Four Letters - Wes Moriarty - E-Book

Four Letters E-Book

Wes Moriarty

4,7

Beschreibung

- GEKÜRZTE FASSUNG - Es ist der erste Tag nach den Sommerferien. Für einige ist es das letzte Jahr an dieser Schule. Für manche werden es die letzten Stunden in ihrem Leben sein. Mit dem Ertönen des ersten Pausengongs wird es beginnen. Ich werde entschlossen grausame Rache an jenen verüben, die mir mein Leben zerstört und mich meiner Zukunft beraubt haben. Ich werde mich an ihnen rächen ... ja, das werde ich. Herr Paul, Tim, Kevin, Neve ... nur wenige von vielen Namen auf meiner langen, schwarzen Liste. Ich werde sie alle dazu zwingen zu gestehen ... sowohl vor mir als auch vor ihnen. Durchladen und schießen. Durchladen und schießen. Meine Gedanken werden mich tragen und mich am Leben erhalten. Es wird ein Blutbad werden. Sie werden schreien, versuchen zu fliehen. Aber es wird kein Entkommen geben. Und am Ende werde ich es sein, der über ihre kalten Kadaver schreiten und mit erhobener Stimme über sie triumphieren wird. Ich werde die Stimme der Gerechtigkeit sein. Ich werde ihren Schuldspruch anerkennen und das Urteil fällen. Und ich werde sie zwingen zuzusehen. Sie alle. Niemand wird mir entkommen. Niemand. Ich werde nicht rasten. Ich werde nicht aufgeben ... Denn sie müssen endlich gestoppt werden. Sie alle. --- Erhalten Sie mit "Four Letters - Ohne Ausweg" einen schonungslosen Einblick in die Welt eines Amokläufers. Begleiten Sie sowohl Täter als auch Opfer zugleich. --- "Wenn wir nicht heute damit beginnen wollen, etwas zu ändern, dann wird sich auch nie etwas ändern ..."- Wes Moriarty (Autor)

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 407

Veröffentlichungsjahr: 2017

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,7 (42 Bewertungen)
31
11
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Moriarty-Self-Publishing

Weitere gesundheitliche und rechtliche Hinweise:

Die Inhalte dieses literarischen Werkes dienen weder der Glorifizierung, Befürwortung noch Motivation zur Verübung von Gewalttaten gegenüber Lebewesen und/oder Objekten bzw. Institutionen. Sowohl die Darstellung der Handlung, Standorte als auch die darin agierenden Personen sind rein fiktiv. Etwaige Bezüge oder Parallelen zu noch lebenden Personen wären somit rein zufällig. Sofern Sie unter einer posttraumatischen Belastungsstörung oder vergleichbaren Erkrankung leiden sollten, empfehlen wir zugunsten keiner Gefährdung Ihrer psychischen Gesundheit vom Lesen oder Hören dieses Werkes abzusehen. Sollten Sie während der Informationsaufnahme eine negative Verhaltensveränderung oder Beeinträchtigung Ihres Gesundheitszustandes erkennen, deren Ursprung Sie unmittelbar aus den Inhalten dieses Werkes ableiten, empfehlen wir ebenfalls von einer Fortführung des Konsums abzusehen und sich sofort um ärztliche Hilfe in Ihrer Region zu bemühen und diese in Anspruch zu nehmen. Leiten Sie bitte für sich oder andere keine Handlungsempfehlungen aus den fiktiven Inhalten dieses Werkes ab.

Inhalte und Ausprägung:

(Vergleich „gekürzte Fassung“ und „Uncut Version“)

Die soeben genannten Hinweise bieten keine Rechtsgrundlage für etwaige Ansprüche wie Schadensersatz, Rücknahmen eines oder mehrerer erworbener Werke oder Kaufpreisrückerstattungen jedweder Art und Umfang. Weiterhin sind die Inhalte dieses Werkes urheberrechtlich geschützt und erlauben ohne schriftliche Genehmigung des Urhebers keine öffentliche Lesung/Vorführung, Übersetzung, Speicherung, Vervielfältigung und/oder öffentliche Zugänglichmachung jedweder Art und Form. Urheber und Herausgeber übernehmen keine Haftung für Schäden an Personen, Sachen oder Vermögen, die aufgrund von Informationen, welche durch dieses Werk bereitgestellt werden, direkt oder indirekt entstehen.

Werkspezifische Anmerkungen und Appell:

Schoolshootings oder Amokläufe jedweder Art stellen verächtliche Taten gegenüber Einzelpersonen oder Personengruppen, Werte und dem Leben als solches dar, da sie darauf ausgerichtet sind, sich und ihrer Umwelt irreparable Schäden zuzufügen. Trotz ihrer „Seltenheit“ sollten die Bestrebungen jedes Einzelnen dahingehend ausgerichtet sein, sich mit dem Thema objektiv und kritisch auseinanderzusetzen, Präventivmaßnahmen zu ergreifen und bei hinreichendem Verdacht Vorfälle in seinem Umfeld den regionalen Behörden zu melden.

Sie könnten damit Leben retten.

Widmung

Ich widme dieses Buch zwei ganz besonderen Menschen.

Menschen, die aufopferungsvoll und mit voller Hingabe das Leben ihrer Mitmenschen bereicherten,

sie stützten und umsorgten.

Dieses Buch ist euch gewidmet,

meinen Großeltern

Ilse und Hermann

- Danke für viele liebevolle gemeinsame Jahre -

Ihr fehlt uns allen

Ferner ist dieses Buch jenen Personen gewidmet, die an mich und meine Arbeit geglaubt und in meinen Bestrebungen unterstützt haben

Ein besonderer Dank gilt

meiner/meinen

Frau, Kindern

& Familie

Korrekturlesern

W. Kitke – Y. Müller – M. Klöckner – N. Heiden – M. Göller

C. Hercher

Andre Dallwig

- für seine herausragende Musik -

Und im Speziellen noch einmal

Jens Bosch, Naser Fetai, Hans-Jürgen Schilling, Yvonne, Sabrina und Melanie Müller, Eugen Pipper, Rüdiger Hutter, Maria und Alexa Dünchemfür die Kurzfilmrealisierung im Jahr 2008

Und natürlich möchte ich erneut den interessierten Lesern danken. Sie machen dies alles erst möglich.

Vielen Dank und gute Unterhaltung wünscht

Inhaltsverzeichnis

FOUR LETTERS

Widmung

Zum Buch

Leserkommentare

Zum Autor

Planungsnotizen

Prolog

Kapitel I – Tagesgeschäft

Abschnitt 1.1 – Bewegung

Abschnitt 1.2 – Stillstand

Abschnitt 1.3 – Verluste

Abschnitt 1.4 – Ängste

Abschnitt 1.5 – Zufall

Kapitel II – Blutiger Morgen

Abschnitt 2.1 – Aufmerksamkeit

Abschnitt 2.2 – Ankunft

Abschnitt 2.3 – Lektion

Abschnitt 2.4 – Blutnebel

Abschnitt 2.5 – Eingesperrt

Kapitel III – Hintergründe

Abschnitt 3.1 – Aufgegeben

Abschnitt 3.2 – Angriff

Abschnitt 3.3 – Gefährten

Abschnitt 3.4 – Fallen

Abschnitt 3.5 – Zweifel

Kapitel IV – Punir

Abschnitt 4.1 – Beharrlichkeit

Abschnitt 4.2 – Panik

Abschnitt 4.3 – Der Stall

Abschnitt 4.4 – Angeklagt

Abschnitt 4.5 – David gegen Goliath

Kapitel V – Außer Kontrolle

Abschnitt 5.1 – Der Ausbruch

Abschnitt 5.2 – Das Vincke-Bismarck Duell

Abschnitt 5.3 – Gefechtsbereitschaft

Abschnitt 5.4 – Das Spiel

Abschnitt 5.5 – Geständnisse

Kapitel VI – Zeugnis

Abschnitt 8.1 – Nora Z

Abschnitt 8.2 – Zugriff

Abschnitt 8.3 – Das Interview

Abschnitt 8.4 – Verrat

Abschnitt 8.5 – Die Jagd

Zum Buch

Es ist der erste Tag nach den Sommerferien. Für einige ist es das letzte Jahr an dieser Schule. Für manche werden es die letzten Stunden in ihrem Leben sein.

Mit dem Ertönen des ersten Pausengongs wird es beginnen. Ich werde entschlossen grausame Rache an jenen verüben, die mir mein Leben zerstört und mich meiner Zukunft beraubt haben. Ich werde mich an ihnen rächen... ja, das werde ich. Herr Paul, Tim, Kevin, Neve... nur wenige von vielen Namen auf meiner langen, schwarzen Liste. Ich werde sie alle dazu zwingen zu gestehen... sowohl vor mir als auch vor ihnen.

Durchladen und Schießen. Durchladen und Schießen. Meine Gedanken werden mich tragen und mich am Leben erhalten. Es wird ein Blutbad werden. Sie werden schreien, versuchen zu fliehen. Aber es wird kein Entkommen geben. Und am Ende werde ich es sein, der über ihre kalten Kadaver schreiten und mit erhobener Stimme über sie triumphieren wird. Ich werde die Stimme der Gerechtigkeit sein. Ich werde ihren Schuldspruch anerkennen und das Urteil fällen. Und ich werde sie zwingen zuzusehen. Sie alle. Niemand wird mir entkommen. Niemand. Ich werde nicht rasten. Ich werde nicht aufgeben...

Denn sie müssen endlich gestoppt werden. Sie alle.

BLACK & WHITE REIHE - TEIL 2 -

Nach dem Debütroman „Natural Instincts“ gab es für Autor Wes Moriarty nur ein wirklich wichtiges Projekt, dessen Geschichte jahrelang als bislang unvollständig galt: Four Letters.

Der Roman basiert auf dem gleichnamigen Kurzfilm aus dem Jahre 2008, welcher erstmals mittels der Amateurspielfilmgruppe NIGHTMAREFILMS realisiert wurde. Aus dem anschließend resultierenden Drehbuch für einen abendfüllenden Spielfilm entstand ein Roman, welcher die dramaturgischen und charakteristischen Kernelemente der Vorlage nochmals intensiv aufarbeitet und literarisch umsetzt. Moriarty setzt dabei den Fokus gezielt auf die öffentliche Wahrnehmung und das eigentliche Täterprofil, welche als sich aufbauender Prozess beschrieben und durch die kontinuierlichen Perspektivwechsel verdeutlicht sowie verstärkt wird.

Mit Four Letters wird der Leser auf eine Reise geschickt, welche tiefe Einblicke in die verstörende Psychologie des menschlichen Wesens gewährt. Eine Reise, die niemand so schnell wieder vergessen wird. Die eigentliche Frage hierbei lautet eigentlich nur:

»Wollen wir diese Reise wirklich antreten?«

Leserkommentare

»Normalerweise lese ich Bücher um in andere Welten einzutauchen. Aber hier ist das anders. Man bleibt in seiner gewohnten Umgebung, nur dass um einen herum ein Inferno ausbricht und niemand sicher zu sein scheint. Schockierend hart und gleichzeitig verflucht fesselnd.«

Marc K.,Leser

»Beängstigende und wachrüttelnde Einblicke in die Abgründe eines Amokläufers. Ein mehr als eindeutiger Appell an unsere Gesellschaft, mit dem energischen Aufruf zur Veränderung. Klasse!«

Christine H.,Leserin

»Durch die einmalige Erzählweise, oft aus Sicht der einzelnen Figuren, erfährt der Leser von der harten Vergangenheit des Amokläufers und seiner daraufhin noch härteren Vorgehensweise in der Schule. Es geht tief unter die Haut.«

Waldemar K.,Leser

»Da gefriert einem das Blut in den Adern. Nachdem man die Charaktere zu Beginn kennengelernt hat, kommt es zu einem emotionalen Auf und Ab... Ein Höllentrip bis zum bitteren Ende.«

Nicola H.,Leserin

Zum Autor

Wes Moriarty, 1984 in Remagen, Deutschland, geboren, schloss 2015 seine akademische Laufbahn als M.Sc. an der University of Applied Science in Koblenz ab und veröffentlicht seit 2006 verschiedene Kurzfilm- und Literaturprojekte. Mit seinem Debüt-Roman „Natural Instincts“ wagte der Autor 2014 erstmals Schritte in den internationalen Buchhandel.

»Four Letters ist mehr als nur ein Buch. Es ist vielmehr eine marode Brücke, die den Leser auf eine für ihn unbekannte, dunkle Seite führen soll. Ihn fern abseits mit einer Realität konfrontiert, über die oft nur flüsternd bis überhaupt nicht gesprochen wird. Während meiner Recherchen habe ich mich intensiv mit dieser Seite beschäftigen müssen. Meine Aufgabe war es dann, das leise Flüstern in einen Aufschrei zu verwandeln und zu hoffen, dass die Richtigen ihn richtig vernehmen werden. Das Dunkle in etwas Helles zu verwandeln.«

Wes Moriarty,Autor

Planungsnotizen Schulgebäude

- EG -

- KG -

- 1. OG -

- 2. OG -

Prolog

Es ist die Kälte, die mich anfangs irritiert. Sie wirkt befremdlich, so unnatürlich. Dieser einzigartige Geschmack, der sich auf meinen Lippen auszubreiten scheint. Ein Gemisch aus Metall und verschiedener Rückstände chemischer Zusammensetzungen. Mein Körper sendet die richtigen Signale, was mich einerseits beruhigt, andererseits dazu veranlasst nochmal die grauen Zellen zu bemühen. Ich öffne die Augen und sehe wie meine Hände ganz ruhig und flach auf meinen Oberschenkeln Platz genommen haben. Mein Blick wandert hinab, vorbei an den dreckigen, abgeknabberten Fingerkuppen und der dunklen mit Öl befleckten Khaki-Hose, die ich bereits seit Tagen nicht gewechselt habe. Ich rieche es. Dieser würzige Dunst, der sich angenehm an der Nasenscheidewand entlangschleicht und dabei meinen Schleimhäuten schmeichelt. Ich mag diesen Geruch. Mit geschlossenen Augen vervielfacht sich die Wahrnehmungsgabe der verbliebenen Sinne. Also denke ich mir, genieße es, so lange du das noch kannst. Es würde eh ganz schnell gehen. Vielleicht bekomme ich nicht mal etwas mit. Ich rolle meine Zunge zu einem zylinderförmigen Gebilde und lasse sie in das kleine enge Loch direkt vor mir hineingleiten. Nur um zu sehen was passiert, wie mein Körper reagiert. Hier ist der Geschmack natürlich noch intensiver. Tief im Inneren verborgen sitzt der Schmutz, der von außen nicht sichtbar und nur schwer zu entfernen ist. Bitter oder säuerlich. Ja, so könnte man den Geschmack vielleicht treffend beschreiben. Ich schließe meine Augen erneut und hebe meine Ellenbögen. Die linke Hand greift nach dem kalten Lauf während die Rechte sich in Richtung des Abzuges jenes Gewehrs bewegt, welches ich mir soeben zum wiederholten Male in den Mund gesteckt hatte.

Direkt vor mir ist der Spiegel, in den ich nicht hinzublicken wage. Ich hasse die Reflektion darin. Alles was sie repräsentiert und offenzulegen vermag. Eigentlich will ich nur sichergehen, dass tatsächlich ich es bin, der hier sitzt und kein anderer. Meine Probleme sind nicht ihre Probleme. Doch ihre wurden irgendwann einmal zu meinen. Sie zwingen mich zu all dem hier und ich hasse sie dafür. Deshalb bin ich mir oft nicht wirklich so sicher. Sicher darüber, ob hier nicht doch der Falsche sitzt. Darauf werde ich wohl nie eine Antwort finden, weil die Frage an sich nur weitere Fragen aufwirft. Mein Daumen streichelt das kleine herausstehende Metallstück mit dem erhöhten Druckpunkt. Er müsste noch nachjustiert werden, damit es leichter geht. Es kostet einen sonst noch mehr Überwindung. Mehr als es das ohnehin schon tut.

Boah. Die Gedanken kreisen wieder um so viele Dinge, dass mir so ist, als würde mir der Atem abgeschnürt werden. Ein vermeintlicher aus dem Nichts entstehender Kloß, der sich im Hals immer mehr breitmacht und irgendetwas zu unterdrücken versucht. Nicht viele kennen ein derartiges Gefühl, zumindest nicht mit so einer Intensität wie ich es gerade wieder ertragen muss. Jeden Tag beschleichen mich diese Gefühle. Und die Tage mit ihnen werden länger und länger. Was du eigentlich tun oder ausdrücken möchtest spielt sich immer nur in deinen Gedanken ab. Es schmerzt anders zu sein. Banale Dinge des Alltags, die du einfach nicht wie andere erleben kannst und du sie dir aufgrund deines Zustandes deswegen nur vorstellen musst. Es ist nicht leicht, oftmals sogar recht anstrengend so zu tun als ob. Einer von ihnen zu sein.

Mir fällt es zum Beispiel immer schwer mich für andere zu freuen, wenn einer beispielsweise eine „Eins“ in einer sehr schweren Klassenarbeit geschrieben oder jemand gerade seinen Führerschein bestanden hat. Ich lächle zwar, aber das ist nur gespielt. Mich interessiert das ehrlich gesagt einen Scheißdreck. Was hab ich davon? Und vor allem, was hat der Betroffene davon, wenn ihm jeder auf die Schulter klopft und sagt, „Gut gemacht“. Macht er deswegen jetzt vielleicht eine zweite Führerscheinprüfung und dann noch eine und dann noch eine? Die einzige Bestätigung, die ihm in Zukunft von Nutzen sein wird, wird die sein, wenn er nicht in die Verkehrsstatistik für Unfalltote rutscht. Mal ehrlich, was soll der Scheiß? Was seid ihr alle so verfickt, verweichlichte Loser? Alle auf der Suche nach Bestätigung und Lob. Ihr kotzt mich allesamt nur noch an.

Ah, meine Augen stehen wieder offen und wieder starrt mich dieser Blick mit den herabhängenden, schattigen Lidern an. Wie ich so dasitze, mit dem Lauf zwischen den Zähnen. Erbärmliches Stück Scheiße. Ich hasse alles an ihm. Seine Präsenz. Das Leben. Die dunklen, fettigen Haare, der kalte Blick und diese verpickelte, vernarbte Fresse, die sich auf diesem klapprigen Drahtgestell emporhebt. Widerlich und abstoßend. Ich möchte es ihm nehmen, es immer wieder so gerne beenden, aber ich wage es nicht. Feigling.

Die Gedanken überschlagen sich, zerren an meinem Verstand. Die Narben an meinem Rücken tun ihr nötiges, um mich hier zu halten. Wach. Ich muss wach bleiben. Ich fühle mich so erschlagen. Doch was soll man tun, wenn man nur diesen einen Gefühlszustand kennt. Mit dem du alles und jeden verbindest. Wenn du plötzlich alles und jeden hasst, weil du für mehr einfach nicht taugst. Wäre sowas nicht furchtbar? Für jeden anderen vielleicht. Für mich ist es zu einer Selbstverständlichkeit geworden. In manchen Nächten reicht ein Blick in den Himmel, um sich der Tatsache bewusst zu werden, was für unbedeutende kleine Punkte wir in diesem Universum darstellen. Das unsere vorübergehende Existenz für jeden anderen da draußen weder die richtige Antwort liefert, geschweige denn, jemals von Relevanz sein wird. Wir, eine sich selbstschaffende und weiterentwickelnde Imagination unseres verzerrten Fantasiegebildes. Willkommen in meiner Welt.

Ich starre das ekelerregende Etwas direkt vor mir an, suche nach weiteren Fehlern. Ich möchte in Tränen ausbrechen, doch ich kann es nicht. Tränen. Ich kann nur an ihre physische Form und ihre zugesprochene Bedeutung denken, sie aber nicht manifestieren, erleben, noch auf meiner Haut fühlen. Trotz der gedanklichen Leere in meinem Kopf spüre ich ständig diesen Druck. Gott, dieser Druck ist die Hölle. Er ist gewaltig, übt eine Anziehungskraft aus, der man sich nicht entziehen kann. Es ist schwer das zu beschreiben. Egal ob beim Aufwachen oder zu Bett gehen. Er ist allgegenwärtig, omnipräsent. Für Sekundenbruchteile blitzen Gesichter auf, wirr zusammengewürfelt und ohne erkennbaren Zusammenhang. Vergangenheit und Gegenwart werden für einen kurzen Moment eins und driften im nächsten Moment dann wieder vollkommen auseinander. Ich versuche oft an nichts zu denken, will mich von diesem Druck lösen und einfach nur schlafen. Die ständige Müdigkeit erschwert es mir, mich zu konzentrieren, weil ich irgendwie an vielen Orten gleichzeitig zu sein scheine, obwohl ich hier bin. Ich bin mir meines Bewusstseins nicht bewusst, so verrückt es sich anhört. Ich fühle bzw. weiß einfach nicht, ob ich wirklich da bin. Doch wer ist das schon? Die Frage kann einen in den Wahnsinn treiben, je weiter man ausholt oder über ihren Sinn nachdenkt. Wie oft habe ich versucht im Hier und Jetzt zu bleiben, mich dazu zu zwingen, des gegenwärtigen Momentes bewusst zu werden. Doch immer wieder ist da dieses energische Zerren aus dem Inneren heraus. Es will mich wieder hinab in die Dunkelheit reißen. Und dort erst einmal angekommen gibt es keinen Weg mehr zurück. Man geht in sich selbst verloren. Wer mich kennt, glaubt zu wissen was in mir vorgeht. Sie alle liegen natürlich falsch. Sie wissen nichts, gar nichts. Sie glauben nur zu wissen, allerdings ohne jedweden wirklichen Glauben an ihr Wissen. Paradox. Verwirrend. Ohne Bedeutung.

Ein Beispiel. Sie schreiben einen Aufsatz über Ihr Leben, mit dem Ziel, einen Text mit null Fehlern zu verfassen. Auch nur ein Fehler würde bedeuten, dass Sie auf ganzer Linie versagt haben. Der Umfang des Textes, die Zeichenzahl, wird nicht eingeschränkt und liegt somit in Ihrem Ermessenspielraum. Mit 99prozentiger Wahrscheinlichkeit würden Sie keinen Text verfassen, der über eine Seite hinausgeht. Denn mit jedem zusätzlichen Wort oder Satzbaustein erhöht sich selbstverständlich überproportional die Wahrscheinlichkeit und somit das Risiko einen Fehler zu begehen. So wie im wahren Leben. Jeder weitere Satz führt zu mehr Verunsicherung, jedes Zeichen mag demnach wohl überlegt sein. Aber was wenn uns der Fehler bereits in der Überschrift passiert ist? Wir plötzlich aufgrund des bestimmenden Themas den eigentlichen Kontext aus den Augen verlieren? Er ist Ihnen in Ihrem Optimismus vielleicht gar nicht aufgefallen, weil Sie aufgrund Ihres Wissens davon ausgehen, dass Ihre Lösung korrekt ist. Bei vielen wachsen die Zweifel gemeinsam mit der Bedeutung ihres Ergebnisses. Kann ich davon ausgehen, dass ich alles richtig gemacht habe? In welches Gewicht fallen Folgefehler, wenn ich es doch einfach nicht besser wusste? Was sagen Fehler über uns aus? Nichts. Gar nichts. Denn vielleicht ist derjenige, der am Ende den Fehler aufdecken sollte genauso dumm wie derjenige, der den Text verfasst hat. Vielleicht sogar noch dümmer, was in unserer Welt häufig eine anfänglich fälschlich wahrgenommene Niederlage in einen Sieg verwandelt. Nur wer im entscheidenden Moment wirklich die Antwort und Wahrheit kennt vermag darüber zu urteilen. Ich kenne sie. Meine Fehler und Wahrheiten. Doch einen Sieg konnte ich bisher nicht davontragen. Mein Aufsatz besteht nur aus Fehlern, angefangen mit dem ersten Buchstaben, der zunächst nur die Präsenz meiner Existenz belegen soll. Ich will sagen, hey, ich bin da, ich existiere. Doch in dieser Welt zählt nur das Ergebnis. Und meins ist mangelhaft. Was in Ihnen nun einen kurzen Moment der vorübergehenden Enttäuschung auslösen könnte, lässt für mich eine ganze Welt in Flammen aufgehen und in sich zusammenbrechen. Denn wieder habe ich versagt. Es beginnt mit einem spürbar anhaltenden Temperaturanstieg, gefolgt von einem nervösen Zittern der Gliedmaßen und anschließendem Zusammenziehen der Innereien. Die darauf einsetzende Panik und Achterbahnfahrt der Emotionen nährt den Druck bis ins Unermessliche. Es ist eine Phobie, die sich gegen alles und jeden richtet und man steht ganz kurz davor zu kollabieren. Man hat das Gefühl zu explodieren, gekoppelt an das Verlangen dabei alles und jeden mit sich zu reißen. Ja. So ergeht es mir jeden Tag.

Der Bastard im Spiegel starrt mich weiter an. Hörst du mich? Du Stück Scheiße. Drück endlich ab! Tu einmal im Leben etwas von Bedeutung! Erlöse dich von deinem Schmerz und zeig mir, was wirklich in dir steckt! Das Zittern beginnt von Neuem. Der Daumen rutscht hin und her. Ich stöhne, keuche, presse die Augen zusammen und stoße einen langanhaltenden stummen Schrei aus. Gleich, ja, gleich ist es geschafft. Keine weiteren Überwindungsängste mehr. Ich will es sehen. Ich muss. Ich öffne die Augen und presse dabei ruckartig das Handgelenk in Richtung des Laminatbodens. JA. KLICK.

Der Druckpunkt ist überwunden, der Abzug bis zum Anschlag zurückgeworfen. Ich höre den Schuss im Inneren meines Kopfes, spüre die Wucht, die meine Backen platzen und meinen Hinterkopf zerbersten lässt. Hirnmasse, die links und rechts zusammen mit einem gewaltigen Blutschweif durchs Zimmer getragen wird und sich auf dem Bett sowie den umliegenden Wänden und Schränken niederschlägt. Das einst farblose Zimmer ist nun vollständig in Blut getränkt. Der rote Lebenssaft legt ein letztes Zeugnis meiner irdischen Anwesenheit ab. Meine flüchtige Präsenz. Der Griff am Gewehr ist gelockert... so, dass der Körper nun ungebremst sanft nach hinten gleiten und sich auf der Matratze niederlegen kann. Ich falle und fühle mich frei. Befreit von all dem Schmerz und dem Druck. Befreit von den fremden Erwartungen, die an mich gestellt wurden. Ich gleite vorbei an den spottenden Gesichtern und skeptischen Blicken. Ich genieße jene letzte Sekunde, verschwende keinen weiteren Gedanken an sie. Ich bade in dem warmen Meer aus Blut, plansche darin und verfalle der befremdlichen Euphorie, die mich innerlich erfüllt. Ich bin glücklich. Zum ersten Mal in meinem Leben. Ja, das bin ich. Ich und kein anderer. Das Ergebnis.

Das Zittern der leblosen Hülle wird bald vorüber sein. Die Temperatur wird fallen und die Panik für immer erloschen sein. Irgendwann. Doch nicht heute. Ich öffne die Augen und sehe wieder in den Spiegel direkt vor mir. Wir beide sind immer noch da. Nichts hat sich geändert. Bis auf das unspektakuläre Klicken war nichts von dem was ich gerade erlebt hatte tatsächlich geschehen. Es war nichts als eine weitere feige Flucht in die Tiefen meiner Gedanken, während das Päckchen mit der Munition erst am Dienstag durch Menschen wie sie geliefert werden würde. In meinen Händen befand sich also nur ein weiteres lebloses Objekt, dass an sich nichts bewirken würde. Ohne die passende Munition bliebe das Instrument somit genauso nutzlos wie derjenige, der es führen sollte. Gut, dass die Munition, die mich laden sollte, bereits durch euch geliefert wurde.

Kapitel I – Tagesgeschäft

Abschnitt 1.1 – Bewegung

01:11 Uhr, Kirchberg [8 Stunden bis zur Tat]

Die Geschichte mahnt uns, die Geschichte lehrt uns. Und immer in dieser Reihenfolge. Erfolge sind vergänglich, Misserfolge hingegen bleiben haften. Sie erinnern uns an das eigene Scheitern. Jetzt und in der Zukunft.

Ich saß noch in meinem Wagen, als die Nachrichten das Volk über die Terroranschläge in Berlin, München und Hamburg in Kenntnis setzten. In Deutschland herrschte somit ab diesem Zeitpunkt so etwas wie Ausnahmezustand. Es waren jeweils nur kleine Sprengsätze in Bistros, Kinosälen und vor dem Bundestag deponiert und anschließend aus sicherer Entfernung gezündet worden. Rauf und runter. Sie würden wieder Wochen damit verbringen, sämtliche Hintergründe und Hintermänner auflisten zu wollen. Wir gieren ja bekanntlich nach Informationen, saugen sie auf, wie ein ausgehungerter Schwamm. Wir hegen insgeheim die Befürchtung, wir könnten etwas verpassen, als gäbe es in diesem Moment nichts Wichtigeres als einfach alles zu wissen.

Die objektive Berichterstattung hatte sich seit 9-11 drastisch verändert und unlängst verabschiedet. Mit Einläuten dieses Tages erfanden die seriösen Nachrichtenagenturen den allumfassenden Begriff „Entertainment“ für sich vollkommen neu. Wiederholungsschleifen von blutüberströmten, kreischenden Menschen, die der Staubwolke des Todes zu entkommen versuchen. Eine Geschichte in der Geschichte. Schachteljournalismus. Je blutiger die Bilder und je jünger die Opfer desto höher die Einschaltquoten und unser Verlangen nach Antworten. Wir verachten zwar diese Taten, gieren jedoch insgeheim nach ihnen. Wir schalten den Fernseher an und hoffen auf etwas „Besonderes“. Die Nachrichten darüber, welcher Star sich irgendwelches Botox in die Eichel gespritzt hat, um den natürlichen Sackfalten zu entfliehen, sind doch allesamt ausgelutscht und längst nicht mehr medienwirksam. Sind wir doch mal ehrlich, uns erfreut es doch viel mehr, wenn sich ein ohnehin unbeliebter C-Promi vom Dach eines B-Promis wirft und gleichzeitig irgendeinen A-Promi in seinem Abschiedsbrief für sein verpfuschtes Leben verantwortlich macht. Es zaubert uns ein zynisches Lächeln aufs Gesicht. Zumindest wenn wir alleine sind. Erreicht es uns im Beisein eines Mitmenschen dann schütteln wir erst einmal äußerlich vorwurfsvoll und bei ernster Mine mit dem Kopf, kugeln uns aber innerlich vor Lachen die Gelenke aus. Schütteln Sie jetzt bitte mit dem Kopf, wenn ich mit meiner Vermutung so daneben liegen sollte. Wir sind süchtige Flüchtlinge der realen Welt, immer wieder auf der Suche nach der nächsten skurrilen Gegebenheit, die uns kurzweilig Erheiterung verspricht. Das Internet scheint dabei für die Bedürfnisbefriedigung wie geschaffen und ein Segen zu sein. Terroristen und ihre Bomben. Manchmal habe ich das Gefühl, die sind allesamt Feiglinge. Nicht fähig von Angesicht zu Angesicht ein Problem zu lösen. Islamischer Staat, Al Kaida oder unter welchem Deckmantel auch immer erneut versucht wird, mit Religion alles erklären zu wollen oder sich zu entschuldigen. Wir haben Begriffe wie „Psychopath“, „Religiöse Fanatiker“ oder „Politiker“ erfunden, um uns selbst in Sicherheit zu wiegen, wir wüssten eine Antwort auf das Unerklärliche. Eine Schublade, die wir öffnen und gewisse Taten hineinpressen, damit wir nicht im Dunklen tappen brauchen. Aber es sind nur Worte, hinter denen sich alle individuellen Mysterien zu verstecken versuchen.

Ich versuche gar nicht erst wie die zu sein. Ich akzeptiere mein Umfeld so wie es ist, denn ich habe es verstanden. Wir haben zweifellos versucht, das Chaos zu ordnen. Allerdings haben wir uns damit mehr und mehr den Willen anderer aufzwingen lassen. Ich kann nicht leugnen, dass es in gewissen Situationen Sinn macht, die Individualität und deren Ansichten einzuschränken oder auszugrenzen. Stellen Sie sich mal vor wie viele Verrückte, Serienkiller und Vergewaltiger durch die Straßen ziehen würden, wenn wir ihnen ohne Gesetze erlauben, zu sein wer sie sind. Ein erschreckender Gedanke, wie viele von denen ihre Maske fallen lassen würden, hätten diese innewohnenden Verhaltens- und Gedankenmuster uneingeschränkten Handlungsspielraum aufgrund eines anarchistischen Umfelds.

Ich ertappe mich oft selbst dabei, wie ich häufig meinen Bedürfnissen unterliege. Ich zeichne mir dabei meine eigene Realität. Es ist schließlich meine Realität. Sie gehört niemanden, selbst nicht mir alleine und trotzdem versuche ich sie vor äußeren Einflüssen zu schützen. Die Welt befindet sich in ständiger Bewegung, genauso wie ich. Allerdings hält sie, im Gegensatz zu mir nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde inne und schaut zurück. Sie hinterfragt nicht was wir getan haben, sie verdammt nicht diejenigen, die es getan haben. Sie dreht sich einfach immer weiter und auch ich versuche es ihr gleich zu tun.

Doch jede weitere Bewegung führt bei mir unweigerlich zur Ermüdung. Ich bin echt müde, habe das Radio längst wieder abgeschaltet. Seit Stunden ist mir kein Mensch mehr auf dem Kirchberg begegnet. Es ist spät, die Sterne funkeln im vollen Glanze, während der von Abgasen verpestete Wind der Nordseite meinen Wagen mit neuer, moderner Lebensenergie füllt. Ich sollte in den Schlaf gewogen werden, doch die Unruhe in mir widerspricht lauthals. Ich nehme einen weiteren tiefen Zug, über etwaige gesundheitliche Schäden mache ich mir, wenn überhaupt, erst später Gedanken. Verrückte Welt. Ich sollte eigentlich früh schlafen gehen, aber ich genieße die anhaltende Einsamkeit zu sehr. Dieser Moment vollkommener Freiheit ist ein Geschenk. Ich fürchte mich nicht vor dem Morgen. Ich fürchte das Vergangene, das Gestern und das Vorgestern und die Tage davor. Dinge, die mich zu dem gemacht haben, der ich heute bin. Hier und jetzt am Fuße eines Abhangs, die Sterne beobachtend, nach dem Sinn des Lebens suchend. Und wie ich eingangs andeutete, ist es nicht mit nur einem Begriff getan. Es ist nicht nur eine Schublade oder gar ein ganzer Schrank, in den sie mich bequemerweise hineinstopfen können. Es ist viel mehr als ihnen jemals bewusst sein wird. Wenn es schon mir, denjenigen den es letztendlich betrifft, schon nicht eindeutig klar ist, wie können sie sich dann anmaßen, das ganze Ausmaß meines Kosmos verstehen zu wollen? Manche Fragen bleiben eben unbeantwortet, dies sollte man akzeptieren. Nicht für alles muss eine Erklärung gesucht oder ein neuer Begriff gefunden werden. Manches geschieht, weil uns das „Hier und Jetzt“ eben zu diesem Zweck bestimmt hat. Unser gegenwärtiger Geisteszustand entwickelte sich aus der Summe sämtlicher zurückliegender Erfahrungen. Und mit jedem weiteren Tag gewinnen wir mehr an Individualität dazu und grenzen uns von den anderen ab. Wir verändern uns unaufhaltsam weiter. Würden Sie von sich behaupten, dass irgendjemand auf diesem Planeten 1:1 Ihr Leben führt oder geführt hat? Also bitte, schieben Sie sich doch diese tolle Schublade sonst wo hin. Ich schließe meine Augen und fühle die Schläge meines Herzens in meiner Brust. Der Takt wiegt mich in Wohlwollen, er übertönt alles, was nicht zu mir gehört. Ich könnte beruhigt einschlafen, doch ich will es nicht. Noch nicht. Denn ab morgen wird sich die Welt sowohl für mich als auch für viele Andere nicht mehr weiterdrehen.

Abschnitt 1.2 – Stillstand

05:21 Uhr, Wiesenweg 3b [4 Stunden bis zur Tat]

Der Wecker klingelt seit 05:15 Uhr und immer wieder schalte ich ihn ab. Ich muss erst um 07:30 Uhr auf der Arbeit sein, aber Nina wird mich wie jeden Morgen wieder darum bitten, unsere Kleinen zur Schule bzw. in den Kindergarten zu fahren. Nur damit sie ausschlafen und fit für ihren Job um 09:30 Uhr an der Kasse unseres Drogeriemarktes sein kann. Ich bräuchte immer zu lange im Bad. »Wann stehst du endlich auf und machst dich fertig, Armin?«, schimpft sie ständig. Manchmal ist sie echt eine nervige Furie und ich habe so langsam echt keinen Bock mehr darauf, immer wieder zu Beginn eines Tages ausgerechnet ihr Gesicht und diese Stimme ertragen zu müssen. Ich scheue mittlerweile sogar das Licht anzumachen, aus Angst was mich erwarten würde. Ich brauch’ dringend einen Kaffee.

»Niels, Lukas, Marco. Seid ihr schon wach?«, flüstere ich in das düstere, beengte Schlachtfeld eines Kinderspielzeugparadieses. Eine Stunde. So lange hab ich heute im Bad verbracht. Verdammt nochmal, ich musste duschen, eincremen, mich rasieren, „überall“ rasieren. So etwas braucht halt Zeit. Zeit, die ich durch das neue morgendliche Ritual kaum noch habe. 05:30 Uhr spätestens aufstehen. 06:30 Uhr versuchen noch vor der offiziellen Rentnerzählung frische Brötchen beim Bäcker an der Ecke zu erhaschen. 06:35 Uhr, mich ermutigen, der Stimme der Vernunft, also mir, Folge zu leisten und keinem der Alten den Krückstock wegschlagen zu wollen. Der Stress beginnt mit jedem Erwachen aufs Neue. Zweifelfreies Zeugnis darüber legen meine Krähenfüße ab, die ich mit noch so viel NIVEA-Creme einfach nicht in die Knie gezwungen bekomme. Als Single kannte ich diese Probleme nicht, aber das war vor gut 21 Jahren. Das Wort „Familie“ hatte damals noch eine ganz andere Bedeutung für mich und hatte tatsächlich kaum was mit familiären Aktivitäten und insbesondere nichts mit Mitgliedern meiner Blutlinie zu tun. Früher waren meine Freunde meine Familie. Wir taten untereinander mehr füreinander als dies heute der Fall ist. Im Alter schläft vieles ein, aber trotzdem bleibe ich mir treu und rasiere mir meinen Intimbereich noch wie vor 21 Jahren. Man weiß ja nie wen oder was der Tag so bringt. Nina war damals wunderschön. Sie hatte eine athletische Figur, das Proben für das erste gemeinsame Kind konnte man gut und gerne als ausdauersportliche und abendfüllende Aktivität bezeichnen. Heute wiegt sie gut 25 Kilo mehr, was nicht nur an der gespachtelten Schminkmasse in ihrem Gesicht liegt, damit sie auf der Arbeit jugendlicher wirken kann. Nein. Während ich auf meine Ernährung achte, haut sich diese aufgedunsene Fast-Food-Dschihadistin reihenweise Zuckerbomben unbekannten Ausmaßes rein. Wir mussten doch tatsächlich das Lattenrost unterhalb des Bettes mit Holzklötzen verstärken, damit wir nach immer seltener werdenden, sportlichen „Aktivitäten“ beruhigt zusammenbrechen konnten. Ich liebe mein Leben, auch meine Plagen aus unlängst erfreulicheren Zeiten. Aber ich vermisse gewisse Vorzüge der Vergangenheit. Ich erhebe meine Stimme damit der Tag endlich ins Rollen gerät: »Wenn Ihr jetzt nicht aufsteht, dann verlasse ich Eure Mutter und ziehe mit einer 20-Jährigen nach Sri-Lanka. Dann könnt Ihr gucken wie Ihr in die Schule kommt!« Mit dem „Erheben“ der Stimme hatte ich eben vielleicht etwas untertrieben.

Abschnitt 1.3 – Verluste

06:53 Uhr, Danziger Straße 5 [2,5 Stunden bis zur Tat]

Ich rieche den Kaffee, den sie nach altmodischer Manier in der Kaffeemaschine ihrer Mutter zubereitet. Das alte Ding ist dabei so laut, dass es einem nur sehr schwer fällt im Bett schlafend liegen zu bleiben. Ich sage ihr nicht, dass Thomas mich bereits vor 20 Minuten per WhatsApp-Nachricht mit einem Kuss-Smiley geweckt hatte. Sie verbietet mir einen festen Freund, obwohl sie weiß, dass ich keinen Sex habe. Sie meint, ich sei mit 17 noch zu jung dafür. Angesichts dessen, was mir passiert ist, irgendwie verständlich. Jungs in meinem Alter seien wie Tiere, dauergeil, unreif und schwanzgesteuert, wie sie es immer wieder gerne ausdrückt. Wenn sie wüsste, was andere in meiner Klasse bereits mit 15 oder 16 gemacht haben, sie würde lauthals aufkreischen und einen Exorzisten für sich und gleich für mich mit bestellen. Früher war ja bekanntlich alles anders. Die Mädchen waren geziemt, sie waren der Inbegriff von Anstand und Moral. Jungs waren kleine Prinzen. Höflich wie Papa. »Pustekuchen«, würde Papa jetzt wieder sagen. Papa war in solchen Sachen immer sehr ehrlich. Er versuchte gar nicht erst Dummheiten schön zu reden. Ich war, und würde es immer sein, sein kleines Mädchen. Ich vermisse ihn wahnsinnig und ich weiß, sie tut es auch. Ich höre sie oft im Bett weinen. Seinen Namen rufen. Nachts verschwindet sie oft heimlich im Bad, hofft, dass ich es nicht mitbekomme, wie sie sich das Handtuch auf das Gesicht presst und ihre Trauer zu unterdrücken versucht.

Es ist nun wenige Monate her. Henrik, ein ehemaliger Mitschüler aus der Parallelklasse, hat ihn an einem Samstagabend nahe eines Zebrastreifens mit seinem Golf angefahren. Er wollte einen auf „cool“ machen, hieß es im Polizeibericht. Der Mistkerl ließ bereits an der Ampel die Reifen durchdrehen, schoss wohl aus einer 30er-Zone kommend mit über 50 km/h durch die Kurve. Da die 30er-Zone jedoch, zumindest juristisch gesehen, an dieser Stelle bis zu diesem Tag als abgeschlossen galt, konnte eine Tempoüberschreitung am Zebrastreifen nicht als vorsätzlich fahrlässig geahndet werden. Heute schon. Juristisch. Dazu kam noch, dass mein Vater nicht ordnungsgemäß und somit selbst fahrlässig den nahegelegenen Zebrastreifen für die Überquerung nicht genutzt hatte. Ich hielt das alles nur für einen dummen Witz. Viel schlimmer war es aber zu erfahren, dass Henrik sich wohl anfangs, kurz nach dem Aufprall, erst ausgiebig über die Schäden an dem tollen Geschenk seines reichen Vaters, dem neuen Golf mit 130 PS, ausgelassen haben soll statt sich um den verletzten Mann zu seiner Rechten zu kümmern. Den hatte er geschlagene drei Minuten einfach ignoriert. Es waren Josh und Tanja, die schließlich den Notruf alarmierten und Henrik davon abhielten einfach abzuhauen. So erzählt man es sich jedenfalls auf dem Schulhof. Doch für ihn, meinen Vater, kam damit jede Hilfe zu spät. Das Geschenk seines Vaters hat mir meines genommen. Es ist beängstigend wie gut ich mit diesem Verlust klarkomme. Nicht falsch verstehen, auch ich weine beinahe täglich. Aber ich glaube, dass ich von uns Beiden die Einzige bin, die sich mit der Tatsache mittlerweile einfach abgefunden hat. Vielleicht habe ich diese Charaktereigenschaft des Ausblendens einfach durch die zurückliegende Vergewaltigung übernommen und dann auch hier angewandt. Ich weiß es nicht. Muss ich auch nicht mehr. Zwei Jahre sind meine Eltern mit mir durch die Hölle gegangen, bis es endlich „Klick“ gemacht hat. Doch das Klicken hat danach aufgehört. Der Schalter sitzt fest. Mein Vater ist tot und er kommt nicht wieder. Er würde jetzt sagen, »Das Leben geht weiter.« Punkt.

»Na, Kleines... Und? Hast du gut geschlafen?« Frische Pfannkuchen. Die hat sie schon lange nicht mehr gemacht. »Ja. Kochst du für mich bitte noch ein paar Eier? Aber bitte hart.« Sie wusste, dass ich am Samstag vergessen hatte welche in den Einkaufswagen zu legen. »Wir haben keine Eier mehr. Die Letzten hab ich gerade für die Pfannkuchen aufgebraucht. Du Weichei, wie du wieder aussiehst.« Ich räuspere mich und kaschiere damit meine Reaktion bezüglich des misslungensten Wortspiels ever. Ich ignoriere sie, hatte sie mich doch vergangenen Samstag wieder nicht in die Disco gehen gelassen. Sie schob es auf die Eier, aber um ehrlich zu sein ist ihr jeder banale Grund recht mich zu Hause zu halten. Sie erlaubt mir seit seinem Tod keine Form der Ablenkung, Spass oder einfach mit meinen Freunden abzuhängen. »Also, wie hast du geschlafen?« Ich schweige und gieße mir zunächst ein wenig schwarzen Wachmacher in die Tasse.

»Ich bin ausgeschlafen und fit für den großen Tag. So sorget euch nicht, oh, du meine fürsorgliche Mutter.«

»Siehst aber irgendwie nicht danach aus. Vielleicht machst du heute Abend zur Abwechslung mal nicht so lange. Reich mir mal die Milch, Yvonne.«

Es trennen mich tatsächlich nur noch wenige Tage bis zu meiner heiß ersehnten Volljährigkeit. Der Tag, an dem ich endlich meine eigene Herrin über mein Leben sein würde. »Pustekuchen«, würde mein Vater in dieser Situation wieder einmal sagen.

»Übrigens fahr’ ich euch heute zur Schule. Denise’ Mutter hat wohl Magen-Darm, darum hol ich euch heute Mittag auch wieder ab. Ich hab meine Schicht getauscht, somit haben wir nach Schulschluss den ganzen Tag für uns. Ich dachte, wir gehen dann einkaufen. Klamotten oder wie du magst.«

Ich hatte meinen Nachmittag bereits mit Thomas verplant. Verdammt, kann ich also wieder alles über den Haufen werfen. »Ach komm schon, Mutter. Du weißt doch genau, dass ich heute mit Verena ein wenig in die Stadt wollte. Das hab ich dir gestern schon gesagt. Sie ist gerade aus der Türkei zurück und hat bestimmt einiges zu berichten, was ich wiedermal alles verpasst habe.« Sie lächelt, hatte sie meine Anspielung in ihrer Weisheit wiedermal korrekt übersetzt. »Junge Dame, für Solo-Trips im Bikini, in einem weit entfernten Land bist du mir noch ein bisschen zu jung. Fang bitte nicht wieder damit an. Wir haben uns doch nach der letzten Diskussion wieder so gut verstanden. Und was heute Nachmittag angeht, das scheint mir wohl deswegen entgangen zu sein, weil du mir davon bis eben nichts erzählt hast. Und zufällig weiß ich, dass Verena montags ihre Klavierstunden hat. Lass dir also bitte etwas Besseres einfallen, um deine fähige Mutter hinters Licht zu führen.« Verdammt. Die Frau war klüger als sie aussah. Die folgenden Worte konnten nun darüber entscheiden, ob ich meinen achtzehnten Geburtstag überhaupt noch erleben würde. Früher hätte ich ihr ohne großes Zögern von Thomas erzählt. Aber seit dem Unfall lass ich Themen wie Liebe oder den Ausblick auf eine gemeinsame, gesunde Zukunft mit einem Jungen, weit abseits dieses Heimes, lieber unter den Tisch fallen. Sie lächelt mich an, zeigt mir, nein, bettelt darum, dass ich ihr doch mehr Vertrauen entgegenbringen sollte. Ich enttäusche sie nur ungerne. Zu sehr wünsche ich mir, dass sie sich für mich freut. Doch ich kenne die Wahrheit. Es bricht ihr das Herz, wenn ich ihr erzählen würde, was meine Ziele nach der Schule sind. Doch wir verharrten nicht lange in ungewollter, peinlich berührter Stille mit fragenden Blicken. Denn uns fiel schlagartig auf, dass sie den Küchentisch schon wieder für drei Personen gedeckt hatte.

Abschnitt 1.4 – Ängste

06:39 Uhr, Goebenstraße 26 [2,5 Stunden bis zur Tat]

Wir liebten uns seit Stunden eng umschlungen. Wir liebkosten unsere Lippen und andere Körperregionen, bis wir, innig verschmolzen, den Höhepunkt unserer unbändigen Lust erreicht hatten. Plump gesagt, wir vögelten uns den Verstand aus dem Schädel, wie zwei junge Karnickel.

Carmen hat sich seit den gemeinsamen Studenten-Tagen immer gut um mich gekümmert. Das war vor etwa genau, ich glaube... ja, drei Jahren. Es ist Zufall oder vielleicht sogar Schicksal, dass wir beide heute am gleichen Gymnasium unterrichten. Gleich am ersten Tag machten wir ein lang gehegtes Versprechen wahr. Sex im Lehrerzimmer bei Wein und Kerzenschein. Das Erlebnis und auch das Ergebnis waren so gut, dass wir es eine Woche später wiederholen mussten, und die Woche darauf... naja, Sie wissen schon. Sie ist unersättlich. Ihre Stimme versinkt innerhalb der Geräuschkulisse des feuchtfröhlichen Geschmatzt an ihrem Ohrläppchen. Sie konnte sich einfach nie beherrschen, wenn ich erst damit angefangen hatte, ihr am Ohrläppchen herumzuknabbern und sie dabei sanft am Hals zu streicheln. »Wenn du mich fragst, waren die Ferien viel zu kurz. Da fällt mir ein, ich muss heute übrigens rüber zu Heini, den neuen Vergaser abholen.« »Du hast doch erst die Scheinwerfer und das Sportfahrwerk in diesem Jahr erneuert. Mensch Markus, was soll das? Wir wollten dieses Jahr in die Staaten reisen und du wirfst unser Geld aus dem Fenster, als würde es auf Bäumen wachsen.« Ich entschuldige mich und setze mich an den Platz zu ihrer Rechten. Insgeheim waren mir ihre Ängste bewusst. Die Erwartungen an die gemeinsame Reise in die USA waren höher als an all die anderen gemeinsamen Abenteuer zuvor. Sie wollte endlich den Ring sehen, den ich bereits vor Monaten gekauft habe. Mir fehlte es bislang nur an der Entschlussfähigkeit und dem notwendigen Mut. »Ich hab das mit der Reise garantiert nicht vergessen. Das wird schon. Hör zu, ich brauch das mit der Bastelei einfach, damit ich ausgeglichener für dich bin.« Ich lenke ab, damit sie keinen Verdacht hegt. »Und ich dachte bisher immer, dafür hast du mich.« Touché.

Ich streiche ihr durch das Haar, als wäre es das erste Mal. Behutsam und sanft, genau so wie sie es mag. »Hör zu, Schatz. Ich will mich so früh am Morgen nicht mit dir streiten. Ich habe einfach nur Angst, dass uns unsere so strenggeheime Beziehung irgendwann mal im Kollegium zum Verhängnis wird. Die Kiddies tuscheln schon auf dem Schulhof, rufen dir nach, du seiest eine Hot-Milf, dass du mich sehr bald an einen von ihnen verlieren würdest. Diese Konkurrenz macht mich da schon ein bisschen eifersüchtig und ich muss da dringend gegenhalten. Vor allem, weil ich es sein möchte, der dich erst zu einer „Milf“ per Definition macht. Wir haben oft drüber geredet, über unsere Träume, über Kinder und bald machen wir all das wahr, was wir immer vorhatten. Gemeinsam.« Sie schließt ihre Augen, verbirgt ihre offensichtliche Enttäuschung, drückt mir einen Kuss auf die Wange und schreitet graziös mit dem Handy durch den offenen Torbogen, welcher der Abgrenzung des Wohnzimmerbereichs von der eingebauten Küchenzeile dient. Ich hatte sie wieder mit irgendwas verärgert. » Ich gehe jetzt mal unter die Dusche.« Aber ich hatte wieder einmal nur Blicke für ihren Körper. Verdammt, was hatte sie nochmal gesagt?

»Ich liebe dich«, rufe ich ihr verheißungsvoll hinterher, doch sie verwehrt mir jedwede Antwort. Sie lässt mich stehen, straft mich mit Schweigen. Dabei hatte der Morgen so gut angefangen.

Abschnitt 1.5 – Zufall

07:19 Uhr - Gustave Doré Allee [2 Stunden bis zur Tat]

Trotz des morgendlichen Taus und dem seichten Nebelschleier schienen die Sonnenstrahlen inmitten der prunkvoll bewirtschafteten Korridore der Gustave Doré Allee behutsam herab. Sie wärmten zwar nicht den Asphalt, doch brachten sie das farbenfrohe Antlitz des umliegenden Naturschauspiels in all seiner Pracht minutiös zur Geltung. Kirch- und Apfelbäume stehen streng aneinandergereiht wie Soldaten, bestückt mit leckeren Früchten, ihren Waffen der Versuchung. Gepflegte Rosenbüsche, rot an gelb, rosa an weiß, die zur frühen Jahreszeit den Verliebten als Inspiration und dem inneren Wohlwollen dienten. Ein harmonisches Miteinander, friedvoll und mäßigend.

»Hast du jetzt ne‘ Kippe oder nicht?«, grölt Ben in die Runde von fünf pubertierenden Halbstarken. Nur vier Meter von jener Bushaltestelle entfernt, an der besorgte Mütter und Väter im Sekundentakt ihre geliebten Schützlinge zur weiteren Abfertigung abluden. Sie drücken ihnen einen feuchten Kuss auf die Wangen und richten ein letztes Mal den Ranzen, ehe sie sich zum hundertsten und letzten Mal darüber erkundigt hatten, ob sich das Pausenbrot nun wirklich in der hinteren linken Rucksacktasche befand. »Ey Alter, jetzt gib mir schon eine. In 7 Minuten kommt der Gefangenentransport und ich schmachte bestimmt keine weitere Viertelstunde in dieser Einöde. Rück raus, du Lappen oder es gibt eins in die Fresse!« Der Name des forschen Jungen ist Ben Gobin. Er ist kein unbeschriebenes Blatt, seine Drohungen waren in der Gruppe durchaus immer ernst zu nehmen. Eingeschüchtert überreicht ihm Daniel die Schachtel und zündete sich in kollegialer Gesinnung zugleich selbst eine an. Er schaut in die Runde und sieht wie Kevin hastig auf seinem neuen Samsung herumtippt und vollkommen abwesend vom Geschehen eine Frage in die Runde wirft.

»Ich glaub Ben ist heute in guter Stimmung. Mal echt gespannt wie die Reif an die Decke geht, wenn die den Deal mit ihm platzen sieht. Mann, hat der die verarscht.«

»Von welchem Scheiß-Deal redest du jetzt wieder?«

Es wunderte keinen der Jungs, dass Ben wieder einmal alles vergessen hatte, was noch vor neun Wochen in der Klasse 9d für Furore gesorgt hatte. Frau Reif machte Ben, vor all seinen Klassenkameraden, ein ungewöhnliches und zugleich moralisch verwerfliches Angebot. Sie gab ihm für das Jahreszeugnis statt der berechtigten „fünf“ eine „Vier-minus“. Daran geknüpft, an diese noble Tat, war nur eine einzige Bedingung: Ben würde im ersten Halbjahr des aktuellen Schuljahrs weniger als 15 Fehltage aufweisen, keine Immatrikulation an einer staatlichen Hochschule in Betracht ziehen und durch Fleißarbeit und Benehmen seine Noten für das letzte Halbjahreszeugnis in den Hauptfächern mindestens auf ein Viererniveau anheben. Andernfalls würde seine Gönnerin ihm den zukunftsweisenden Abschluss vollends verwehren.

Ben sah in ihrem Handeln statt einer Chance selbstverständlich eine öffentliche Demütigung. Es war ihm auch salopp gesagt „scheißegal“ ob er seinen Abschluss an diesem oder einem anderem Gymnasium jemals machen würde oder nicht. Ben blieb ein Tagträumer, der mit seiner ruppigen Art alles und jeden zu vergiften und zu unterwerfen versuchte. Qualitäten, die einen erfolgreichen Manager des Wirtschaftssektors aus ihm machen könnten. Wenn seine Noten oder zumindest seine Taten bzw. ein Geschick für Zahlen für ihn sprechen würden. Doch Ben stammt aus einfachen Verhältnissen. Sein Vater schlug ihn und seine Mutter noch bis er 12 war, das wusste jeder. Was hingegen nicht jeder wusste war, dass Ben ihn mit 13 absichtlich eine Treppe hinunterwarf und so das Treiben von da an für alle Beteiligten unterband. Von da an war er der Chef im Haus und niemand würde ihn seitdem je wieder herumschupsen können. Er würde am Ende für seine Zukunft selbst verantwortlich sein und nichts anderes erwartete er auch von seinem Umfeld. Niemand durfte ihm jemals Vorschriften darüber machen, was er zu tun und lassen habe. Auch nicht Frau Reif.

»Das geht mir am Arsch vorbei. Is ganz einfach. Wenn die Tante mir dumm kommt, gibt’s was auf die Fresse. Das war so und das wird immer so bleiben. Ich hab keinen Schiss vor der.«

Einfach, aber gefährlich. Kevin heulte laut auf und klatschte beifallend, nachdem er ihm gegenüber seine Loyalität nochmals mit einem flinken Hand-Shake bekundete. »Ben, wenn du nicht damit aufhörst, dann hau ich dir eins in die Fresse!« Ben stellte sämtliche Muskelregungen ein. Hier hatte jemand indirekt Anspruch auf den Thron erhoben, jemand den Ratschluss des Führers in Frage gestellt. »Was hast du gerade gesagt?« Daniel wiederholte seine Worte mit festerer Stimme, wenngleich auch mit weniger Überzeugung als zuvor. Sämtliche Blicke richteten sich gegen Ben, erwartungsvoll, was nun folgen würde. Er sah sich um, spürte sowohl den Zuspruch zu Daniels Drohung als auch die Angst, die er selbst verbreitete. Im Anschluss schob er eine umliegende Figur nach der anderen zur Seite, bereitete Daniel somit genügend Platz, sodass dieser auf ihn zustürmen könne. Daniel entledigte sich sofort seines Rucksacks und machte sich bereit sich seiner ihm verhassten Nemesis zu stellen. Doch noch ehe er seiner Androhung tatsächlich Taten folgen lassen konnte, wurde er von hinten gepackt. Kevin, der kleine ADHS-Junkie aus dem Sozialbau der Finkenstraße 84b, hatte ihn bereits im Würgegriff. Ein Soldat, nicht fähig selbstständig zu denken noch jemals eigenständig für sein Überleben sorgen zu können. »Hier, Ben... Zeig dem verwöhnten Stück Scheisse wie die Rang-Ordnung aussieht!« Daniel war in der Falle, vollkommen dem Wahnsinn zweier Maschinenmenschen ausgeliefert. Nicht einmal er würde sich ausmalen, was Ben ihm nun antun würde.

Noch ehe er sich sämtliche Szenarien ausgemalt hatte, spürte er bereits die geballte Faust seines Gegenübers im Gesicht. »Spürst du das? Wie es brennt, wie sich der Druck durch deine Augenhöhle zieht? Kleiner Wichser...« Daniel spürte den Druck und wusste zugleich, dass es nicht dabei bleiben würde. Am liebsten wäre er zu Boden gesunken, doch Kevin hielt ihn aufrecht. Ben holte ein weiteres Mal aus, doch er vollendete seine Tat nicht. Er sah ihn einfach nur an. »LOS, gib ihm noch eine... Komm schon, Ben...« Dem Zögern folgte ein flüchtiger Blick hinter seinen Gegner, mitten in die glänzenden Augen von Kevin, die regelrecht nach mehr schrien. »Bitte, Ben... wir sind Freunde... wir...«, keuchte Daniel demütig, ehe Kevin ihn mit einem Klappser auf den Hinterkopf unterbrach und Ben bekräftigend entgegennickte. Ein Aufruf, dem er sonst am liebsten mit vollem Genuss beipflichten würde. Vorsichtig presste er sein Gesicht ganz nah an das von Daniel, sodass dieser den vollen, übelriechenden Zwiebelgestank von vor zwei Tagen erdulden musste. »Wichser... hast es dir verspielt. Du bist selbst schuld an deiner Lage und an allem was nun folgen wird.«

Ben holte erneut aus, weiter als zuvor. Daniel schloss derweilen seine Augen und erwartete die unbändige Wut, die ihn jeden Moment treffen würde. Innerlich verrannen die Sekunden, die den Schmerz erwarteten, der jedoch nicht einzutreten schien. Als Daniel seine Lider öffnete, vernahm er direkt wie Ben’s Hand schwungvoll die Wange eines unbeteiligten Dritten berührte. Die Wange eines stillen Jungen aus ihrem Jahrgang, die nun Ben’s vollständige Aufmerksamkeit bekam. »Na was ist denn das? Haben wir hier einen kleinen Helden-Wichser, oder was?« Doch der Junge, Tilmann, war alles andere als ein Held. Er galt für Außenstehende als die manifestierte Reinform eines Opfers. Brille auf der Nase, geföhnter Seitenscheitel, leichtes Übergewicht, welches er mittels karierter Hemden zu kaschieren versuchte. Ein verwöhntes, introvertiertes Einzelkind, das bei einer zwei-minus das Gespräch mit dem Lehrer suchte und einfach nur in einer Welt von Beutejägern zu überleben versuchte. Tilmann war kein Held, doch jetzt, in diesem Moment, war er der Mittelpunkt dieser, jener, seiner Welt.

Kevin ließ sofort ab von Daniel, als Ben sich umdrehte und Tilmann zu Boden warf. Tilmann hat nichts getan. Er stand einfach nur so da. Wurde von Ben aus einer Laune heraus ausgesucht. Das alles geschah einfach nur, weil er da war. Tilmann wusste nicht, wie ihm geschieht, konnte nicht begreifen, wieso nun gerade er das Ventil sein würde. »Was hast du gerade zu mir gesagt?«, warf ihm Ben entgegen. Selbstverständlich hatte Tilmann den ganzen Morgen über kein einziges Wort über seine Lippen gebracht. Er schüttelte nur panisch mit dem Kopf, versuchte im erzwungenen Selbstschutzmodus möglichen Schaden von sich abzuwenden. »Was? Hast du was über meine Mutter gesagt? Lügst du dreckiger Wichser mir jetzt auch noch ins Gesicht? Willst du mich anmachen?« Binnen weniger Millisekunden hatte Tilmann Ben’s flache Hand im Gesicht. Daniel musste mit ansehen, wie Kevin, getrieben wie ein wildes Tier, auf den zitternden Körper direkt vor ihm losging, Tilmann zu Bodendrückt, ihm wieder aufhalf und sogleich wieder zu Boden riss. Sein Körper musste einen Schlag nach dem anderen einstecken, während Ben unterdessen das Tollen seines Hundes beaufsichtigen sollte. Doch freiwillig würde Ben seinem Handlanger das Finale nicht überlassen. Der letzte Eindruck musste durch Ben geprägt werden. Er musste das letzte Gesicht sein, das alle mit der Tat in Verbindung bringen würden. Er riss Kevin also von ihm runter und stellte sich demonstrativ über den erlegten Körper.