Forever 21 - Lilly Crow - E-Book

Forever 21 E-Book

Lilly Crow

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Beschreibung

Geh zum Spiegel. Erkennst du dich? Nein, natürlich nicht. Nur die Angst in den Augen ist dir vertraut. Dachtest du wirklich, du könntest seiner Strafe entkommen?

Ava ist 21 Jahre alt. Für immer. Sie hat eine schwere Schuld auf sich geladen und wurde zur Strafe mit einem dunklen Fluch belegt. Nun muss sie immer wieder durch die Zeit reisen, an immer neue Orte, in unterschiedliche Situationen. Nur ihre Aufgabe ändert sich nie: Sie muss zwei Seelenverwandten helfen, zueinanderzufinden. Dazu hat sie jedoch nie viel Zeit. Ihr Blut ist wie Säure, und wenn sie sich nicht beeilt, ihre Aufgabe zu erfüllen, leidet sie unsagbare Schmerzen. Dann lernt sie in einem der Sprünge Kyran kennen. Und auf einmal ist alles anders. Doch haben die zwei eine Zukunft, wenn Ava die Zeit und den Ort, an dem Kyran lebt, wieder verlassen muss?


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Inhalt

Über das BuchÜber die AutorinTitelImpressumPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23

Über das Buch

Geh zum Spiegel. Erkennst du dich? Nein, natürlich nicht. Nur die Angst in den Augen ist dir vertraut. Dachtest du wirklich, du könntest seiner Strafe entkommen?

Ava ist 21 Jahre alt. Für immer. Sie hat eine schwere Schuld auf sich geladen und wurde zur Strafe mit einem dunklen Fluch belegt. Nun muss sie immer wieder durch die Zeit reisen, an immer neue Orte, in unterschiedliche Situationen. Nur ihre Aufgabe ändert sich nie: Sie muss zwei Seelenverwandten helfen, zueinanderzufinden. Dazu hat sie jedoch nie viel Zeit. Ihr Blut ist wie Säure, und wenn sie sich nicht beeilt, ihre Aufgabe zu erfüllen, leidet sie unsagbare Schmerzen. Dann lernt sie in einem der Sprünge Kyran kennen. Und auf einmal ist alles anders. Doch haben die zwei eine Zukunft, wenn Ava die Zeit und den Ort, an dem Kyran lebt, wieder verlassen muss?

Über die Autorin

Lilly Crow schreibt Bücher für Jugendliche und Erwachsene, außerdem arbeitet sie als freie Drehbuchautorin für eine Fernsehserie. Somit kennt sie sich bestens damit aus, sich immer wieder neue Geschichten und mal spannende, mal romantische, mal dramatische Handlungsabläufe auszudenken. Die Fortsetzung zu Forever 21. Zwischen uns die Zeit erscheint bereits im Herbst 2017.

Lilly Crow

FOREVER

21

ZWISCHEN UNS DIE ZEIT

beBEYOND

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright © 2017: by Bastei Lübbe AG, Köln

Das Gedicht von Elizabeth Bishop im 6. Kapitel wurde von der Autorin frei übersetzt.

Umschlaggestaltung: © Sandra Taufer, München unter Verwendung von Motiven von shutterstock/coka, shutterstock/Aleshyn_Andrei und shutterstock/Comaniciu Dan

Satz und eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-7325-4075-4

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Prolog

Du weißt weder, wo du dich befindest, noch wie du an diesen Ort gekommen bist. Plötzlich ist nichts mehr, wie es war.

Geh zum Spiegel und sieh hinein. Erkennst du dich? Nein, natürlich nicht. Nichts an dem Gesicht, das dir entgegenblickt, kommt dir bekannt vor. Nur die Angst in den Augen ist dir vertraut, denn sie gehört dir. Du spürst die Furcht in allen Fasern deines Körpers. Sie verwandelt dein Blut in Eis und lässt dein Herz schneller schlagen.

Hast du wirklich geglaubt, du würdest deiner Strafe entkommen? Wie dumm von dir. Du bist durch die halbe Welt gereist, um zu vergessen. Aber Schuld lässt sich nicht abschütteln. Sie ist dein Schatten, folgt dir, wohin du auch gehst.

Du wirst weiter auf der Reise sein, aber anders, als du gedacht hast. Ab jetzt gibt es für dich kein Zuhause mehr. Keinen Anker, der dich hält. Niemand wird auf dich warten.

Du wirst durch die Zeit reisen, rast- und ruhelos. Bis du deine Schuld eingelöst hast.

Versuch nicht, mich zu bekämpfen. Denn ich bin dein Schicksal, und sich gegen mich aufzulehnen bedeutet zu sterben.

Die Jahre werden vergehen – nur nicht für dich.

Du bist einundzwanzig Jahre alt.

Und wenn du deine Aufgabe nicht erfüllst, wirst du es für immer bleiben.

Kapitel 1

Keine Rose ohne Dornen

»Autsch!« Ava zuckte zurück, als ein stechender Schmerz durch ihren Zeigefinger fuhr. Erschrocken sah sie auf den roten Tropfen an ihrer Fingerkuppe und dann auf die Rose, die sie auf den Boden geworfen hatte. Die Blütenblätter waren genauso rot wie ihr Blut, das langsam an ihrem Finger herablief.

Ava blickte an sich hinunter. Ihre Beine steckten in einer weiten, ausgeblichenen und nicht sehr sauberen Jeans, deren Saum jeweils nachlässig in den Schaft zweier knöchelhoher knallpinkfarbener Doc Martens gestopft war. Reflexartig griff Ava sich an den Kopf und spürte etwa zwei Zentimeter lange, nach oben stehende Haare und die Klebrigkeit eines Gels, mit dem die kurzen Stoppeln in Form gehalten wurden. Eine typische Jungsfrisur.

Bitte nicht, dachte Ava und schloss kurz die Augen. Schlimm genug, dass sie wieder in einem neuen Körper steckte, da wollte sie nicht auch noch das Geschlecht wechseln.

»Als ob du das bestimmen könntest, Prinzessin«, spottete eine leise Stimme in ihrem Kopf, und sie schüttelte ihn heftig, um das hämische Flüstern nicht mehr zu hören. Dabei entdeckte sie einen runden Spiegel in einem angelaufenen Silberrahmen, der am Ende des Raumes an der Wand hing. Ava trat näher. Das leicht fleckige Spiegelglas warf das Bild einer jungen Frau mit raspelkurzen weißblonden Haaren zurück. Die auffallend hellen blauen Augen waren mit einem dicken schwarzen Lidstrich umrandet. Großzügig aufgetragene Mascara betonte die langen Wimpern. Die kurze Nase zeigte etwas nach oben, und der Mund war klein, hatte aber hübsch geschwungene, volle Lippen, die mit einem violett-roten Lippenstift noch betont wurden. Um ihren Hals war ein giftgrüner Schal gewickelt.

Ava seufzte. Die Kombination aus Pink und Giftgrün war nicht gerade ihr Stil. Aber wenigstens war es ein weiblicher Körper, in dem sie vor einigen Sekunden gelandet war.

Unfreiwillig wohlgemerkt. Es war ihr vierter Sprung, und sie hatte sich noch nicht an das Gefühl gewöhnt, sich ohne Vorwarnung in einer völlig fremden Person wiederzufinden. Beim ersten Mal war sie fast ohnmächtig geworden vor Schreck. Nichts hatte darauf hingedeutet, was gleich passieren würde. Sie hatte nur gemerkt, dass seit ein paar Tagen ihr Blut schneller zu fließen schien als bisher. Ein leichtes Prickeln war dabei in Armen, Beinen und vor allem in der Herzgegend zu spüren gewesen. Vor allem morgens und am Abend war ihr zusätzlich etwas schwindelig gewesen, aber das hatte sie auf den Stress geschoben. Immerhin sollte ihr Studium in ein paar Wochen beginnen, und sie hatte immer noch keine bezahlbare Wohnung in London gefunden. Vielleicht hätte sie ihre Weltreise, auf die sie vor beinahe einem Jahr gegangen war, abbrechen sollen, aber Ava hatte sich in den Kopf gesetzt, dass es dank Internet auch von Bali aus möglich sein musste, ein Zimmer in England zu finden.

Allmählich war das leichte Prickeln in Avas Körper jedoch zu einem unangenehmen Brennen geworden, sodass sie fürchtete, sie könnte sich in Asien oder Indonesien einen Tropenvirus eingefangen haben. Als Ava sich gerade entschlossen hatte, einen Arzt aufzusuchen und aus dem kleinen balinesischen Backpackerhotel in Denpasar getreten war, passierte es: Ihr Inneres schien in Flammen aufzugehen, doch ehe Ava auch nur den Mund zu einem Schrei öffnen konnte, war der Schmerz so schnell verschwunden, wie er gekommen war. Zurückgeblieben war nur ein leichtes Bitzeln, wie ein schwacher Stromschlag. Dann allerdings war ihr bewusst geworden, dass sie sich nicht mehr auf der staubigen Lehmstraße befand, wo sie gerade noch gestanden hatte. Ihre Füße steckten auch nicht mehr in den ausgeblichenen grauen Chucks, sondern in dunkelblauen Ballerinas mit einer kleinen Schleife vorne und bewegten sich wie von selbst vorwärts, wobei die Sohlen ein klackendes Geräusch auf Asphalt machten. Zu Avas Verblüffung sah sie links riesige Schaufenster – und als sie einen Blick hineinwarf, blieb sie abrupt stehen. Eine ältere Frau hinter ihr wäre fast in sie hineingelaufen – oder besser gesagt in das Mädchen, in das Ava sich verwandelt hatte. Zuerst hatte sie es nicht glauben können, dass sie diese Person sein sollte, die sie in der verzerrten Scheibe erblickte. Das Mädchen war im Gegensatz zu Ava klein und hatte rote Locken, die nach allen Seiten abstanden. Dazu trug sie unmögliche Keilhosen und einen Blazer, den Ava nie im Leben freiwillig angezogen hätte. Sie kniff die Augen zusammen: Waren das etwa Schulterpolster? Angewidert schüttelte Ava den Kopf. Nein, diese kleine Person mit dem grauenhaften Klamottengeschmack und einem spießigen goldenen Medaillon um den Hals konnte unmöglich sie sein! Doch als sie den Kopf nach links wandte, tat ihr Spiegelbild dasselbe. Selbst als Ava aus Verzweiflung und Ungläubigkeit wild auf und ab zu hüpfen begann, waren ihre Bewegungen identisch mit denen der Fremden, die Ava zu verhöhnen schien und dennoch sie war.

Bei der Erinnerung musste Ava beinahe schmunzeln, doch dann erinnerte sie sich daran, dass sie gerade wieder in einer ähnlichen Situation steckte, und ihr verging der Anflug von Galgenhumor. Nur gut, dass sich das Puzzle langsam zusammensetzte und sie immer besser verstand, was ihre Aufgabe war. Sie wusste, dass sie nicht versagen durfte. Allein bei dem Gedanken schlug Avas Herz schneller, und eine kalte Furcht kroch ihre Kehle hoch.

Energisch verdrängte sie die Erinnerung und blickte sich um. Sie war alleine und tat gut daran, sich möglichst rasch einen Überblick zu verschaffen, wer sie war und was sie hier tat. Der Raum war lang gestreckt, und eine kühle Feuchtigkeit lag in der Luft. In mehreren Vasen standen Lilien, kugelige lila Hortensien und mindestens ein halbes Dutzend anderer Blumen, deren Namen Ava nicht kannte. Weiter links befand sich ein zweiter Tisch mit einer elektronischen Kasse. Es war eindeutig ein Blumenladen, und Ava stand mittendrin. Da sie auf einem rohgezimmerten Holztisch ein halbes Dutzend Rosen vor sich liegen hatte, einige rot, andere rosa oder weiß, war sie offenbar keine Kundin, sondern eine Angestellte und anscheinend gerade dabei, einen Strauß zu binden. Die Tatsache, dass sie Jeans, eine wattierte Daunenweste und Doc Martens trug, sprach dafür, dass sie sich zumindest nicht allzu weit in der Vergangenheit befand. 20. oder 21. Jahrhundert. Dummerweise trug sie – beziehungsweise die junge Frau, in deren Körper sie steckte – keine Armbanduhr, also suchte Ava nach irgendeinem anderen Hinweis, an welchem Tag und vor allem in welchem Jahr sie sich gerade befand. Auf dem großen Fenster prangte spiegelverkehrt ein Schriftzug, und Ava kniff konzentriert die Augen zusammen. Bloomingham entzifferte sie, offenbar der Name des Ladens.

Ein feiner Regen fiel beständig, und das wenige bleierne Tageslicht, das es durch die dichte Wolkendecke schaffte, machte wenig Hoffnung, dass sich die Sonne noch einmal zeigen würde. Durch das Fenster sah Ava eine von hohen Altbauten gesäumte Straße, die aufgrund der Nässe wie mit einer glänzenden Lackschicht überzogen wirkte. An den wenigen Bäumen hingen nur noch ein paar kraftlose Blätter. Herbst, dachte Ava, auch das noch.

Sie hasste Regen, aber was half es? Sie würde hier nicht eher wegkommen, bis sie ihre Pflicht erfüllt hatte. Seufzend blickte sie zu der elektronischen Kasse, die ihr immerhin anzeigte, dass es der 19. Oktober, zehn Uhr morgens war. Aber in welchem Jahr war sie gelandet? Hastig durchkämmte sie mit Blicken den Raum. Blumen, wohin man sah. In mehreren Blumentöpfen protzten filigrane Orchideen um die Wette mit kugeligen pinkfarbenen und gelben Blumen, von denen Ava glaubte, es müssten Astern sein. Doch sie hatte keine Zeit, die Dekoration zu bewundern, sie musste sich dringend orientieren. In diesem Augenblick entdeckte sie ein unscheinbares Buch mit linierten Seiten, das halb verdeckt unter einem Bogen Einwickelpapier für Blumen lag. Ava zog es zu sich heran und sah, dass die aufgeschlagene Seite dasselbe Datum trug, das die Kasse angezeigt hatte. Ihr Augenmerk galt jedoch einer runden Schönschrift, mit der einige kurze Einträge verfasst worden waren.

»Strauß Mrs Clark« stand da und darunter »Tischgestecke Phil/Großmarkt/Birmingham!«. Immerhin wusste sie jetzt schon mal, in welcher Stadt sie sich befand. Daher hieß das Geschäft wohl Bloomingham – der Name war ein Mix aus der Stadt und dem Wort »blühend«. Coole Idee, dachte Ava und lächelte unwillkürlich, während sie zur ersten Seite des Kalenders zurückblätterte. Endlich fand sie, was sie suchte. »Buchkalender 2015« stand vorne eingeprägt. Sie hielt den Atem an. Das bedeutete, sie war in das Jahr zurückgesprungen, in dem alles begonnen hatte! Seitdem war sie zu einer rastlosen Wanderin durch die Zeit geworden. Blitzschnell überschlug sie die Entfernung Birmingham – London im Kopf. Einhundert Meilen, das wäre an einem Tag zu schaffen. Vielleicht könnte sie versuchen, nach London zu reisen und die ganze Sache von damals ungeschehen zu machen.

Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende gedacht, durchfuhr ein greller Schmerz ihren gesamten Körper, und Ava krümmte sich keuchend zusammen, als ein heftiger Krampf in ihren Bauch fuhr. »Wage es nicht«, schoss ihr durch den Kopf. Ava fragte sich, ob es wirklich ihre Gedanken waren oder eine fremde Stimme zu ihr sprach. Genauso schnell wie die Schmerzen gekommen waren, vergingen sie wieder, trotzdem hatte die kurze Zeit gereicht, um Ava feine glitzernde Schweißperlen auf die Stirn zu treiben. Sie atmete ein paarmal tief durch, ehe sie sich vorsichtig wieder aufrichtete. Immerhin hatte sie etwas gelernt: Offenbar durfte sie nicht versuchen, ihre Vergangenheit zu beeinflussen. Auch wenn sie noch so gerne die Zeit zurückdrehen würde … Doch als sie einen erneuten Blick auf den Kalender warf, wurde ihr klar, dass sie sowieso zu spät gekommen wäre. Es war Oktober – nicht Frühling, und daher sowieso völlig sinnlos, nach London zu reisen. Energisch verbot sie sich jeden weiteren Gedanken an früher. Die schmerzhafte Lektion gerade eben hatte ihr klargemacht, dass sie besser nicht an Dingen rührte, die nicht zu ändern waren. Zudem musste sie zusehen, dass sie ihre Aufgabe erfüllte – auch wenn sie bislang noch keine Ahnung hatte, wie diese aussehen sollte. Wenigstens wusste sie durch die anderen drei Sprünge, auf welche Zeichen sie zu achten hatte.

Als hätten ihre Gedanken Gestalt angenommen, wurde in dieser Sekunde die Ladentür so schwungvoll aufgerissen, dass die Messingglöckchen über dem Türrahmen wie wild zu bimmeln begannen. Ein junger Mann mit rötlichem Vollbart und gleichfarbigen Haaren, die unter einer schwarzen Basecap hervorquollen, strahlte Ava an.

»Morgen, Lizzie. Na, hast du schon Sehnsucht nach mir?«

»Ähm«, sagte Ava vage, während sie fieberhaft überlegte, in welcher Beziehung er zu ihr stand – oder besser gesagt, zu der jungen Frau, in die sie gesprungen war. Lizzie, wie er gesagt hatte. Wahrscheinlich hieß sie also Liz oder Elisabeth. Sie hoffte nur inständig, der junge Mann möge nicht ihr Freund sein. Sie hasste Bärte, und auch sonst war er überhaupt nicht ihr Typ.

»Oh, oh, ich sehe schon! Da hat jemand heute Morgen noch keinen Kaffee gehabt, was? Na ja, vielleicht muntert dich ja dein Horoskop auf!«

Mit diesen Worten zog der Bärtige eine Zeitung aus der schwarzen Tasche, die er umgehängt hatte, wie Ava erst jetzt bemerkte. Sie erschrak. Woher wusste er …?

Der Mann musste ihren ertappten Blick bemerkt haben, denn kopfschüttelnd wedelte er mit dem Blättchen vor ihrer Nase herum. »Nun tu nicht so! Meinst du, ich habe nicht gesehen, dass du dich als Erstes immer auf die letzte Seite stürzt und nach deinem Sternzeichen suchst? Aber mach dir nichts draus, ich habe gelesen, dass jeder Fünfte an Horoskope glaubt. Wahrscheinlich hast du die Tageszeitung nur deswegen abonniert, was?« Er zwinkerte ihr zu. »Schönen Tag noch!«

Grinsend warf er die Zeitung auf den Tisch, und ehe Ava noch ein Wort herausbringen konnte, war er durch die Tür verschwunden. Sie sah, wie er sich draußen auf ein klappriges Fahrrad schwang und mit einem fröhlichen Klingeln davonfuhr.

Hastig griff Ava nach der Zeitung und schlug die hinterste Seite auf. Tatsächlich befand sich dort die Rubrik »Tageshoroskop«, und Ava fiel das Bild ihres Sternzeichens sofort ins Auge. Obwohl sie bereits ahnte, was sie erwartete, las sie begierig den kurzen Text in der Rubrik Zwilling:

»Ihre Vergangenheit lastet auf Ihnen. Daran werden Sie heute unter Saturn-Einfluss erinnert, wenn Sie auf die Zeichen achten. Eine selbstlose Tat im Dienst der Liebe ermöglicht Ihnen einen Wachstumsprozess. Sorgen Sie dafür, dass die Dornenhecke des schlafenden Bewusstseins durchbrochen wird.«

Ava ließ die Zeitung sinken, und eine Gänsehaut überzog ihre Arme. Jedes Mal, wenn sie bisher gesprungen war, hatte sie kurz darauf irgendwo ihr Horoskop entdeckt. Stets hatte der erste Satz für ihr Sternzeichen den gleichen Wortlaut: Ihre Vergangenheit lastet auf Ihnen. Beim ersten Mal hatte Ava weder dem Horoskop noch den schicksalsschweren Zeilen eine Bedeutung zugemessen. Ein Fehler, wie sich herausgestellt hatte. Ein sehr schmerzhafter Fehler.

Inzwischen hatte sie dazugelernt und versuchte zu tun, was man ihr auferlegte – wer oder was auch immer dahinterstecken mochte. Ihr war klar geworden, dass sie den fremden Körper so lange nicht verlassen konnte, bis sie ihre Pflicht erfüllt hatte. Und je länger sie zögerte, desto stärker pochte und brannte das Blut in ihren Adern. Manchmal hatte sie das Gefühl, von innen heraus zu verglühen.

Daher war es besser, das zu tun, was die Sterne befahlen und »auf die Zeichen zu achten«. Sie wusste auch, dass sie mittels ihres Horoskops verschlüsselte Hinweise erhielt. Die Hinweise halfen ihr bei ihrer Aufgabe, zwei Liebende zusammenzuführen, die füreinander bestimmt waren, es aber noch nicht ahnten oder durch äußere Umstände daran gehindert wurden, zusammen zu sein. Doch das Horoskop war nicht das einzige Zeichen, auf das Ava achten musste. Sie blickte um sich, doch außer Pflanzen konnte sie nichts entdecken. Suchend durchstreifte sie den Laden, aber erst nachdem sie einen zweiten Blick ins Schaufenster riskierte, sah sie es: In einem alten Koffer, der mit Trockensträußen dekoriert war, lag ein aufgeschlagenes Märchenbuch. Ava musste sich ziemlich verrenken, um einen Blick auf die Seiten werfen zu können. Dornröschen, las sie. Was das für ihre Aufgabe bedeutete, musste sie selbst herausfinden – genau wie bei ihren vergangenen Sprüngen.

Mutlos legte sie das Buch zurück. Sie wusste nicht, welche Macht dahintersteckte. Nur, dass es etwas mit dieser Sache von damals zu tun hatte, über die sie es jedoch vermied, nachzudenken. Doch genau ein Jahr, nachdem diese Sache passiert war, hatte Ava zum ersten Mal gespürt, wie ihr Blut durch ihren Körper rauschte. Seitdem hatte das leichte Brennen in ihrem Inneren nicht mehr aufgehört. Nachts wachte sie manchmal von dem leichten, aber stetig präsenten Pochen auf. Oft genug hatte sie das Schicksal – oder was auch immer es sein mochte, das sie bestrafte – verflucht. Nur bei ihren Sprüngen war ihr veränderter körperlicher Zustand eine Hilfe, denn sie spürte, wenn sich eine der Personen näherte, deren Schicksal Ava beeinflussen sollte.

So wie jetzt. Zuerst dachte Ava, die Kälte, die nicht nur draußen, sondern auch hier im Geschäft herrschte, würde langsam in ihre Hände kriechen und sie taub werden lassen. Doch dann verspürte sie dieses typisch mulmige Gefühl im Bauch, als würde sie in einem Fahrstuhl stehen, der mit hoher Geschwindigkeit abwärtsfuhr. Ava spähte durch das große Fenster und sah eine vermummte Gestalt auf den Laden zusteuern. Wegen des fahlgrauen Lichts und des Regens konnte sie unmöglich erkennen, ob es sich dabei um einen Mann oder eine Frau handelte. Die Person trug eine Art Cape, auf dem Kopf thronte ein seltsamer Regenhut, die ihm oder ihr fast bis über die Augen reichte. Sie stand jetzt direkt vor der Glastür, doch das Einzige, was Ava erkennen konnte, war eine von der Kälte gerötete Nasenspitze. Den Rest des Gesichts verdeckte ein überlanger Schal, der mehrmals um den Hals gewickelt war. Und ausgerechnet diese modische Katastrophe war offenbar Avas nächste Aufgabe. Sie stöhnte.

Diesmal bimmelten die Glocken deutlich leiser, als das Wesen durch die Tür huschte.

»Hi, Liz! Meine Güte, was für ein Wetter«, hörte Ava eine helle, eindeutig weibliche Stimme sagen, und als die Regenmütze vom Kopf gerissen wurde, kamen lange Haare zum Vorschein, deren Farbe sich zwischen mausbraun und blond nicht entscheiden konnte. Nun wickelte die Person den Schal vom Hals, und Ava bekam auch den Rest zu sehen. Die junge Frau war vielleicht zwei Jahre jünger als Ava und besaß ein Gesicht, das eigentlich recht hübsch war, jedoch blass und reizlos wirkte.

Schade, dachte Ava, denn ein wenig Wimperntusche und Lipgloss würden hier schon wahre Wunder bewirken. Und natürlich bräuchte sie andere Klamotten, denn die, die das Mädchen trug, wirkten durch die gedeckten Farben und den einfachen Schnitt eher wie eine Tarnkappe.

»Hallo? Erde an Liz! Hab ich was falsch gemacht, oder warum grüßt du mich nicht mal mehr?«

Erschrocken wurde Ava bewusst, dass sie sich unmöglich benahm. »Entschuldige«, sagte sie zerknirscht, wobei ihr siedend heiß einfiel, dass sie keine Ahnung hatte, wie das Mädchen hieß oder wer sie überhaupt war. Die schien Ava ihre wortkarge Art zum Glück nicht übel zu nehmen. »Ich glaube, ich gehe erst mal Kaffee holen. Du siehst aus, als könntest du einen vertragen, ehe wir loslegen«, sagte sie lächelnd, während sie sich den Schal erneut umlegte und die unmögliche Mütze über ihre Haare zog. Zusammen mit den Regentropfen wirbelte sie davon.

»Oh Mann«, murmelte Ava, »das kann ja heiter werden.«

Sie beschloss, erst einmal herauszufinden, ob Liz ein Handy besaß. Vielleicht fanden sich darauf Fotos oder andere Hinweise, die nützlich sein konnten, damit sie eine ungefähre Vorstellung von der Person bekam. Tatsächlich hing im hinteren Teil des Ladens an einem Haken ein gefütterter Parka, der Liz gehören musste, denn Kragen und Kapuze waren in einem wilden Zebramuster gehalten. Als Ava die Taschen abklopfte, stieß sie auf ein Smartphone. Triumphierend drückte sie den Standby-Knopf. »Bitte Code zum Entsperren eingeben«, blinkte ihr entgegen, und Ava fluchte lautlos. Ehe sie darüber nachdenken konnte, wie sie an Liz’ Geheimzahl kommen könnte, bimmelte es erneut, und Ava fuhr herum. Vielleicht war das unscheinbare Mädchen mit dem Kaffee zurückgekommen und konnte ihr helfen.

Doch es war eine elegant gekleidete Dame um die fünfzig, die einen riesigen Schirm zuklappte, während sie auf mörderisch hohen Absätzen hereingestöckelt kam. Ava bemühte sich um ein strahlendes Lächeln. »Guten Morgen! Was kann ich für Sie tun?«

Die Augen der Besucherin in dem dezent geschminkten Gesicht weiteten sich für eine Sekunde überrascht, dann aber verzogen sich ihre perfekt umrandeten Lippen zu einem amüsierten Lächeln.

»Bravo, Liz! Für einen kurzen Moment haben Sie mich tatsächlich an der Nase herumgeführt. Ich bin von Ihnen einfach keine Scherze am Morgen gewöhnt!«

Die Dame lachte perlend, und Ava bemühte sich, in ihr Gelächter einzufallen. »Ich bin eben immer für eine Überraschung gut«, sagte sie gepresst, während die elegante Frau sich im Geschäft umblickte und Ava Zeit hatte, sie etwas genauer in Augenschein zu nehmen. Ihr cremefarbener Mantel fiel weich und doch schwer von den Schultern und sah so teuer aus, dass es Ava in den Fingern juckte, ihn anzufassen. Bestimmt war er aus Cashmere oder Alpakawolle.

»Also, wie immer, meine Liebe«, unterbrach die Kundin ihre Gedanken.

»Wie … immer?«, wiederholte Ava leicht dümmlich, während sie verzweifelt überlegte, wie sie die Dame dazu bringen konnte, ein bisschen mehr über ihre Wünsche zu verraten. Schließlich konnte es ein Blumenstrauß in jeglicher Größe und Zusammenstellung oder auch ein Gesteck sein. Ganz abgesehen davon, dass sie nicht einmal alle Pflanzen kannte, die sich hier im Laden tummelten.

»Was ist denn heute los mit Ihnen?«, fragte die Frau. Ihre Stimme klang freundlich, aber Ava sah die gerunzelte Stirn und vermeinte, eine leichte Verärgerung herauszuhören. Sie schluckte. Frechheit siegt, dachte sie kurz entschlossen und lächelte die Kundin strahlend an.

»Wissen Sie was? Im Horoskop stand heute Morgen, man soll auch mal völlig neue Wege gehen. Warum nehmen Sie nicht einen schönen Strauß von diesen …«, Ava sah sich hastig um, »Rosen? Dazu ein bisschen von diesen kleinen … Sternblümchen hier.« Sie deutete auf einen der Zinkeimer, in denen sich dünne Stängel mit filigranen weißen Blüten befanden.

»Schleierkraut?«, fragte die Dame etwas schrill.

»Genau, Schleierkraut. Passt doch gut zu dem Rot, oder?«, fragte Ava munter und streckte der Kundin die Rose entgegen, an deren Dornen sie sich vorhin erst gestochen hatte. Doch ihre bemühte Begeisterung schien wenig Anklang zu finden. Im Gegenteil. Die Miene der Frau hatte sich zunehmend verfinstert, und jetzt bellte sie Ava an: »Wie können Sie mir so etwas vorschlagen? Rote Rosen und Schleierkraut – die klassischen Blumen für einen Brautstrauß! Dabei habe ich Ihnen doch erst vorige Woche von meiner Scheidung erzählt!«

»Oh Sch–«, rutschte Ava heraus.

»Tut mir leid, ehrlich«, stotterte sie. »Das war … nur so eine spontane Idee.« Fieberhaft überlegte sie, was sie jetzt tun sollte.

Zum Glück ging in diesem Moment die Tür auf, und ein rettender Engel erschien. Auch wenn er statt Flügeln eine formlose Jacke und anstelle des Heiligenscheins eine unmögliche Mütze trug. Die Hände umklammerten zwei Pappbecher mit dem Logo eines bekannten Coffeeshops, aus denen Dampf und der unverkennbare Duft frischen Kaffees stieg.

»Hallo, Mrs Clark!«, rief das Mädchen, und ein Lächeln ließ ihr Gesicht erstrahlen, sodass es mit einem Mal richtig hübsch aussah.

»Guten Morgen, Rose«, gab die Dame etwas verschnupft zurück, doch in Ava machte sich Erleichterung breit. Rose hieß das Mauerblümchen mit dem guten Herzen also. Dass die Kundin sie kannte, unterstützte Avas Vermutung, dass Rose ebenfalls hier im Blumenladen arbeitete. Da sie für sich und Liz ganz selbstverständlich Kaffee geholt hatte, war das naheliegend.

»Ihre Chefin hat heute etwas seltsame Anwandlungen, was meinen allwöchentlichen Blumenstrauß betrifft«, fuhr die Kundin fort und warf Ava einen Blick zu, der verhieß, dass sie gerade einige Sympathiepunkte eingebüßt haben dürfte. Ava schnappte nach Luft. Das hier war Liz’ Laden? Und sie war hier der Boss? Dann begriff sie, dass dies ihre Chance war.

»Könntest du den Strauß vielleicht übernehmen, Rose?«, fragte Ava hastig, während das Mädchen aus ihrem Regenzeug schlüpfte. Zu Avas Erleichterung lächelte Rose und nickte, ehe sie sich daranmachte, schnell und geschickt ein Arrangement aus weißen und pastellfarbenen Blumen zusammenzustellen, während sie Mrs Clark in ein unverfängliches Gespräch über die diesjährige Halloweendekoration des großen Kaufhauses schräg gegenüber verwickelte.

Aufatmend verzog Ava sich in den hinteren Teil des Geschäfts und nippte an ihrem heißen Kaffee, während sie grübelte, wie sie an die PIN für Liz’ Handy gelangen könnte. Wenn sie noch mehr solcher Fehler wie eben bei Mrs Clark machte, konnte sie einpacken.

Kurz darauf ertönte das Glockenspiel ein weiteres Mal, und Rose gesellte sich zu Ava. »Was hast du denn mit der armen Mrs Clark gemacht?«

»Das willst du gar nicht wissen. Irgendwie ist heute nicht mein Tag. Stell dir vor, jetzt habe ich sogar die PIN für mein Handy vergessen!«

Kopfschüttelnd sah Rose sie an. »Wenn es danach ginge, wäre nie dein Tag, Liz. 7007! Wie kann man nur dauernd eine so einfache Zahlenkombination vergessen?«

Rose’ sanfter Tadel ging an Ava vorbei. Hastig tippte sie die Ziffern ein und sah erleichtert, wie das Display aufleuchtete. Doch ehe Ava sich durch die Telefonliste oder Fotos scrollen konnte, bimmelte die Tür schon wieder. »Rose, würdest du vielleicht …«, setzte Ava an, doch da war die junge Frau schon mit einem hastig gemurmelten »Sorry« schattengleich an ihr vorbeigehuscht – und verschwand hinter einer Tür, an der ein Schild mit der Aufschrift »Privat« hing – wahrscheinlich die Toilette.

Avas »aber …« wurde vom unüberhörbaren Schließen der Tür und dem Geräusch eines sich drehenden Schlüssels übertönt.

»Na toll«, knurrte Ava und versuchte die leichte Panik niederzukämpfen, die sich ihrer bemächtigen wollte. Was, wenn es wieder eine Stammkundin war?

Doch als sie zögernd nach vorne ging, stand da ein schwarzhaariger junger Mann mit strahlend blauen Augen und blasser Haut, bei dessen Anblick Ava ein vages Erkennen durchzuckte. Sie kannte ihn – aber woher? In diesem Moment schienen tausend Nadeln in ihre Hände zu piksen. Inzwischen war Ava das Gefühl wohlvertraut, und sie wusste, was das bedeutete. Vor ihr stand der zweite Teil ihrer Aufgabe, und Ava starrte den gut aussehenden Mann entgeistert an. Er und die unscheinbare Rose sollten füreinander bestimmt sein? Das war unmöglich! Zwar war die junge Blumenverkäuferin alles andere als hässlich, aber trotz ihres blumigen Namens erinnerte Rose eher an ein zerrupftes Unkraut, das sich scheu auf den Boden drückte, während dieser Typ hier stand und sein Selbstbewusstsein den Raum förmlich erleuchtete. Doch das Prickeln ihres Blutes sagte Ava, dass es so sein sollte.

Der junge Mann fuhr sich durch seine dichten dunklen Haare und grinste freundlich. »Hi, Liz. Ich war gerade zufällig in der Gegend und wollte nur kurz nachfragen, ob das mit heute Abend klargeht?«

Ava verfluchte das Schicksal, das offenbar Spaß daran hatte, ihr am laufenden Band irgendwelche Fettnäpfchen in den Weg zu stellen, in die sie fast zwangsläufig treten musste. Vorsichtshalber lächelte Ava und nickte. »Natürlich. Nett, dass du extra vorbeischaust.«

»Ist doch keine große Sache. Ich finde es schön, mal wieder zu Hause zu sein.« Der junge Mann schüttelte sich die Regentropfen aus seinem dichten Haar und lächelte strahlend, was ihn nur noch umwerfender aussehen ließ.

Und endlich fiel bei Ava der Groschen. Natürlich, vor ihr stand Sam Riordan! Frontmann der Band The Albatrosses, seit seinem Song In an open Cage ein Shootingstar und heimlicher Schwarm von mindestens achtzig Prozent der weiblichen Bevölkerung Großbritanniens. Nun war ihr auch klar, warum sein Gesicht ihr gleich so bekannt vorgekommen war. Dann aber stutzte sie. Hatte sie nicht irgendwann einen längeren Artikel in einer dieser Klatschzeitschriften über Sam Riordan gelesen? Aber was hatte noch mal darin gestanden?

»Wie läuft’s denn so?« Ava versuchte ein Gespräch in Gang zu bringen, während ihre Gedanken wild kreisten.

»Ach, du weißt ja, was für einen Wirbel die Presse um diese Spendengala heute Abend macht, bei der wir spielen«, lachte Sam. »›Homerun für Superstar aus Birmingham‹ und all so ein Kram. Dabei würde ich lieber ganz gemütlich in einem der Pubs von früher abhängen. Aber mein Manager würde mich mit dem Mikrofonkabel erwürgen, wenn ich ihm das auch nur vorschlagen würde.«

Ava lachte pflichtschuldig und dachte, dass Sam Liz und ihren Blumenladen offenbar von früher kannte, sonst würde er nicht so vertraulich mit ihr plaudern. »Du hättest im Pub keine Minute Ruhe. Dein Ruhm verfolgt dich bis in die letzte Spelunke«, versuchte sie einen Scherz.

Doch Sam lachte nicht. »Genau das ist ja das Problem«, sagte er, und seine Augen verdunkelten sich. Er sah erschöpft aus und schien mit einem Schlag um einige Jahre älter geworden zu sein.

Ava musterte ihn, und plötzlich erinnerte sie sich, was sie kurz vor ihrer Bali-Reise – ehe sie angefangen hatte zu springen – über Sam gelesen hatte: Er war nach drei Nächten, die er mit irgendeinem blonden, langbeinigen Model bei diversen Partys in den angesagten Londoner Clubs verbracht hatte, völlig ausgeflippt. Passanten hatten ihn nachts um zwei Uhr bei Wind und Kälte halb nackt auf seinem Hotelbalkon entdeckt, wo er sich gefährlich weit über das Geländer gelehnt und lautstark gedroht hatte, sich in die Tiefe zu stürzen. Kurz darauf kursierten mehrere Fotos und sogar ein verwackeltes Handyvideo im Netz, die Sam Riordan zeigten, der seine Fäuste schüttelte und Zeilen aus seinem aktuellen Nummer-Eins-Hit Falling out of Reality brüllte.

Der Zeitungsartikel hatte mit der Information geendet, dass man den Albatrosses-Sänger in der Zwangsjacke in eine Klinik gebracht hatte, wo er offenbar auf unbestimmte Zeit bleiben sollte. Doch jetzt stand Sam im Blumenladen – strahlend und offensichtlich wieder gesund.

»Wie geht’s dir denn?«, fragte Ava vorsichtig.

»Oh, bestens. Ich habe gerade einen neuen Song im Kopf. Die ersten Takte habe ich schon, aber er ist noch nicht richtig rund, wenn du verstehst. Der Titel soll jedenfalls Falling out of Reality heißen. Wie findest du das?«

Ava starrte ihn sprachlos an. Waren das die Nachwirkungen von seinem Aufenthalt in der Nervenklinik?

Sam blickte sie mit seinen Husky-Augen an und runzelte die Stirn. »Okay, vielleicht sollte ich noch mal über den Titel nachdenken«, sagte er und rieb sich das Kinn. »Zum Glück erscheint unser neues Album ja erst in acht Monaten.«

Schlagartig begriff Ava. Natürlich! Sie war ja ein Jahr zurückgesprungen, was bedeutete, dass sie Sam Riordan vor seinem Zusammenbruch erlebte. Den Artikel musste sie damals gelesen haben, als sie auf Weltreise gewesen und noch keine Seelenwandlerin geworden war.

Der laute Klang einer Jazztrompete unterbrach Avas Grübeleien, und sie zuckte zusammen. Sam verzog das Gesicht und fischte ein ebenso flaches wie teuer aussehendes Smartphone aus der Tasche. Er blickte aufs Display, doch die Musik war bereits verstummt. Zerknirscht blickte er zu Ava. »Ich rede und rede, dabei warten alle zum Soundcheck auf mich«, sagte er, und sein verschmitztes Grinsen verwandelte ihn wieder in den dynamischen, gut aussehenden Sam Riordan, den ganz England von den Titelseiten kannte. »Das mit den Tischgestecken für heute Abend geht klar, oder?«

»Auf jeden Fall«, sagte Ava im Brustton der Überzeugung, obwohl sie keinen blassen Schimmer hatte, ob Liz oder Rose bereits irgendetwas vorbereitet hatten. Nicht zum ersten Mal bedauerte Ava zutiefst, dass sie zwar in einen Körper springen, aber nicht auf Erinnerungen oder das Gedächtnis derjenigen Person zugreifen konnte.

Doch Sam schien zufrieden. »Danke, Liz. Dann werde ich mal wieder …«

Er war schon fast an der Tür, da wurde Ava klar, dass sie drauf und dran war, Sam gehen zu lassen und damit ihre Mission total zu vergeigen. »Ähm, Sam?«

Er drehte sich um. »Ja?«

»Behalte den Titel Falling out of Reality! Klingt nach einem neuen Nummer-Eins-Hit, wenn du mich fragst.«

Sam blickte sie mit seinen umwerfenden Augen an. »Wow. Wenn du das sagst …«

Ava biss sich auf die Lippen. »Ach, und da wäre noch etwas. Ich habe mich gefragt, ob du … Ich meine, ich war noch nie bei so einer Galaveranstaltung und wenn du schon mal in deiner Heimatstadt singst …«

Sam musterte sie stirnrunzelnd. »Stehst du etwa nicht mehr auf Punkrock, oder seit wann gefallen dir unsere Songs? Die waren doch bisher gar nicht dein Stil?«

Ava spürte, wie sie ins Schwitzen geriet. »Ich habe nie behauptet, dass ich eure Musik nicht mag.«

Sam grinste schief. »Stimmt. Deine genauen Worte waren: Ihr klingt wie Coldplay, die versehentlich ins Musical Der kleine Lord gebeamt wurden.«

Ava wurde heiß und kalt. »Ach, da war ich wohl kurzzeitig von Beth Dittos Geist besessen«, stotterte sie und merkte, wie sie rot wurde.

Sam lachte laut auf, und Ava fasste eine spontane Zuneigung zu diesem Typen, der es zu Weltruhm gebracht hatte, aber über die schrägen und nicht sehr schmeichelhaften Sprüche einer Blumenhändlerin mit einem Faible für Punkrock lachen konnte. In dieser Sekunde war sie fest entschlossen, Sam Riordan vor dem Schicksal zu bewahren, in ein paar Monaten zugedröhnt und verzweifelt auf einem Hotelbalkon zu stehen und von ein paar Schaulustigen gefilmt zu werden. Sie wollte alles tun, um Rose und ihn zusammenzubringen, egal, wie schwer es werden würde. Kurz blitzte der Gedanke in ihrem Kopf auf, dass sie so ein Gefühl früher nicht gekannt hatte. Der Wunsch, einem anderen helfen zu wollen, war ihr damals so fremd gewesen wie jetzt diese Stadt und die Person, in deren Körper sie steckte. Aber die Ava von damals gab es nicht mehr. Seit …

Wieder schoss ein greller Strahl von Schmerz durch ihren Kopf, und Ava sog scharf den Atem ein. Sam schien es als Zeichen für Ungeduld zu verstehen, denn er hob beschwichtigend beide Hände.

»Okay, Liz. Ich weiß zwar nicht, von wem oder was du jetzt besessen bist, aber ich lasse zwei Backstage-Ausweise am Eingang hinterlegen. Für dich und eine Person deiner Wahl. Du musst ja nicht unbedingt Iggy Pop mitbringen.«

Jetzt war es Ava, die trotz der Schmerzen zum ersten Mal seit ihrem Sprung lachte. »Gebongt. Danke, Sam.«

»Keine Ursache, Miss Flowerpower«, sagte er und war gleich darauf zur Tür hinaus.

Der erste Schritt wäre geschafft, dachte Ava aufatmend. Blieben nur die Fragen nach den Tischgestecken – und wie sie ihre untergetauchte Angestellte zu diesem Event überreden sollte. Ava drehte sich um. »Rose!«, rief sie.

»Ist er weg?«, fragte Rose ängstlich und lugte durch den Türspalt.

»Nein, er hat sich als fleischfressende Pflanze getarnt und wartet nur, bis du rauskommst. Wieso bist du so schnell verschwunden? Tausende Mädchen würden alles dafür geben, Sam Riordan einmal leibhaftig zu sehen!«

Rose antwortete nicht, aber ihre Wangen hatten sich verfärbt. Ava lächelte: »Aha!« Doch da füllten sich Rose’ Augen auch schon mit Tränen. »Ja, ich weiß, dass das total lächerlich ist«, sagte die junge Frau erstickt, und ehe Ava etwas erwidern konnte, fuhr Rose fort. »Er hat mich vor einem Jahr ja nicht einmal wiedererkannt.«

»Wie? Ihr kennt euch?«, fragte Ava erstaunt. Das wurde ja immer besser!

Rose schniefte. »Erinnerst du dich, als Sam vergangenes Jahr kurz vor Silvester hier war und diesen riesigen Strauß weißer Rosen und Calla bestellte?«

Ava nickte, obwohl sie natürlich keine Ahnung hatte. Sie wusste ja nicht mal, wie eine Calla aussah.

»Du hast dich gewundert, warum mir plötzlich so schlecht war und ich nach Hause wollte«, fuhr Rose fort, und Ava nickte erneut vorsichtig.

»Es war wegen Sam. Ich habe ihn bedient – und er hat sich währenddessen im Laden umgesehen oder auf seinem blöden Handy herumgetippt. Für ihn war ich gar nicht vorhanden. Und als er mir beim Bezahlen fünf Pfund Trinkgeld gegeben hat, habe ich gemerkt, dass er tatsächlich nicht wusste, wer ich bin.«

»Oh«, sagte Ava und fragte sich, woher eine graue Maus wie Rose jemanden wie Sam Riordan kennen konnte.

»Dabei haben wir zehn Jahre lang nebeneinander gewohnt!«, rief Rose, und ihre Wangen färbten sich vor Zorn noch dunkler, was sie jedoch viel lebendiger und fast hübsch aussehen ließ. »Sam und ich waren immer ein Team, wenn wir mit den Nachbarskindern Schlagball gespielt haben.«

»Ihr habt was gespielt?«

Rose sah Ava trotzig an. »Schlagball. Nun guck nicht so, Liz! Man sieht es Sam nicht an, aber er kommt aus genauso einfachen Verhältnissen wie ich. Unsere Eltern hatten kein Geld, um uns irgendwelche Playstations oder Videospiele zu kaufen. Sams Vater hat sich totgesoffen, da war er gerade mal neun Jahre alt – und seine Mutter hat den ganzen Tag an der Kasse gesessen. Übrigens im selben Supermarkt wie meine Mum. Deshalb hatten wir damals auch nur einen uralten Lederball und ein paar zurechtgeschnitzte Bretter, die wir als Schlagholz benutzten. So, nun weißt du es!«

»Du meinst also, Sam und du seid quasi miteinander aufgewachsen und trotzdem hat er dich nicht erkannt?«

Rose blickte traurig. »Vielleicht wollte er es auch nicht. Ich meine, er ist jetzt ein richtiger Star. Und du hast ja gesehen, wie toll er aussieht …«

»Quatsch. Sam ist ein netter Typ ohne Starallüren. Wieso hast du ihn damals im Laden nicht einfach gefragt …«

Doch Rose unterbrach sie heftig. »Und was dann? Hätte ich ihm vielleicht erzählen sollen, dass ich im Gegensatz zu ihm in unserem alten Viertel in Birmingham hängen geblieben bin? Dass ich meiner Mutter keine Wohnung in London kaufen konnte, so wie Sam – und dass meine Mum deswegen immer noch an der Supermarktkasse sitzt – mit achtundfünfzig Jahren? Oder dass ich in ihn verliebt bin, seit er mich vor fünfzehn Jahren vor diesem bissigen Hund gerettet hat?«

Ava hätte der stillen Rose niemals so einen Temperamentsausbruch zugetraut. Ihre Augen blitzten, und ihr Gesicht glühte, und Ava dachte, dass es eigentlich schade war, dass Sam sie nicht sehen konnte. Vielleicht hätte er sich dann etwas mehr für seine ehemalige Nachbarin interessiert. Sie brauchte noch mehr Informationen über die beiden. »Welcher bissige Hund?«, hakte sie nach.

Ungeduldig strich Rose eine Strähne ihres mausfarbenen Haares aus der Stirn. »Als wir einmal Schlagball spielten, kam plötzlich so ein riesiger struppiger Köter um die Ecke, schnappte sich unseren Ball und rannte damit weg. Ich konnte nur daran denken, dass es mein Schlag gewesen wäre, und bin ihm hinterhergelaufen. Plötzlich hat der Hund sich umgedreht und mich angeknurrt. Dann kam er auf mich zu. Ich bin so schnell gerannt wie noch nie in meinem Leben, aber natürlich hatte ich gegen das Biest keine Chance. Es holte auf und hätte mich wahrscheinlich in der nächsten Sekunde angefallen, aber auf einmal stand Sam da. Er hat diesem Köter eins mit seinem Schlagholz übergebraten, sodass der laut aufgejault hat und mit eingeklemmtem Schwanz auf und davon ist.«

»Das war verdammt mutig von Sam«, befand Ava. Der junge Albatrosses-Sänger wurde ihr immer sympathischer.

»Ja, das fand ich auch«, sagte Rose leise. »Ich habe mich bedankt, und er sagte …«, sie schluckte, »er sagte, er würde mich immer beschützen. Ein paar Monate später zog seine Mutter mit ihm ans andere Ende der Stadt, und als ich Sam nach Jahren wiedergesehen habe, saß ich vor unserem alten Fernseher, und er stand auf der Bühne bei den MTV-Awards.«

Am liebsten hätte Ava Rose gefragt, woher Sam den Blumenladen und Liz kannte, aber da sie sich heute schon mehrmals auf dünnem Eis bewegt hatte, ließ sie es lieber bleiben. Eigentlich war es auch egal, alles was zählte, waren die beiden Backstage-Karten, die heute Abend auf sie warten würden. Auf sie und Rose. Doch als Ava ihrer Kollegin die großartige Neuigkeit verkündete, wurde Rose blass und wich einen Schritt zurück.

»Ich soll zu dieser Gala gehen? Bist du verrückt geworden?«

Ava seufzte. »Ein ›Oh wow, Liz! Das ist großartig, vielen Dank‹ hätte es auch getan. Zum Kuckuck, Rose, natürlich wirst du da mit mir hingehen! Das ist die Gelegenheit, dass Sam sich an dich erinnert.«

»Vielleicht will ich ja gar nicht mehr, dass er das tut. Ich meine, sieh mich doch an, Liz.«

Ava holte tief Luft. Ihr ganzer Körper schien inzwischen leicht zu glühen – ein sicheres Zeichen, dass Ava für ihre Aufgabe nicht mehr viel Zeit blieb. »Rose«, sagte sie im sanftesten Ton, zu dem sie in ihrem Zustand fähig war, »du kennst doch sicher den Film Plötzlich Prinzessin?«

Kapitel 2

Ein dorniger Weg