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Hans-Ludwig Kröber hat die Entwicklung der Forensischen Psychiatrie in den letzten Jahrzehnten maßgeblich geprägt, vor allem im Aufgabenbereich der Begutachtung und im Bereich der Behandlung und Resozialisierung von psychisch kranken Straftätern im Maßregelvollzug, aber auch durch ein engagiertes Eintreten für die Verbindung des Faches mit den Nachbardisziplinen, und das nicht nur in der Funktion des Direktors des Instituts für Forensische Psychiatrie in Berlin in der Zeit von 1996 bis 2016. Ihm sind die Beiträge in diesem Buch gewidmet, die über persönliche Reminiszenzen hinaus die Geschichte des Faches berühren, von der Breite des Faches künden und beispielhaft sind für den interdisziplinären Dialog, auf den die forensische Psychiatrie als Wissenschaft angewiesen ist. Die Arbeiten namhafter Autorinnen und Autoren machen die Aufsatzsammlung zu einem wichtigen forensischen Lesebuch und geben Antworten auf Fragen zur Methodik und Theorie einer forensischen Psychiatrie, die sich als Erfahrungswissenschaft und Menschenkunde versteht. Die Vielfalt der behandelten Themen entspricht nicht nur dem Facettenreichtum in den Aufgaben des Faches, sondern auch dem breiten Interessenspektrum des Jubilars, über das ein Verzeichnis seiner Publikationen Auskunft gibt.
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Seitenzahl: 830
Veröffentlichungsjahr: 2022
Prof. Dr. med. Hans-Ludwig Kröber, geb. 1951, ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und gehört zu den renommierten Vertretern der forensischen Psychiatrie in Deutschland. Nach dem Medizinstudium in Münster, der Facharztausbildung in Bielefeld-Bethel und der Tätigkeit an den Psychiatrischen Universitätskliniken Heidelberg und Hamburg leitete er von März 1996 bis September 2016 das Institut für Forensische Psychiatrie der Charité Berlin. Er ist weiterhin als Verfasser wissenschaftlicher Publikationen, Mitherausgeber einer Fachzeitschrift und als Sachverständiger aktiv.
M. Lammel S. Lau | S. Rückert | T. Voß | F. Wendt (Hrsg.)
Forensische Psychiatrie – Erfahrungswissenschaft und Menschenkunde
Festschrift für Hans-Ludwig Kröber
mit Beiträgen von
H. Amlacher | M. Bormuth | C. Cording | D. Dölling | E. Habermeyer | F. Häßler | B. Horten | H.F.U. Ihloff | M. Lammel | S. Lau | A. Mosbacher | J.L. Müller | N. Nedopil | K. Peters | W. Pfister | C. Prüter-Schwarte | M. Rettenberger | S. Rückert | H. Saß | N. Saimeh | J.-U. Schäfer | H. Schanda | P. Schönknecht | J. Schwenn | A.T.I. Six | M. Steller | A. Stöver | T. Stompe | S. Sutarski | K. Tschilingirov | R. Volbert | T. Voß | C. Wendorf | F. Wendt
Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
Herausgegeben von
Dr. med. habil. Matthias Lammel
Sachverständigenbüro
Postfach 332 111
14180 Berlin
Dr. med. Steffen Lau
Zentrum für Stationäre Forensische Therapien
Klinik für Forensische Psychiatrie
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Alleestraße 61
8462 Rheinau
Schweiz
Sabine Rückert
Stellvertretende Chefredakteurin der ZEIT
Buceriusstraße
20095 Hamburg
Dr. med. Tatjana Voß
Forensisch-Therapeutische Ambulanz (FTA)
des Instituts für Forensische Psychiatrie der Charité
Seidelstraße 38
13507 Berlin
Dr. med. Frank Wendt
Zentrum für Forensisch-Psychiatrische Begutachtung (ZFPB)
Schlossstraße 50
12165 Berlin
MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
Unterbaumstraße 4
10117 Berlin
www.mwv-berlin.de
ISBN 978-3-95466-729-1 (eBook: PDF)
ISBN 978-3-95466-730-7 (ePub)
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Zuschriften und Kritik an:
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Dr. med. habil. Matthias LammelSachverständigenbüro
Dr. med. Steffen LauZentrum für Stationäre Forensische TherapienKlinik für Forensische PsychiatriePsychiatrische Universitätsklinik Zürich
Sabine RückertStellvertretende Chefredakteurin der ZEIT
Dr. med. Tatjana VoßForensisch-Therapeutische Ambulanz (FTA)des Instituts für Forensische Psychiatrie der Charité
Dr. med. Frank WendtZentrum für Forensisch-Psychiatrische Begutachtung (ZFPB)
Die forensische Psychiatrie als Teilgebiet der Psychiatrie ist ein historisch gewachsenes Fach, dessen Vertreterinnen und Vertreter Aufgaben erfüllen, die verschiedene Rechtsgebiete berühren. Hans-Ludwig Kröber, dem dieses Buch gewidmet ist, hat die Entwicklung dieses Fachgebiets während der letzten Jahrzehnte maßgeblich geprägt, vor allem im traditionellen Aufgabenbereich der Begutachtung der Verantwortungsfähigkeit des Menschen, der mit der Prämisse der freien Willensbestimmung verknüpft ist, und im Bereich der Behandlung und Resozialisierung von psychisch kranken Straftätern durch Maßregeln der Besserung und Sicherung, in dem die Prämisse der Determinierbarkeit durch pädagogische und therapeutische Maßnahmen gilt, aber auch durch Fachbeiträge zu anderen Themen und durch ein engagiertes Eintreten für die Verbindung der forensischen Psychiatrie mit Psychiatrie, Psychotherapie, Psychologie, Soziologie, Kriminologie, Rechtsmedizin, Philosophie und anderen Nachbardisziplinen.
Das ereignete sich nicht aus dem Refugium zum Zwecke wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns heraus, sondern in lebendiger und tätiger Auseinandersetzung mit anderen, mit Freude am Diskurs und an der Lehre, mit Lust an der Sprache, ohne Konfliktscheu im Disput mit Protagonisten konträrer Auffassungen, aber auch aus der Haltung heraus, dass es an den Berührungsflächen des Faches mit benachbarten Fachgebieten und in der Auseinandersetzung mit der medialen und Laienöffentlichkeit immer wieder neu um Aufklärung, Verständigung und Vermittlung gehen müsse – und das trotz bisweilen auch unsachlicher Kritik und Polemik. Eine Vielzahl von Publikationen, Vorträgen, Rezensionen und Interviews, aber auch Stellungnahmen zu Ereignissen, die die forensische Psychiatrie in das Licht der Öffentlichkeit gerückt haben, künden davon.
Das Berliner Institut für forensische Psychiatrie wurde unter seiner Leitung so nicht nur zu einem Ort der Wissenschaft, sondern auch zu einem Ort der Begegnung, der die dort Tätigen mit den „Freunden des Instituts“ in einem Dialog verband. Dialoge generieren Netzwerke, die Orientierung geben, in denen Kenntnisse und Erkenntnisse weitergegeben werden und in denen Freundschaften entstehen. Der Austausch wurde im Rahmen der monatlichen wissenschaftlichen Montagskolloquien, in Fallseminaren, auf der alljährlichen Berliner Junitagung, den Fortbildungswochen am Griebnitzsee und in Warnemünde gepflegt. Die Bereitschaft, in hunderten Stunden von Falldiskussionen mit Geduld und nie nachlassender Aufmerksamkeit für einen Rat und die Orientierung auf das Wesentliche zur Verfügung zu stehen, können nicht überschätzt werden.
Der Austausch wurde fortgesetzt im Rahmen der von Tae-Ok Kröber und Hans-Ludwig Kröber ebenso großzügig wie liebevoll im privaten Bereich ausgestalteten Referentenessen nach Tagungen und auf den alljährlichen Sommerfesten – dort grundsätzlich bei Wein, niemals mit Bier. Für all das ist zu danken.
Im Zuge einer intensiven, nicht selten in den Intimbereich hineinreichenden, methodisch geleiteten Auseinandersetzung mit der Biografie eines Menschen unter gutachtlichen und therapeutischen Gesichtspunkten sowie unter Bezugnahme auf eine juristische Fragestellung entstehen Erfahrungsaussagen, die gegenüber Instanzen verantwortet werden müssen und die mit weitreichenden Konsequenzen verbunden sein können. Die Forensische Psychiatrie ist – in Abgrenzung zu den Realwissenschaften – eine Erfahrungswissenschaft insofern, als sie nach Aussagen strebt, die zum einen auf der altgriechischen Empeira gründen, die den Erfahrungsgewinn als unmittelbare Kenntnis, gewonnen aus selbst durchgeführten Tätigkeiten und Erfahrungen umreißt, zum anderen aber auch auf der lateinischen Experientia, die besonders auf den gedanklich vorbereiteten Versuch zum Zweck des Erfahrungsbeweises und das daraus gewonnene Erfahrungswissen abzielt.
Juristische Vorgaben definieren die Praxis als Anwendungsfeld für die forensische Psychopathologie und Psychiatrie. Indem Praxis zum Erschließungs- und Erfahrungsfeld für die forensische Psychiatrie wird, ist sie auch Quelle theoretischer Konzeptionen. Damit ist das mit Notwendigkeit immer wieder ins Blickfeld tretende Verhältnis von Empirischem und Theoretischem angesprochen. Hermeneutische Bemühungen und heuristische Konzeptionen ebnen den Weg zu einer Menschenkunde. Einer – über ein landläufiges Verständnis dieses Begriffes hinausreichenden – Menschenkunde gilt nach Werner Janzarik die Suche nach einem in der Praxis anwendbaren Entwurf, der die grundlegenden Zusammenhänge im Aufbau des psychischen Ganzen erhellt.
Auf beides – auf Erfahrungsaussagen, die sich auf die Beherrschung der Methoden-Techne berufen können, und auf Beiträge zu einer Menschenkunde – sind die Bemühungen von Hans-Ludwig Kröber ausgerichtet. Von der Arbeit auf beiden Aufgabenfeldern künden die Beiträge in diesem Buch, die dem Jubilar – mit einer nur leichten Verspätung – zu seinem 70. Geburtstag von namhaften Autoren gewidmet sind. Die Sammlung beginnt mit einem Geleitwort von Henning Saß über die wissenschaftliche Prägung von Hans-Ludwig Kröber in der Heidelberger Schule der forensischen Psychopathologie. Weitere Arbeiten berühren Persönliches, enthalten empirische Studien und theoriegeleitete Überlegungen, stammen aus psychiatrischer, psychologischer und juristischer Feder und umfassen historische sowie zeitgeschichtliche Sachverhalte. Die inhaltliche Vielfalt der Aufsatzsammlung spiegelt das Interessenspektrum des Jubilars wider und ist mithin gewollt.
Am Ende steht eine ideengeschichtliche Spurenlese von Matthias Bormuth, die – ins Methodische gewendet – auf den Anfang allen Beginnens und die Wiederkehr des Gleichen in allem Tun verweist, soweit es darum geht, aufmerksam und neugierig zu bleiben, Anregungen aufzunehmen und Spuren zu folgen. Das Gefühl zu spät zu kommen, egal nun, ob es um das Fachliche geht, um einen neuen Film, ein Buch, klassische Musik, eine Restaurantempfehlung, Weingüter und Wein – wer wollte da mitreden? –, oder lesenswerte Artikel in der Tagespresse – auf die man zu mitternächtlicher Stunde hingewiesen wird –, machen den Umgang mit HLK immer wieder auch zu einer Herausforderung. Aber wer will es schon einfach.
Karl Löwith, der zuletzt in Heidelberg lehrte, hat einmal formuliert, dass es nicht die Aufgabe der Intellektuellen sei, sich selber preiszugegeben, sondern „den Standpunkt des freien Geistes zu wahren, um im Umtrieb einer illusionsbedürftigen Zeit wahnfrei auf sich selber stehen zu können“. Dass das geht und wie das geht, hat der Jubilar gezeigt. Mögen noch viele gemeinsame Jahre kommen.
Die Herausgeber danken herzlich Herrn Dr. Thomas Hopfe, Leiter der Medizinisch Wissenschaftlichen Verlagsgesellschaft, MWV, für die Ermöglichung und der Lektorin Frau Lisa Maria Pilhofer für die tatkräftige Unterstützung bei der Verwirklichung dieses Buches.
Matthias Lammel
Steffen Lau
Sabine Rückert
Tatjana Voß
Frank Wendt
Juni 2022
IEinführung und Geleit
Hans-Ludwig Kröber in der Heidelberger Schule der forensischen Psychopathologie
IIPersönliches
1Prof. Dr. med. Hans-Ludwig Kröber – Eine sehr persönliche LaudatioMax Steller
2Der Sachverständige Hans-Ludwig KröberSabine Rückert
3Hans-Ludwig Kröber – Palimpseste und IntervisionenJürgen L. Müller
4Hans-Ludwig Kröber, Hommage an eine?InstitutionAndrea T.I. Six
5Dankbar an der AußenlinieHans Amlacher
6Niedergelassene Gutachter – und der Arbeitskreis freiberuflicher psychiatrischer und psychologischer Sachverständiger AFPPS e.V.Horst F. U. Ihloff
IIIPsychiatrie und Gesellschaft
1„Das Verbrechen und seine Bekämpfung“ – Gustav Aschaffenburg und die Rolle des Psychiaters in der Gestaltung des StrafrechtsChristian Prüter-Schwarte
2Albert Eulenburg – Arzt, Universitätsprofessor, Publizist und Wegbereiter der SexualwissenschaftKarola Tschilingirov
3Hochstapler – ein StreifzugAndreas Mosbacher
4Studienbefunde zum sexuellen Missbrauch an Minderjährigen in katholischen und nicht-katholischen InstitutionenDieter Dölling und Barbara Horten
5Variationen und Fuge über ein Thema von Lionel PenroseHans Schanda
6Der schizophrene Größenwahn und GewaltThomas Stompe
IVPsychopathologie und forensische Psychiatrie
1Hans-Ludwig Kröber im BlitzlichtElmar Habermeyer
2Irren in der PsychiatrieFrank Häßler
3Die operationalisierte psychiatrische Diagnostik – zu Recht als postmodern vorgestellt, zu Unrecht als modern kritisiert?Peter Schönknecht
4Die Typologie des (misslungenen) erweiterten SuizidsMatthias Lammel und Stephan Sutarski
5Die Liebe – ein BrustmuskelNahlah Saimeh
6Straffällige Menschen mit einer Intelligenzminderung und VerhaltensauffälligkeitenTatjana Voß
VFähigkeitsgebrauch und Fähigkeitsverlust
1Der Strafrichter und sein Gehilfe, der psychiatrische Sachverständige – Anmerkungen aus der Sicht eines RevisionsrichtersWolfgang Pfister
2Der Sachverständige im Auftrag der VerteidigungJohann Schwenn
3Die individuelle Beurteilung der Schuldfähigkeit bei Methamphetamin-KonsumFrank Wendt
4Was ist eigentlich Aussagetüchtigkeit?Renate Volbert
5Psychopathologie und Aussagepsychologie – mehr als nur AussagetüchtigkeitClaudia Wendorf
6An den Grenzen der Geschäfts- und TestierfähigkeitClemens Cording
VIPrognose und Behandlung
1Das Risiko des/der Sachverständigen bei der RisikoeinschätzungNorbert Nedopil
2Vom Ende des Basisratens oder über die methodische Ästhetik der Verortung im kriminologischen ErfahrungsraumMartin Rettenberger
3Betäubungsmittelstraftaten als „erhebliche Straftaten“ im Sinne des § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB?Katharina Peters
4Des Menschen Wille – Zum Umgang mit behandlungsunwilligen Gefangenen (und Sicherungsverwahrten) aus der Sicht eines AnstaltsleitersJörg-Uwe Schäfer
5„Botox“ und „Blaue Pillen“ für Straftäter? Management lästiger unerwünschter Arzneimittelwirkungen zur Förderung der Therapie-AdhärenzSteffen Lau
6Jugendmaßregelvollzug in Berlin und DeutschlandAglaja Stöver
VIILiterarisches
1„Es ist so süß, krank zu sein, wenn draußen der sanfte Schnee fällt ...“ – Der Dichter Alfred Henschke und seine KrankheitMatthias Lammel
2„New York und Hannah“ – Eine ideengeschichtliche SpurenleseMatthias Bormuth
VIIIPublikationen – Hans-Ludwig Kröber
Henning Saß
Vorbemerkung
Die Annäherung von Hans-Ludwig Kröber an die Heidelberger Universitätspsychiatrie nahm zunächst einen etwas verschlungenen Weg. 1984 trat er, aus den Krankenanstalten Sarepta in Bielefeld-Bethel unter Leitung von Alsen kommend, im Alter von 33 Jahren als wissenschaftlicher Assistent in die Heidelberger Klinik, die von Prof. Werner Janzarik geleitet wurde. Kurz zuvor war in Der Nervenarzt ein Artikel von ihm erschienen, dessen provokant formulierter Titel durchaus als Herausforderung an eine Zentralperson der Heidelberger Tradition wirken konnte: Kurt Schneiders Psychopathiebegriff als Hemmnis psychosomatischen Denkens (Kröber 1984). Gleichwohl hat Janzarik als federführender Herausgeber diese Arbeit in das erste Heft des 55. Jahrganges der Zeitschrift aufgenommen, das Aufsätze aus Anlass des 100sten Geburtstages von Karl Jaspers enthielt. Unmittelbar vor den Beitrag von Kröber hatte Janzarik seine eigene Arbeit mit dem Titel: Jaspers, Kurt Schneider und die Heidelberger Psychopathologie gesetzt (Janzarik 1984). Dass nun gerade Kurt Schneider mit seinem für viele Jahrzehnte wegweisenden Psychopathiebegriff zu dieser Gelegenheit und an dieser Stelle Gegenstand einer unverhohlenen Attacke wurde, hat Janzarik nicht davon abgehalten, dem freimütigen Kritiker eine Stelle in seiner Klinik zu geben. Dies zeigt, dass er es durchaus schätzte, wenn jemand es wagte, wider den Stachel zu löcken, vorausgesetzt, es geschah mit Qualität.
Zur Heidelberger Schule der Psychopathologie
Werner Janzarik hat erstmals 1978 in einem Beitrag in den Heidelberger Jahrbüchern über 100 Jahre Heidelberger Psychiatrie die Geschichte der Klinik nachgezeichnet, der er seit 1976 als Inhaber des traditionsreichen Lehrstuhls vorstand. 1984 nahm er dieses Thema in der erwähnten Arbeit erneut auf. Zur Vorbereitung war er mehrmals in das Deutsche Literaturarchiv in Marbach gereist, um den dort aufbewahrten Briefwechsel von Jaspers und Kurt Schneider zu studieren. In den Mittelpunkt seiner Darstellung stellte er die Allgemeine Psychopathologie von Karl Jaspers (1913), dessen wissenschaftliche Laufbahn in der Heidelberger Klinik begonnen hatte mit einer bei Franz Nissl angefertigten Dissertation über das forensische Thema Heimweh und Verbrechen (Jaspers 1909, Kröber 2017). Dieses Vorhaben war seinerzeit von Wilmanns, der später Nissl im Amt folgte, angeregt (Wilmanns 1907) und supervidiert worden. Wilmanns war es auch, der Jaspers anregte, die Allgemeine Psychopathologie zu schreiben und damit ein Jahrhundertwerk, das durch seine methodologische Klarheit bis heute die unverzichtbare Grundlage psychiatrischen Denkens und Handelns darstellt.
Die forensisch-psychiatrische Arbeitsrichtung hat in der Heidelberger Klinik von Anfang an eine wichtige Rolle gespielt (vgl. Janzarik 1978). Schon der neuropathologisch orientierte Fürstner, von 1878 bis 1891 erster Inhaber des Lehrstuhls, hatte sich mit forensischer Psychiatrie beschäftigt. Sein Nachfolger Kraepelin, der damals schon durch sein Kompendium der Psychiatrie bekannt war, wurde wegen seiner (experimental-)psychologischen Arbeitsrichtung gewählt, besonders aber auch wegen seiner Qualifikation in der forensischen Psychiatrie. Während des Direktorats von Nissl in den Jahren 1904 bis 1917 wurde die forensische Arbeitsrichtung intensiv durch Wilmanns gepflegt, der die Klinik in der Zeit von 1918 bis 1933 leitete, bis er den Nationalsozialisten weichen musste. Eine wichtige, auch forensisch sehr aktive Rolle spielte damals H. W. Gruhle, der über drei Jahrzehnte als kritischer Kopf und gefürchteter Diskutant die Klinik wesentlich mitgeprägt hat. Aus dieser Zeit ging eine bemerkenswerte Reihe bedeutender Psychiater aus der Heidelberger Klinik hervor, von denen viele auch durch forensische Expertise hervorgetreten sind, so neben Wilmanns und Gruhle etwa Aschaffenburg, Gaupp, Bürger-Prinz, von Baeyer, Wetzel, Rauch, Göppinger.
Als Kurt Schneider mit Unterstützung von Jaspers, der inzwischen in Basel Philosophie lehrte, im Herbst 1946 den Ruf auf den Heidelberger Lehrstuhl erhielt, kehrte, wie Janzarik schrieb, der Jaspersche Forschungsansatz nach Heidelberg zurück. Davor hatte von 1933 bis zu seinem Suizid im Jahr 1945 der vom NS-Staat protegierte Carl Schneider die Klinik geleitet. Kurt Schneider, für Janzarik neben Jaspers die prägende Figur der Heidelberger Psychopathologie, hatte bereits mit seinem in der Zeit bei Aschaffenburg an der Universität zu Köln verfassten Handbuchbeitrag über Die psychopathischen Persönlichkeiten (1923) einen entscheidenden Grundpfeiler für das klinisch wie forensisch besonders schwierige Gebiet der abnormen Persönlichkeiten bzw. der späteren Persönlichkeitsstörungen gesetzt. Sein wertfrei intendierter Ansatz einer unsystematischen, deskriptiv-typologischen Ordnung der vielfältigen Spielarten seelischer Erscheinungsformen besitzt bis heute hin Gültigkeit, auch wenn es gegenwärtig starke Bestrebungen gibt, das Feld in Zukunft durch dimensionale Ansätze, z.B. in dem alternativen Modell für Persönlichkeitsstörungen von DSM 5 oder in der Neukonzipierung des Persönlichkeitskapitels von ICD-11, grundlegend umzugestalten.
Nach den 12 Jahren eines katastrophalen geistigen Niederganges in der Zeit des NS-Staates war das erste Nachkriegsjahrzehnt, während dessen Kurt Schneider die Heidelberger Klinik leitete, für die Psychiatrie ungewöhnlich fruchtbar (Janzarik 1984). Nachfolger Kurt Schneiders wurde von Baeyer, der seine psychiatrische Ausbildung ebenfalls an der Heidelberger Klinik erhalten hatte, seinerzeit unter Wilmanns, und mit Janzarik folgte wiederum ein Schüler Kurt Schneiders auf das Heidelberger Direktorat. Gleichwohl hatte dieser schon früh eine eigenständige Entwicklung genommen und sich beispielsweise von der Position Kurt Schneiders abgewandt, wonach bei schizophrenen Kranken stets Schuldunfähigkeit zu unterstellen sei, während Janzarik bei der strafrechtlichen Begutachtung Schizophrener einen psychopathologischen, mehr zustandsbezogenen Schizophreniebegriff vertrat (Janzarik 1961, vgl. Lammel 2020). Auch später hat es durchaus unterschiedliche Arbeitsrichtungen an der Klinik gegeben, doch schreibt Janzarik hierzu:
„Entscheidend bleibt die Kontinuität der psychopathologischen Forschung hinter dem Wandel verschiedener Sichtweisen. Sie wurde mit der Allgemeinen Psychopathologie vor genau 70 Jahren begründet. Nur in Heidelberg ist seither die psychopathologische Forschung ohne Zäsur, wenn auch nicht ohne Gefährdung weitergeführt worden.“ (1984, 23)
Zur Kritik an Kurt Schneiders Psychopathiebegriff
Kröber beklagt in seiner erwähnten Einstandsarbeit von 1984, dass der nicht psychotische psychogene Schmerz und das psychosomatische Erkranken von der Psychiatrie nur sehr marginal behandelt und weitgehend einer analytisch orientierten Psychosomatik überlassen werden. Diese Kritik trifft sicherlich auch heute noch zu, außer dass an vielen Stellen die Psychosomatik in den Zuständigkeitsbereich des Faches Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik integriert wurde und im Übrigen die psychoanalytische Ausrichtung nahezu überall durch verhaltensorientierte Konzepte ersetzt wurde. Als Ursache für die zu Recht konstatierte Vernachlässigung der Schmerzphänomene in unserem Fach sieht Kröber die jahrzehntelange Vorherrschaft des Schneiderschen Konzeptes der abnormen und psychopathischen Persönlichkeiten, in dessen Typologie die körperlichen Symptome allein beim asthenischen Psychopathen abgehandelt wurden, der durch hypochondrische Kontrolle und Selbstbeobachtung eine Reihe psychogener Körperstörungen hervorrufe.
Eine gewisse Lähmung der Diskussion führt Kröber auf die Grundaussage der Lehre von Kurt Schneider zurück, dass es sich bei der Psychopathie lediglich um quantitative Abweichungen von einer Durchschnittsnorm handele, und dass diese wertfrei in einer unsystematischen Typologie zu beschreiben seien. Gerade in Hinblick auf den Normbegriff sieht Kröber die Gefahr, dass es auch jenseits enger politisch-sozialer Normbezogenheit eines Psychopathiebegriffes immer zu Grenzsetzungen und Wertungen kommt, die sich als unterdrückte Abneigung gegen Patienten mit psychogenen Körperstörungen auswirke. Wichtig in Hinblick auf den späteren Forensiker Kröber erscheint seine Aussage, dass angesichts der Wechselwirkungen von Anlage und Umwelt in der Entwicklung gestörter Persönlichkeiten die Lebensgeschichte und soziale Situation des Kranken wesentlich intensiver zu würdigen seien als im Konzept Kurt Schneiders.
Im Anschluss an diese Kritik spricht sich der auf dem Weg in die Heidelberger Klinik befindliche Autor für das strukturell-dynamische Modell von Janzarik als das am weitesten entwickelte Konzept aus, wenn es darum geht, die Persönlichkeitsstruktur und deren Störungen bei Patienten mit psychogenen Schmerzsyndromen zu verstehen. Insbesondere weist er unter Anlehnung an die Rezeption der Strukturdynamik durch den Wiener Psychiater Berner auf die Bedeutung abnormer dynamischer Grundkonstellationen hin, etwa bei hyperthymen oder depressiven Psychopathen, ein Thema, das später im Zusammenhang mit der Habilitation intensiver bearbeitet wurde (s.a. Kröber 1988, 1989). Ihn interessierte also die vitale Gefühls- und Triebsphäre, die bei Kurt Schneiders Konzentration auf abnormes Fühlen, Werten, Streben und Wollen bei der Psychopathie vernachlässigt werde. Wichtig war Kröber ein Aspekt, der schon an seine künftige Beschäftigung mit forensischen Themen denken lässt, dass nämlich bei manchen Formen devianten Sexualverhaltens abnorme Strukturbindungen der Dynamik eine Rolle spielen können. Lediglich gestreift werden sodann einige damals aktuelle Problemstellungen etwa bei der Borderline- oder der schizotypen Persönlichkeitsstörung, der Alexithymie und des Narzissmus, um am Schluss erneut auf die für die spätere forensische Arbeit wichtige Perspektive einer Umstrukturierung der Sozialbeziehungen zu kommen. Eine durchgreifende Bearbeitung der konzeptuellen Probleme um den Psychopathiebegriff findet allerdings noch nicht statt.
Konzepte zur Beurteilung der schweren anderen seelischen Abartigkeit
Anders wird es zehn Jahre später, als Kröber die Probleme, die mit der Psychopathiefrage und den Persönlichkeitsstörungen verbunden sind, erneut aufgegreift, nun aber aus forensischer Perspektive mit einer Arbeit über Konzepte zur Beurteilung der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ (Kröber 1995). Der Autor ordnet die unterschiedlichen Lösungsansätze für die Schuldfähigkeitsbeurteilung bei Persönlichkeitsstörungen und sexuellen Deviationen nach den verschiedenen Schulen in der Forensischen Psychiatrie. Aus dem Homburger Modell von Witter wird zustimmend festgehalten, dass krankhafte Abnormität die Verantwortungsfähigkeit allenfalls erheblich einzuschränken, nicht aber aufzuheben vermag. Witters Vorschlag, in den Mittelpunkt einer psychopathologischen Problemlösung die Einschränkung des Realitätsbezuges zu stellen, begegnet Kröber mit einer gewissen Reserve. Dies gilt auch für dessen Berufung auf eine angenommene Persönlichkeitsfremdheit einer Tat, die sie dann, weil unverständlich erscheinend, psychoseähnlich mache. Kröber verweist auf einen diskussionsbedürftigen qualitativen Unterschied etwa zwischen der unkorrigierbar autistischen Erlebnisveränderung eines Paranoikers und dem Realitätsbezug eines zornigen, gekränkten und verlassenen Liebhabers.
Mit mehr Einverständnis widmet sich Kröber, der 1994 die Leitung der forensischen Abteilung an der psychiatrischen Klinik des Eppendorfer Universitätsklinikum in Hamburg übernommen hatte, dem von ihm so bezeichneten Hamburger Modell. Gemeint ist damit die Konzeption einer psychopathologischen Entwicklung, die, ausgehend von den Überlegungen von Gebsattels und seiner Weiterentwicklung durch Giese, bis hin zur detaillierten Ausformung in der Fassung von Schorsch reicht. Dessen psychodynamische Unterfütterung des Gieseschen Modells ist nach Kröber daran zu prüfen, wie gut sich das Konzept für die Einschätzung der Schwere einer Störung und der Auswirkungen auf die Schuldfähigkeit nutzen lässt. Wenn Schorsch die Progredienz als ubiquitäres psychopathologisches Phänomen ansieht, das einen Schweregrad bezeichnet und in einer objektivierbaren Form diagnostiziert werden könne, hält Kröber dem kritisch entgegen, ob denn der Rekurs auf ein ubiquitäres Phänomen hilfreich sein kann und wie Progredienz bzw. deren Geschwindigkeit als Hinweise auf den Schweregrad und die Verlaufsprognose geeignet sind.
Als Berliner Eckwerte stellt Kröber die Position von Rasch dar, dessen Nachfolger am Institut für Forensische Psychiatrie der Berliner Freien Universität er 1996 werden sollte. Später erfolgte die Überführung des Instituts an die Charité/Universitätsmedizin, an der Kröber den forensischen Lehrstuhl bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2016 innehatte. An der strukturell-sozialen Krankheitsdefinition von Rasch (1982) kritisiert Kröber, dass der Bezug auf die sozialen Beziehungen zu unnötigen Missverständnissen geführt habe, weil damit keineswegs Aussagen zu sozialen Krankheitsursachen gemacht seien. Bei der Diskussion von Zusammenhängen zwischen sozialen Bedingungen und Dissozialität schließt er sich der Kritik von Rasch an, dass beim Konzept der antisozialen Persönlichkeitsstörung die anhaltende Kriminalität zum Merkmal seelischer Abartigkeit gemacht werden soll. Kritisch wertet er allerdings, dass Rasch die Diagnose einer antisozialen Persönlichkeitsstörung nur für sinnvoll halte bei Personen, denen es wegen schwerer emotionaler Schädigung während ihrer frühkindlichen Entwicklung nicht möglich sei, eine normale Ansprechbarkeit für soziale Werte zu entwickeln. Dem hält Kröber das Argument entgegen, dass dann die angenommenen Ursachen einer Störung Gewicht erhalten. Rasch, der früher bei Giese tätig gewesen war, folgt in der Hamburger Tradition dem Konzept der psychopathologischen Entwicklungen und hebt die typisierende Umprägung hervor als eine Persönlichkeitsveränderung, die Ausdruck einer Gewohnheitsbildung in der Lebensform sei. Hierzu weist Kröber auf Beziehungen zur strukturdynamischen Konzeption hin, wo eine Depravierung der Persönlichkeit durch Wertzerfall, Primitivierung und Verlust der sozialen Kompetenz beschrieben wird (Janzarik 1993a).
Damit gelangt Kröber zu den psychopathologischen Lösungsvorschlägen aus der Heidelberger Schule der forensischen Psychiatrie. In ihr Zentrum stellt er Werner Janzarik, der seit Beginn der 90er-Jahre in verschiedenen großen Arbeiten die strukturdynamische Konzeption (Janzarik 1988) auf forensisch-psychiatrische Fragestellungen erweitert hatte, beginnend mit psychologisch-psychopathologischen Überlegungen zu den Rechtsbegriffen der Einsicht und der Steuerung (1991). Kröber hebt hervor, dass mit den Themen der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ein großes Gewicht auf den zweiten Schritt der Schuldfähigkeitsprüfung gelegt wird. Dies steht im Gegensatz zur deutlichen Zurückhaltung zu diesen Fragen bei K. Schneider (1948), der weitgehend auf der ersten, diagnostischen Ebene verblieb. Als wichtigen Erkenntnisgewinn wertet Kröber, dass Janzarik bei der Erörterung von tiefgreifender Bewusstseinsstörung und schwerer anderer seelischer Abartigkeit im Sinne des psychopathologischen Referenzsystems (Saß 1985, 1991) auf klinische Erfahrungen mit der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit Psychotischer rekurriert. Dabei wendet Kröber sich mit Janzarik gegen eine einseitige und stark verkürzende Betrachtung allein des dynamischen Aspektes einer Störung, die von der sie determinierenden seelischen Struktur absieht. Demgegenüber wird die Bedeutung des steten Aktualisierungsdrucks der vorhandenen strukturellen Bestände herausgestellt. Dieser erfordert vom wachen Erwachsenen eine ständige Desaktualisierungsleistung, vergleichbar mit dem im forensischen Kontext geläufigen Hemmungsvermögen, das für Steuerung, Entscheidung und Handlung maßgebend ist (Janzarik 1991).
Bei den Persönlichkeitsstörungen lassen sich die unterschiedlichen Formen durch jeweils spezifische Abwandlungen von Struktur und Dynamik beschreiben (Janzarik 1993a). Hervorgehoben wird von Kröber der Gesichtspunkt, dass eine Persönlichkeitsentwicklung im Unterschied zu einem Krankheitsprozess mit Möglichkeiten der Auseinandersetzung und Anpassung verbunden ist, von Janzarik in die knappe Formulierung gefasst:
„Die Verantwortung dafür, wie einer geworden ist, kann ihm, solange eigene Entscheidungen die Entwicklung dahin wesentlich mitgestaltet haben, nicht abgenommen werden.“ (ebenda, 432)
Kröber weist darauf hin, dass Janzarik sich in Maßen gegen die Auffassung von Saß (1987) wende, wonach die schwere seelische Abartigkeit vor allem durch deutliche dynamische Auslenkungen oder Verschiebungen und nur in Ausnahmefällen durch Verformungen der seelischen Struktur gekennzeichnet sei. Dagegen sieht Janzarik (1993a) die Schwere der Abartigkeit im Wesentlichen bestimmt vom strukturellen Befund, also von Deformierungen und Defizienzen des individuellen Wertgefüges. Erneut zustimmend referiert Kröber, wie vorher schon bei Rasch, dass auch bei Janzarik und Saß großes Gewicht auf die Unterscheidung zwischen dissozialen Verhaltensweisen und psychopathologischen Auffälligkeiten gelegt wird.
Am Ende bejaht Kröber die Frage, ob es einen Zwischenbereich zwischen psychischer Krankheit einerseits und Spielarten menschlichen Wesens andererseits – hier wird denn doch auf die Begrifflichkeit Kurt Schneiders rekurriert – gibt, der dem Rechtsbegriff der schweren anderen seelischen Abartigkeit (seit dem 01.01.2021: schwere andere seelische Störung) zuzuordnen ist. Dass für die Beurteilung dieses Bereiches bei Witter ganz auf psychopathologische Kriterien verzichtet wird, zugunsten einer Auflistung anhaltender sozialer Schwierigkeiten, erscheint Kröber weniger nachvollziehbar, ähnlich wie er Witters entscheidenden Begriff psychoseähnlich als dunkel, ungebräuchlich und wenig einleuchtend ansieht. Positiver werte Kröber das von allen untersuchten Autoren herangezogene Konzept einer progredienten Verstrickung, das bis hin zum Phänomen der Selbstkorrumpierung im Vorfeld von Affektdelikten (Janzarik 1993b) reicht. Davon zu unterscheiden sind dauerhafte, ich-syntone, in den gesamten Lebensstil integrierte Bereitschaften zur Verletzung sozialer Normen. Betont wird auch die Übereinstimmung aller relevanten Autoren, dass außerhalb des Bereiches psychotischer Störungen die psychiatrische Diagnose noch keine Beurteilung der Schuldfähigkeit ermöglicht, vielmehr kommt es gerade bei Persönlichkeitsstörungen auf die Klärung an, welche psychopathologischen, psychodynamischen und interaktionalen Sachverhalte eine schwere Störung anzeigen.
Im Übrigen enthält Kröbers Ausblick am Schluss eine forensisch interessante Frage, die schon bei der Auseinandersetzung mit Rasch angeklungen war, mit der allerdings, soweit ersichtlich, in den Folgejahren und bis in die Gegenwart hinein noch keine grundsätzliche Beschäftigung erfolgt ist: Ob nämlich in Hinblick auf das Schuldstrafrecht bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit die Ursache einer psychischen Störung tatsächlich zu vernachlässigen sei. Zugespitzt formuliert Kröber:
„Macht es einen Unterschied für die Beurteilung der Schuldfähigkeit, ob eine Persönlichkeitsstörung genetisch determiniert, hirnorganisch erworben oder lebensgeschichtlich bedingt ist?“ (1995, 539)
Strukturdynamische Handlungsanalyse
Eine wichtige Bereicherung der forensischen Psychopathologie in der Heidelberger Schule brachte die Einbeziehung handlungswissenschaftlicher Konzepte. Sie wurde von Kröber, worauf später einzugehen ist, entscheidend vorangetrieben. Eingeleitet wurde die konzeptionelle Erweiterung mit einer Arbeit von Janzarik (2000) im Nervenarzt über Handlungsanalyse und die Bewertung seelischer Devianz. Für die Theoriebildung in der forensischen Psychiatrie ist dieser Beitrag von ähnlicher Bedeutung wie die ebenfalls grundlegende, aber leider von juristischer Seite unzureichend rezipierte Arbeit von 1991 über Grundlagen der Einsicht und das Verhältnis von Einsicht und Steuerung. Neu ist vor allem, dass Janzarik die Bedeutung der Handlungsanalyse als entscheidend herausstellt, auch wenn die Orientierung an einem psychopathologischen Referenzsystem bei der Einschätzung des Schweregrades seelischer Störung davon unberührt bleiben soll (Janzarik 2000, 181). Vor dem Hintergrund einer BGH-Entscheidung, nach der die schwere seelische Abartigkeit – sofern sie zu keinem Ausschluss der Schuldfähigkeit führt – generell die Steuerungsfähigkeit erheblich vermindern solle, weist Janzarik ebenso drastisch wie sarkastisch auf die Überschätzung diagnostischer Manuale hin, die jeder Art von seelischer Missbefindlichkeit, Varianz oder Störung bis hin zum Nägelkauen und Nasebohren einen Namen und eine Nummer geben. Erst die auf die diagnostischen Feststellungen folgende Handlungsanalyse sei geeignet, das natürliche wie das durch seelische Störung veränderte Handeln nach einem Prinzip zu ordnen. Janzarik kritisiert das Fehlen eines vorrechtlichen Handlungskonzepts, insbesondere seit dem Bedeutungsverlust der finalen Handlungslehre Welzels (1969). Diese sah im zielbewusst das kausale Geschehen lenkenden Willen das Rückgrat der finalen Handlung, eine Konzeption, die nach der kognitiven Wende in der akademischen Psychologie in den Hintergrund getreten war. Stärkere Beachtung fand, worauf Janzarik hinweist, die Analyse von Motivations-, Entscheidungs- und Handlungsabläufen erst wieder mit der Rehabilitierung des Willens in der akademischen Psychologie der 80er-Jahre.
Janzarik verweist hierzu auf die Forschungen des Psychologen Heckhausen (1987), dessen Analyse eines intentionsgelenkten Handelns allerdings auf die volitionale Phase beschränkt sei und aus der sich noch kein forensisch praktikables Handlungskonzept oder eine spezielle Entscheidungstheorie ergebe. Für Janzarik geht deliktisches Handeln hervor
„aus einem nach vielen Richtungen offenen Geflecht von Vorstellungen und Erwartungen, Phantasien und Überlegungen, Planungen, Intentionen und vorläufigen Entschlüssen, die auf dem Weg zum Ziel in eingeschalteten Reflexionen geprüft, in Frage gestellt, bestätigt und verworfen und erst in der Annäherung an nicht mehr revidierte und in die Ausführung umgesetzte Entscheidungen zu profilierten und eindeutig gerichteten Handlungssträngen zusammengezogen werden.“ (2000, 182)
Unter Bezug auf seine Adaptation der strukturdynamischen Konzeption an die Erfordernisse der Schuldfähigkeitsprüfung (Janzarik 1995) werden die zentralen Bestimmungsstücke in ihrer Bedeutung für eine psychopathologische Handlungstheorie dargestellt, etwa die Autopraxis der strukturellen Bestände, die Bedeutung von Desaktualisierung und Aktivierung sowie die Entstehung von deliktischem Handeln aus dem Zusammenspiel von Autopraxis und hemmenden Gegenkräften. Krankhaftigkeit als solche ergibt keinen Maßstab, vielmehr dienen gemäß dem Prinzip des psychopathologischen Referenzsystems Psychose und Wahn als Maß für die Bestimmung von forensischer Relevanz und Schweregrad bei den anderen Formen seelischer Devianz, etwa den Persönlichkeitsstörungen, abnormen Reaktionen und psychopathisch unterlegten Fehlhaltungen.
Bei der Einschätzung auf der zweiten Beurteilungsebene setzt Janzarik die Schwelle für die Anerkennung einer forensisch relevanten Einschränkung der Steuerungsfähigkeit bei dauerhaften Zuständen von Persönlichkeitsstörungen und psychopathisch unterlegten Fehlhaltungen hoch an. Anders verhalte es sich bei stürmischen abnormen Reaktionen auf dem Boden seelischer Devianz, die unvorbereitet aus der Situation entstehen, bevor strukturelle Gerichtetheiten geweckt sind, die den Impuls abfangen können. Überhaupt ist für Janzarik der strukturelle Überbau entscheidend, der nicht schicksalhaft entsteht, sondern Ergebnis einer Entwicklung ist, an der Selbstgestaltung und verantwortliche Entscheidung wesentlichen Anteil haben (2000, 186). Betont wird, dass die Auffälligkeiten im Erleben bei seelischer Devianz – hier zu verstehen i. S. von Persönlichkeitsstörung – zwar eine Fehlorientierung in mancherlei Richtung begünstigt, doch bleibt, anders als im Wahn, eine gemeinsame Welt mit den dort gültigen Normen bestehen. Als Anhalt für die Überprüfung der Steuerungsfähigkeit wird eine Zusammenstellung von Gesichtspunkten bei Saß (1987) herangezogen, die darauf hindeuten können, dass die Funktionstüchtigkeit der dem kriminellen Handeln widerstrebenden Gegenkräfte prinzipiell erhalten war. Bemerkenswerterweise verzichtet Janzarik bei seiner Erörterung der zweiten Beurteilungsstufe darauf, auf die Frage der Einsichtsfähigkeit einzugehen, wie auch im Literaturverzeichnis seiner Arbeit kein Hinweis auf seine grundlegenden Ausführungen zur Frage von Einsicht und Einsichtssteuerung erfolgt.
Zur Synthese von Handlungswissenschaften und Strukturdynamik
Von Kröber wurde die Hinwendung zu grundlegenden Perspektiven der Handlungstheorie, die Janzarik 2000 mit dem Bezug auf Heckhausen begonnen und 2004 fortgeführt hatte, wesentlich ausgebaut (Kröber 2004, 2007, 2016, 2020b). Ansätze dazu gab es bereits früher in der forensischen Psychologie, etwa durch Wegener (1983) mit der Untersuchung der Selbststeuerung bei der Handlungsanalyse einer Tat oder durch Steller (1993) mit einem Strukturmodell zur handlungstheoretischen Diagnostik bei Affektdelikten. Vor allem aber erwies sich als fruchtbar, dass Kröber die psychologischen Erkenntnisse zur aktiven intentionalen Handlungskontrolle aus der Osnabrücker Arbeitsgruppe von Kuhl (1983, 1987) und seinem Umkreis in die forensische Psychopathologie einführte. Grundlegend hierfür wurde Kröbers ideengeschichtlich weit ausholender Beitrag im Handbuch der Forensischen Psychiatrie über Steuerungsfähigkeit und Willensfreiheit von 2007, der insbesondere die Arbeiten zu Volition und kognitiver Kontrolle von Goschke (1996, 2002, 2006) heranzog.
Die psychologischen Auffassungen von der Handlungssteuerung wurden dann von Kröber in Beziehung gesetzt zu den strukturdynamischen Konzepten von Einsicht und Steuerung bei Janzarik (1995, 2000, 2004, 2011). In der forensischen Anwendung ist dabei zentral das Prinzip der Desaktualisierung, womit gemeint ist, dass es bei Handlungsentschlüssen weniger um die gezielte Aktivierung von Handlungsbereitschaften geht, vielmehr werden solche Handlungsbereitschaften freigegeben, die aufgrund ihrer emotionalen Befrachtung ins Bewusstseinsfeld drängen und bis dahin durch aktive Hemmung zurückgehalten wurden. Die willentliche Steuerung von autopraktischen Handlungsimpulsen beruht also auf der Fähigkeit zur Desaktualisierung, die gestützt ist auf die Kontinuität struktureller Gerichtetheiten. Ähnliche Vorstellungen über die Abläufe beim Entscheiden finden sich etwa auch bei Ludwig Klages, der den Willen als universelle Hemmtriebfeder beschrieb, während Kurt Schneider (1967, 166) den Willen als die Möglichkeit ansieht, zwischen zwei oder mehreren verschiedenen Strebungen zu entscheiden. Auch bei Kuhl (1987) wurde dargestellt, wie Willensprozesse aktive Handlungsabsichten gegenüber konkurrierenden Motivationstendenzen abschirmen.
Für Kröber ist evident, dass solche psychologischen Konzepte von Handlungssteuerung und Desaktualisierungsfähigkeit in engem Bezug zum forensisch-psychiatrischen Konzept von Steuerungsfähigkeit bzw. dem synonymen Begriff des Hemmungsvermögens stehen. Daraus entwickelt er die für forensische Zusammenhänge und gerade im Hinblick auf das Wahnproblem außerordentlich wichtige Differenzierung zwischen der exekutiven und der motivationalen Steuerungsfähigkeit (Kröber 2007, 190f). Danach bedeutet die exekutive Steuerungsfähigkeit, eine Handlung kognitiv ungestört, regelrecht und situationsadäquat ausführen zu können; sie zeichnet sich aus durch ungestörte Situationswahrnehmung, ungestörte Kontrolle eigenen Handelns, ein vorsatz- oder motivgemäßes Handeln und die Sicherung des Erfolges. Die motivationsbezogene Steuerungsfähigkeit dagegen bedeutet, das eigene Handeln auch bei starken Wünschen und Bedürfnissen normgerecht zu kontrollieren und die Ausführung normwidriger Motivationen zu inhibieren; sie zeichnet sich aus durch Hemmungsvermögen gegenüber Tatimpulsen, Fähigkeit zur Kosten-Nutzen-Abwägung und Desaktualisierungsfähigkeit.
Nach einem Zwischenschritt mit der Arbeit über Die Beurteilung der Steuerungsfähigkeit bei psychischen Störungen im Jahr 2016 hat Kröber jüngst in einem Beitrag über Verhaltenssteuerung und Desaktualisierung – Werner Janzariks Erhellung strafbaren Handelns. (Kröber 2020c) die dargestellte Synthese aus handlungstheoretischen Modellen und strukturdynamischen Konzepten für die forensische Psychopathologie noch einmal zusammengefasst. Im selben Heft der Zeitschrift erschienen mehrere Beiträge, deren forensisch-psychiatrische Fragestellungen angeregt waren durch die strukturdynamische Konzeption und die forensischen Schriften Werner Janzariks, der Anfang 2020 im 100sten Lebensjahr gestorben war. Ebenfalls in diesem Heft enthalten war der Neuabdruck der Arbeit über Grundlagen der Einsicht und das Verhältnis von Einsicht und Steuerung (Janzarik 1991). Sie betont den wichtigen, bislang zu wenig beachteten Sachverhalt, dass Einsicht und Steuerung keineswegs zwei isolierte, kategorial voneinander zu trennende Leistungen darstellen, wie es der Gesetzestext nahelegt. Psychologisch betrachtet sind beide Funktionen vielmehr eng miteinander verquickt, was im treffenden Begriff der Einsichtssteuerung von Janzarik zum Ausdruck kommt. Kröber fügt bei seiner Erörterung der Einsichtsfähigkeit den interessanten Aspekt hinzu, dass es auch um die Einsichtsbereitschaft eines Täters geht (2020c, 416). Man könnte hier auch von Einsichtswilligkeit sprechen und denkt hierbei an die progrediente Vereinseitigung bei der Interpretation von Recht und Unrecht im Rahmen von fanatisch-querulatorischen Fehlentwicklungen (Saß 2010). Davon zu unterscheiden ist aus strukturdynamischer Perspektive die existentielle Umwandlung der Weltsicht auf dem Boden eines psychotisch abgewandelten Wertgefüges. Dies hat eine fundamentale Fehlsteuerung der Einsicht zur Folge, wie es etwa bei der durch eine Psychose aufgehobenen Einsichtsfähigkeit bei einem Wahnkranken der Fall ist, für den in einer abwegigen, bizarren Sicht der Welt die vorgegebenen Normen keine Gültigkeit mehr besitzen (vgl. Janzarik 2011, Kröber 2020a, Lammel 2011, Saß 2022).
Schlussbemerkung
Kröber ist ein Schüler Janzariks, der sich in seinem historischen Rückblick auf die Heidelberger Schule als Schüler Kurt Schneiders bezeichnet, worauf Lammel zu Recht hinweist (2017, 162). Damit befindet er sich mitsamt den ihm wissenschaftlich Nahestehenden in der Tradition der Heidelberger Psychopathologie, die mit Kraepelin um die Jahrhundertwende das Grundgerüst der Psychiatrie errichtet und sodann mit der engen wissenschaftlichen Verbundenheit von Jaspers und Kurt Schneider das Gesicht der Heidelberger Psychiatrie am stärksten geprägt hat (Janzarik 1984, 23). Stets kamen von dort wichtige Impulse für die forensische Psychiatrie, insbesondere im Kontext der strukturdynamischen Konzeption von Werner Janzarik. Später geschah dies in Berlin und an anderen Orten, doch bleibt verbindend für die Heidelberger Schule die Verpflichtung auf die Psychopathologie als Grundlagenwissenschaft (vgl. Janzarik 1979) der Psychiatrie.
Dabei erscheint derzeit, betrachtet man den Bedeutungsverlust psychopathologischer Methoden und Konzepte in weiten Teilen der gegenwärtigen psychiatrischen Wissenschaft, die forensische Psychiatrie geradezu als ein Refugium der traditionellen Psychopathologie. Unabdingbar bleibt allerdings auch weiterhin der enge Austausch mit den klinischen wie den theoretischen Entwicklungen des psychiatrischen Mutterfaches. Ein Verdienst von Kröber ist es, dass er die forensische Psychiatrie durch Perspektiven und Erträge aus soziologischen, kriminologischen und psychologischen Nachbarwissenschaften bereichert hat. Dass dies mit so großer Produktivität und Schaffensfreude geschah, lässt abschließend an eine der menschenkundlichen Bemerkungen Janzariks denken, die sich in der zu Beginn dieses Beitrages zitierten Arbeit findet. Der Satz war auf Kurt Schneider gemünzt, doch ließe ihr Autor sie zweifellos auch für Hans-Ludwig Kröber gelten, zumal auch dieser sich, wie Kurt Schneider, in früheren Jahren gegen die Bonzen des Faches gewandt hat. Janzarik schreibt:
„Auf seine Art war Kurt Schneider einer von den aufmüpfigen jungen Männern, die zu Klassikern werden, wenn sie nur kreativ, ihrer Sache treu und lange genug am Leben bleiben.“ (1984, 21)
Dafür die besten Wünsche an den Jubilar.
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Der 70. Geburtstag von Prof. Dr. Hans-Ludwig Kröber im Januar 2021 verlief pandemiebedingt ohne öffentliche Aufmerksamkeit. Zehn Jahre zuvor haben seine Kolleginnen und Kollegen ihn mit einem ganztägigen Symposium geehrt. Dort habe ich seine Person und sein Wirken einer psychologischen Analyse unterzogen. Diese hat weiterhin Gültigkeit.
Die menschliche Entwicklung wird in der Psychologie als Aufgabenbewältigung interpretiert, also als Auseinandersetzung mit und als Erfüllen von Anforderungen, die an das Individuum im Lebenslauf gestellt werden. Hans-Ludwig Kröber hat zunächst die Entwicklungsaufgabe bewältigt, unbeschadet durch Kindheit, Jugend und Adoleszenz zu gelangen. Er hat dann das Studium der Medizin an der Universität Münster absolviert. Er bewältigte alle diese Aufgaben trotz zeitraubenden Engagements in Protestaktionen gegen das Establishment, dem er als Professor nun selbst angehört. Nach der Facharztausbildung in Bielefeld-Bethel war er an der Universitätsklinik in Heidelberg tätig, wo er sich habilitierte. Ab 1994 war er Professor am Universitätsklinikum in Hamburg-Eppendorf. Von dort wurde er zum 1. März 1996 auf den Lehrstuhl für Forensische Psychiatrie in Berlin berufen.
Prof. Kröber hat das Institut für Forensische Psychiatrie in Berlin bis zu seiner Emeritierung Ende September 2016 erfolgreich geleitet. Er hat für eine positive Wahrnehmung des Instituts in der Öffentlichkeit gesorgt. Dazu hat er vorhandene Ansätze ausgebaut. So hat er die Montagscolloquien zu so attraktiven Veranstaltungen gemacht, dass der Seminarraum im Keller der Dahlemer Villa, in dem das Institut seinerzeit untergebracht war, regelmäßig die Anzahl der Zuhörenden nicht fassen konnte. Prof. Kröber hat in diesem Colloquium selbst zahlreiche Vorträge gehalten. Er hat die jährliche forensische Junitagung in Berlin ins Leben gerufen, die 2022 zum 25. Mal stattfindet. Er hat forensische Weiterbildungen am Griebnitzsee und in Warnemünde initiiert, die zu Traditionen geworden sind und jährlich viele Interessenten anlocken.
Prof. Kröber hat die Zeitschrift für Forensische Psychiatrie, Psychologie und Kriminologie mitbegründet. Neben zahlreichen Publikationen in Zeitschriften und Büchern hat er mit anderen das fünfbändige Handbuch für Forensische Psychiatrie herausgegeben. In diesem finden sich auch zahlreiche von ihm verfasste Beiträge.
Prof. Kröber war und ist als Sachverständiger für Forensische Psychiatrie mit dem Schwerunkt auf Schuldfähigkeits- und Prognosegutachten tätig. In Sachbüchern hat er über seine Begutachtungen bei interessanten Fällen, sprich: Morden, berichtet.
Prof. Dr. Hans-Ludwig Kröber hat seine Entwicklungsaufgaben im beruflichen Bereich nicht nur erfüllt, sondern deutlich übererfüllt.
„Kleine Fächer“ an Universitäten geraten bei Ausscheiden eines Lehrstuhlinhabers zuweilen in Gefahr, „abgewickelt“, also eingespart zu werden. So war es auch nach der Emeritierung des Vorgängers von Prof. Kröber, des fachlich seinerzeit ebenfalls herausragenden Prof. Dr. Wilfried Rasch, die zum 30. September 1993 erfolgte. Das Auswahlverfahren für die Nachfolge von Prof. Rasch konnte aufgrund der kompetenten Bewerbung von Prof. Kröber schnell und mit einem klaren Ergebnis abgeschlossen werden, sodass das Institut durch seine Berufung erhalten wurde. Prof. Kröber hat also den Fortbestand des Instituts für Forensische Psychiatrie in Berlin bereits einmal gesichert, als er noch gar nicht da war.
In den letzten Jahren seiner aktiven Zeit an der Universität bestand dann eine Hauptaufgabe von Prof. Kröber in der erneuten Sicherung der Arbeitsfähigkeit des Instituts für Forensische Psychiatrie. Es ging um den Fortbestand der Forensischen Psychiatrie und Psychologie als universitäre Fächer in Berlin, die durch Sparmaßnahmen der Universitätsmedizin in Gefahr gerieten. Prof. Kröber ist es gelungen, das Institut und die Psychotherapeutische Ambulanz (PTA) der Justizvollzugsanstalt Tegel in einer organisatorischen und konzeptuellen Einheit zu verschmelzen. Das universitäre Institut blieb so erhalten. Dass immer mehr als das Erreichte gedacht und gewünscht werden kann, schmälert nicht die Verdienste von Prof. Kröber.
Die Organisatoren des Symposiums zu Ehren von Prof. Kröber vor zehn Jahren haben dieser Veranstaltung den folgenden Titel gegeben: „Perspektivenbeweglichkeit in der Wahrnehmung des Anderen – Forensische Psychiatrie als Menschen-Erkundung“. Dieser Titel beschreibt eine Maxime des Jubilars im Umgang mit dem zu begutachtenden Rechtsbrecher und seiner Tat. Hier soll das Motto benutzt werden, um die persönliche Perspektive des Laudators in der Wahrnehmung von Hans-Ludwig Kröber zu beschreiben.
Ich war schon einige Jahre als Professor für forensische Psychologie am Institut für Forensische Psychiatrie tätig, als Prof. Kröber zu dessen Leiter berufen wurde. Was für einen Blickwinkel auf Prof. Kröber und was für eine Aussicht auf die Zukunft hatte ich seinerzeit? Natürlich kannte ich Vita und Publikationsliste des Bewerbers. Ich hatte auch Einiges von ihm gelesen und seinen Bewerbungsvortrag gehört. Darüber hinaus gab es Gerüchte: Prof. Kröber sei ein Mann mit eher konservativer forensischer Ausrichtung, Exkulpation sei von ihm bei psychiatrischer Erkrankung zwar zu erwarten, aber Dekulpation wegen psychischer Beeinträchtigungen, etwa bei Persönlichkeitsstörungen, auf keinen Fall. Prof. Kröbers Psychiatrieverständnis sei somatisch orientiert – schließlich habe man sich unter seiner Mitwirkung in einem Forschungsprojekt über Jugenddelinquenz auch mit Hirnschädigung befasst. Es war vermeintlich fortschrittlichen Sozialwissenschaftlern suspekt, das Gehirn oder dessen Schädigungen als mögliche Determinanten menschlichen Verhaltens einzukalkulieren. Perspektivenbeweglichkeit war von mir gefordert. Denn es stellte sich sehr schnell heraus, dass auf die Gerüchte über Prof. Kröber nichts zu geben war. Und was die ihm zugeschriebene Dekulpierungs-Feindlichkeit angeht, so kann man durch Lektüre seiner Publikationen feststellen: Prof. Kröber hat seine Position zur verminderten Schuldfähigkeit historisch, juristisch und – wie ich meine – logisch stringent begründet.
Als erste Perspektive in meiner Wahrnehmung des Neu-Berufenen halte ich fest: Prof. Kröber ist forensisch umfassend informiert.
Nicht erst Prof. Kröbers Kommentare zu manchen Postulaten aus der sogenannten modernen Hirnforschung, sondern auch bereits seine frühen Publikationen machen auch klar: Er ist ein Psychiater, der psychologische Theorien und Befunde fundiert in seine Überlegungen einbezieht. Prof. Kröber las und liest aber ganz offensichtlich nicht nur psychologische Literatur, er ist ausweislich seiner Publikationen auch in der Philosophie zu Hause.
Als weitere Wahrnehmung von mir ergibt sich: Prof. Kröber ist nicht nur psychiatrisch und psychologisch, sondern umfassend gebildet.
Als Prof. Kröber 1996 ans Institut in Berlin kam, waren dort mehrere psychiatrische und psychologische Mitarbeitende mit zeitbegrenzten Anstellungen tätig. Mein damaliger perspektivischer Gedanke war: Was wird der Neue tun? An Universitäten ist es üblich, dass Neu-Berufene im Personalbereich erst einmal Tabula rasa machen, um frei gewordene Stellen mit eigenen Gefolgsleuten zu besetzen. Nicht so Prof. Kröber: Er förderte es, dass Verträge von vorhandenen Ärztinnen und Ärzten, Psychologinnen und Psychologen verlängert wurden. Nach seiner Berufung brachte er mir gegenüber einmal seine Zufriedenheit zum Ausdruck, dass er ein funktionierendes Institut mit kompetenten Mitarbeitern vorgefunden hatte.
Als weitere Perspektive in meiner Wahrnehmung des Institutsleiters betone ich: Prof. Kröber ist offen und ehrlich sowie verlässlich im kollegialen Umgang.
Aus meinem Bericht folgt auch: Prof. Kröber handelte schlau, was Mitarbeiterauswahl und Mitarbeiterführung angeht. Er sah sich selbst zwar eher nicht als Manager oder Vorgesetzter, Verwaltung war ihm nach Selbstauskunft ein Gräuel. Wenn es aber nötig war, so konnte sich jeder auf sein Engagement als Institutsdirektor verlassen. Prof. Kröbers Art, das Institut zu führen, hat mich gelehrt: Ein guter Solist muss nicht zwingend ein Einzelgänger sein.
Eine weitere Perspektive beinhaltet: Prof. Kröber ist ein sozial integriertes Individuum.
Er erfüllte dieses Anforderungsprofil für Wissenschaftler bereits, bevor es Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt in einer Rede in Berlin formulierte.
Mitarbeiter des Instituts und assoziierte Kolleginnen und Kollegen haben die sozialkommunikativen Seiten von Prof. Kröber vor allem durch Weihnachtsfeiern und durch Institutsausflüge kennen gelernt. Prof. Kröber begründete eine Tradition: Institutsausflüge ins Umland endeten als jährliche Sommerfeste im Garten und auf der Terrasse, zu später Stunde dann im Wohnzimmer des Zehlendorfer Hauses der Familie Kröber – köstliches Essen und exzellenter Wein waren garantiert. Diese Sommerfeste waren nicht denkbar ohne Frau Kröber. Vielleicht war die Diplom-Soziologin Frau Tae-Ok Kröber letztlich für die erwähnte gelungene soziale Integration von Hans-Ludwig Kröber verantwortlich, der ja zuweilen eher introvertiert erscheint. Unvergessen bleibt jedenfalls, dass Frau Kröber über ihren Mann als Herr Kröber sprach und dass sie ihn auch als Herr Kröber anredete.
Ich erkenne darin eine weitere Perspektive in der Wahrnehmung des auf Gemeinschaft hin angelegten Homo Socialis Hans-Ludwig Kröber: Er realisiert kommunikative Nähe und Distanz in gelungener Kombination.
Es gibt noch eine weitere, keineswegs nebensächliche Perspektive in meiner Wahrnehmung von Prof. Kröber: Er spielt hervorragend, manchmal geradezu verliebt wirkend, mit der deutschen Sprache. Darüber hinaus denkt er schnell. Er hat Detailwissen parat und erkennt komplexe Zusammenhänge. Wer intellektuell so funktioniert wie er, gerät notwendigerweise in Konflikt mit zeitgeistigen und häufig nur einseitigen Betrachtungen, Botschaften und Forderungen. Wie ging und geht Prof. Kröber mit der Erfahrung um, nicht nur in der Körpergröße, sondern auch im Wissen und Denken anderen nicht selten überlegen zu sein?
Als weitere Perspektive in der Wahrnehmung von Prof. Kröber ergibt sich: Seine Kompetenz und Eloquenz führen unausweichlich zum Einsatz von distanzierender Ironie.
Ich empfehle dazu die Lektüre seiner diversen „Blitzlichter“ in der Zeitschrift für Forensische Psychiatrie, Psychologie und Kriminologie. Zeitgeistige Einseitigkeiten in Psychotraumatologie und Viktimophilie wurden dort von Prof. Kröber ebenso zerpflückt wie eine auf Wegsperren reduzierte Reaktion auf Kriminalität.
Kompetenz, Eloquenz und Ironie von Prof. Kröber haben den Umgang mit ihm niemals langweilig werden lassen. Aufgrund dieser Eigenschaften wurde er zu einem begehrten Schreiber und Redner. Sie machten und machen ihn aber auch zu einem gefährlichen geistigen Gegenspieler. In meiner Fantasie sehe ich, dass forensische Sachverständige bei der Abfassung ihrer Gutachten ängstlich antizipieren, was Prof. Kröber als potenzieller Zweitgutachter zu ihren Expertisen sagen könnte. Denn die Vergangenheit hat gezeigt, dass Kritik von Prof. Kröber deutlich ausfallen kann. Den forensischen Psychowissenschaften und der justiziellen Praxis ist auch deswegen zu wünschen, dass Prof. Kröber noch lange als aktiver und streitbarer Förderer tätig sein wird.
Perspektivisch gesprochen: Lieber Herr Kröber, machen Sie bitte einfach so weiter wie bisher!
Die Tätigkeit als Mitarbeiterin der Wochenzeitung Die Zeit hat Begegnungen und Gespräche mit Hans-Ludwig Kröber ermöglicht. Gerichtsreportagen gehören zu den Teilen einer Zeitung, die ein besonderes Interesse beim Leser wecken, das in aller Regel am Fall und am Täter ausgerichtet ist, mithin weniger am Sachverständigen, es sei denn, er wird zum Gegenstand kritischer Diskussionen. Fragt man nicht erst nach dem Ergebnis, sondern bereits nach Voraussetzungen und Wegen, die es braucht, um psychiatrische Expertisen erstellen zu können, dann gelangt man zu Beobachtungen und Ergebnissen, über die ich hier berichten möchte.
Kröber redet freundlich mit der Frau, die ihre Tochter in einem Hamburger Hochhaus verhungern ließ, und mit dem Mann, der eine 13-Jährige in Dresden gefangen hielt. Er verabscheut keinen. Das Böse ist für Kröber keine Abnormität, die ihn in seiner Arbeit behindert, vor allem kein Grund für Ressentiment. Es begegnet ihm in Untersuchungsgefängnissen. Für gefährlich hält er Menschen, die nichts zu verlieren haben, die nichts besitzen, woran ihr Herz hängt.
Manche Männer überqueren im Segelboot den Stillen Ozean, um jene Grenzen zu überschreiten, die dem Menschen gesetzt sind, andere durchmessen zu Fuß den brasilianischen Dschungel, wieder andere verabreichen sich halluzinogene Pilze oder erklimmen Himalaya-Gipfel ohne Sauerstoffgerät. Hans-Ludwig Kröber überschreitet Grenzen, indem er sich an einen Tisch setzt, seinen Block herausholt und zuhört. Grenzüberschreitungen gehören zum Alltag eines forensischen Psychiaters, allerdings diejenigen anderer Menschen, jener „Verbrecher“ nämlich, die nun als sogenannte Probanden vor Kröber sitzen und ihn im Geiste mitreißen über diese unsichtbare Linie, die den mittleren Bürger trennt vom „Räuber“, vom „Kinderschänder“, vom „Mörder“. Zahllose Kriminelle hat Kröber im Laufe der Jahre hinüberbegleitet in die dunklen Gefilde, die scheinbar außerhalb der Gesellschaft liegen, in Wahrheit jedoch mittendrin: wo Anstand und Rücksicht als Schwächen gelten, wo die Regeln des Zusammenlebens manchmal ganz aufgehoben sind, wo das Recht des Stärkeren regiert, oder die Verblendung, die bloße Angst, die totale Einsamkeit.
Viele unter Kröbers Probanden haben Taten begangen, die das Land aufwühlten: Marlis S. beispielsweise, die ihre siebenjährige Tochter Jessica in einem Hamburger Hochhaus verhungern ließ. Oder Mario M., der eine 13-Jährige in seiner Dresdner Wohnung wochenlang als Sexsklavin gefangen hielt. Oder der 17-jährige Felix D., der im mecklenburgischen Tessin scheinbar anlasslos ein Ehepaar aus der Nachbarschaft erstach. Auch Christian Klar sollte von Kröber auf seine künftige Gefährlichkeit hin begutachtet werden, als die Begnadigung des RAF-Terroristen durch den Bundespräsidenten noch zur Debatte stand. Doch Klar verweigerte die psychiatrische Untersuchung, begnadigt wurde er nicht.
Hans-Ludwig Kröber, ehemals Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie der Charité, ist einer der gefragtesten Kriminalpsychiater des Landes. Wenn er einen Täter exploriert, verströmt er – unbeeindruckt von den Abgründen, die sich vor ihm auftun – freundliche Ungezwungenheit. Nichts Klinisches umgibt den Nervenarzt bei der Arbeit. Nichts Steriles. Nichts Lauerndes. Nichts, wovor einer sich fürchtet. Die Begutachteten – und manchmal auch deren Angehörige – unterhalten sich mit einem netten Herrn, der sich aufrichtig für ihr Schicksal und die Untat interessiert. Wie ist es denn schließlich zur Entscheidung gekommen, die Frau zu vergewaltigen, will er von einem Delinquenten wissen. Haben Sie sich das früher schon mal ausgemalt? Oder: Haben Sie denn gar nicht daran gedacht, was passiert, wenn man Sie erwischt? Oder: Ihre Geschichte stimmt doch nicht! Die Spuren am Tatort sagen etwas ganz Anderes. Oder: Man erschießt doch keine wildfremde Frau, bloß weil man mit seiner Mutter seit Wochen Ärger wegen irgendwelcher Möbel hat!
Vielleicht erfährt Kröber deshalb oft viel über die Hintergründe einer Tat, denn er verabscheut keinen, er ekelt sich nie. Auch nicht, wenn ihm ein wirklich böser Mensch gegenübersitzt und lächelnd erzählt, wie sein kindliches Opfer noch versucht hat, durch Bezahlen von 20 Pfennig der unausweichlichen Ermordung zu entgehen. So was ist auch für Kröber schwer zu ertragen. In solchen Momenten, schreibt er in einer Fachzeitschrift, schützen wir uns durch unseren Wunsch zu verstehen und unsere Fähigkeit, mehr zu verstehen als wir verstehen können.
Es sei eine Art ethnologisches Interesse, das ihn antreibe herauszufinden, warum deutsche Jugendliche in Berlin-Neukölln auf dem Schulhof mit dem Butterflymesser aufeinander losgingen, sagt Kröber. Warum ein braver Polizeibeamter plötzlich Tennisschläger klaue, warum ein Schuster seiner Ehefrau den Schädel einschlage. Meistens kommen dem Psychiater die Tatmuster bekannt vor, mitunter trifft er Menschen, die selbst ihn noch erstaunen. Doch alle Straftäter, wie grausam ihre Verbrechen auch waren, wie unsympathisch sie im Gespräch erscheinen mögen, bleiben für den Sachverständigen Menschen, die für ihre Vergehen ganz persönliche – wenn bisweilen auch kaum nachvollziehbare – Gründe hatten. Und deren Wert immer noch schwerer wiegt als der Unwert ihrer Taten.
Vielleicht vermeidet Kröber in seinen schriftlichen Gutachten, die er anschließend für die Staatsanwaltschaft oder das Gericht anfertigt, gerade dieser Anteilnahme wegen jeder Weinerlichkeit. Im Gegenteil, er schlägt zuweilen einen Ton hemdsärmeliger Direktheit an, die manchem, der Kröber nicht kennt, zynisch vorkommt. Über eine „Kindsmörderin“ schreibt er: Frau X ist eine auffällige Persönlichkeit mit einer erheblichen emotionalen Dickfelligkeit, einer markanten Sturheit und einer geringen Anstrengungsbereitschaft und einer Neigung zur Bequemlichkeit. Über einen „Frauenmörder“ steht im Gutachten: Herr Y betonte, unser Gespräch habe ihn enorm aufgewühlt. Diese verbalen Bekundungen waren sicher hilfreich, weil man es Herrn Y nicht ohne Weiteres angemerkt hätte, abgesehen von einem kurzen Tränenausbruch, der allerdings aufgesetzt wirkte. Es gab vereinzelte dramatisierende Momente, ansonsten aber kein wesentliches Agieren. Das Beziehungsangebot bestand am deutlichsten darin, man möge sich seiner als eines braven Kindes erbarmen. Andere seiner Expertisen verfallen der hässlichen Materie zum Trotz in einen beinahe feuilletonistischen Stil. Man merkt, dass hier ein witziger und sprachlich gewandter Verfasser am Werk ist, und bedauert mitunter, dass Kröbers Texte dem engen Lesezirkel der Richter, Staatsanwälte und Verteidiger vorbehalten bleiben.
Ich erinnere mich an Uwe K., der den neunjährigen Jungen Mitja in Leipzig nach der Schule fortgelockt, missbraucht und ermordet hat. Eine Überwachungskamera in der Straßenbahn hat K. und sein Opfer noch kurz vor dessen gewaltsamem Tod aufgenommen. Und die Zeitungen druckten das Bild: Da sitzt der vorbestrafte Sexualtäter neben dem todgeweihten, arglos lachenden Kind. Auch solchen Menschen muss Kröber gerecht werden. Auch bei K. hat Kröber sich im Auftrag der Justiz der Frage gewidmet: Weshalb hat er das getan? Ist sein Gehirn krank? Und wenn nicht, aus welcher Lebensgeschichte, aus welchem Augenblick heraus erwuchs das Motiv, eine Tat wie diese zu begehen? Dann wird Kröber ein weiteres Mal als Sachverständiger in einem Mordprozess sitzen, ein übergroßer, etwas übergewichtiger Mann, dessen Kopf mit dichten, moosartigen Locken bedeckt ist und dessen Miene nichts verrät außer dem Bedürfnis, in Ruhe gelassen zu werden. In den Verhandlungspausen wird er sich Knöpfe in die Ohrmuscheln schieben und zu den Klängen von Klavierkonzerten oder Bach-Kantaten Aufzeichnungen anfertigen, vielleicht auch sein vorläufiges schriftliches Gutachten mit dem vergleichen, was er soeben gehört hat. Wenn Journalisten ihn ansprechen, wird er freundlich lächelnd weitergehen. Und am Ende des Prozesses, wenn die Beweisaufnahme fast schon abgeschlossen ist, wird er das Wort haben und dem Gericht zu erklären versuchen, was sich im Inneren des Angeklagten K. zum Tatzeitpunkt abgespielt haben könnte.
Die forensische Psychiatrie ist keine exakte Wissenschaft wie die Mathematik oder die Physik. Bei ihr hängt der Erkenntnisgewinn ab von der Beobachtungsgabe, der Intelligenz und der Erfahrung eines Sachverständigen. Bisweilen scheinen die Grenzen zwischen ärztlichem Wissen und einer Interpretationsfähigkeit, die aus der puren Menschenkenntnis geboren ist, zu verschwimmen. In jedem Fall gehören die Stunden, in denen Kröber seine Ausführungen macht, zu den lehrreichsten einer Hauptverhandlung. Dann geht es vor Gericht nicht mehr um Spuren, Zeugenaussagen oder gerichtsmedizinische Details, sondern um jene Generalfrage, die jeden in seinem Innersten berühren muss: Wie konnte jemand, der als ganz normales Kind geboren wurde, so werden wie der, der jetzt auf der Anklagebank sitzt? Wie kann aus einem harmlosen kleinen Kerl einer wachsen, der vergewaltigt, misshandelt, um sich sticht, Feuer legt? Oder einer, der keine menschliche Regung mehr kennt?
In jenen Gutachten, die sich mit schuldfähigen Angeklagten befassen, wirft Kröber deshalb immer auch soziale, ethische und letztlich politische Fragen auf: Wie kann es sein, dass ein Kind mitten in der Großstadt über Jahre in einem verdunkelten Raum verhungert und niemand nimmt davon Notiz? Welche Vernachlässigungsprozesse führen dazu, dass ein hochbegabter Junge unter den Augen von Lehrern und Sozialarbeitern zum Sexualstraftäter wird? Fragen, die weit hinausgehen über die angeklagte Person und sich ausweiten zu einer Deutung des Menschen und der Welt, in der wir leben. Während der Nervenarzt im Gerichtssaal sein Gutachten erstattet, legt sich mancher im Publikum still Rechenschaft darüber ab, wie nah er selbst dem Abgrund wohl schon gewesen ist, oder sinnt mit heimlicher Dankbarkeit darüber nach, welche biografischen Katastrophen ihm erspart geblieben sein mögen. Auch wegen solcher Sachverständigenauftritte ist die Öffentlichkeit von Hauptverhandlungen so wichtig: Dem selbstgerechten Hörer, der gekommen ist, sich an der Vernichtung der Bestie durch das Strafgericht zu ergötzen, macht das Verabscheuen plötzlich keinen rechten Spaß mehr. Und oft muss er erkennen, dass ihn von dem Elenden da auf der Anklagebank nichts anderes trennt als das Glück, von einem zerstörerischen Schicksal verschont geblieben zu sein.