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Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Theodor Fontane bezieht seinen Witz nicht allein aus einem humorvoll ungeschönten Blick auf die Realitäten gesellschaftlicher Wirklichkeit. Indem er seinen Figuren »nach der Schnauze redet«, entspringt die Komik auch aus dem Zusammentreffen von stilsicherer Hochsprache und Dialekt: »Bitte, kloppen Sie mir mal en bisschen, aber hier ordentlich ins Kreuz«. Ein genussvoller Streifzug durch Fontanes Gesamtwerk!

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Theodor Fontane

Fontane zum Genießen

Herausgegeben von Ulrike-Christine Sander

Anthologie

Fischer e-books

Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.

Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.

Meine Kinderjahre

Wie wir erzogen wurden – Wie wir spielten in Haus und Hof

Wie wir erzogen wurden? Ich habe diese Frage schon an mehr als einer Stelle gestreift und bin ihr namentlich im vorigen Kapitel, wo sich’s um die Schule handelte,[1] vergleichsweise nahe getreten. Indessen Erziehung und Schule, bei vielem was sie gemeinsam haben, sind doch auch wieder zweierlei; die Schule liegt draußen, Erziehung ist Innensache, Sache des Hauses und vieles, ja das Beste, kann man nur aus der Hand der Eltern empfangen. »Aus der Hand der Eltern« ist nicht eigentlich das richtige Wort, wie die Eltern sind, wie sie durch ihr bloßes Dasein auf uns wirken, – das entscheidet. Es gibt unbestritten ausgezeichnete Schul- und Erziehungsanstalten, die, mit Rücksicht auf Charakterausbildung, vielfach erheblich mehr leisten mögen, als das elterliche Haus; aber in der Hauptsache bleibt doch ein Manko. Der Charakter mag gewinnen, der Mensch verliert. Es gibt so viele Dinge, die mit ihrem stillen und ungewollten, aber eben dadurch nur um so nachhaltigerem Einfluß erst den richtigen Menschen machen. Das große, mit Pflicht-, Ehr- und Rechtsbegriffen ausstaffierte Tugendexemplar ist unbedingt respektabel und kann einem sogar imponieren; trotzdem ist es nicht das Höchste. Liebe, Güte, die sich bis zur Schwachheit steigern dürfen, müssen hinzukommen und unausgesetzt darauf aus sein, die kalte Vortrefflichkeit zu verklären, sonst wird man all dieses Vortrefflichen nicht recht froh. Ich hatte das Glück, in meinen Kindheits- und Knabenjahren, unter keinen fremden Erziehungsmeistern – denn die Hauslehrer bedeuteten nach dieser Seite hin sehr wenig – heranzuwachsen und wenn ich hier noch einmal die Frage stelle »wie wurden wir erzogen«, so muß ich darauf antworten: »gar nicht und – ausgezeichnet«. Legt man den Akzent auf die Menge, versteht man unter Erziehung ein fortgesetztes Aufpassen, Ermahnen und Verbessern, ein mit der Gerechtigkeitswaage beständig abgewogenes Lohnen und Strafen, so wurden wir gar nicht erzogen; versteht man aber unter Erziehung nichts weiter, als »in guter Sitte ein gutes Beispiel geben« und im übrigen das Bestreben, einen jungen Baum, bei kaum fühlbarer Anfestigung an einen Stab, in reiner Luft frisch, fröhlich und frei aufwachsen zu lassen, so wurden wir ganz wundervoll erzogen. Und das kam daher: meine Eltern hielten nicht bloß auf Hausanstand, worin sie Muster waren, sie waren auch beide von einer vorbildlichen Gesinnung, die Mutter unbedingt, der Vater mit Einschränkung, aber darin doch auch wieder uneingeschränkt, daß ihm jeder Mensch ein Mensch war. Noch weit über seine Bonhommie hinaus, ging seine Humanität. Er war der Abgott armer Leute.

So waren die zwei Persönlichkeiten, die wir tagaus, tagein vor Augen hatten und wie man mit Recht gesagt hat, das Wichtigste für den physischen Menschen sei die Luft, drin er lebe, weil er aus ihr mit jedem Atemzuge Gesundheit oder Nicht-Gesundheit schöpfe, so ist für den moralischen Menschen das, was er von seinen Eltern sieht und hört, das Wichtigste, denn es ist nicht eine von glücklichen Zufällen abhängige, vielfach unfruchtbare Belehrung, sondern ein Etwas, das in jenen Jahren, wo die Seele sich bildet, von Minute zu Minute seine Wirkung übt.

»Gar nicht erzogen und ausgezeichnet erzogen«, so sagte ich und dies scheinbar sich Widersprechende paßte ganz vorzüglich zusammen. Es paßte zusammen und hätte noch besser gepaßt, wenn der Zustand des sich gar nicht oder doch nur wenig um uns Kümmerns ein permanenter gewesen und jederzeit in seiner vollen Reinheit aufrecht erhalten worden wäre. Leider aber war dies nicht der Fall; vielmehr wurde durch dann und wann auftretende Versuche mit den herkömmlichen pädagogischen Mitteln einzugreifen, unser normaler Nicht-Erziehungsprozeß gestört, teils nutzlos, teils geradezu schädigend. Ich kann mich nämlich nicht entsinnen, jemals mit einem vollen Recht bestraft worden zu sein, entweder war es im Maß verfehlt, oder ganz und gar ungerechtfertigt. Es traf sich dabei so sonderbar, daß alle diese Strafen durch meinen Vater vollzogen wurden, wobei jedoch zwei Gruppen unterschieden werden müssen, solche, zu denen der Vollziehende, mein Vater also, sich durch sich selber getrieben fühlte und solche, zu denen er bloß abkommandiert wurde. Jene haben keinen großen Eindruck in meiner Seele hinterlassen, aber diese, die bloß auf Befehl erfolgten, schmerzen mich bis diesen Tag.

Ich gebe ein paar Beispiele zur Charakterisierung der einen und der anderen Art und beginne mit den aus freiem Willen entsprossenen Strafen. Daß es überhaupt zu solchen kam, muß bei dem Charakter meines Vaters überraschen, denn er war ganz ausgesprochen für leben und leben lassen und jedenfalls der unstraflustigste Mann von der Welt. Daß er nun, dem allen zum Trotz, doch gelegentlich zu Strafvollstreckungen aus eigener Initiative schritt, hatte in ganz kleinen Nebenzügen seines Charakters seinen Grund, in etlichen Sonderbarkeiten, die freilich ganz zu ihm gehörten und erst recht eigentlich das aus ihm machten, was er war, ein Original. Unter diesen kleinen Nebenzügen waren zwei, für mich wenigstens, von ganz besonderer Bedeutung: er war zunächst allemal außer sich, wenn eine Fensterscheibe neu eingesetzt werden mußte und geriet zum zweiten und zwar weit über den Fensterscheiben-Ärger hinaus, in eine kleine Berserker-Rage, wenn ihn das Riesendach seines Hauses, weil es wieder mal durchgeregnet hatte, zu Einlegung von ein paar neuen Dachziegeln zwang. An diesen beiden Eigentümlichkeiten ist der Frieden meiner Kinderjahre mehrfach gescheitert. Ich war ein eifriger Ballspieler und bevorzugte jene besondere Form des Spiels, wo sich einer meiner Kumpane mit dem Rücken an die Wand stellen und seine rechte Hand ausstrecken mußte. Nach dieser Hand zielte ich nun und war ich dabei nicht geschickt genug, so flog der Ball gelegentlich in eine Scheibe. Danach kam dann das Strafgericht. Aber viel schlimmere Folgen entsprangen mir aus meines Vaters Antipathie gegen die vorerwähnten Dachreparaturen. Zu meinen Hauptspielvergnügungen, ich komme weiterhin ausführlich darauf zurück, zählte das Umherklettern und sich Verstecken auf dem Bodengebälk. Ich saß oder hockte da, meist mit dem Rücken an einen Rauchfang gelehnt, und war glücklich, wenn die Jungen, die nach mir suchten, mich nicht finden konnten. Aber gerade diese Momente höchsten Triumphs waren es doch auch, die zuletzt wieder eine Gefahr herauf beschworen. Wenn ich da, durch Mauer- und Lattenwerk verborgen, eine Stunde lang und oft noch länger gehockt hatte, kamen, wie sich denken läßt, kleine menschliche Schwachheiten über mich, denen ich so zu sagen auf ordnungsmäßige Weise nicht nachgehen konnte, weil ich mich dadurch meinen unten auf mich wartenden Feinden überliefert haben würde. So denn zwischen zwei Bedrängnisse gestellt, kroch ich zuletzt, aus meinem Halb-Versteck, auf einen möglichst im Schatten liegenden Balken hinaus und nahm hier die Stellung ein, wie die berühmte kleine Brunnenfigur in Brüssel, mich zugleich derselben Beschäftigung unterziehend. Gleich danach verbarg ich mich wieder so gut es ging und wartete da, bis ich, bei endlichem Dunkelwerden, meine Chance wahrnehmen und unten, am Treppenpfeiler, unter dreimaligem Anschlag den Freiplatz erreichen konnte. Das war dann jedesmal ein großer Sieg, aber eine schmerzliche Niederlage heftete sich nur allzu oft an meine Sohlen. Traf es sich nämlich so, daß mein Vater am anderen Tage sein Haus revidierte, vor allem aber die Böden, gegen die er immer ein besondres Mißtrauen unterhielt, so trat er alsbald sinnend an die Stelle, zu deren Häupten ich am Abend vorher gestanden und hielt hier eine seiner herkömmlichen, zunächst gegen das »verdammte Dach, das ihn noch aufzehren werde«, gerichteten Ansprachen, bis ihm mit einem Male der Gedanke kam »sollte vielleicht wieder …?« Und nun begann das Prozessualische. Wurde meine Schuld festgestellt, so traf mich eine Strafe, die die wegen Ball und Fensterscheibe mindestens doublierte.

Solcher Art waren die Vollstreckungen aus der freien Initiative meines Vaters, kleine Exekutionen, die vielleicht auch hätten wegbleiben können, aber gegen die ich, wie schon gesagt, in meinem Gemüte nicht länger murre. Sehr anders verhielt es sich mit den Strafen, an die mein Papa, wie in Ausführung eines richterlichen Befehls, heran mußte. Diese waren schmerzlich und nachhaltig. Eine davon ist mir besonders stark im Gedächtnis geblieben.

Es war schon im Oktober, ein heller, wundervoller Tag, und wir spielten in unserem Garten ein von uns selbst erfundenes, aber freilich nur einmal gespieltes Spiel: »Bademeister und Badegast«. An der Gartentür standen Tisch und Stuhl, auf welch letztrem der Bademeister saß und gegen gesiegelte Marken Zutritt gewährte. War diese Marke gezahlt, so schritt der Badegast über eine auf Holzkloben liegende Bretterlage hin und kam schließlich an den Badeplatz. Dies war ein vorher gegrabenes riesiges Loch von wenigstens 4 Fuß im Quadrat und eben so tief. Das Wasser fand sich von selbst, denn es war Grundwasser, und in diesem Grundwasser stapften wir nun, nach Aufkrempelung unserer Hosen und wie in Vorahnung der Kneippschen Heilmethode, glückselig herum. Aber nicht allzu lange. Meine Mutter hatte, vom Wohnzimmer meines Vaters aus, diesen Badejubel beobachtet und aus Gründen, die mir bis diesen Augenblick ein Geheimnis sind, entschied sie sich dahin: »daß hier ein Exempel statuiert werden müsse«. Hätte sie sich der Ausführung dieses Entscheids nun selber unterzogen, so wäre die Sache nicht schlimm gewesen, die Hand einer Mutter, die rasch dazwischen fährt, tut nicht allzu weh; es ist ein Frühlingsgewitter und kaum hat es eingeschlagen, so ist auch die Sonne schon wieder da. Leider jedoch hatte meine Mutter, und zwar schon Jahr und Tag vor Eröffnung dieser »privaten Badesaison«, den Entschluß gefaßt, nur immer Strafmandate zu erlassen, die Ausführung aber meinem Vater, wie einem dafür Angestellten, zuzuweisen. Das Heranreifen eines solchen Entschlusses in ihr, kann ich mir nur so erklären, daß sie davon ausging, mein sehr zur Bequemlichkeit neigender Vater sei eigentlich »für gar nichts da« und daß sie mit dem allen den Zweck verband, ihn auf den Weg des Pflichtmäßigen hinüber leiten zu wollen. Treff ich es damit, so muß ich sagen, ich halte das von ihr eingeschlagene Verfahren für falsch. Wer die Untat entdeckt und als Untat empfindet, der muß auch auf der Stelle Richter und Vollzieher in einer Person sein. Vergeht aber eine halbe Stunde oder eine ganze und muß nun ein vom Frühschoppen heimkehrender Vater, der eigentlich sagen möchte »seid umschlungen Millionen«, muß dieser unglückselige Vater, auf einen Bericht und eine sich daran knüpfende Pflicht-Ermahnung hin, den Stock oder gar die Reitpeitsche von seinem verstaubten Schreibpult herunternehmen, um nun den alten König von Sparta zu spielen, so ist das eine sehr traurige Situation, traurig für den mit der Exekution Beauftragten und traurig für den, an dem sich der Auftrag vollzieht. Kurz und gut, ich wurde ganz gründlich ins Gebet genommen und als ich aus der Marter heraus war und total verbockt (ein Zustand, den ich sonst nie gekannt habe) in unserer schüttgelben Kinderstube mit dem schwarzen Ofen und dem Alten-Geislerstuhl auf- und abging, erschien meine Mutter und forderte von mir, daß ich nun auch noch hinübergehen und meinem Vater abbitten solle. Das war mir über den Spaß und ich weigerte mich. Schließlich aber redete sie mir freundlich zu und ich tat es. Ich glaube, sie fühlte in ihrem Gerechtigkeitssinne, daß sie viel zu weit gegangen war und weil ihr mein Vater, dem die Sache gewiß geradezu gräßlich war, schon ähnliches gesagt haben mochte, so lag ihr daran, alles baldmöglichst wieder beglichen zu sehn.

All das waren so Proben aus dem verunglückten Detail der Erziehung oder ich könnte auch sagen unerwünschte Leistungen auf dem von beschränkten Leuten so recht eigentlich als »Erziehung« angesehenen Gebiete, weil beschränkte Leute von der Erziehungsvorstellung die Vorstellung der Strafe nicht trennen können. Glücklicherweise kam es zu solchen Szenen nur sehr ausnahmsweise, was ich hier nochmals von ganzem Herzen preise. Regel war, unsere Kreise nicht zu stören und wenn ich nicht in die Schule ging oder gerade Schillersche Balladen lernen mußte, so gehörte meine Zeit der Beschäftigung nach freier Wahl an, der Ungebundenheit, dem Spiel.

***

Mein Vater hing dem Spiel nach; ich auch. Aber während seine Spiele L’hombre, Whist und Boston hießen, des edlen Pharaos ganz zu geschweigen, hießen die meinigen, um nur ein paar zu nennen, Klinker und Knut und Anschlag und Versteck. Kartenspiel, wie’s auch Kinder spielen, war mir immer höchst langweilig, wogegen ich all das, was ich meine Spiele nannte, mit einer Lust und Leidenschaft spielte, die weit über die Kartenspiellust meines Vaters hinausging. Ich war der geborne kleine Akrobat. Von Schulgerechtem konnte dabei keine Rede sein; aber in allem, was einem auf diesem Gebiete, wenn man leidlich gesund ist, von Mutter Natur als Voranlage mitgegeben wird, war ich sehr glücklich ausgestattet. Ich war stärker und gewandter als die Schul- und Straßenjungen, mit denen ich anfänglich (später änderte sich’s) in Berührung kam und diese Kraft und Gewandtheit zu zeigen, war ich in so hohem Maße beflissen, daß ich, im Rückblick auf meine Kinderjahre, diese ganze Zeit nicht als eine Schul- und Lernezeit voll Gequält- und Gedrilltwerdens, sondern als eine Zeit unausgesetzten Spielens vor Augen habe, so sehr überwogen die Spielstunden alles andere, sowohl dem Zeitmaße wie dem Interesse nach.

Noch einmal, es war zumeist meine natürliche Veranlagung für das Turnerische, was mich die gewöhnlichen Knabenspiele mit so viel Lust und Liebe spielen ließ und ich werde davon in diesem und den folgenden Kapiteln noch mancherlei zu berichten haben. Aber in jenem wohlbekannten Widerspruche, der nun mal, einem rätselhaften Naturgesetze folgend, unser Leben und unsere Neigungen durchzieht, in diesem auch bei mir zu Tage tretenden Widerspruche traf es sich so, daß meine zwei leidenschaftlichsten Spielbeschäftigungen in dem einen Falle gar nichts und in dem andern sehr wenig mit Akrobatik und halsbrecherischen Kunststücken zu tun hatten. Denn diese zwei leidenschaftlichsten Beschäftigungen waren: die Buchbinderei (richtiger noch, bloße Papparbeit) und das Versteckspielen.

Die Papparbeit! Mir ganz unerfindlich jetzt, wie mich diese langweiligste Beschäftigung durch Jahre hin so ganz in Anspruch nehmen konnte, daß ich mindestens ein Drittel meiner freien Zeit damit verbracht und mindestens zwei Drittel meines Taschengeldes für Pappe, marmoriertes Papier und Goldborten ausgegeben habe. Nun darf ich zwar hinzusetzen, daß ich den Kleisterpinsel im Dienst einer höheren Idee schwang und daß der meiner Leimtopfarbeit dienende Stubenwinkel eine Art Schutzwaffenfabrik war, wo meine Völker, ich komme weiterhin darauf zurück, wehrhaft gemacht und mit Schilden und Brustharnischen ausgerüstet wurden; aber wiewohl das alles zutrifft, so kann ich doch das Entschuldigungsmoment, das darin liegt, vorm Richterstuhl der Wahrheit kaum gelten lassen, weil ich deutlich fühle, daß ich, auch wenn die Volksausrüstungsfrage mir fern gelegen hätte, dennoch dieselbe Klebebeschäftigung geübt haben würde. Dann freilich wahrscheinlich als Domarchitekt und Kathedralenbauer in Pappe. Ich kann es mir nur so erklären, daß sich ein gewisser Gestaltungsdrang darin aussprach. Es prickelte mich, etwas entstehen zu sehen. Aber vielleicht ist diese Erklärung auch noch zu schmeichelhaft.

Ähnlich ratlos steh ich der Versteckspiel-Passion gegenüber. Denn wenn auch die darauf verwendete Zeit – weil ich die sechs, acht Jungen, die mich aufsuchen mußten, nicht immer zur Hand hatte – viel geringer war, so war doch die Leidenschaft dafür noch viel, viel größer und am größten da, wo sie am unverständlichsten war. Das schon vorgeschilderte Herumklettern in dem in tiefem Schatten liegenden Sparrenwerk des Daches, auch wenn ich dabei, hinter einem Rauchfang oder Lattenverschlag, auf Augenblicke nach Schutz und Deckung suchen mußte, – war kein eigentliches Versteckspiel, trotzdem etwas davon mit vorkam; eigentliches Versteckspiel, nach meiner damaligen Anschauung, war etwas viel Großartigeres, Poetisch-phantastischeres und jedenfalls gleichbedeutend mit einem völligen stundenlangen Verschwinden, wozu der riesige Heuboden, den wir auf unserem Hofe hatten, eine nicht zu übertreffende Gelegenheit bot. Bis unter den First eines langen Stallgebäudes lag das Heu dicht aufgeschichtet, und in die tiefen und engen Löcher, die sich hier und da zwischen den Dachbalken und der Heumasse befanden, ließ ich mich leise hinabgleiten. Da saß ich dann endlos, unter beständigem Herzklopfen, vor Enge und Schwüle beinahe erstickend und immer nur durch die glückselige Vorstellung aufrecht erhalten »und wenn sie dich suchen bis an den jüngsten Tag, sie finden dich nicht«. Und sie fanden mich auch wirklich nicht, gaben zuletzt alles Suchen auf, brachen das Spiel ab und gingen in die Küche, wo sie, Schemel und Fußbänke an den Herd rückend, unter Verwünschungen gegen mich ihr Vesperbrot verzehrten. Ich aber, wenn ich an dem Stillwerden in Hof und Garten merkte, daß man die Jagd auf mich aufgegeben hatte, wand mich aus meinem Heuloche wieder heraus und erschien nun unter ihnen mit dem Ausdruck höchster Geringschätzung. Ich tue wieder die Frage, worin wurzelt da das Glück?

Begreiflicher als die Versteckspiel-Freude war die Lust am Klettern, wozu, neben anderem, die dicht vor unserem Hause stehenden Kastanienbäume mich geradezu herausforderten. Auf den unteren Ästen sich einlogieren, das konnte jeder; aber von der höchsten Spitze her einen blühenden Zweig herunterholen, das war ein lohnender Ehrgeiz, dem ich beinahe mal zum Opfer fiel. Unter dem Baume stand der alte Pietzker, unser Nachbar, ein Holländer, der einen Handel mit Eidamer Käse trieb und nach Art der französischen Bauern immer in einer weißen Zipfelmütze einherging. Er war mein guter Freund und rief mir, in den Baum hinauf, zu »ich sollte mich in Acht nehmen, Kastanienholz bräche leicht«.

Es war gut gemeint, aber kam zu spät. Denn im selben Augenblicke gab es auch schon ein Knicken und Knacken und ganz zuletzt noch einmal auf den Hauptast des Baumes aufschlagend, stürzte ich, von oben herab, auf den steinharten Boden, steinhart, weil 10 Fuß breit um das Haus herum Müll und Ziegelschutt aufgeschüttet war. Ich lag da für tot und rührte mich nicht, der Umstand indes, daß das viele kleine Gezweige zunächst die Vehemenz des Sturzes gemindert hatte, hatte mich doch gerettet und nach kurzer Zeit schlug ich die Augen auf und Pietzker trug mich in die Apotheke, wo man mir mit Salmiakgeist weiter aufzuhelfen trachtete. Geschah auch. Als ich aber über Rücken- und Rippenschmerzen klagte, sagte Pietzker: »Da hilft bloß Mierenspiritus.« Und ehe ich »ja oder nein« sagen konnte, wurde ich damit übergossen. Ich hatte immer noch Schmerzen, war jedoch wieder beweglich geworden und konnte, wenn auch freilich nur mit Anstrengung, beim Abendbrot, bei dem die Eltern glücklicherweise fehlten, erscheinen. Es war gerade die schon in einem früheren Kapitel erwähnte Milchsuppenzeit, was an und für sich gut paßte. Zugleich aber war es auch der Tag, wo aus der herkömmlichen Folge von Reis, Gries, Hirse, gerade die Hirse an der Reihe war, und mit einem Male merkend, daß sich, wohl in weiterer Folge meines Sturzes, die Vorderhälfte des einen Backzahns ablöste, fühlte ich auch schon, wie sich ein Hirsekorn in die offene Stelle einsenkte. Unter furchtbaren Schmerzen verbrachte ich die Nacht und war am andern Tag ein Bild des Jammers. Dazu kam noch die beständige Furcht, ich könnte wegen Kletterns, das natürlich verboten war, abgestraft werden. Das unterblieb aber. Mein Vater trat vielmehr, als ich unglücklich dasaß, zu mir heran und sagte: »Pietzker hat mir alles erzählt. Du wirst noch den Hals brechen. Wo tut’s denn weh?«

Er hatte geglaubt, daß ich auf Kopf und Rücken zeigen würde, ich zeigte aber auf den Zahn und erzählte ihm, daß die Vorderhälfte abgebrochen sei.

»Nun das ist nicht schlimm. Da muß die andere Hälfte auch raus. Dann bist du’s los. Weh tut es. Aber das ist die Strafe.«

Wie wir draußen spielten, an Strom und Strand

Es ist ein hübsches Wort, daß die Kinder ihren Engel haben und man braucht nicht sehr gläubig zu sein, um es zu glauben. Für die Kleinen ist dieser Engel eine mit einem langen weißen Lilienschleier angetane Fee, die lächelnd zu Füßen einer Wiege steht und entweder vor Gefahr bewahrt oder wenn sie schon da ist, aus ihr hilft. Das ist die Fee für die Kleinen. Ist man aber aus der Wiege, beziehungsweise dem Bettchen heraus und schläft man bereits in einem richtigen Bett, mit andern Worten ist man ein derber Junge geworden, so braucht man freilich auch noch seinen Engel, ja, man braucht ihn erst recht, aber statt des Lilien-Engels muß es nun eine Art Erzengel sein, ein starker, männlicher Engel, mit Schild und Speer, sonst reicht seine Kraft für seine mittlerweile gewachsenen Aufgaben nicht mehr aus. Ich war nicht eigentlich wild und wagehalsig und alle meine Kunststücke, die mir als etwas Derartiges angerechnet wurden, geschahen immer nur in kluger Abmessung meiner Kräfte, trotzdem hab ich, im Rückblick auf jene Zeit, das Gefühl eines beständigen Gerettetwordenseins, ein Gefühl, in dem ich mich auch schwerlich irre. Denn als ich mit 12 Jahren aus dem elterlichen Hause kam, in einem Alter also wo die Fährlichkeiten recht eigentlich erst zu beginnen pflegen, wird es mit einem Male ganz anders, so sehr, daß es mir vorkommt, als habe mein Engel von jenem Zeitpunkt ab wie Ferien gehabt; alle Gefahren hören entweder ganz auf oder schrumpfen doch so zusammen, daß sie mir keinen Eindruck hinterlassen haben. Es muß also, bei dem Dichtnebeneinanderliegen dieser Zeitläufte, doch wohl ein Unterschied gewesen sein, der mir so ganz verschiedene Gefühle zurückgelassen hat.

Aus sogenannten Schlüsselbüchsen schießen, war ein Hauptvergnügen. Es wird solche Schlüsselbüchsen unter Großstadtskindern kaum noch geben und deshalb möcht ich sie hier beschreiben dürfen. Es waren Hohlschlüssel von ganz dünner Wandung, also so zu sagen mit ungeheurer Seele, womit die Wäschetruhen und namentlich die Truhen der Dienstmädchen zugeschlossen wurden. Solche Schlüssel uns anzueignen, war unser beständiges Bemühen, worin wir bis zur Piraterie gingen. Wehe dem armen Dienstmädchen, das den Schlüssel abzuziehen vergaß, – sie sah ihn nie wieder. Wir bemächtigten uns seiner und durch die einfache Prozedur eines Zündloch-Einfeilens, war nun die Schußwaffe hergestellt. Da diese Schlüssel immer rostig, mitunter auch schon ausgesplittert waren, so war es nichts Seltenes, daß sie sprangen; wir kamen aber immer heil davon. Der Engel half.

Ungleich gefährlicher waren die beständig geübten Feuerwerkskünste. Ich hatte mich mit Hülfe von Schwefel und Salpeter, die wir in der Apotheke bequem zur Hand hatten, zu einem vollständigen Pyrotechniker herangebildet, dabei von meiner Papp- und Kleisterkunst sehr wesentlich unterstützt. Alle Sorten von Hülsen wurden mit Leichtigkeit hergestellt und so entstanden Sonnen, Feuerräder und pot à feu’s. Oft weigerten sich diese Schöpfungen, ihre ihnen zugemutete Schuldigkeit zu tun, und wir warfen sie dann zusammen und zündeten den ganzen Haufen mißglückter Herrlichkeit mit einem Schwefelfaden an, abwartend, was draus werden würde. All das war ziemlich gefahrlos. Desto gefahrvoller für uns war aber das, was in der Pyrotechnik als das einfachste und niedrigststehende Produkt gilt und auch von uns so angesehen wurde: der Schwärmer. Dieser, wenn ich die Mischung verfehlt haben mochte, wollte häufig nicht recht brennen, was mich immer sehr verdroß. Wenn sich ein Feuerrad zu drehen weigerte, nun, das ging allenfalls; ein Feuerrad war eine vergleichsweise künstliche Sache, ein Schwärmer aber mußte brennen und wenn er trotzdem nicht wollte, war das eine Schändlichkeit, die man nicht hinnehmen durfte. So bückte ich mich denn über die in einen Sandhaufen gesteckten Hülsen und begann zu pusten, um dem erlöschenden Zündschwamm neues Leben zu geben. Erlosch er dabei völlig, so war das eigentlich das beste, ging es aber plötzlich los, so wurde mir das Haar versengt oder die Stirn verbrannt. Schlimmeres kam nicht vor. Der Engel schützte mich eben mit seinem Schild.

Das war das Element des Feuers. Aber auch mit dem Wasser machten wir uns zu schaffen, was in einer Seestadt nicht Wunder nehmen durfte.

Herbst 31 war mir von einem Berliner Anverwandten eine Kanone als Geschenk verehrt worden, nicht etwa ein gewöhnliches Kinderspielzeug, wie man es beim ersten besten Kupferschmied oder Zinngießer kaufen kann, sondern eine sogenannte Modell-Kanone, wie man ihnen nur in Zeughäusern begegnet, – ein wahres Prachtstück an Schönheit und Eleganz, die Lafette fest und sauber, das Geschützrohr blitzblank und wohl fast anderthalb Fuß lang. Ich war selig und beschloß alsbald zu einem Bombardement von Swinemünde zu schreiten. Zwei Jungens meines Alters und mein jüngerer Bruder bestiegen mit mir ein an »Kiempins Klapp« liegendes Boot und nun fuhren wir, die Kanone vorn am Steven, flußabwärts. Als wir etwa in Höhe des Gesellschaftshauses waren, hielt ich die Zeit zum Beginn der Beschießung für gekommen und gab drei Schuß ab, bei jedem Schuß abwartend, ob wir vom Bollwerk aus beobachtet und in dem Ernst unsres Tuns gewürdigt würden. Beides blieb jedoch aus. Was aber nicht ausblieb, das war, daß wir inzwischen in die Strömung hineingeraten waren und von dieser gefaßt und getrieben, uns mit einem Male zwischen den Molendämmen sahen. Und nun erfaßte mich eine furchtbare Angst. Ging das so weiter, so waren wir in 10 Minuten draußen und konnten dann auf Bornholm und die schwedische Küste zufahren. Es war eine ganz verteufelte Situation, und wir griffen zuletzt zu dem wenigst tapferen, aber doch schließlich verständigsten Mittel und begannen ungeheuer zu schreien, zugleich winkend und schwenkend, und erwiesen uns überhaupt als geradezu erfinderisch in Notsignalen. Endlich wurden wir von einigen auf der Westmole stehenden Lotsen bemerkt, die nun mit dem Finger drohten, aber doch auch vergnüglich dreinschauend, uns schließlich ein Tau zuwarfen. Und damit waren wir aus der Gefahr heraus. Einer der Lotsen kannte mich, weil sein Junge zu meinen Spielgefährten gehörte. Das machte denn auch wohl, daß wir mit ein paar nicht allzu schlimmen Ehrentiteln davonkamen. Ich nahm meine Kanone unter den Arm und hatte noch die Befriedigung, sie bewundert zu sehen. Dann ging ich nach Hause, nachdem ich versprochen hatte, Hans Ketelböter, einen großen Schiffersjungen, der ganz in unsrer Nähe wohnte, hinauszuschicken, um das inzwischen an einem Pfahl befestigte Boot zurückzurudern. – Dies war unter den Wasserfährlichkeiten die aparteste, aber keineswegs die gefährlichste. Die gefährlichste war zugleich die alleralltäglichste, weil beim Baden in der See beständig wiederkehrende. Wer die Ostseebäder kennt, kennt auch die sogenannten »Reffs«. Es werden darunter die hundert oder zweihundert Schritt in See hinein, parallel mit dem Ufer laufenden und oft nur von wenig Wasser überspülten Sandstreifen verstanden, auf denen die Badenden, wenn sie die zwischenliegenden tiefen Stellen passiert haben, wieder ausruhen können. Und damit sie genau wissen, wo diese Stellen sind, sind rote Fähnchen auf diesen Sandriffen angebracht. Hier lag nun für mich die tägliche Verführung. War es still und alles normal, so reichten meine Schwimmkünste gerade aus, glücklich über die tiefen Stellen wegzukommen und das zunächst gelegene Reff zu erreichen, lag es aber minder günstig oder ließ ich mich wohl gar aus Zufall zu früh nieder, so daß ich keinen festen Grund unter den Füßen hatte, so war auch der Schreck und mitunter die Todesangst da. Glücklich bin ich jederzeit herausgekommen. Aber nicht durch mich. Kraft und Hülfe kamen von wo anders her.

***

Eine weitere Wassergefahr, die zu bestehen mir noch beschieden war, hatte nichts mit der See zu tun, sondern spielte sich auf dem Strom ab, dicht am Bollwerk, keine 500 Schritt von unserm Hause. Davon erzähle ich auch noch in diesem Kapitel, aber zuvörderst schiebe ich hier ein anderes kleines Vorkommnis ein, bei dem kein Engel zu helfen brauchte.

Schwimmen konnte ich nicht recht und steuern und rudern auch nicht; zu den Dingen aber, auf die ich mich gut, ja sehr gut verstand, gehörte das Stelzenlaufen. Unserer Familientradition nach stammen wir, wie erzählt, aus der Gegend von Montpellier, während ich persönlich, meinem virtuosen Stelzenlaufen nach, eigentlich aus den Landes stammen müßte, wo die Menschen wie mit ihren Stelzen verwachsen sind und diese kaum abschnallen, wenn sie sich zur Ruhe legen. Also kurz und gut, ich war ein brillanter Stelzenläufer und hatte vor denen in der westlichen Garonne-Gegend, wo die sehr niedrigen »échasses« zu Hause sind, noch das voraus, daß ich den Kothurn nicht hoch genug kriegen konnte, denn die an der Innenseite meiner Stelzen befestigten Holzklötzchen saßen wohl drei Fuß hoch. Und nun unter Anlauf und gleichzeitiger Schräglegung und Einstemmung der beiden Stangen, brachte ich es dahin, mich mit Sicherheit auf die Stelzenklötze hinaufschwingen und sofort meinen Riesenschritt antreten zu können. Für gewöhnlich war das nichts als eine brotlose Kunst, aber ein paar Mal hatte ich doch Vorteil davon, indem ich mich, mit Hülfe meiner Stelzen, einem sich über mir zusammenziehenden Gewitter entziehen konnte. Das war in den Tagen, als Hauptmann Ferber, der bis dahin bei den »Neufchatellern« gestanden, sich als Pensionär nach Swinemünde zurückgezogen hatte.

Ferber, den die Swinemünder um seiner Neufchatellerschaft willen französierten und Teinturier nannten, war aus sehr guter Familie, wenn ich nicht irre Sohn eines hohen Beamten im Finanzministerium, welcher letztre sich außerdem noch, aus den anno 13er Kriegszeiten her, alter Beziehungen zum Hofe rühmen durfte. Dies war auch wohl Grund, daß dem Sohne, trotz Nicht-Adels und deutscher Abstammung (die Neufchateller Offiziere waren damals noch vorwiegend französische Schweizer) der Eintritt in das Elite-Bataillon ermöglicht wurde. Hier war er wohl gelitten, weil er klug, guter Kamerad und außerdem sogar Schriftsteller war. Er schrieb Novellen nach damals üblichen Mustern. Aber aller Wohlgelittenheit zum Trotz, konnte er sich nicht halten, weil seine Vorliebe für Kaffee mit Cognac, die sich bald auf letzteren beschränkte, so rapide wuchs, daß er den Abschied nehmen mußte. Seine Übersiedlung nach Swinemünde hatte wohl darin ihren Grund, daß Seestädte für derartige Passionen besser passen als Binnenstädte. Cognacvorliebe fällt da weniger auf.

Gleichviel indessen was der Grund sein mochte, Ferber war an seinem neuen Wohnort bald ebenso beliebt, wie vorher in Berlin, denn er hatte jene Charaktergütigkeit, die »der Flasche liebstes Kind« ist. Von meinem Papa hielt er sehr viel, was dieser erwiderte. Doch war diese Freundschaft nicht gleich von Anfang an da, sondern entwickelte sich erst aus einer kleinen Kontroverse bez. Niederlage meines Vaters, zu dessen liebenswürdigen Eigentümlichkeiten es gehörte, seinen Ärger über eine »Deroute« spätestens nach 24 Stunden in Anerkennung und beinahe Huldigung umzusetzen. Mit dieser Niederlage aber verhielt es sich so. Von Seiten Ferbers war eines Tages behauptet worden, daß man wohl oder übel, einen Deutschen als den »Vater der französischen Revolution« ansehen müsse, denn Minister Necker, wenn auch in Genf geboren, sei der Sohn oder Enkel eines Küstriner Postmeisters gewesen, – eine, so schien es meinem Vater, ganz stupende Behauptung, die denn auch seinerseits mit beinahe überheblicher Miene bekämpft worden war, bis sie sich schließlich als im wesentlichen richtig herausstellte. Da schlug denn sofort bei meinem Papa das aus seiner Überzeugung von seinem besseren Wissen erwachsene Selbstgefühl zunächst in Respekt, dann in Freundschaft um, und noch 20 Jahre später, wenn wir, von unserem Oderbruch-Dorfe aus, nach dem benachbarten Küstrin hineinfuhren, sagte er regelmäßig, ohne je bei Kronprinz Fritz oder Kattes Enthauptung zu verweilen: »ja, hier aus Küstrin stammte auch Necker, den man ›den Vater der französischen Revolution nennen kann‹. Das verdanke ich Ferber, Hauptmann Ferber, den wir Teinturier nannten. Schade, daß er von dem Aquavit nicht lassen konnte. Mitunter war es ein Jammer.«

Ja, ein Jammer war es, nur nicht für uns Kinder, die wir, umgekehrt, immer in einen Jubel ausbrachen, wenn der Hauptmann, in oft ziemlich desolatem Kostüm, die große Kirchenstraße heraufgetaumelt kam, um irgendwo seine Frühstücksstunde fortzusetzen. Wir folgten ihm dann in kurzer Entfernung und neckten und reizten ihn so lange, bis er den einen oder andern von uns zu fangen und abzustrafen suchte. Mitunter gelang es ihm auch; ich aber entkam ihm jedesmal mit Leichtigkeit, weil ich für meine Neckereien immer nur solche Tage wählte, wo es kurz vorher stark geregnet hatte. Dann stand auf dem Straßendamme, zwischen unserm Haus und der Kirche drüben ein ungeheurer Wasserpfuhl, der nun mein Nothafen wurde. Meine Stelzen schräg unterm Arm, sprang ich auf diese, sobald ich merkte, daß mir Teinturier, trotz seines Zustandes dicht auf den Fersen war, mit einem raschen Rucke hinauf und marschierte nun triumphierend in den Wasserpfuhl hinein. Da stand ich dann wie ein Storch auf einem Stelzen und präsentierte mit dem andern unter fortgesetzter Verhöhnung. Fluchend und drohend zog er weiter, der arme Hauptmann. Aber er hütete sich, seine Drohung wahrzumachen, weil er sich, in seinen guten Stunden, nicht gern an die schlimmen erinnern mochte.

***

Wir hatten verschiedene Spielplätze. Der uns liebste war aber wohl der am Bollwerk und zwar gerade da, wo die mehrerwähnte von unserm Hause abzweigende Seitenstraße einmündete. Die ganze Stelle war sehr malerisch, besonders auch im Winter, wo hier die festgelegten und ihrer Obermasten entkleideten Schiffe lagen, oft drei hintereinander, also bis ziemlich weit in den Strom hinein. Uns hier am Bollwerk herumzutummeln und auf den ausgespannten Tauen, so weit sie dicht über dem Erdboden hinliefen, unsere Seiltänzerkünste zu üben, war uns gestattet und nur eines stand unter Verbot: wir durften nicht auf die Schiffe gehn und am wenigsten die Strickleiter hinauf bis in den Mastkorb klettern. Ein sehr vernünftiges Verbot. Aber je vernünftiger es war, desto größer war unser Verlangen, es zu übertreten und bei »Räuber und Wandersmann«, das wir alle sehr liebten, verstand sich diese Übertretung beinahe von selbst. Entdeckung lag überdies außerhalb der Wahrscheinlichkeit; die Eltern waren entweder bei ihrer »Partie« oder zu Tisch geladen. »Also nur vorwärts. Und petzt einer, so kommt er noch schlimmer weg als wir.«

So dachten wir auch eines Sonntags im April 31. Es muß um diese Jahreszeit gewesen sein, weil mir noch der klare und kalte Luftton deutlich vor Augen steht. Auf dem Schiffe war keine Spur von Leben und am Bollwerk keine Menschenseele zu sehn, was mir des ferneren beweist, daß es ein Sonntag war.

Ich, als der älteste und stärkste, war natürlich Räuber und acht oder zehn kleinere Jungens – unter denen nur ein einziger, ein Illegitimer, der, wie zu Begleichung seiner Geburt, Fritz Ehrlich hieß, es einigermaßen mit mir aufnehmen konnte – waren schon vom Kirchplatz her, wo wie gewöhnlich die Jagd begonnen hatte, dicht hinter mir her. Ziemlich abgejagt kam ich am Bollwerk an und weil es hier keinen anderen Ausweg für mich gab, lief ich, über eine breite und feste Bohlenlage fort, auf das zunächst liegende Schiff hinauf. Die ganze Meute mir nach, was natürlich zur Folge hatte, daß ich vom ersten Schiff alsbald aufs zweite und vom zweiten aufs dritte mußte. Da ging es nun nicht weiter und wenn ich mich meiner Feinde trotzdem erwehren wollte, so blieb mir nichts anderes übrig, als auf dem Schiffe selbst nach einem Versteck oder wenigstens nach einer schwer zugänglichen Stelle zu suchen. Und ich fand auch so was und kletterte auf den etwa mannshohen, neben der Kajüte befindlichen Oberbau hinauf, darin sich, neben andren Räumlichkeiten, gemeinhin auch die Schiffsküche zu befinden pflegte. Etliche, in die steile Wandung eingelegte Stufen erleichterten es mir. Und da stand ich nun oben, momentan geborgen und sah als Sieger auf meine Verfolger. Aber das Siegesgefühl konnte nicht lange dauern; die Stufen waren wie für mich so auch für andre da und in kürzester Frist stand Fritz Ehrlich ebenfalls oben. Ich war verloren, wenn ich nicht auch jetzt noch einen Ausweg fand und mit aller Kraft und so weit der schmale Raum es zuließ einen Anlauf nehmend, sprang ich, von dem Küchenbau her, über die zwischenliegende Wasserspalte hinweg auf das zweite Schiff zurück und jagte nun wie von allen Furien verfolgt, wieder aufs Ufer zu. Und nun hatt ich’s, und den Frei-Platz vor unserm Hause zu gewinnen, war nur noch ein kleines für mich. Aber ich sollte meiner Freude darüber nicht lange froh werden, denn im selben Augenblicke fast, wo ich wieder festen Boden unter meinen Füßen hatte, hörte ich auch schon von dem dritten und zweiten Schiff her ein jämmerliches Schreien und dazwischen meinen Namen, so daß ich wohl merkte, da müsse was passiert sein. Und so schnell wie ich eben über die polternde Bohlenlage ans Ufer gekommen, eben so schnell ging es auch wieder über dieselbe zurück. Es war höchste Zeit. Fritz Ehrlich hatte mir den Sprung von der Küche her nachmachen wollen und war dabei, weil er zu kurz sprang, in die zwischen dem dritten und zweiten Schiff befindliche Wasserspalte gefallen. Da steckte nun der arme Junge, mit seinen Nägeln in die Schiffsritzen hineingreifend; denn an schwimmen, wenn er überhaupt schwimmen konnte, war nicht zu denken. Dazu das eiskalte Wasser. Ihn von obenher so ohne weiteres abzureichen, war unmöglich und so griff ich denn nach einem von der einen Strickleiter etwas herabhängenden Tau und ließ mich, meinen Körper durch allerlei Künste nach Möglichkeit verlängernd, an der Schiffswand so weit herab, daß Fritz Ehrlich meinen am weitesten nach unten reichenden linken Fuß gerade noch fassen konnte. Oben hielt ich mich mit der rechten Hand. »Pack zu, Fritz.« Aber der brave Junge, der wohl einsehen mochte, daß wir beide verloren waren, wenn er wirklich fest zupackte, beschränkte sich darauf, seine Hand leise auf meine Stiefelspitze zu legen und so wenig dies war, so war es doch gerade genug für ihn, sich über Wasser zu halten. Vielleicht war er auch, aus natürlicher Beanlagung, ein sogenannter »Wassertreter« oder hatte, was schließlich noch wahrscheinlicher, das bekannte Glück der Illegitimen. Gleichviel, er blieb in der Schwebe, bis Leute vom Ufer her herankamen und ihm einen Bootshaken herunterreichten, während andre ein an »Hannemanns Klapp« liegendes Boot losmachten und in den Zwischenraum hineinfuhren, um ihn da herauszufischen. Ich meinerseits war in dem Augenblick, wo der rettende Bootshaken kam, von einem mir Unbekannten, von oben her, am Kragen gepackt und mit einem strammen Ruck wieder auf Deck gehoben worden. Von Vorwürfen, die sonst bei solchen Gelegenheiten nicht ausbleiben, war diesmal keine Rede. Den triefenden, von Schüttelfrost gepackten Fritz Ehrlich brachten die Leute nach einem ganz in der Nähe gelegenen Hause, während wir andern, in kleinlauter Stimmung, unsren Heimweg antraten. Ich freilich auch gehoben, trotzdem ich wenig Gutes von der Zukunft erwartete.

Meine Befürchtungen erfüllten sich aber nicht. Im Gegenteil.

Am andern Vormittag, als ich in die Schule wollte, stand mein Vater schon im Hausflur und hielt mich fest, denn Nachbar Pietzker, der gute Zipfelmützenmann, hatte wieder geplaudert. Freilich mehr denn je in guter Absicht.

»Habe von der Geschichte gehört …« sagte mein Vater. »Alle Wetter, daß du nicht gehorchen kannst. Aber es soll hingehen, weil du dich gut benommen hast. Weiß alles. Pietzker drüben …«

Und damit war ich entlassen.

Wie gerne denk’ ich daran zurück, nicht um mich in meiner Heldentat zu sonnen, sondern in Dank und Liebe zu meinem Vater. So muß Erziehung sein. Der liebenswürdige Mann, wenn er zum Strafen abkommandiert wurde, traf er’s nicht immer glücklich, wenn er aber seinem unmittelbaren Gefühle folgen konnte, traf er’s desto besser.

Silvesternacht

Das Dorf ist still, still ist die Nacht,

Die Mutter schläft, die Tochter wacht,

Sie deckt den Tisch, sie deckt für zwei,

Und sehnt die Mitternacht herbei.

Wem gilt die Unruh? wem die Hast?

Wer ist der mitternächt’ge Gast?

Ob ihr sie fragt, sie kennt ihn nicht,

Sie weiß nur, was die Sage spricht.

Die spricht: Wenn wo ein Mädchen wacht

Um zwölf in der Silvesternacht,

Und wenn sie deckt den Tisch für zwei,

Gewahrt sie, wer ihr Künft’ger sei.

Und hätt’ ihn nie gesehn die Maid,

Und wär’ er hundert Meilen weit,

Er tritt herein und schickt sich an,

Und ißt und trinkt, und scheidet dann. –

Zwölf schlägt die Uhr, sie horcht erschreckt,

Sie wollt’, ihr Tisch wär’ ungedeckt;

Es überfällt sie Angst und Graun,

Sie will den Bräutigam nicht schaun.

Fort setzt der Zeiger seinen Lauf,

Niemand tritt ein, sie atmet auf,

Sie starrt nicht länger auf die Tür –

Herr Gott, da sitzt er neben ihr.

Sein Aug’ ist glüh, blaß sein Gesicht,

Sie sah ihn all ihr Lebtag nicht,

Er blitzt sie an und schenket ein

Und spricht: »Heut nacht noch bist du mein.

Ich bin ein stürmischer Gesell’,

Ich wähle rasch und freie schnell,

Ich bin der Bräut’gam, du die Braut,

Und bin der Priester, der uns traut.«

Er faßt sie um – ein einz’ger Schrei,

Die Mutter hört’s und kommt herbei;

Zu spät, verschüttet liegt der Wein,

Tot ist die Tochter und – allein.

Edward, Edward

(Altschottisch)

Was blinket dein Schwert so rot von Blut,

Edward, Edward?

Was blinket dein Schwert so rot von Blut

Und macht so trübe dich schreiten?

»Ich habe erwürgt meinen Falken gut,

Mutter, Mutter,

Ich habe erwürgt meinen Falken gut,

Und hatte doch keinen zweiten.«

Deines Falken Blut war nimmer so rot,

Edward, Edward,

Deines Falken Blut war nimmer so rot,

Dein Schwert ist dunkler gerötet.

»Ich hab’ erstochen mein rotbraun Roß,

Mutter, Mutter,

Ich hab’ erstochen mein rotbraun Roß,

Im Zorn hab’ ich’s getötet.«

Dein Roß war alt, das kann es nicht sein,

Edward, Edward,

Dein Roß war alt, das kann es nicht sein,

Was tät deine Wang’ entfärben?

»Ich hab’ erschlagen den Vater mein,

Mutter, Mutter,

Ich hab’ erschlagen den Vater mein,

Und mir ist weh zum Sterben!«

Und so du büßest, was du getan,

Edward, Edward,

Und so du büßest, was du getan,

Wo hoffst du Sühne zu finden?

»Ich geh an den Strand und steig in den Kahn,

Mutter, Mutter,

Ich geh’ an den Strand und steig’ in den Kahn,

Und gebe mein Schiff den Winden.«

Und was soll werden aus Hall und Turm,

Edward, Edward,

Und was soll werden aus Hall und Turm,

Wenn Wind und Wellen dich wiegen?

»Laß stehn, laß stehn, bis sie fallen im Sturm,

Mutter, Mutter,

Laß stehn, laß stehn, bis sie fallen im Sturm,

Ich hab’ sie zum Letzten bestiegen.«

Und Weib und Kind, die du lässest zurück,

Edward, Edward,

Und Weib und Kind, die du lässest zurück,

Was soll aus den Weinenden werden?

»Laß sie betteln gehn nach Brot und Glück,

Mutter, Mutter,

Laß sie betteln gehn nach Brot und Glück,

Ich seh’ sie nicht wieder auf Erden.«

Und deiner Mutter, was lässest du ihr,

Edward, Edward,

Und deiner Mutter, was lässest du ihr,

Die dich unterm Herzen getragen?

»Den Fluch der Hölle, den lass’ ich dir,

Mutter, Mutter,

Die Tat war mein, doch du rietest sie mir,

Wir haben ihn beide erschlagen.«

Die drei Raben

Drei Raben saßen auf einem Baum,

Drei schwärzere Raben gab es kaum.

Der eine sprach zu den andern zwei’n:

»Wo nehmen wir unser Frühmahl ein?«

Die andern sprachen: »Dort unten im Feld

Unterm Schilde liegt ein erschlagener Held.

Zu seinen Füßen liegt sein Hund

Und hält die Wache seit mancher Stund’.

Und seine Falken umkreisen ihn scharf,

Kein Vogel, der sich ihm nahen darf.«

Sie sprachen’s. Da kam eine Hinde daher,

Unterm Herzen trug sie ein Junges schwer.

Sie hob des Toten Haupt in die Höh

Und küßte die Wunden, ihr war so weh.

Sie lud auf ihren Rücken ihn bald

Und trug ihn hinab zwischen See und Wald.

Sie begrub ihn da vor Morgenrot,

Vor Abend war sie selber tot.

Gott sende jedem Ritter zumal

Solche Falken und Hunde und solches Gemahl.

Archibald Douglas

»Ich hab’ es getragen sieben Jahr,

Und ich kann es nicht tragen mehr!

Wo immer die Welt am schönsten war,

Da war sie öd’ und leer.

Ich will hintreten vor sein Gesicht

In dieser Knechtsgestalt,

Er kann meine Bitte versagen nicht,

Ich bin ja worden alt.

Und trüg’ er noch den alten Groll,

Frisch wie am ersten Tag,

So komme, was da kommen soll,

Und komme, was da mag.«

Graf Douglas spricht’s. Am Weg ein Stein

Lud ihn zu harter Ruh,

Er sah in Wald und Feld hinein,

Die Augen fielen ihm zu.

Er trug einen Harnisch rostig und schwer,

Darüber ein Pilgerkleid. –

Da horch! vom Waldrand scholl es her

Wie von Hörnern und Jagdgeleit.

Und Kies und Staub aufwirbelte dicht,

Her jagte Meut’ und Mann,

Und ehe der Graf sich aufgericht’t,

Waren Roß und Reiter heran.

König Jakob saß auf hohem Roß,

Graf Douglas grüßte tief;

Dem König das Blut in die Wange schoß,

Der Douglas aber rief:

»König Jakob, schaue mich gnädig an

Und höre mich in Geduld,

Was meine Brüder dir angetan,

Es war nicht meine Schuld.

Denk nicht an den alten Douglas-Neid,

Der trotzig dich bekriegt,

Denk lieber an deine Kinderzeit,

Wo ich dich auf den Knien gewiegt.

Denk lieber zurück an Stirlingschloß,

Wo ich Spielzeug dir geschnitzt,

Dich gehoben auf deines Vaters Roß

Und Pfeile dir zugespitzt.

Denk lieber zurück an Linlithgow,

An den See und den Vogelherd,

Wo ich dich fischen und jagen froh

Und schwimmen und springen gelehrt.

O denk an alles, was einsten war,

Und sänftige deinen Sinn –

Ich hab’ es gebüßet sieben Jahr,

Daß ich ein Douglas bin.«

»Ich seh’ dich nicht, Graf Archibald,

Ich hör’ deine Stimme nicht,

Mir ist, als ob ein Rauschen im Wald

Von alten Zeiten spricht.

Mir klingt das Rauschen süß und traut,

Ich lausch’ ihm immer noch,

Dazwischen aber klingt es laut:

Er ist ein Douglas doch.

Ich seh’ dich nicht, ich höre dich nicht,

Das ist alles, was ich kann –

Ein Douglas vor meinem Angesicht

Wär’ ein verlorener Mann.«

König Jakob gab seinem Roß den Sporn,

Bergan ging jetzt sein Ritt,

Graf Douglas faßte den Zügel vorn

Und hielt mit dem Könige Schritt.

Der Weg war steil, und die Sonne stach,

Und sein Panzerhemd war schwer,

Doch ob er schier zusammenbrach,

Er lief doch nebenher.

»König Jakob, ich war dein Seneschall,

Ich will es nicht fürder sein,