die Militärjustiz, die vom NS-​Regime nach der Machtübernahme im Jahr 1933 wieder eingeführt und schrittweise verschärft worden war. Im Juni 1935 wurde das Militärstrafgesetzbuch (MStGB) so geändert, dass die Militärrichter erheblich mehr Möglichkeit bekamen, „außerhalb der starren Grenzen des niedergeschriebenen Strafrechts“ Taten zu verurteilen, die zwar nicht explizit unter Strafe standen, deren Bestrafung den Nationalsozialisten jedoch im Sinne eines „gesunden Volksempfindens“ geboten schien.1 Die für unser Projekt besonders relevanten Delikte „Unerlaubte Entfernung“ und „Fahnenflucht“ waren im MStGB in den §§ 64 bis 80 geregelt.2 Der Tatbestand der unerlaubten Entfernung war demnach erfüllt, wenn ein Soldat seine Einheit vorsätzlich oder fahrlässig länger als sieben oder im Einsatz länger als drei Tage unbefugt verließ. Der Strafrahmen belief sich auf Gefängnis oder Festungshaft von bis zu zwei Jahren, in minderschweren Fällen konnte die Strafe bis auf 14 Tage „geschärften Arrest“ reduziert werden.

Das wesentliche Kriterium, das die unerlaubte Entfernung von der Fahnenflucht bzw. Desertion unterschied, bildete die Absicht der Handlung, nämlich dauerhaft der Wehrmacht entfliehen zu wollen. Nach § 69 beging Fahnenflucht, „wer in der Absicht, sich der Verpflichtung zum Dienste in der Wehrmacht dauernd zu entziehen oder die Auflösung des Dienstverhältnisses zu erreichen, seine Truppe oder Dienststelle verläßt oder ihnen fernbleibt […].“3 In Friedenszeiten war Desertion mit Freiheitsentzug bis zu zwei Jahren, im Rückfall bis zu fünf und bei wiederholtem Begehen bis zu zehn Jahren bedroht, im Feldeinsatz mit fünf bis zehn Jahren, wobei in minderschweren Fällen die Strafe auf ein Jahr Gefängnis reduziert werden konnte. Die Todesstrafe oder eine Zuchthausstrafe von mindestens zehn Jahren bis lebenslänglich drohte bei Rückfall, wenn dieser neuerlich im Feld begangen wurde, ebenso stand die Todesstrafe im Fall einer gemeinsamen Fahnenflucht gegen den „Rädelsführer und gegen den Anstifter“ im Raum.4 Wenn ein Soldat von einem Posten vor dem Feind oder aus einer besetzten Festung desertierte oder zum Feind überlief, war er grundsätzlich mit dem Tod zu bestrafen.

Mit der Einführung der Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO)5 und der Kriegsstrafverfahrensordnung (KStVO)6 am Tag der Mobilisierung für den Angriff auf PolenPolen (26. August 1939) wurden die Strafdrohungen gegen beide Delikte drastisch verschärft. Unerlaubte Entfernung begann nun laut § 6 KSSVO schon nach einem Tag, dauerte sie länger als drei Tage, lautete die Mindeststrafe ein Jahr Freiheitsentzug, der Strafrahmen belief sich auf bis zu zehn Jahre. Die häufig vorkommende unerlaubte Entfernung wurde so von einem Vergehen in ein Verbrechen verwandelt. Fahnenflucht erhielt im § 6 KSSVO ebenfalls eine neue Fassung, indem die bisherigen Spezifizierungen gestrichen wurden. Ein Militärrichter konnte nun undifferenziert „auf Todesstrafe oder auf lebenslängliches oder zeitiges Zuchthaus“ erkennen.7 Diese Regelungen fanden Eingang in die Neufassung des MStGB. Nur wenn sich ein Fahnenflüchtiger im Feld binnen einer Woche zurückmeldete, konnte der Richter auch eine Gefängnisstrafe aussprechen. Mit der Todesstrafe wurde auch die Verleitung zur Fahnenflucht belegt. Weitere Verschärfungen hinsichtlich der Anwendbarkeit der Todesstrafe folgten im Kriegsverlauf im Rahmen von sechs ergänzenden Verordnungen8 und einer Reihe von Durchführungsrichtlinien, wie etwa jener des Führers und obersten Befehlshabers der Wehrmacht vom 14. April 1940:

„Die Todesstrafe ist geboten, wenn der Täter aus Furcht vor persönlicher Gefahr gehandelt hat oder wenn sie nach der besonderen Lage des Einzelfalles unerläßlich ist, um die Manneszucht aufrechtzuerhalten. Die Todesstrafe ist im allgemeinen angebracht bei wiederholter oder gemeinschaftlicher Fahnenflucht und bei Flucht oder versuchter Flucht ins Ausland. Das gleiche gilt, wenn der Täter erheblich vorbestraft ist oder sich während der Fahnenflucht verbrecherisch betätigt hat.“9

Ein gewisser Handlungsspielraum erwuchs den Militärrichtern nicht nur im Ermessen der Absicht eines abtrünnigen Soldaten, also, ob unerlaubte Entfernung oder Fahnenflucht vorlag. Sie konnten im Fall von Fahnenflucht abseits der Todesstrafe auch auf Zuchthausstrafen entscheiden, wenn „jugendliche Unüberlegtheit, falsche dienstliche Behandlung, schwierige häusliche Verhältnisse oder andere nicht unehrenhafte Beweggründe“ als ausschlaggebend für eine Desertion erkannt wurden.10

In der späten Phase des Krieges, als die Alliierten den deutschen Streitkräften an allen Fronten längst schwere Niederlagen beigebracht hatten und ihre Luftwaffe deutsche Städte und die Nachschubinfrastruktur schwer beschädigt hatte, war für viele Soldaten, auch wenn sie bislang ihre Wehrpflicht untadelig erfüllt hatten, längst sichtbar, dass der Krieg verloren ging. Nun wurde für bestimmte Situationen die Rechtsform einer Gerichtsverhandlung weiter reduziert oder gänzlich über Bord geworfen. Ein Erlass des Oberkommandos der Wehrmacht forderte beispielsweise dazu auf, jedes Überlaufen von Soldaten zum Kriegsgegner mit Feuer auf die Flüchtenden zu unterbinden oder ad hoc Standgerichte gegen Fahnenflüchtige abzuhalten, die bei Schulderkenntnis sofort die Todesstrafe zu vollziehen hatten. Führerbefehlen im Frühjahr 1945 fehlte jeglicher Bezug zur Realität des Kriegsalltags, etwa wenn Soldaten mit dem Erschießen bedroht wurden, sollten sie unverwundet in Kriegsgefangenschaft geraten. Auch die Einführung der Haftung von Angehörigen („Sippenhaft“) für das Handeln von desertierten oder nicht mehr kampfbereiten Soldaten hatte jede Spur von Rechtsstaatlichkeit verloren und war nur mehr Terror und Rache.

Als weitere, für unsere Studie relevante Formen der Entziehung vom Wehrdienst definierte das MStGB im § 81 die absichtliche Selbstbeschädigung („Selbstverstümmelung“), im § 82 das Untauglichmachen eines anderen Soldaten auf dessen Verlangen hin und im § 83 die „Dienstentziehung durch Täuschung“. Bis zur Einführung der KSSVO standen darauf bis zu sechs Jahre Gefängnis. Auch für derartige Delikte der eigenen Wehrdienstentziehung oder jener eines anderen Wehrpflichtigen brachte die KSSVO massive Verschärfungen. Sie führte das neue Delikt der „Zersetzung der Wehrkraft“ (§ 5) ein. Gemeint war damit „[…] die Störung oder Beeinträchtigung der totalen völkischen Einsatzbereitschaft zur Erringung des Endsieges in diesem Krieg.“11 Nach § 5 Abs. 1 war jede Form der Wehrdienstentziehung eines anderen (Nr. 2) und jede Form einer eigenen Wehrdienstentziehung (Nr. 3) durch „Selbstverstümmelung, ein auf Täuschung berechnetes Mittel oder auf andere Weise“ mit der Todesstrafe als Regelstrafe zu ahnden.12 Als extremste Form der Wehrdienstentziehung kann der Selbstmord eines Soldaten gelten – folglich wurde auch dieser im Falle des Scheiterns nach dem § 5 der KSSVO geahndet.13

Einen eigenen Straftatbestand formuliert das MStGB für unerlaubte Entfernungen während militärischer Kämpfe, etwa das Aufgeben von Stellungen oder Flucht entgegen Befehlen. Dies wurde in den §§ 84–88 als „Dienstpflichtverletzung aus Furcht“ und als „Feigheit“ definiert: „Wer während des Gefechts aus Feigheit die Flucht ergreift und die Kameraden durch Worte oder Zeichen zur Flucht verleitet, wird mit dem Tode bestraft“.14 Auch hier kam es 1940 zu einer breiteren Auslegung, etwa indem der Zeitrahmen auf eine zu erwartende Kampfhandlung ausgedehnt wurde.

Die KSSVO blieb in der Anwendung nicht auf Militärgerichte und Soldaten beschränkt. Der § 5 Wehrkraftzersetzung definierte in den einzelnen Bestimmungen auch Tatbestände, die Zivilist*innen begehen konnten, etwa vor der Einberufung sich der Wehrpflicht durch Flucht ins Ausland oder durch Nichtbefolgung der Aufforderung zur Musterung etc. zu entziehen, jemanden dies zu empfehlen, dabei zu helfen oder öffentlich dazu aufzufordern. Das Ziel war es, jede Form der verbalen oder praktischen Abwendung von der Kriegspolitik und -führung des NS-​Staates hart zu sanktionieren und damit Abschreckung zu erwirken. Ab Mai 1940 konnte die KSSVO auch von der allgemeinen Justiz in Rahmen von Sondergerichten und vom Volksgerichtshof angewandt werden.15

Rechtsgeschichtlich gesehen lässt sich die Brutalisierung des deutschen Militärstrafrechts nicht mit Entwicklungen in ÖsterreichÖsterreich während der 1920er- und 1930er-​Jahre in Verbindung bringen. Wie in DeutschlandDeutschland war die Militärgerichtsbarkeit mit der Verfassung von 1920 für Friedenszeiten aufgehoben worden und dabei blieb es – mit Ausnahme der Einführung eines Militärgerichtshofs zur Aburteilung von putschenden Nationalsozialisten im Juli 1934 – bis zur Eingliederung in das Deutsche Reich im Jahr 1938.16

Freilich hatten sich schon Militärs der k. u. k.-Armee im Ersten Weltkrieg von radikalen Strafandrohungen und einer in ihren Kompetenzen weit ausgreifenden Militärjustiz eine stark präventiv-​disziplinierende Wirkung auf die Soldaten erwartet. Oswald ÜbereggerÜberegger, Oswald zeigte anhand der Tiroler Militärgerichtsbarkeit im Ersten Weltkrieg, dass diese „radikalmilitärische Erwartungshaltung“ von den Anforderungen der praktischen Kriegsführung unterspült wurde, indem harte Urteile insbesondere dann nicht exekutiert wurden, wenn es im Sinne der Truppen opportun war, kampffähige Soldaten in der Armee zu belassen, statt sie hinzurichten oder in den Strafvollzug zu schicken.17 Letztlich hebelte die Praxis die harten Abschreckungs- und Disziplinierungsfantasien militärischer Eliten aus: Die konsequente Anwendung radikalisierter Strafnormen hätte zu massenhaften Hinrichtungen und Gefängnisstrafen geführt, was der Armee Personal und Legitimität entzogen hätte. Die pragmatische Praxis der Amnestie löste die Abschreckung auf. Die Militärjustiz erwies sich als untaugliches Instrument, den Zerfall der k. u. k.-Armee und die Kriegsniederlage aufzuhalten; die Verantwortung dafür lag weder bei ungehorsamen Soldaten noch bei milden Richtern. Sie lag bei den politischen und militärischen Eliten und deren verfehlter Kriegspolitik.

2.4 Das Soldatenbild der Wehrmacht und seine Traditionsbezüge

Warum das NS-​Regime das Militärstrafrecht derart radikal verschärfte und den Tatbestand der „Wehrkraftzersetzung“ einführte, hatte seine Ursache in der Überzeugung vieler antidemokratisch eingestellter Kräfte in der Weimarer Republik, dass der Zerfall des Deutschen Reichs am Ende des Ersten Weltkrieg nicht durch eine militärische Niederlage, sondern wesentlich durch „innere Zersetzung“ verursacht worden sei, wofür die Nationalsozialisten gleichzeitig den „jüdischen Marxismus“ und „den jüdischen Schleichhändler und Kriegsgewinnler“ verantwortlich machten. Die Militärjustiz der kaiserlichen Armee habe diesen Zerfallserscheinungen durch Milde gegenüber ungehorsamen Soldaten und Zivilisten noch Vorschub geleistet. Dass die vergleichsweise tatsächlich härtere Militärjustiz der österreichischen Armee die Kriegsniederlage nicht hatte verhindern können,1 trübte diese Überzeugung nicht. Albrecht KirschnerKirschner, Albrecht fasste zusammen:

„HitlerHitler, Adolf und weite Kreise des deutschen Militärs wollten die Niederlage des Ersten Weltkriegs militärisch revidieren und zumindest die alte Machtstellung Deutschlands in der Welt wiederherstellen. Dafür musste aber aus Sicht dieser Revisionisten verhindert werden, dass die Wehrkraft des deutschen Volkes von innen zersetzt werden konnte. Diese Position wurde nicht nur von Hitler und der militärischen Führung geteilt, sondern war auch in der deutschen Justiz, insbesondere der Militärjustiz, verbreitet.“2

Die Dolchstoßlegende und die mit ihr verbundene Ideologie der absoluten Notwendigkeit, jede „Wehrkraftzersetzung“ gnadenlos zu unterbinden, brachte ein spezifisches Soldatenbild hervor, das wohl an ältere Traditionen anknüpfte, aber während der Remilitarisierung der deutschen Gesellschaft in den 1920ern und dann mit Beginn der NS-​Herrschaft 1933 massive Verhärtungen erfuhr. Unnachgiebiger Kampf, bedingungsloser Einsatzwille, unbedingte Pflichterfüllung, absolute Selbstaufopferung, Todesverachtung und eiserne Kameradschaft in der Treue zum Führer, wie es in der Eidesformel auch zum Ausdruck kam, wurden zu Leitwerten der deutschen Streitkräfte erhoben. Die entsprechende „Manneszucht“ der Soldaten sollten in der zivilen Gesellschaft gebührend anerkannt und gestützt werden.3 Jede Abweichung davon galt als Schwäche, Feigheit, Minderwertigkeit und Asozialität und sollte mit drakonischen Strafen sowie sozialer Ächtung bedroht sein. Über die rigide kriegsgerichtliche und soziale Ahndung von Fahnenflucht wurden die Soldaten in den Einheiten eingehend belehrt.

Es wäre falsch, die Militärjustiz als einziges Instrument der Durchsetzung dieses von harter, starker Männlichkeit durchdrungenen Soldatenleitbilds zu betrachten. Soldaten bekamen die Leitwerte der Wehrmacht in der Ausbildung und in Schulungen vermittelt. Wer ihnen entsprach, erhielt in bislang ungekanntem Ausmaß Auszeichnungen und wurde mit klassenüberschreitenden Karrierewegen und mit dem Gefühl des Stolzes, ein starkes Mitglied einer schlagkräftigen Armee zu sein, belohnt.4

Dennoch ist festzuhalten, dass die Dolchstoßlegende gerade in TirolTirol (und so ist anzunehmen auch in Vorarlberg) sehr populär war. Ehemalige Offiziere der Kaiserjäger- und Kaiserschützenregimenter verbreiteten sie ausgiebig in ihren auch politisch geförderten Erinnerungsschriften in den 1930er-​Jahren. Diese Darstellungen waren, wie Oswald ÜbereggerÜberegger, Oswald betont, von der „Überzeugung der Militärs, der Zusammenbruch sei primär von Sozialdemokraten, Juden, den nicht-​deutschen Nationalitäten und anderen vermeintlich staatsfeindlichen Kräften im Hinterland verursacht worden“, durchzogen. Als weiteres Element der soldatischen Erinnerungskultur zum Ersten Weltkrieg erkennt er eine „allgegenwärtige Hervorkehrung von ‚Opferbereitschaft‘ und ‚Heldentum‘, aus der sich nicht zuletzt auch der entsprechende Mythos des heroischen Gebirgskriegers speiste, dessen militärische Leistung wie selbstverständlich mit jener der Tiroler von ‚anno neun‘ verlinkt wurde.“5 Das Kommando der im Wehrkreis XVIII aufgestellten Truppen der Gebirgsjäger knüpfte bald an diese Traditionsbildung an, die eine Kontinuität militärischer Ausnahmeleistungen bis zurück zum Aufstand gegen die Franzosen unter Andreas Hofer im Jahr 1809 konstruierte. Tiroler und Vorarlberger Soldaten wurden ganz bewusst als Elitesoldaten („Söhne der Alpen“) angesprochen, indem ihre (erwartete) Kriegsleistung in die Tradition der Kaiserjäger- und Kaiserschützenregimenter gestellt und deren höchster Aufopferungswille weiter mystifiziert wurde. Auch auf diese Weise sollte der Konformismus innerhalb der Truppe gewährleistet werden.6 Linientreue und selbsttätiges Erfüllen des Soldatenbildes wurden als Ausdruck höchster Kameradschaft verbrämt, jede Dissidenz war als Im-​Stich-​Lassen von Kameraden, als unkameradschaftliches Verhalten sozial stigmatisiert. Neu erfinden musste die Wehrmacht in dieser Hinsicht im Westen Österreichs wenig. Sie rief die alpenländischen Soldaten vielmehr auf, dem tradierten und weiter zugespitzten Soldatenbild nicht nur ideell und symbolisch (wie im österreichischen Bundesheer), sondern in der deutschen Wehrmacht jetzt auch praktisch zu entsprechen. Die starke Truppenkohäsion in den Gebirgsdivisionen bis Kriegsende und die folgende Erinnerungskultur ihrer Kameradschaftsverbände mit bruchlosen historischen Bezügen auf angeblich „ewige“ soldatische Werte, mit dem Lob vermeintlich herausragender militärischer Leistungen, hoher Kampfmoral und eines bis zuletzt gehaltenen Treueethos, die Rede von „Opfergang“ und „Pflichterfüllung“ zeigen, dass das Wehrkreiskommando XVIII damit einigen und nachhaltigen Erfolg hatte.7 Aus diesem eisernen Korsett von radikaler militärischer Disziplinierung und verhärtetem Soldaten(selbst)bild mussten sich fluchtwillige Soldaten erst befreien und lösen.

Die westlichen Alliierten zogen aus der Brutalität ihrer eigenen Militärjustiz und disziplinären Schwierigkeiten im Ersten Weltkrieg andere Konsequenzen als die deutsche militärische und politische Führung. Nach 300 Todesurteilen gegen Deserteure in der britischen Armee (im Vergleich zu 48 in der deutschen Armee) entstand in Großbritannien nach 1918 eine politische Kampagne zur generellen Abschaffung der militärischen Todesstrafe, was 1930 auch gelang. Während des Zweiten Weltkriegs – selbst als in einer schwierigen Phase im Jahr 1941 manche hochrangigen Militärs nach der Todesstrafe riefen – wurde diese wegweisende Entscheidung nicht revidiert.8 Zudem gab es die – wenn auch eingeschränkte – Möglichkeit, statt des Kriegsdienstes nicht-​militärischen Ersatzdienst zu leisten.9 In den USA wurde die Militärjustiz zwar erst nach dem Zweiten Weltkrieg dem Standard der zivilen Rechtsstaatlichkeit angepasst, aber selbst im Falle von langjährigen Haftstrafen für Desertionen dauerte die faktische Verbüßung meist nur sechs Monate; Bewährungs- und Strafeinheiten wie in der Wehrmacht kannte die amerikanische Armee nicht.10 Sie führte außerdem die Psychologie als Methode der Identifizierung von unterschiedlichen Eignungen von Menschen für die Kriegsleistung und der Auswirkungen des Kriegsgrauens auf die Psyche der Soldaten ein, ähnlich wie die britische Armee. In der Wehrmacht hingegen war jede Kriegsdienstverweigerung mit der Todesstrafe bedroht; sie „blieb in der militärpschychiatrischen Betrachtungsweise von Deserteuren und Kriegstraumatisierten im 19. Jahrhundert stecken. Die einzigen ‚Therapien‘ waren und blieben von Empathielosigkeit und purer Gewalt geprägt.“11

Davon zeugen mehrere Geschichten von Deserteuren und Frontverweigerern in diesem Buch (siehe Christian EngstlerEngstler, Christian und Josef LinsLins, Josef12), ein anderes Beispiel sei kurz angeführt: Der unbescholtene Weber und Musiker Erwin FrickFrick, Erwin aus LustenauLustenau war Tragtierführer in einer Einheit der 3. Gebirgsdivision an der Ostfront. Bei der Suche nach seinem entlaufenen Esel verirrte er sich. Am nächsten Tag nahm ihn ein Unteroffizier wegen Verdachts auf Fahnenflucht fest. Der Vorwurf konnte nicht belegt werden und wurde fallengelassen. Stattdessen lautete die Anklage auf Wehrkraftzersetzung, nun, weil er einen Ohnmachtsanfall vorgetäuscht und falsche Gründe für einen Heimaturlaub angegeben habe. Auch in dieser Hinsicht musste er mangels Nachweises freigesprochen werden. Das Gericht verurteilte ihn schließlich wegen Ungehorsam zu drei Monaten Gefängnis, weil er seine „eiserne Portion“ unerlaubt verzehrt hatte. Im Verfahren wurde deutlich, dass Erwin FrickFrick, Erwin für den Dienst an der Front völlig ungeeignet war. Er selbst ersuchte darum, die Strafe von drei Monaten Gefängnis absitzen zu dürfen. Die Möglichkeit einer Frontbewährung, die viele Soldaten in solchen Fällen nutzten, lehnte er ab, „weil er gesundheitlich nicht für das Feld geeignet sei und kein Blut sehen könne“.13 Für das Gericht zählte jedoch nur ein Kriterium, nämlich, dass er als kriegsverwendungsfähig gemustert worden war. Der zuständige Untersuchungsführer hielt fest: „Seine […] Äußerung ist eben typisch für einen Drückeberger, wenn nicht für einen Bibelforscher. […] Aus der negativen Einstellung des Beschuldigten zum Soldatentum, insbesondere seiner Pflicht auch an der kämpfenden Front seinen Mann zu stellen, halte ich den Freispruch […] für verfehlt.“14 Gerade weil er nichts so sehr fürchtete wie einen Fronteinsatz, setzte das Gericht in der Folge die Strafe aus und schickte ihn direkt zur kämpfenden Truppe.

Die in der Debatte um die Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure häufig geäußerte Meinung, Deserteure seien in allen Armeen im Zweiten Weltkrieg gleich oder ähnlich behandelt worden, entbehrt vor diesem Hintergrund jeder empirischen Grundlage. Entsprechend drastisch sind die Unterschiede bei den Zahlen der militärrechtlich zum Tode verurteilten und hingerichteten Soldaten. Die amerikanische Armee exekutierte im Zweiten Weltkrieg in dreieinhalb Jahren 146 Soldaten, davon einen wegen Fahnenflucht, die britische Armee vierzig (keinen wegen Fahnenflucht). Die Wehrmacht richtete nach Berechnungen von Manfred MesserschmidtMesserschmidt, Manfred zwischen 18.000 und 20.000 Soldaten hin, etwa 15.000 davon nach Fahnenflucht-​Urteilen von Militärgerichten.15

2.6 Quellen

Mit Beginn des Tages der Einberufung zur Wehrmacht setzte die Zuständigkeit der Militärjustiz ein. Sie war nicht nach dem Herkunfts- oder Territorialprinzip organisiert, sondern im Wesentlichen nach der Truppenzugehörigkeit des Soldaten: Jede Division verfügte über ein eigenes Divisionsgericht, das grundsätzlich für die Truppenkörper der Division zuständig, aber übergeordneten Gerichten mit dem Reichskriegsgericht in BerlinBerlin bzw. TorgauTorgau an der Spitze unterstellt war. Das Reichskriegsgericht übernahm Fälle von Wehrdienstentziehung und Fahnenflucht, wenn die Gestapo damit verbundene, direkt gegen das NS-​Regime gerichtete Handlungen erkannte, etwa offene und wiederholte Kriegsdienstverweigerung, die Bildung einer bewaffneten Widerstandsgruppe oder die Absicht, die alliierten Armeen oder Partisanen zu unterstützen oder ihnen beizutreten.

Gegen Wehrpflichtige und Soldaten aus Vorarlberg kam es nur in ganz wenigen Fällen zu Verfahren bzw. Anklagen vor dem Reichskriegsgericht in Zusammenhang mit Wehrdienstentziehungen. Das Verfahren gegen die beiden Bregenzer Jugendlichen Josef und Karl SchertlerSchertler, Karl musste mangels Substanz der Vorwürfe eingestellt werden.1 Wer vor dem Reichskriegsgericht aber angeklagt wurde, hatte geringe Chancen zu überleben.2 Alle vier aus Vorarlberg stammenden Angeklagten – die Kriegsdienstverweigerer Ernst VolkmannVolkmann, Ernst und Franz ReinischReinisch, Franz sowie die beiden Deserteure Wilhelm BurtscherBurtscher, Wilhelm und Martin LorenzLorenz, Martin, die 1944 in SonntagSonntag im Großen Walsertal begonnen hatten, eine ÖsterreichÖsterreich-patriotische bewaffnete Gruppe zu bilden – verurteilte das Reichskriegsgericht zum Tod. Ihre widerständigen Geschichten und die einiger anderer Vorarlberger Deserteure, die ihre Verfolgung überlebten – etwa von August WeissWeiss, August und Emil BonettiBonetti, Emil3 –, sind mittlerweile einigermaßen bekannt und mussten in den Grundzügen nicht neu erforscht werden. Im Fall der Deserteure von Sonntag und ihren Helfer*innen bot ein Aktenfund jedoch die Möglichkeit, neue Einblicke in die an sich gut bekannte Geschichte zu gewinnen und das widerständige Handeln der Beteiligten sowie deren teils erniedrigende Behandlung durch die Nachkriegsbehörden erstmal eingehend auf Aktenbasis darzustellen.4

Ein wichtiger Fundus für die Erforschung von Desertionen von weniger oder kaum bekannten Vorarlberger Soldaten sind die überlieferten Akten der Gerichte der 2., 3., 6. Gebirgsdivision und der Ersatztruppen im Wehrkreis XVIII (Divisionen 188 und 418). Mehr als 5.000 Verfahrensakten dieser und anderer Militärgerichte, die nach der Befreiung in SalzburgSalzburg aufgefunden wurden, sind im Österreichischen Staatsarchiv in WienWien zugänglich. Waren Soldaten länger als drei Monate abgängig, gaben die Divisionsgerichte die Akten an höhere Instanzen weiter, die für die zentrale Fahndung zuständig waren, dem Gericht der Wehrmachtkommandantur BerlinBerlin bzw. dem Zentralgericht des Heeres.5 Akten dieser Gerichte sind in Splittern erhalten geblieben und wurden im Bundesarchiv, Abteilung Militärarchiv in Freiburg im BreisgauFreiburg im Breisgau, beforscht. Dort sind außerdem Karteien zu Todesurteilen verwahrt und es besteht die Möglichkeit – wenn die Namen von Deserteuren aus anderen Quellen bekannt sind – gezielt mit Hilfe einer Datenbank in Beständen weiterer Wehrmachtsgerichte zu suchen.

Wie erwähnt, ahndete neben den Militärgerichten auch die Sonderjustiz Delikte der Wehrkraftzersetzung, etwa die Entziehung von der Wehrpflicht durch Flucht ins Ausland oder die Beihilfe zur Fahnenflucht durch Zivilist*innen. Für den Schauplatz Vorarlberg analysierten wir daher die relevanten Verfahrensakten des Sondergerichts FeldkirchFeldkirch, die im Vorarlberger Landesarchiv (VLA) zu einem großen Teil erhalten und zugänglich sind. Die besondere Lage Vorarlbergs an der Grenze zur SchweizSchweiz, die fluchtwillige Soldaten aus dem gesamten Reich anzog, erforderte zudem eine Durchsicht von ebenfalls im VLA in den Beständen der Landratsämter (Bezirkshauptmannschaften) überlieferten Polizeiakten, der Häftlingsprotokolle der Gefängnisse von BregenzBregenz, FeldkirchFeldkirch und BludenzBludenz sowie der Chroniken der Gendarmerieposten in Vorarlberg. In diesen Beständen sind vor allem gescheiterte Entziehungen aus der Wehrmacht, der Waffen-​SS und dem Reichsarbeitsdienst, gelegentlich auch Fahndungsmeldungen auffindbar. Eine Besonderheit sind Aufzeichnungen und Dokumentensammlungen zu Deserteuren im Bestand des Landratsamtes des Kreises Bregenz. Der Landrat des Kreises BregenzBregenz, der deutsche Jurist Walter DidlaukiesDidlaukies, Walter, ließ seine Beamten ein „Verzeichnis über Fahnenflüchtige, die im Landkreis Bregenz ihren Wohnsitz haben“ und ein „Verzeichnis über Fahnenflüchtige, die nicht