Food Feelings - Cornelia Fiechtl - E-Book

Food Feelings E-Book

Cornelia Fiechtl

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Beschreibung

"Emotionales Essen ist eine Krisenantwort Ihres Körpers, die hocheffizient ist. Um es auf den Punkt zu bringen: Es ist eine Strategie Ihres Körpers, Sie zu schützen." Die Arbeit ist stressig? In der Beziehung gibt es Krach? Der eigene Körper entspricht nicht den Idealvorstellungen? Die Disziplin in Sachen Ernährung fehlt? Plötzlich ist da dieser innere Drang zu essen, der unkontrollierbar erscheint und sich z.B. in ungezügelten Essanfällen äußert. Ist dann eine ganze Tafel Schokolade aufgegessen oder eine ganze Kekspackung vernichtet, regen sich Schuldgefühle – warum hatte man sich nicht unter Kontrolle? Die Ernährungspsychologin Cornelia Fiechtl ist Spezialistin für emotionales Essverhalten. Sie kennt Anzeichen, Verhaltensweisen und auch die dunklen Gefühle, die mit dem Kontrollverlust beim Essen einhergehen. Mit Sachkenntnis geht sie den Gründen für emotionales Essverhalten nach, zeigt, warum psychischer und physischer Hunger nicht dasselbe sind, räumt mit dem Irrglauben auf, dass man der Lust auf Süßes und Fettiges nicht nachgeben darf und begleitet alle, die einen Weg hin zu ungezwungener Ernährung frei von schlechtem Gewissen gehen wollen.

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CORNELIA FIECHTL

Food Feelings

Wie Emotionen bestimmen, was wir essen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Teil I: Emotionales Essverhalten verstehen

Gedanken tanken

Ein Blick hinter die Kulissen

Automatikmodus Essdrang

Warum Essdrang ohne Vorwarnung zuschlägt

Emotionales Essen rehabilitieren

Die Unterscheidung zwischen Heißhunger und Essdrang

Heißhunger

Essdrang

Die Begleiter des Essdrangs

Essdrang – die zwei Typen

Ihre Reise beginnt

Teil II: Diet first

Gedanken tanken

Die negative Energiebilanz: Das Prinzip funktioniert, nur anders als gedacht

Die vier Phasen einer Diät

Phase 1: Eine Diät starten & das letzte Abendmahl genießen

Phase 2: Das machtvolle Hochgefühl

Phase 3: Die Blase verlassen und vom Leben eingeholt werden

Phase 4: Sich gelegentlich Essanfälle gönnen

Gezügeltes Essverhalten ablegen

Zurück zum achtsamen und intuitiven Essverhalten

Schritt 1: Eine aktive Entscheidung treffen

Schritt 2: Eine bestärkende Umgebung schaffen & Vorbereitungen treffen

Schritt 3: Die Körperwahrnehmung stärken

Hunger spüren lernen

Sättigung spüren lernen

Auf den Geschmack achten

Verträglichkeit wahrnehmen

Schritt 4: food equality & food freedom praktizieren

Experimentieren Sie!

Schritt 5: Bewegung rehabilitieren

TEIL III: Binge first

Gedanken tanken

Stress, der Motor des Essdrangs

Energiesparmodus

Energie beschaffen

Essen hilft

Essen als Emotionsregulation ist mehr als nur eine Theorie

Warum Essen hilft

Wie emotionsregulierendes Essverhalten entsteht

Wenn Kinder „abgespeist“ werden

Lernmechanismen im Laufe des Lebens

Emotionsregulierendes Essverhalten ablegen

Das Paradoxon der Verdrängung

Point of no return

Schritt 1: Emotionen wahrnehmen und spüren lernen

Schritt 2: Vorkehrungen treffen

Selbstgespräche

Glaubenssätze und Bewertungen

Ihr Strategie-Inventar

Selbstfürsorge

Selbstmitgefühl & Spiegelneuronen

Schritt 3: Das Fass leeren & Notfallstrategien

Esstage analysieren

Essauslöser identifizieren

Im Notfall: Umgang mit Craving

Urge surfing

Schlusswort

Danke

Anmerkungen

Literatur

Vorwort

Essen, Ernährung und der Umgang mit dem eigenen Körper sind äußerst emotional besetzte Themen. So emotional, dass sie zu heftigen Diskussionen führen, Familien auseinanderbringen, Freundschaften auf die Probe stellen, Partnerschaften belasten oder zu purer Verzweiflung und Selbsthass führen. Und wer bespricht schon gerne emotionale Themen oder nimmt Rat von jemandem an, der einem völlig fremd erscheint?

Bevor wir also auf Tuchfühlung gehen und uns mit Themen wie Essdrang, Körpergewicht und Heißhunger beschäftigen, möchte ich Ihnen verraten, wer die Person ist, die die nachfolgenden Zeilen verfasst hat. Denn das wird Ihnen dabei helfen zu verstehen, warum ich genau die Haltung und Expertise vertrete, die vermutlich etwas anders ist als das, was Sie in Arztpraxen oder anderen Beratungsräumlichkeiten so hören.

Wenn ich auf meinen Weg zurückblicke, dann gibt es wohl mehrere Meilensteine, deren Erwähnung an dieser Stelle wichtig sind. Einer dieser Meilensteine war meine schulische Ausbildung in der HBLA Hallein (Salzburg), in der ich zum ersten Mal mit den Themen Kochen, Ernährung, Psychologie und Bewegung in Berührung kam. Meine Eltern ermöglichten mir eine ganzheitliche Ausbildung, die mein Leben prägen sollte und für die ich heute zutiefst dankbar bin. Ernährung und Psychologie wurden schnell zu meinen Lieblingsfächern. Dann kam die nächste Kreuzung und ich stand vor der Frage: Diätologie oder Psychologie?

Nachdem meine Kochlehrerin mir das Kochen mehr als versalzen hatte und die Diätologie mich wieder an den Herd bringen wollte, war die Entscheidung für Psychologie gefallen, und so habe ich das Studium der Psychologie an der Universität Wien absolviert. Die Erkrankung einer meiner besten Freundinnen an Bulimie hat ihren Part dazu getan. Ich musste aber nach der Uni schnell feststellen, dass es gar nicht so einfach war, einen Job zu finden, und so habe ich die Ausbildung zur Klinischen Psychologin und Gesundheitspsychologin begonnen, während ich in diversen Projekten zur Förderung der psychischen Gesundheit tätig war. Meine Ausbildung führte mich in eine Klinik für Psychosomatik, wo ich zum ersten Mal mit Essstörungen und Stoffwechselerkrankungen (Stichwort A*ipositas*1) in Berührung kam. Und so begann ich Fragen zu stellen.

Fragen wie: Warum haben viele der Betroffenen bereits eine beachtliche Summe an Aufenthalten in diversen Kliniken hinter sich? Warum werden Betroffene nicht „gesund“? Warum nehmen sie nicht ab oder zu? Warum können wir PatientInnen nicht entsprechend helfen? Wie man sich vielleicht denken kann, waren die Antworten wenig selbstreflektiert und bewertend. „Sie wollen nicht“ oder „Wir können halt nichts tun, wenn sie nicht mitarbeiten“ hieß es. Antworten, wie man sie öfters hört, wenn Fachkräfte feststellen, dass das wissenschaftlich fundierte Wissen aus tausenden von Studien in der Praxis nicht so einfach und eins zu eins umzusetzen ist, wie die Theorie das gerne hätte. Konkret hieß das: Wenn die PatientInnen nicht abnehmen möchten oder sich nicht von der Essstörung lösen wollen, dann ist es halt so. Nach fünf Jahren Studium und mehr als einem Jahr Zusatzausbildung sowie meiner Tätigkeit im Rahmen von Projekten zur „Lebensstilmodifikation“ (nennen wir es beim Namen: „Abnehmgruppen“) war mir das zu wenig. Wie konnte es sein, dass mein ganzes Wissen und meine ganze Ausbildung schlussendlich mit dem Satz „Wenn sie nicht wollen…“ obsolet wird? Wo war die Psychologie rund ums Essverhalten? Ich konnte sie in keinem der Projekte, Kliniken, bei keiner meiner AusbilderInnen oder in keinem meiner Jobs finden. Entspannungsgruppen, Skills-Training, Genusstraining, Einzeltherapie und Co. sind durchaus wichtig und essentiell, aber was war mit dem psychologischen Know-how rund ums Essverhalten? Ich bekam die Frage nicht aus meinem Kopf. Schon gar nicht, nachdem mir eine meiner Lehrerinnen (die mir übrigens mitteilte, dass ich niemals Psychologin werden würde) in der Schule indirekt beigebracht hatte, für meine Ziele und Anliegen zu kämpfen. Und so machte ich mich auf die Suche, die mich in die Prävention führte.

Mehr als sechs Jahre arbeitete ich in einem medizinischen Zentrum, in dem wir interdisziplinär (Bewegung, Ernährung, Psychologie & Medizin) die Gesundheit von Menschen fördern sollten. Aber auch hier kam ich mit meinem Wissen an meine Grenzen, bis mir (ja, ich fühle mich als eine Frau und deshalb ging es mir nicht anders als all den anderen) während einem meiner eigenen „Körperoptimierungsprojekte“ das letzte Puzzlestück klar wurde: Ich scheiterte selbst immer wieder mit meinem eigenen Wissen.

Als Klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin und spätere zertifizierte Ernährungspädagogin und Yogalehrerin wusste ich, wie Menschen agieren, warum sie tun, was sie tun und wie es (theoretisch!) gelingt, zu einer schlanken Figur zu kommen. Aber selbst ich, die ich mit dem ganzen Wissen aus Psychologie, Ernährung und Bewegung ausgestattet bin, habe es selbst nicht hinbekommen. Stattdessen habe ich mir selbst Vorwürfe für mein „Fehlverhalten“ gemacht. Und dann wurde es mir klar. Wir klassifizieren alles, was von der Theorie und der Norm, die wir als Ideal einstufen, abweicht, als Fehlverhalten. Als würden alle, die sich nicht so verhalten, wie ExpertInnen das vorgeben, einen Fehler begehen, disziplinlos oder zu schwach sein. Was aber, wenn der Fehler bei uns, den BehandlerInnen lag, bei uns als ExpertInnen?

Nachdem ich nirgendwo Anhaltspunkte fand, begab ich mich in die Tiefen der wissenschaftlichen Forschung und wurde fündig. Ich fand viele Konzepte aus der ernährungspsychologischen Forschung sowie zu den Themen Interozeption, Achtsamkeit, buddhistische Psychologie, Körperrespekt, zum Essverhalten und unweigerlich auch zu den Themen Frauen, Frauenbild und Feminismus. Plötzlich wurde alles klarer. Ich hatte den Schlüssel zu dem gefunden, was ich suchte und vermitteln wollte. Statt Menschen (und vor allem Frauen) zu einem Ideal hinzumodellieren, geht es darum, das zu bewahren und zu beschützen, was in uns von Geburt an vorhanden ist. Innerer Frieden, innere Leichtigkeit mit dem eigenen Körper und ein befreites und leichtes Essverhalten ohne Kalorienzählen, Essdrang, Heißhunger, Körperhass oder ständige Gedanken, welches Essen das „Richtige“ sei – darum geht es.

Mir wurde klar, dass das gesellschaftliche Bild über Gesundheit und Körper ein äußerst krankes ist, nicht die Menschen. Wir alle versuchen nur mit dem klarzukommen, was die Gesellschaft und unser System als richtig erachten. Menschen versuchen, alles richtig zu machen und geraten dabei in einen Strudel, der sie weg von ihrer eigenen Gesundheit führt. Mir wurde klar, dass all das, was wir unter dem Deckmantel der Gesundheit tun und verkaufen, nämlich Abnehmen, Schlanksein und Disziplin, mitunter genau die Ursachen für die Entstehung von Mehrgewicht und Essstörungen sind. Sollte das System nicht schon an der Ursache eingreifen? Sollten wir nicht den Abnehmdruck, das Glorifizieren von Abnehmerfolgen und das Konzept des inneren Schweinehundes sowie Körperbeschämung und Diskriminierung von Mehrgewichtigen anzweifeln? Sollten wir nicht lieber die Ursache von Essdrang behandeln, anstatt Betroffene mit noch mehr Disziplin und strengeren Ernährungsregeln tiefer in den Essdrang zu treiben?

Essen soll etwas Schönes und Leichtes sein. Ich wünsche mir, dass alle Menschen ihre Körper mit Respekt behandeln und sich mit ihrem Leben und mit den schönen Dingen im Leben beschäftigen, anstatt mit der einen richtigen Ernährung, Körperoptimierung, Selbstzweifeln oder Diätgedanken.

Und genau deshalb habe ich meine eigene Praxis eröffnet, meinen Podcast und die ACHTSAM ESSEN Akademie ins Leben gerufen und begonnen, DiätologInnen, ErnährungswissenschaftlerInnen, PsychologInnen oder ÄrztInnen in Fortbildungen und Fachhochschulen auszubilden.

Was Sie hier lesen werden ist nicht irgendein Wissen eines selbst ernannten Ernährungs-Coaches, sondern wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse aus aktueller medizinischer, psychologischer, soziologischer und ernährungswissenschaftlicher Forschung, leicht und verständlich zubereitet und in Häppchen serviert.

Und nun, da Sie ein Gefühl dafür bekommen haben, wer ich bin, lade ich Sie dazu ein, mit mir auf Tuchfühlung zu gehen und mit mir gemeinsam eine bewegende, bereichernde und faszinierende Reise, gespickt mit „Aha!“-Momenten, in die Psychologie hinter dem Essverhalten anzutreten.

Food Feelings

TEIL I:

Emotionales Essverhalten verstehen

Emotionales Essen ist per se nichts Schlechtes.

Gedanken tanken

Die bevorstehende psychologische Therapie mit Lisa löste Freude in mir aus. Seit einigen Wochen arbeitete ich mit ihr und ich spürte, dass wir große Fortschritte machten. Für die heutige Sitzung hatte ich mir eine spannende Übung einfallen lassen. Voller Vorfreude wartete ich, bis Lisa für unsere Einheit am Bildschirm erschien. Doch was war das? Sie saß auf ihrem Sofa und sah mit leerem Blick in die Kamera ihres Laptops. Ihr Anblick machte mich traurig. Was war bloß geschehen?

Für die Vorbereitung hatte ich Lisa gebeten, ein paar ihrer Lieblingskekse zu besorgen. Wenige Minuten vor unserem Termin war Lisa gerade dabei, die Kekse vorzubereiten, als sie ein viel zu vertrautes Gefühl in sich aufkommen spürte. Eine innere Kraft war dabei aufzuwachen und begann in Sekundenschnelle das Ruder zu übernehmen. Lisa wurde wieder einmal bewusst, wie machtlos sie gegenüber dieser fremden und doch vertrauten Macht war. Viel zu schnell wuchs dieses innere Gefühl zu einem „Monster“, wie sie es beschrieb. Dieses Monster in ihr übernahm die Kontrolle, und in wenigen Minuten waren alle Kekse, die die Packung zu bieten hatte, in Lisas Mund verschwunden. Einer Zuschauerin gleich stand Lisa machtlos neben sich und musste mitansehen, wie sie wie ferngesteuert die Packung zerriss und sich einen Keks nach dem anderen in den Mund steckte.

Vielen von uns werden solche Szenarien, die milder oder schlimmer ausfallen können, allzu vertraut sein. Sucht man im Internet nach der Ursache von einem wie soeben beschriebenen Essdrang, findet man schnell den Begriff „emotionales Essen“.

Der Begriff emotionales Essen meint, dass die Nahrungsaufnahme nicht durch körperliche Hungersignale, sondern durch Gusto oder Appetit, die eng mit Emotionen verknüpft sind, ausgelöst wird.

Emotionen können als Reaktion auf einen Auslöser gesehen werden. Der Begriff Emotion selbst leitet sich von dem lateinischen Wort emovere ab, was so viel wie „herausbewegen“ bedeutet. Emotionen bewegen uns also wortwörtlich. Sie entstehen meist spontan und übernehmen die Kontrolle über uns und unser Verhalten. Wir können uns nicht dafür entscheiden, keine Angst zu haben, keinen Liebeskummer zu haben oder uns nicht zu ärgern. Es passiert einfach, vor allem, wenn die Intensität der Emotionen ein bestimmtes Ausmaß übersteigt.

Emotionales Essen ist per se nichts Schlechtes: Wir alle haben den wohltuenden Effekt des Bewegungsprogramms „emotionales Essen“ bereits am eigenen Leibe gespürt: Hat man erst einmal den ersten Bissen genommen, verschwinden das Gedankenkreisen, die Traurigkeit oder der Ärger in einem geschmacklichen Urknall. Schon kurz darauf findet man sich in einer sanften emotionalen Hängematte aus Entspannung, Glückseligkeit und Genuss wieder. Ein paar Momente, in denen sich alles andere aufzulösen scheint. Belohnt durch einen Flash aus Glücksgefühlen wissen wir spätestens jetzt: Essen ist ein wohltuendes Wundermittel.

Für einige von uns ist Essen das Ergebnis eines hocheffektiven Reaktionssystems. Um es noch deutlicher auf den Punkt zu bringen: Es ist eine Strategie Ihres Körpers, Sie zu schützen. Und wenn Sie den beschriebenen wohltuenden Effekt kennen, dann ist Ihnen auch klar, dass Sie vor dem Essen nicht so entspannt waren. Dass Sie womöglich sogar ziemlich angespannt waren. Vielleicht haben Sie es einfach nur nicht gemerkt oder hatten keine andere Strategie zur Hand.

Dass Essen eine Exit-Strategie ist oder sein kann, mag jetzt vielleicht weder eine Lösung bringen noch Trost, Mut oder Motivation spenden. Und doch trägt dieses Wissen einen wesentlichen Part zum Verständnis bei und hilft, den Essdrang aufzulösen. Denn Emotionen sind mehr als nur Bewegungen. In der Bewegung ist eine Vielzahl an Informationen enthalten.

Wenn wir Essdrang als schlecht abstempeln und ausschließlich in die Lösungssuche vertieft sind, übersehen wir etwas Wichtiges: nämlich herauszufinden, welche Botschaften sich hinter dem Essverhalten verbergen. Die Lösung für Essdrang finden wir nämlich nicht in Anleitungen á la „Tricks, um emotionales Essen abzuwenden“. Die Lösung finden wir, indem wir genauer hinsehen oder besser hinspüren.

Und deshalb werden Sie in diesem Buch keine oberflächlichen Strategien zum Abwenden des Essdrangs oder Heißhungers finden, wie sie vielfach an anderer Stelle beschrieben werden: Kerzenwachs auf die Haut träufeln, sich zwingen nichts zu essen, Bitterstoffe in den Mund tropfen, Chilli essen, keine Süßigkeiten einkaufen u.v.m. Diese Strategien sind meistens Ablenkungsstrategien, die einzig und allein das Ziel haben, den Vorgang des Essens abzuwenden.

Aus ernährungspsychologischer Perspektive widmet sich dieses Buch der Frage, woher das übermächtige Verlangen nach Essen kommt, wie es entsteht und warum der eigene Wille oder die Disziplin langfristig machtlos sind, wenn es ums Essen geht.

Sehen Sie dieses Buch als Begleiter, der Ihnen dabei hilft, Heißhunger und Essdrang auf die Spur zu kommen und beides nachhaltig aufzulösen. Das Wort Begleiter verdeutlicht, dass dieses Buch keine psychologische Therapie, Psychotherapie oder Behandlung durch einen Arzt ersetzen kann. Aber es kann Sie auf Ihrem Weg zu einem gesunden Essverhalten unterstützen.

Ein Blick hinter die Kulissen

Wenn von emotionalem Essen die Rede ist, dann legt das den Schluss nahe, dass Emotionen der Auslöser für das individuelle Essverhalten sind. Das stimmt bis zu einem gewissen Grad, aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Wenn es wirklich diesen Wenn-Dann-Zusammenhang zwischen Emotionen und Essdrang gäbe, dann würden bestimmte Emotionen, wie Ärger oder Traurigkeit, immer einen Essvorgang auslösen. Dem ist aber nicht so.2

Es muss auch keine bestimmte Situation sein, die den Essprozess auslöst. Denn sonst würden alle Personen in Situation X gleich reagieren. Alle Personen müssten sich bei einer Zugverspätung ärgern oder Essdrang entwickeln, aber das ist auch nicht der Fall. Also muss es einen Mechanismus zwischen Situation und Emotion geben, der die Emotion und so das Essverhalten auslöst. Haben Sie eine Vermutung, was das sein könnte?

Es sind unsere Gedanken – und damit alle unsere Werte, Erfahrungen, Erinnerungen und Bewertungen, die sich in ihnen widerspiegeln. Wir erleben also eine Situation und diese wird bewertet. Die Bewertung wiederum erzeugt Emotionen, und die Emotion wiederum erzeugt ein Verhalten – wie unkontrolliertes Essen oder gar einen Essanfall.3 Wir sehen also einen Brownie (Situation), denken uns „Den darf ich nicht essen, aber ich würde so gerne“ (Bewertung), dadurch entsteht ein Essdrang (Emotion). Schlussendlich essen wir nicht nur einen Brownie, sondern gleich drei (Verhalten).4

Meist sind die Reaktionen in Emotion und Verhalten allerdings so automatisiert, dass wir die Bewertung gar nicht mitbekommen, wir reagieren einfach auf Autopilot.

Was sind das also für Gedanken, die hinter den Kulissen aktiv sind und einen Essdrang in uns auslösen? Tatsächlich gibt es eine konkrete Art von Gedanken, die Emotionen samt Essdrang hervorvorruft.5

Im Jahr 2018 wurde eine spannende Studie zum Thema Binge Eating veröffentlicht. Es ist eine der wenigen Studien, die nicht nur vorhandene Emotionen, sondern auch damit zusammenhängende Gedanken untersuchte.6 Das Forscherteam konnte zeigen, dass Binge Eating nur dann vorliegt, wenn die Betroffenen zum Grübeln und ständigen Nachdenken neigen. Also Personen, die zum Gedankenkreisen neigen. Das heißt, es war die Summe der tausend Gedanken im Kopf, die ein schlechtes Gefühl auslöste.

Food is not an object, it is an interaction.

Häufig sind es Gedanken, die sich damit beschäftigen, nicht zu genügen, besser werden zu müssen, nicht beliebt zu sein, zu dick oder zu dumm zu sein oder etwas falsch gemacht zu haben. Gedanken wie „Du hast etwas Falsches gesagt“, „Nicht einmal das bekommst du hin“, „Du bist zu dick“.7 Im Grunde könnte man sagen: Es sind Gedanken, die zu einer Bedrohung des Selbstwertes führen.

Oft sind das auch Gedanken, die sich immer wieder aufdrängen, nicht leicht wegzubekommen sind und meistens in Verbindung mit Emotionen wie Scham, Ärger oder Traurigkeit auftreten. Im Gegensatz dazu wird es der Zustand der Gleichgültigkeit kaum schaffen, einen Essdrang auszulösen, weil der Gedanke „Ist mir egal“ nicht dementsprechende Emotionen auslösen würde. Sehen wir uns das anhand eines Beispiels an.

Es war einer meiner ersten Kurse, den ich durchführte, als ich Luisa (Name geändert) kennenlernte. Eine wunderschöne, herzliche Frau Mitte 30, die versuchte, ihre Essanfälle, wie sie sie bezeichnete, in den Griff zu bekommen. Unter Essanfällen verstehe ich im weiteren Verlauf des Buches alle Situationen, in denen Heißhunger oder Essdrang nachgegeben wird, unabhängig von der Menge, die man zu sich nimmt. In einer Sitzung beschäftigten Luisa und ich uns mit einem Tag, an dem sie einen dieser Essanfälle hatte.

Luisa war gerade dabei, in ihr Büro zurückzukehren, als ihr zwei Kolleginnen auffielen, die in einer Ecke standen, miteinander im Flüsterton sprachen, zu ihr blickten und gelegentlich leise lachten. Luisa ging in ihr Büro zurück, wo sie kurz darauf ein großer Essdrang überkam.

Bei näherer Betrachtung der Situation fiel Luisa ein, dass sie sich über die Kolleginnen geärgert hatte. Gedanken wie „Ich habe keine Zeit für Kaffeetratsch!“ oder „Reden die über mich?“ gingen ihr durch den Kopf. Sie hatte die Kolleginnen abgewertet, sie gedanklich schlecht gemacht. Das tun wir in der Regel dann, wenn wir uns selbst klein, mies und schlecht fühlen. Das ist ein sehr unangenehmes und hässliches Gefühl, voller Scham, Traurigkeit und Schmerz. Aber warum musste Luisa die Kolleginnen abwerten? Als sie dieser Frage nachging, kam Luisa darauf, dass sie Angst hatte, die zwei würden über sie lachen, sie doof finden. Und das war ein Gefühl, das Luisa nicht ertragen konnte. Die Emotionen waren zu stark. Essen war der Ausweg.

Aus der Ferne betrachtet sehen Situationen wie diese nicht tragisch aus. Sobald jedoch Emotionen im Spiel sind, steigern wir uns gerne in Situationen hinein und bringen damit eine negative Gedankenspirale in Gang, aus der der Ausstieg so schwierig scheint wie der aus einer fahrenden Achterbahn. Ein Automatikmodus. Aber woher kommt das?

Automatikmodus Essdrang

Unser Gehirn ist ein wahres Wunderwerk. Es ist eine Ansammlung von in Flüssigkeit schwimmenden, vielfältigsten und zahlreich miteinander verbundenen Nervenzellen. Die Nervenzellen haben dabei unterschiedlichste Aufgaben. Während sie in der linken Gehirnhälfte eher für rationale, sachliche Tätigkeiten zuständig sind, sind rechts die kreativen Entdecker und Umsetzer zu Hause. Diese Einteilung ist natürlich sehr vereinfacht, sie hilft uns jedoch dabei, eine Vorstellung vom Gehirn zu bekommen. Ohne das Zusammenwirken all dieser Nervenzellen wären komplexe Denkvorgänge nicht möglich. Jeder Nervenzellverbund hat seine Aufgabe. Und obwohl wir lauter Spezialisten und Experten im Kopf sitzen haben, sind sie unheimlich wandelbar und vielfältig.

Als Kind war ich sehr viel im Wald unterwegs. Ich bin mir sicher, ich bin nicht das einzige Kind gewesen, das Ameisenstraßen und das geschäftige Geschehen im Ameisenhaufen mehr als faszinierend empfand. Eines Tages interessierte mich das Tempo, in welchem die Ameisen unbeirrt ihren Weg entlangliefen. Eine nach der anderen, der Vorderameise stets auf der Ferse. Nachdem ich schon immer besonders neugierig war, brannte eine Frage in mir: Was würde passieren, wenn ich die Straße, die die Ameisen so engagiert und mühevoll konstruiert hatten, durcheinanderbrachte oder blockierte? Ich konnte nicht anders, als es auszuprobieren. Also nahm ich einen herumliegenden Ast, auf dem sich noch Blätter befanden. Ich wischte mit dem Blätterdach einen Teil der Straße weg und beobachtete, was passierte. Zunächst rannten alle Ameisen wie wild herum. Doch in erstaunlicher Schnelligkeit hatten sie eine neue Straße geformt.

Unser Gehirn funktioniert auf eine ähnliche Art und Weise. Es ist in der Lage, ständig neue Verbindungen zu schaffen oder aber zerstörte Verbindungen zu ersetzen. Je öfter wir die gleichen Nervenzellverbindungen aktivieren, desto stärker und dominanter werden sie. Auf diese Art und Weise formt das Gehirn unser Tun und Handeln. Gewohnheiten und fest erlernte Verhaltensmuster wie Essanfälle kann man sich wie einen dieser Wege und im härtesten Fall wie eine Autobahn vorstellen.

Das Frontalhirn und das Emotionszentrum (Amygdala) teilen sich die Herrschaft über die Verhaltenskontrolle. In der Regel ist das Frontalhirn die Instanz, die die Übermacht genießt. Unter bestimmten Bedingungen reißt die Amygdala allerdings die Herrschaft an sich. Das ist vor allem dann der Fall, wenn emotionale Erfahrungen sehr intensiv sind oder in Situationen, in denen das Frontalhirn einfach keine Energie mehr hat, wenn wir müde, ausgelaugt oder energielos sind. Das Frontalhirn gibt die Kontrolle ab, das Emotionszentrum übernimmt und kennt dabei oftmals nur einen einzigen Weg, nämlich denjenigen, der wie eine Autobahn eingebrannt ist: Essen. Oder anders ausgedrückt: Wir fühlen uns Schokolade und holen uns diese.

Manchmal gibt es für die Aktivierung des „Automatikmodus Essdrang“ einen plausiblen Grund. In den meisten Fällen allerdings scheint der Essdrang ohne offensichtlichen Grund aufzutreten. Aber dieser Schein trügt.

Warum Essdrang ohne Vorwarnung zuschlägt

Erlebnisse werden in ihre Einzelteile zerlegt, in kleinen Einheiten abgespeichert und miteinander verbunden. Ein zentrales Element dabei ist, wie wir uns bei diesen Erlebnissen gefühlt haben. Erfahrungen werden nicht nur als „Worte“, sondern in Kombination mit den Emotionen, die wir hatten, abgespeichert. Dafür verantwortlich ist unsere alte Bekannte: die Amygdala. Je intensiver die erlebte Emotion, desto einprägsamer das Erlebnis. Jeder Mensch speichert auf diese Art und Weise eigene Erinnerungsketten mitsamt den dazugehörigen Emotionen ab.