Four on Level 4 - Anna Schag - E-Book

Four on Level 4 E-Book

Anna Schag

0,0

Beschreibung

Thor Ziggedorn, Chef des allmächtigen Elektronik- und Rüstungskonzerns Ziggedorn, ist auf dem Kriegspfad. Seine neueste milliardenteure Entwicklung, die ihm den weltweit ersten Platz in der Waffenproduktion sichern soll, ist gestohlen worden. Und dann zieht Milli - die Tochter des Diebes - nach Koppelitz, in ein Städtchen, das praktisch ihm gehört. Es dauert nicht lange, und sie und ihre neuen Freunde finden sich verstrickt in die düsteren Geheimnisse des Konzerns. Wird es ihnen gelingen, sich mit Einfallsreichtum und List gegen all die Verdrehungen der Wahrheit zu behaupten? Zuerst scheint alles aussichtslos, aber dann erhält Milli Nachrichten aus der Vergangenheit und sie finden die mächtige KI Eliza, die endlich Licht ins Dunkel bringt, aber ihre Welt völlig auf den Kopf stellt. Ein Roman auch für Erwachsene, von dem weitere Folgen in Vorbereitung sind.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 700

Veröffentlichungsjahr: 2021

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anna Schag

FOUR ON LEVEL 4

der Widersacher

Band I

Über dieses Buch:

Schon als Milli nach Koppelitz umziehen muss, schwant ihr nichts Gutes. Praktisch gehört das Städtchen dem Elektronik- und Rüstungskonzern Ziggedorn. Sein wichtigstes Geheimprojekt hatte ihr Vater geleitet, bevor er spurlos verschwand. Und mit ihm die geheimnisvolle Maschine, die Ziggedorn unbedingt zurückhaben will. Es dauert nicht lange, und sie und ihre neuen Freunde finden sich verstrickt in die düsteren Geheimnisse des Konzerns und seines skrupellosen Chefs Thor Ziggedorn. Wird es ihnen gelingen, sich gegen all die Verdrehungen der Wahrheit zu behaupten? Zuerst scheint alles aussichtslos, aber dann erhält Milli Nachrichten aus der Vergangenheit…

Autorin:

Anna Schag ist in Kiel geboren und lebt in Berlin. Sie arbeitete lange in einem wissenschaftlichen Verlag, wo auch ihre ersten utopischen Geschichten entstanden. Eine Frage interessierte sie seit ihrer Jugend ganz besonders: Angenommen in jedem Atom des Universums schlummert potenzielles Eigenbewusstsein. Geist und Materie stellen zwar eine Dualität dar, aber im Menschen verschmelzen die Gegensatzpaare, und aus dem Austausch- und Anpassungsprozess der sich dabei abspielt entsteht Bewusstsein. 

Intelligente Maschinen sind keine fühlenden sozialen Wesen und entwickeln ganz sicher keine Weisheit, aber besitzen sie eine Form von Bewusstsein? Die Autorin bejaht das, und die freundliche KI in ihrem Roman überrascht mit erstaunlichen Fähigkeiten. Künstliche Intelligenz wird eines der wichtigsten Forschungsgebiete der Menschheit sein, und da futuristische Technologie heute schon an der Schwelle der Realisierung steht, ist der vorliegende Roman keine Science-Fiction im klassischen Sinn. Die Autorin lässt mitten im Chaos und Zusammenbruch alter Strukturen eine neue Welt entstehen, mit noch unbekannten Kräften, Aussichten und Möglichkeiten. Ein Roman auch für Erwachsene, von dem weitere Folgen in Vorbereitung sind.

Texte:

© 2020 Anna Schag,  [email protected],

Umschlag

Koppelitzkarte

© Christian Eickmanns Covermotiv: © Sarinya Pinngam 123ref.com©  Anna Schag 

E-Book-Produktion:

WERNEBURG Internetmarketing

Verlag:

epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Kapitel

Prolog

Der Umzug

Batori

Lukrezia

Der Schuppen

Die Willy-Brandt-Schule

Kung Fu

Dix Weber

Alkohol und Mädchen

Der Zaun

Inoffizielles und Undefinierbares

Stimmungen

Philip

Das Labor

Millis Geheimnis

Hardys Hütte

Der Schlachtplan

In Berlin

Der 1. Mai

Das Koppelitzer Wochenblatt

Unangemeldeter Besuch

Der schöne Praktikant

Der Schlüssel

Blick in die andere Welt

Das Päckchen

Die Party

Misstrauen breitet sich aus

Die Hexe

Randale in der Nacht

Mysteriöse Nachricht

Eliza

Der Killer

Geheime Technologie

Lisa hat Stress

Pseudo taucht unter

Das Referat

Kanonenfutter

Johannas Visionen

Die Amerikaner kommen

Die Fratze

Die Schlacht im Gerichtshof

Nichts ist wie es scheint

Koppelitz – Plan

„Okay, das ist einfach und logisch“,

sagte Milli.

„Wir teilen untereinander und retten

die Welt.“

Die Personen

Hauptpersonen

Milli (Emily) Pietsch

zieht mit Mutter nach Koppelitz

Johanna und Tom Pietsch

Millis Eltern

Lisa SiebenrockBen RosenChong (Alexander) Dachs

Millis Freunde

Arpad Batori

Millis Großonkel

Emma Schnack

Haushälterin bei Batori

Lorenz von Rippel

Anwalt und Kung Fu-Lehrer

Dix Weber

Allround-Mechaniker

Eliza

anscheinend ein Satellit

Weitere Personen

Thor Ziggedorn

Inhaber von Ziggedorn-Electronics

Eva Ziggedorn

seine junge Frau

Lukrezia Ziggedorn

seine hübsche Tochter

Wulf KeilerWido BismarckLena Wuttke

Lukrezias Freunde

Sarah Rosen 

Bens Mutter ist Pressesprecherin von Ziggedorn

Ilona Siebenrock

Lisas Mutter betreibt das Café Siebenrock

Dr. GrabbauerDr. SchlotterwaldAssistent Seifert

drei Wissenschaftler bei Ziggedorn

Nouri Gransar

Praktikant bei Ziggedorn

Biobauer Arne Jahn

Bauer mit Verschwörungstheorien

Lukas Jahn

Sohn von Biobauer Jahn

Julia Hutter

Lukas’ feste Freundin

Philip Adam

Typ mit Championlächeln

Tatjana Mondschein

nennt sich Hohepriesterin von Koppelitz

Pseudo (Hanno Benz)

ein falscher Autonomer

Rocker Hagen

Mitglied von Los Verdugos

Martina Kleeberg

gerät immer an den Falschen

Dieter Dammwild Karel Wudovski

zwei Polizisten aus Koppelitz

Prolog

Am Ufer eines Sees spiegelte sich ein Kubus aus Stahl und Glas im flachen Wasser. Das war das zentrale Forschungszentrum von Ziggedorn-Electronics Potsdam, aber das sollte sich bald ändern. Die wichtigsten Abteilungen, darunter auch die geheimen, zogen um nach Koppelitz, einen hübschen Kurort im nördlichen Brandenburg.

Senta Seigut genoss ihr Leben. Sie hatte eine Sicherheitsfreigabe der Stufe eins. Niemand in der realen Welt hätte von ihrem Gehalt zu träumen gewagt. Sie liebte Potsdam, seine Schlösser und großzügig angelegen Gärten, aber Koppelitz war ebenso schön. Dort gab es alles, was sie sich wünschte: frische Luft, Natur und saubere Seen, und die Firma hatte ihr eine hübsche Wohnung im Grünen besorgt. Was wollte sie mehr? Und im Moment stand das Wochenende vor der Tür.

Tom Pietsch, ihr Boss, sah ein wenig zerzaust aus. Er hatte ihr Blumen mitgebracht und handgefertigte Pralinen in einem Holzkästchen. „Für meine treue, wunderbare Mitarbeiterin ein kleines Dankeschön“, hatte er erklärt. Das kam überraschend und Senta war sprachlos. Wäre sie zwanzig Jahre jünger gewesen, sie hätte sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Aber Tom war längst vergeben und hatte eine entzückende Tochter, die Emily hieß. Es war nicht lange her, dass er sie ein paarmal mitgebracht hatte: „Meine jüngste Mitarbeiterin. Unsere KI (Künstliche Intelligenz) braucht jemanden zum Unterhalten und Spielen.“ Erst zu Hause war Senta plötzlich der Verdacht gekommen, dass das kein Witz war und das DING sich vielleicht wirklich unterhalten und spielen wollte.

Später ließ sie Salim Quant rein und brachte den beiden Kaffee und arabische Kekse mit Dattelfüllung. „Bitte niemanden durchstellen und nicht stören“, hatte Tom gesagt und Senta überkam das unbestimmte Gefühl, dass irgendwas im Busch war.

Die letzten Wochen waren anstrengend gewesen. Tom hatte Stress mit der Firmenleitung und sie hatte den Chef Dr. Ziggedorn persönlich kennengelernt. Eine unerfreuliche Sache war das gewesen – aber heute lächelte Tom; er und Salim Quant wirkten feierlich und gelöst, als stünde eine große Sache bevor.

Außer Tom war Senta die einzige, die die Labortür allein öffnen konnte. Für alle anderen galt, dass sie ihre Karten gleichzeitig zu zweit durch Lesegeräte ziehen mussten. Hinter dieser Tür arbeitete er an dem DING, das offiziell in der Kategorie Satelliten geführt wurde. Tom hatte ihm den Namen Eliza gegeben. Senta fand das niedlich.

Salim Quant war diesmal mit einer Melone auf dem Kopf erschienen. Senta hielt ihn für einen exzentrischen, aber zweifellos genialen Wissenschaftler und ließ ihn passieren. Außer ihm und Tom wusste vermutlich niemand genau, wie das DING Eliza im Detail aussah. Es steckte hinter einer Abschirmung zwischen einer Unzahl von computergesteuerten Roboterarmen und Kabelbäumen von der Dicke von Elefantenbeinen.

Senta fuhr ihren Computer runter und sah auf die Uhr. Tom hatte sie an einem Freitag noch nie auf ihren Feierabend warten lassen. Eine Weile saß sie unschlüssig herum. Dann zögerte sie nicht länger und ging nachsehen, was mit den beiden war.

Fürs ungeübte Auge war alles beinah unverändert. Nichts bewegte sich hinter der Abschirmung, kein einziges Geräusch war zu hören, und es roch ein bisschen nach Ozon, wie verbrannte Elektrizität.

Von Tom Pietsch, Salim Quant und dem DING Eliza keine Spur.

Senta lief planlos durch die kleine Halle. Das elektrische Schiebetor war nicht geöffnet worden, und um den Satelliten hinauszurollen hätte man den Teilchendetektor wegschieben müssen, der im Weg stand. Senta lief zum Fenster und sah hinaus. Draußen regnete es leise, und Fliederbüsche schimmerten weiß und lila. Ihr Blick glitt darüber hinweg und suchte nach einer Erklärung auf dem See. Was hatte sie erwartet? Ein Boot mit Tom Pietsch, Salim Quant und dem DING Eliza? Sie sah auf zum Himmel, aber außer grauen Wolken und ein paar Möwen wirkte er trist und leer. Über der ganzen Szenerie lag eine unwirkliche Stille. Senta seufzte und wandte sich um. Vor der Abschirmung stand der Metalltisch, an dem Tom und sein Besuch gerade noch gesessen hatten. Sie blickte auf zwei halbe Becher kalt gewordener Kaffee und Teller mit Kekskrümeln.

Das ist unmöglich, war ihr erster klarer Gedanke und vage schwante ihr, was für Konsequenzen das haben würde.

Der Umzug

Manchmal fragte sich Milli, wie alles gekommen wäre, hätte ihr Vater keine Satelliten gebaut. Dann wäre er vielleicht noch da, und ihre Mutter wäre nicht krank geworden.

Dann hätten Lisa, Ben und Chong keine Rolle in ihrem Leben gespielt, und Batori und Emma wären nicht ihre Ersatzfamilie geworden. Echte Waffen hätte sie nicht im Traum angefasst, und das Geheimnis um Eliza wäre nie gelüftet worden. Und hätte ihr jemand von der Sondereinsatzgruppe Affenterror erzählt, hätte sie es für einen schlechten Witz gehalten.

Batori hatte alles organisiert, den Möbelwagen, die Klinik für Johanna, und die neue Schule. Sie mussten nur noch ihre Sachen einpacken und dann ging es endgültig hinaus aufs Land.

Milli stand ratlos vor ihrem offenen Kleiderschrank und wälzte schwerwiegende Gedanken: Konnte man sich auf dem Land so anziehen wie in Berlin?

„Was ist los?“, fragte Johanna, die plötzlich im Türrahmen stand und offenbar ihre Fortschritte inspizierte.

„Ich kann in so einem Kaff doch nicht rumlaufen wie hier“, sagte Milli lustlos.

Johanna sah ihre Tochter einen Augenblick lang unbewegt an und produzierte ihr übliches vages Lächeln. „Aber Liebes, Koppelitz ist kein Kaff und es ist nur hundert Kilometer von Berlin entfernt. Die Menschen dort sind auch nicht anders als bei uns.“

Sie hat keine Ahnung, dachte Milli und starrte wieder den Inhalt ihres Schrankes an.

Es klingelte an der Haustür und Johanna ging aufmachen. Das musste Lorenz von Rippel sein, der große Kung Fu- und Karate-Kämpfer. Milli seufzte, schnappte sich einen Stapel Hosen und warf ihn unsortiert in einen offenen Karton. Rippel war ihr unheimlich; er bewegte sich wie eine Raubkatze und tauchte beständig an Orten auf, an denen man ihn nicht vermutete, wie eine Art Geist, der durch Mauern und Wände glitt und dann peng! – plötzlich vor einem stand.

„Guten Morgen, Emily“, sagte er kühl.

Milli sah kurz auf und nuschelte: „Morgen.“

Typisch Rippel: immer förmlich, und meistens trug er schwarz. Nicht nur seine Augen und Haare waren dunkel, sondern auch seine Vergangenheit. Wenn er sich umsah bewegte er weder Hals noch Kopf, sondern nur seine Pupillen, wie ein großes dunkles Insekt. Aber Milli musste mit ihm auskommen. Er war ein Mitarbeiter von Onkel Batori, zu dem sie heute umziehen sollte, in die Kleinstadt Koppelitz. Ein Schritt, der ihr nicht geheuer war.

Emma, die für Batori den Haushalt machte, hatte in den letzten zwei Wochen jeden Tag angerufen, hauptsächlich wegen Millis Zimmer. Es war groß und hell und mit Ausblick auf einen kleinen See. Die Decke war mit drei Stuck Engeln verziert, und vor den Fenstern hingen Vorhänge aus Chiffon mit bunten Wellenlinien drauf. Alles perfekt, aber das Haus war riesig und alt, die Dielen knarrten, und bei Wind und Wetter knackte das Gebälk.

Wenn man in Berlin geboren war, betrachtete man das Leben auf dem Land mit Skepsis, und außer Chong kannte Milli dort noch niemanden, zumindest nicht in ihrem Alter. Chong wohnte nur hundert Meter weiter auf demselben Grundstück, und eigentlich hieß er Alexander, aber weil er den koreanischen Nachnamen seiner Mutter passender fand, hatte er sich kurzerhand in Chong umbenannt.

„Aber wenn wir diese Wohnung behalten, kann ich doch viel mehr dalassen!“, rief Milli, während sie voller Verachtung die T-Shirts, Röcke und Hosen aus ihrer karierten Phase durchsah.

„Mach wie du meinst, und nimm genügend warme Pullover mit“, antwortete Johanna aus der Küche, „und vor allem feste Schuhe.“

Ach ja, feste Schuhe … wassertriefende öde Wiesen und glitschige Feldwege. Milli grauste es leise. Auf dem Land musste man auf alles gefasst sein. Aber ein paar Vorteile gab es auch. Die Villa Apollo, so hieß Batoris Haus, hatte einen Zugang zum See – sogar mit Bootssteg, wo man ungestört in der Sonne liegen konnte. Im Geiste sah Milli die überfüllten Berliner Freibäder und Parks mit der Bluetooth-Musikbeschallung aus allen Himmelsrichtungen. In Koppelitz gab es auch keine penetrant lärmenden Musiker mit Verstärker oder Megabassboxen vorm Haus. Es gab weder Grillgestank noch überlaufende Mülltonnen, und Hundescheiße fiel nicht weiter auf. Vor allem Fahrradfahren war stressfreier, man stand nicht ständig vor roten Ampeln oder musste auf Fußgänger und Autos achtgeben.

Milli zog ein grünbuntes T-Shirt-Kleid vom Bügel, hielt es sich vor die Brust und betrachtete sich im Spiegel. Es passte gut zu ihren blaugrün gesprenkelten Augen, und als die Vormittagssonne plötzlich schräg ins Zimmer fiel, schimmerten ihre hellen Locken ein bisschen rötlich. Sie warf das Kleid in den Karton und stupste sich die Haare zurecht. Eigentlich fand sie sich ganz okay – nicht zu dick, nicht zu dünn, und wenn ihre Haare noch ein bisschen wachsen würden, konnte sie sich schon bald einen richtigen Zopf flechten.

Ihre Gedanken wurden durch ein lautes Scheppern unterbrochen. In der Küche fand sie Johanna halb zusammengesunken und schluchzend. Rippel stand ratlos und bekümmert daneben.

„Das kann jetzt eine Weile dauern“, erklärte sie Rippel gleichmütig. Sie führte ihre Mutter zum Tisch im Esszimmer und setzte sie behutsam auf einen Stuhl.

Rippel blieb unsicher stehen, wie jemand auf unbekanntem Terrain.

„Sie kennen doch die Symptome einer Depression“, sagte Milli und nahm die Essenssachen in Augenschein, die zusammengewürfelt auf dem Tisch standen. „Das gibt sich auch wieder. Schmieren Sie ihr ein halbes Brötchen mit Ziegenkäse ohne Butter – nur mit Pesto und Rucola, das mag sie. Und wundern Sie sich nicht, wenn sie nichts isst. Hauptsache das Brötchen liegt fertig da, manchmal beißt sie doch rein. In einer Stunde können wir dann richtig frühstücken.“

„Ah ja … Und was sind das für Tabletten?“, fragte er zerstreut.

„Ein pflanzliches Beruhigungsmittel. Steht alles drauf. Ich mach dann mal bei mir im Zimmer weiter.“

Batori

Der Möbelwagen kam kurz nach eins. Die Männer fingen sofort mit der Arbeit an.

Arpad Batori hatte fülliges Haar, das dunkelgrau geworden war, braune Augen und eine markante Hakennase. Er war der Halbbruder von Johannas Vater, und Johanna und Milli waren seine einzigen Verwandten.

Er umarmte Johanna und sagte leise: „Es wird alles gut werden, hab keine Angst.“

„Ich bin fertig!“, rief Milli dazwischen und versuchte, ein fröhliches Gesicht zu machen. „Wir müssen nur noch die empfindlichen Sachen ins Auto laden, drei Kartons und die Gitarre.“

„Machen wir“, sagte er und gab ihr einem Kuss auf die Wange.

Sie sollten vorausfahren. Rippel würde Johanna später direkt in die Klinik bringen.

Vor der Tür stand ein bordeauxfarbenes Auto mit schwarzem Dach, das wie eine Flunder aussah.

„Ist das neu?“, fragte Milli.

„Nein, ein Oldtimer. Ein Citroen, bestimmt dreimal so alt wie du. Der steht meist bei Dix Weber, in einer seiner Garagen.“ Batori lächelte. „Die Autowerkstatt hinter der Tankstelle, gleich am Ortseingang.“

„Kenn ich“, sagte Milli, „der ist okay. Chong und ich haben mal Musik bei dem gehört.“

Es war nicht viel Verkehr und der Citroen schwebte über die Autobahn. Die Sonne stand hoch am Himmel, und die Landschaft leuchtete nach einem kurzen kräftigen Regen. Hecken und Bäume, kleine Seen und Hügel dampften in der Sonne. All das hatte etwas ungemein Beschauliches.

„Du bist so still“, sagte Batori.

„Ich dachte bloß an die Schule und meine Deutschlehrerin“, sagte Milli. „Sie meint, dass es gut wäre, wenn Mama in die Klinik kommt; dann werde ich nicht um meine Jugend betrogen.“

Batori buschige Augenbrauen zogen sich zusammen. „So was sagt eine Lehrerin zu dir?“

Milli war klar, dass er so reagieren würde und antwortete ruhig: „So sind Vertrauenslehrer, die reden mit allen so.“

„Hmm, soso.“ Batori betrachtete sie nachdenklich. „Und woher weiß sie das mit der Klinik?“

„Keine Ahnung. Von mir bestimmt nicht.“

„Dann hat sie vermutlich auch von deinem Vater gehört, und dass du nun mit Johanna allein lebst?“

„Könnte sein“, antwortete Milli knapp.

Eine Weile fuhr Batori stumm weiter.

„Und was sagst du, wenn jemand nach deinem Vater fragt?“

Milli seufzte und lächelte nachsichtig. „... dass er tot ist.“

Ihr Onkel blickte sie bestürzt an. „Das tust du?“

„Ja. Wenn sogar Mama meint, das würde weitere Fragen ersparen.“

Sie fuhren eine Weile schweigend. Milli starrte den Himmel an. Über ihnen war ein riesiges X aus verwischten Wolkenbändern. Kreuzende Flugzeuge hatten Kondensstreifen hinterlassen, die sich langsam auflösten.

„Da mag sie vielleicht sogar recht haben“, sagte Batori schließlich. „Glaubst du denn, dass dein Vater tot ist?“

„Also … eigentlich denke ich, dass irgendwas anderes passiert ist“, antwortete Milli zögernd.

Batori nickte bedächtig und sah sie prüfend an. „Du bist ein tapferes Mädchen, Emily. Hast du mitbekommen, dass eine Lehrerin deine Mutter zu Hause besucht hat?“

Millis Augenbrauen wanderten erstaunt in die Höhe. „Nein. Weshalb?“

„Diese Frau wollte sich ein Bild vom Zustand deiner Mutter machen. Johanna hat mir davon erzählt, und wir beide waren überrascht, dass sie so viel über eure Verhältnisse wusste“, sagte Batori ruhig.

Millis Laune verfinsterte sich. Sie erinnerte sich an ein paar seltsame Andeutungen. Ihre Mutter hatte wissen wollen, ob sie etwas ausgeplaudert hätte.

„Etwas stimmt nicht, oder?“

„Allerdings, das denken wir auch“, erklärte Batori gelassen. „Jemand spioniert euch nach. Eine Frau, die sich als eure Nachbarin ausgab, war in der Schule und hat die Geschichte mit deiner Mutter breitgetreten. Die üblichen Verleumdungen: Alkoholismus, Tablettenmissbrauch und Selbstmordversuch. Die Rede war von Zwangseinweisung in die Psychiatrie. Das Jugendamt hätte dich in ein Heim gesteckt oder zu Pflegeeltern gegeben.“

„Was!?“ Milli war entsetzt. Natürlich hatte sie sich gewundert, dass plötzlich alles so schnell gehen sollte: der Umzug zu ihrem Onkel und die Einwilligung ihrer Mutter in den Klinikaufenthalt.

„Ich hab mich schon gefragt, warum Mama plötzlich freiwillig in die Klinik geht“, sagte Milli erschüttert. „Du weißt doch, dass sie sich immer dagegen gewehrt hat ... ein Alptraum war das für sie. Ihr hättet mir ruhig was sagen können.“

„Deine Mutter schämt sich und wollte dich nicht belasten.“

„So ein Quatsch. Sie belastet mich mit allem.“ Milli sah eine Weile reglos aus dem Fenster. „Ich verstehe das nicht“, sagte sie dann, „Mama und ich haben keine Geheimnisse voreinander.“

„Es tut mir leid, Emily, aber wir wollten abwarten, bis wir wussten, was wir machen sollten. Da diese gesprächige Dame das Jugendamt aufgescheucht hatte und die Lage ernst wurde, habe ich dann das vorläufige Sorgerecht für dich beantragt. Und vor einer Woche habe ich es erhalten.“

Millis Mund klappte auf. Sorgerecht? Wie sich das anhörte! Batori war ihr Onkel. Genau genommen ihr Großonkel. Andererseits – die Sache hatte auch ihr Gutes. Er konnte Zeugnisse und Entschuldigungen unterschreiben und war eine Respektsperson; die Leute würden sie in Ruhe lassen, dafür würde er schon sorgen.

„Deine Mutter hat es nicht übers Herz gebracht, es dir zu sagen“, sprach Batori langsam weiter. „Sie macht sich Vorwürfe und wandte sich an Lorenz. Er ist ein guter Anwalt – einer der besten, glaub mir, ich kenne viele –, und er hat alle Möglichkeiten ausgeschöpft; wir hatten keine andere Wahl. Und so sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass es das sicherste ist, wenn Johanna freiwillig in eine Klinik geht und du zu mir kommst.“

Für einen Moment kam es Milli so vor, als schwebte sie über einer großen Leere. Sie holte tief Luft und versuchte, die richtigen Worte zu finden. „Okay, Batori. Mama ist ziemlich empfindlich geworden, aber nicht alles, was um sie herum geschieht, ist Einbildung.“

Ihr Onkel bedachte sie mit einem kritischen Blick.

Obwohl Batori vieles von ihrer Mutter wusste, ein paar Dinge würde vermutlich auch er nicht verstehen, dachte Milli, aber einen Versuch war es wert:

„Wir hatten wieder anonyme Telefonanrufe – wie damals im alten Haus, wo niemand dran war, und die Nummer ließ sich nicht zurückverfolgen“, erklärte sie, „und als wir die Nummer gewechselt hatten, ging es mit den Anrufen trotzdem weiter. Mich hat das nicht verrückt gemacht, aber Mama – du kennst sie ja.“

Sie machte eine Pause und trommelte auf ihren Oberschenkeln, während sie beschloss, die Fernsehsache mit den falschen Bildern und dem nervigen Störton nicht zu erzählen.

„Einmal haben uns ein Mann und eine Frau im Tiergarten beobachtet und sind uns gefolgt“, fuhr sie fort. „Eine Freundin von mir war dabei und hat es auch gesehen. Den Mann habe ich später noch einmal gesehen; er stand unten, schräg gegenüber vor unserem Haus und tat so, als warte er auf jemanden. Und auch die Frau habe ich wiedergesehen, und zwar bei mir an der Schule.“ Milli musste vor Ärger schlucken. „Davon habe ich Mama natürlich nichts erzählt. Sie hätte sich nur aufgeregt. Aber so ging das die ganze Zeit.“

Batori sah eine Weile geradeaus auf die Straße und schwieg.

„Deine Mutter hat mir auch einiges erzählt“, sagte er schließlich. „Aber du sollst dir keine Sorgen machen, Emily. Johanna wird sich erholen. Du bist bei uns in Sicherheit, bei mir und Emma und Lorenz. Aber sprich nicht mit Fremden über diese Dinge. Versprichst du das?“

Milli sah ihren Onkel verdutzt an und musste lachen. „Ehrlich, Batori, du machst Witze. Niemals würde ich davon freiwillig erzählen. Jetzt im Ernst, niemandem gegenüber. Ich bin doch nicht verrückt!“

Batori lächelte schwach und nickte.

„Emily, meine Liebe … ich denke, Professor Wissmut wird deine Mutter wieder gesundmachen. Ich kenne ihn gut, er ist ein bemerkenswerter Arzt. Und du sollst dich jetzt um dich selbst kümmern, neue Freunde finden und hier glücklich sein. In Ordnung?“

Milli schüttelte ihre Schuhe von den Füßen und verknotete die Beine zum Schneidersitz. „Trotzdem, ihr hättet mich einweihen sollen, ich bin schließlich kein Baby mehr.“

„Das tut mir leid“, antwortete ihr Onkel. „Du weißt, wie fürchterlich kompliziert deine Mutter sein kann. So hat sich alles in die Länge gezogen, bis es zu spät war.“

Koppelitz war bekannt als hübscher und gepflegter Luftkurort, umgeben von mehreren mittelgroßen und kleinen Seen. Frühling bis Herbst boomte der Tourismus. Es gab eine Anzahl Hotels und Pensionen, viele Cafés, zwei Campingplätze und eine FKK-Kolonie.

Die Koppelitzer waren stolz auf ihre Krankenhäuser. Sie waren nicht groß, aber auf dem neuesten technischen Stand. Es gab sogar zwei Kliniken für Plastische Chirurgie. Dann waren da noch die neue Willy-Brandt-Schule, auf die Milli nach den Osterferien gehen sollte, und das alte Schwimmbad. Ein neues war bereits in Planung.

Direkt vor der Stadt hatte sich der Elektronikkonzern Ziggedorn niedergelassen. Seitdem ging es mit dem Städtchen steil bergauf. Ein paar unliebsame Koppelitzer behaupteten, Ziggedorn sei ein skrupelloser Geschäftemacher. Sie wurden im Ort die Störenfriede genannt. Alle anderen betrachteten ihn als Wohltäter. Mit den Störenfrieden sympathisierten überwiegend Leute von außen, und zum Erstaunen der braven Koppelitzer wurden es immer mehr. So hatte sich Koppelitz zu einem Zentrum für Demonstrationen und Protestkundgebungen entwickelt. Für viele Koppelitzer war das verwirrend, aber nach anfänglichen Querelen beschloss der Stadtrat, sich mit den Störungen abzufinden. Laut Statistik belebte der Demonstrationstourismus das Geschäft der lokalen Gastronomie.

Dem Stadtrat gehörte auch Dr. Thor Ziggedorn an. Und das, obwohl er weit wichtigere andere Positionen bekleidete. Außerdem war er „chairman of the board“, Gründer und Inhaber der Anteilsmehrheit von Ziggedorn-Electronics.

Armut schien in Koppelitz ausgestorben, zumindest sah man sie nicht, und jeder in Koppelitz wusste, dass all die hübschen Parkanlagen, die Springbrunnen, der neu angelegte Kreisverkehr, Fahrradwege und öffentliche Toiletten, Papierkörbe und Bänke, der Kunstverein und die originelle Straßenbeleuchtung auf Ziggedorn zurückgingen.

Sie nahmen die Abfahrt Koppelitz. Der Citroen glitt gemächlich eine enge und kurvenreiche Landstraße entlang, die links und rechts von Bäumen gesäumt war. Einige waren bis zum Astansatz mit weißer Farbe angemalt, die in der Nacht das Licht der Scheinwerfer reflektierte.

Bei Ziggedorn-Electronics war offenbar Schichtwechsel und auf der Koppelitzer Landstraße hatte sich eine Schlange gebildet. Sie blieben vor dem Betriebsgelände an einer roten Ampel stehen, wo zwei junge Frauen ein selbstgemachtes Transparent in die Höhe hielten: TEILT UNTEREINANDER UND RETTET DIE WELT. Vor dem Ziggedorn-Gebäude lag ein großer Parkplatz. Wollte man hinein, musste man an einem Pförtnerhäuschen vorbei. Zur Verschönerung des Platzes standen hier und da Bäumchen in Kübeln herum. Links vorm Eingang gab es einen geräumigen Imbisswagen mit der Aufschrift: Pommes-Wuttke. Davor standen unter einer Zeltplane kleine Tischchen mit karierten Decken und Holzstühlen.

Das rechteckige Hauptgebäude war cremeweiß mit einem durchbrochenen dunkelblauen und ockerfarbenen Streifen im oberen Drittel. Über dem Haupteingang hing eine kunstvolle Neonreklame, die irgendwas mit Ziggedorn und Future pries. Auf dem flachen Dach stand eine riesige schüsselförmige Antenne. Links davon war ein schmaler zylindrischer Turm mit winzigen Fenstern, der eine Antenne in Form einer Kugel trug, und hinter dem Gebäude ragte ein obeliskenartiger alter Ziegelei-Kamin mit goldglänzender Spitze hervor. Das Ensemble hatte etwas Fantastisches, Altes und Neues nebeneinander.

Milli versuchte den Durchmesser der großen Schüssel auf dem Dach zu schätzen und kam auf zehn Meter.

„Solche Antennen werden auch zum Fernlenken von Drohnen oder Satelliten und Raketen verwendet“, sagte sie und betrachtete den Himmel, als gäbe es dort etwas zu entdecken. „Und natürlich auch zur Überwachung oder als geheime Waffen“, fügte sie stirnrunzelnd hinzu.

Batori warf ihr einen undefinierbaren Blick zu. „Dann hast du mit Tom – mit deinem Vater darüber gesprochen?“

„Neiiin!“ Milli lachte und verdrehte die Augen. „Guckst du keine Filme? Und Computerspiele, Science-Fiction und so … Aber nach den Antennen zu urteilen, ist dieser Ziggedorn schon ziemlich groß?“

Batori lächelte und senkte die Stimme. „Sogar noch größer als seine Antennen. Ziggedorn ist mittlerweile ein Weltkonzern. Sie haben vor einiger Zeit die Rüstungssparten anderer Unternehmen aufgekauft und haben jetzt eine führende Position im Bereich Luft- und Raumfahrttechnik, vor allem im militärischen Bereich. Waffenproduktion bringt viel Geld, besonders in Krisenzeiten.“

Milli hatte keine klare Vorstellung von Ziggedorn-Electronics, obwohl ihr Vater dort gearbeitet hatte. Sie wusste nur, dass er seine Arbeit mochte, er war mehr dort gewesen als zu Hause. Und zu Hause hatte er oft an seinen Sachen weitergearbeitet, oder mit befreundeten Wissenschaftlern über die Arbeit gesprochen.

„Schon merkwürdig, dass ein Weltkonzern ausgerechnet nach Koppelitz zieht“, sagte sie und schnaubte ungläubig.

„Ziggedorn hat viele Standorte, auch im Ausland – sogar in Krisengebieten“, erwiderte Batori in beiläufigem Ton. „Dein Vater war in der Nähe von Potsdam, seine Abteilung ist vor vier Jahren nach Koppelitz verlegt worden … dieses ganze Desaster –“, er brach mitten im Satz ab und sah Milli zerstreut an, „aber das weißt du ja …“

Es trat eine kurze Stille ein.

„Klar“, versicherte Milli, obwohl es gelogen war. „Du meinst, wir wären eh nach Koppelitz gezogen?“

Hinter ihnen hupte es und Batori gab Gas. Er nickte flüchtig. „Äh, ja – gewiss, und nun kommt ihr vier Jahre später.“

Aber Milli ging plötzlich ein Licht auf, und sie begriff, dass er mit Desaster nicht den Umzug gemeint hatte.

„Du meinst den Satellitendiebstahl“, sagte sie mit beleidigtem Gesicht. „Natürlich weiß ich das. Du kannst ruhig normal mit mir darüber reden, ich hab alles gegoogelt. Aber ich glaube nicht, dass Papa Ziggedorns Satelliten gestohlen hat. Wie soll er ihn aus dem Labor rausgeschmuggelt haben? Es erklärt auch nicht, warum er verschwunden ist. Er hätte uns niemals alleingelassen.“

Batori schwieg eine Weile. „Nun – merkwürdig ist es schon“, sagte er schließlich. „Ich halte deinen Vater auch nicht für einen Satellitendieb. Aber mir scheint, dass er den ganzen Schlamassel womöglich selbst verursacht hat. Er hat sich zu wenig um Konventionen geschert und war allzu furchtlos. Seine Arbeit war von entscheidender Bedeutung, Ziggedorn hat sie finanziert und jetzt ist das Ergebnis verschwunden. Und nur dein Vater hatte Zutritt zu dem Labor. Für Ziggedorn ist die Sache klar.“

Milli wurde ungeduldig. Sie hatte natürlich viel von Ziggedorn gehört. Entweder zerrissen sich die Leute über ihn das Maul, weil er so mächtig war oder sie bewunderten ihn gerade deshalb. Aber wenn sie Fragen über Ziggedorn und ihren Vater stellte, bekam sie nie klare Antworten.

„Vielleicht ist es keine so gute Idee, dass Mama und ich jetzt in Koppelitz wohnen. Was ist, wenn Ziggedorn sich an uns rächen will?“

„Nein Emily“, antwortete Batori scheinbar amüsiert. „Ziggedorn wird euch nichts tun.“

„Wieso bist du dir da so sicher? Du hast gesagt, dass Ziggedorn auch in Koppelitz wohnt.“

Er sah sie an und lächelte. „Emily, überleg mal: Wenn er sich an euch rächen wollte, wären die hundert Kilometer bis nach Berlin kein Hindernis. Und die zwanzigtausend bis zur anderen Seite des Erdballs auch nicht, nebenbei gesagt. Aber du kannst mir vertrauen. Wenn jemand Thor Ziggedorn kennt, dann bin ich das. Du und deine Mutter seid hier in Sicherheit.“

Er würde mir eh nichts Wichtiges sagen, dachte Milli und sparte sich weitere Fragen. Obwohl sie Ziggedorn nie begegnet war, hatte sie längst beschlossen, ihn nicht zu mögen.

„Ich könnte mal was trinken“, wechselte sie das Thema.

„Wir müssen noch kurz was bei Dix abholen, da kannst du auch deinen Durst löschen.“

Sie bogen nach links auf die Tankstelle ab. Ein alter Mann mit Strohhut winkte einen Gruß in ihre Richtung. Batori fuhr zu einer Ansammlung von bunt angestrichenen Garagen, die früher einmal der nationalen Volksarmee gehört hatten. Überall lagen Reste von Autos herum. Ein flaches Backsteingebäude diente als Büro. Über der Tür hing ein großes glänzendes Metallschild mit leuchtend blauen Lettern: DIX WEBER, KFZ MEISTERBETRIEB. Darunter ein gelb lackiertes mit schwarzer Schrift: Elektroinstallationen und Feinmechanik. Zehn Zentimeter tiefer: Ich repariere alles. Um den Türrahmen rankte sich eine blinkende Lichterkette.

In einer Garage nebenan werkelte ein Mann mit ungewöhnlich strubbligen Haaren. Sein kariertes Flanellhemd war ihm zur Hälfte aus der Jeans gerutscht. Dix Weber warf einen skeptischen Blick über die Schulter.

„Hast du deinen Weihnachtsschmuck immer noch in Betrieb“, begrüßte ihn Batori.

Dix Weber nahm einen dreckigen Lappen vom Boden und verteilte das Schmieröl auf seinen Händen gleichmäßiger, um sie dann beiden mit freudiger Energie zu schütteln. Milli wollte was sagen, aber ihr fiel nichts Gescheites ein. Unauffällig ging sie hinter Batoris Rücken in Deckung. Dix sah ziemlich gut aus. Millis Freundinnen hätten ihn sicher toll gefunden: Bartstoppel, struppige Haare, große weit auseinanderstehende Augen und ein Grübchen im Kinn.

„Die Lichterkette war Juttas Idee“, sagte Dix, als ginge ihn das nichts an, und an Milli gerichtet: „Ich glaube, Jutta kennst du noch nicht, sie ist meine neue Mitarbeiterin im Büro.“

Milli nickte und ärgerte sich, dass sie sich so unsicher fühlte.

Dix zeigte auf eine Baustelle, die ein paar hundert Meter weiter an das Ziggedorn-Gelände grenzte. Offenbar entstand dort eine neue Antenne.

Batori nahm die Stelle schweigend in Augenschein.

„Der hat was vor“, knurrte Dix. „Wie es scheint, irgendwas von Bedeutung.“

Batoris Gesicht war ernst geworden. „Mich wundert –“, begann er und sah dann plötzlich Milli an: „Emily, willst du nicht schon ins Büro gehen? Du hattest doch Durst … Jutta macht dir was zu trinken.“

Milli seufzte, gerade jetzt wo es interessant wurde, aber keine Chance, beide Männer hüllten sich in Schweigen.

„Was kann ich für dich tun?“, sagte Jutta hinter ihrem Computer. Sie hatte weiße Haare, rosa Lippen, eine spitze Nase und pechschwarze Augenbrauen, außerordentlich akkurat gezupft.

Milli betrachtete unschlüssig die Wände, die von oben bis unten voll mit Zeichnungen und alten Plakaten waren. Wo nichts hing waren Regale, vollgestopft mit Ordnern und Kram. Es roch nach Kaffee, Zimt und Zigarettenrauch, und es war außerordentlich warm.

„Dix meint, ich könne was zu trinken kriegen“, sagte sie. Vielleicht konnte sie Jutta etwas über die Antennen entlocken. Die Geheimnistuerei ging ihr langsam auf die Nerven.

„Du bist also die Nichte von Doktor Batori“, Jutta lächelte. „Da lerne ich dich endlich mal kennen. Nimm dir was aus unserem neuen Kühlregal – oder magst du was Warmes?“

Milli nahm sich einen Energy-Drink mit Holunder.

„Warum regt sich Dix so auf, wenn hier noch eine Antenne gebaut wird?“, fragte sie möglichst beiläufig.

Jutta stöhnte. „Das würde ich auch gern wissen. Er regt sich über alles auf, was unser Ziggedorn macht. All die guten Sachen, die er in Koppelitz unterstützt und finanziert. Die Firma ist sehr großzügig, das kannst du mir glauben. Aber Dix regt sich auch darüber auf. Ehrlich gesagt, ich hab’s aufgegeben ihn zu verstehen.“

„Dann ist Herr Ziggedorn wohl ziemlich beliebt?“, hakte Milli nach.

„Ganz bestimmt sogar“, sagte Jutta voller Überzeugung. „Dass es Koppelitz jetzt so gut geht, haben wir ganz allein ihm zu verdanken.“

Milli fragte sich mit einem Anflug von Unmut, was hier früher so schlimm gewesen sein mochte. Musste erst dieser obskure Ziggedorn kommen, um die Koppelitzer glücklich zu machen?

Als das Telefon klingelte, verdrückte sie sich nach draußen.

Lukrezia

Von fern sah Milli Dix und Batori auf der Baustelle herumgehen und schlenderte langsam Richtung Auto. An der Rückwand der Tankstelle, zwischen Dix’ Metallkunstwerken, huschte ein helles Fettknäuelchen mit eingedrückter schwarzer Schnauze und rotierendem Anhängsel herum. Aus der Nähe sah es aus wie eine französische Baby-Bulldogge. Sie kniete sich davor und streichelte das Hündchen, das sofort zu spielen anfing.

„Biggi, Biggi! Wo steckst du? Biggii … Biggii! Hierher – Biggi!“

Einen Augenblick später kam ein Mädchen in Millis Alter um die Ecke geflitzt. Sie war ziemlich dünn und hatte lange schwarze Haare. Ihre Nase war schmal und leicht nach unten gebogen und ihre Gesichtshaut war so glatt, weiß und seidig wie ein Babypopo.

„Lass meinen Hund los!“, befahl das Mädchen.

Milli blickte das Mädchen erstaunt an und schob den Hund sanft von sich weg, aber er lief tollpatschig zu ihr zurück. Sie unterdrückte ein Kichern, tätschelte das Hündchen und sagte: „Der ist ja süß. Eine Baby-Bulldogge … ich heiße übrigens Milli.“

Das Mädchen ging nun auch in die Hocke und erwiderte kühl: „Ich heiße Lukrezia und mein Hund ist ein Bostenterrier.“

Der Babyhund machte eine seltsame Umdrehung und verlor das Gleichgewicht; er kippte um, stand wieder auf und lief freudig sabbernd zu seinem Frauchen, wo er kleine Grummel- und Quieklaute von sich gab.

„Wohnst du hier in Koppelitz?“, fragte Lukrezia.

„Ja“, antwortete Milli. „Seit heute.“

„Achso – wo denn?“

„Am Ortsschild ... im Eichenweg.“

„Ich wohne hier am Ortseingang, da am Koppelitz See.“ Das Mädchen zeigte mit der Hand schräg über die Tankstelle hinweg.

„Hmm. Dann wohne ich wohl am Ortsausgang“, sagte Milli.

Lukrezia griff sich das Hündchen und rollte es drakonisch im Sand hin und her, bis das Knäuelchen knurrte und spielerisch in ihre Finger biss.

„Gehst du hier zur Schule?“, fragte sie.

„Nach den Osterferien in die neue Willi-Brandt-Schule“, antwortete Milli.

„So neu ist die auch nicht mehr.“

Milli lächelte ein bisschen und sah Lukrezia aufmerksam an. Ihr schmales Gesicht hatte etwas Madonnenhaftes, und ihre Lippen waren voll und rubinrot, aber ihre Augen blickten teilnahmslos und kalt wie der Nordpol.

„Luzia!“, rief eine dünne Frauenstimme hinter ihnen.

Die beiden Mädchen blickten hoch zur Tankstelle. Eine Frau, schlank und sagenhaft attraktiv, kam in ihre Richtung geschlendert. Sie trug aufwendige Schuhe mit hohen Absätzen, auf denen sie tadellos über den unebenen Boden balancierte. Ihr Pulli war laubfroschgrün, der enganliegende Hosenanzug schwarz. Ihr Gesicht war faltenlos. Sie hatte knallrote, kinnlange Haare und war stark geschminkt. Man musste unwillkürlich an eine Ampel denken. Ihre Ähnlichkeit mit Lukrezia war verblüffend.

„Madame, du wolltest doch im Auto warten“, sagte die Frau ärgerlich. „Und ich dachte schon – sieh doch, der Hund saut sich nur ein. Geh bitte schon vor zum Auto.“

„Geh mir nicht auf die Nerven, Mama“, antwortete Lukrezia grimmig. „Ich kann zu Fuß nach Hause gehen und Biggi nehme ich mit. Du wolltest doch was bei diesem Weber abholen.“

Milli war überrascht über den Ton, in dem sie mit ihrer Mutter sprach. Lukrezias Mutter achtete nicht auf ihre Tochter und wandte sich ohne die geringste Verlegenheit und mit trainierten Lächeln Milli zu: „Ja, hallo … und wer bist du?“

„Mama! Wir haben uns gerade erst kennengelernt“, ging Lukrezia blitzschnell dazwischen. „Du darfst jetzt zu Weber gehen.“

Milli versuchte aus der Mimik der Frau schlau zu werden, aber außer einem dünnen Lächeln verriet sie nicht das Geringste.

„Ich heiße Milli“, sagte sie freundlich und streckte die Hand aus. „Stimmt, wir kennen uns erst seit gerade eben.“

Die Frau nahm Millis Hand und sagte liebenswürdig: „Ich bin Eva Ziggedorn, die glückliche Mutter deiner neuen Bekanntschaft.“

Milli schluckte.

„Sie bringt kaputte Sachen immer zu diesem Ausgeflippten“, erklärte Lukrezia, als ihre Mutter weg war. „Dabei könnte sie alles in der Firma repariert kriegen, die gehört nämlich meinem Vater.“

„Von Ziggedorn habe ich auch schon gehört“, pflichtete Milli bei. „Wenn du die Tochter bist, kannst du mir bestimmt auch sagen, warum dein Vater überall Antennen hinbaut?“

Lukrezia starrte sie verblüfft an. „Steckst du mit Biobauer Jahn unter einer Decke?“

„Was?“ Milli schüttelte den Kopf. „Kenn ich nicht. Das dahinten ist mein Onkel, der hat mich vorhin aus Berlin abgeholt. Außer dir ist mir bisher noch niemand über den Weg gelaufen.“

Lukrezia folgte aufmerksam ihrem Blick. Batori und Dix waren damit beschäftigt, kleinere Kartons in einen größeren Karton zu packen. Lukrezias Mutter lehnte daneben an der Wand, die mit Graffiti besprüht war und zog an einer pinkfarbenen E-Zigarette. Die Szene hatte etwas Vertrautes, als ob sie dort schon oft gestanden hatte und sich ganz zu Hause fühlte.

„Was hast du?“, fragte Lukrezia und starrte sie an.

Milli besann sich. „Was ist mit diesem Biobauer Jahn?“, fragte sie zurück.

„Ach – der! Der hat einen Tick mit Antennen und geht meinem Vater auf die Nerven.“

Aus der Entfernung machte Batori ein Zeichen, dass sie los konnten. Milli sprang auf die Füße. Perfektes Timing. Sie fing sowieso gerade an, sich zu langweilen und ihr Magen knurrte.

„Okay, mach's gut ... vielleicht sehen wir uns nächste Woche in der Schule“, sagte sie und lief los.

Lukrezia nickte und lächelte undurchsichtig. Nachdenklich blickte sie Milli hinterher.

„Komisches Mädchen – diese Lukrezia Ziggedorn“, sagte Milli, als sie wieder im Auto saßen.

Ach was! Du bist Lukrezia begegnet. Ich habe sie gar nicht bemerkt, ich sah nur ihre Mutter. Und – habt ihr euch nett unterhalten?“, fragte Batori interessiert, „sie müsste ungefähr in deinem Alter sein.“

„Sie ist bestimmt älter“, antwortete Milli, „und irgendwie anstrengend … na ja, ziemlich misstrauisch eben.“

Batori schüttelte den Kopf und schmunzelte. „Vielleicht hat sie schlechte Erfahrungen gemacht. Ihr Vater ist reich und mächtig. Jemand könnte ihr vielleicht vormachen, sie zu mögen, um einen Vorteil daraus zu ziehen.“

„Wenn sie hässlich wäre oder dumm, dann vielleicht. Aber sie sieht total gut aus. Ihre Haare sind super lang und glänzen wie Lametta, und ihre Haut erst – kein einziger Pickel … die Jungs stehen bestimmt alle auf sie“, sagte Milli nicht ganz ohne Neid. Eine leise Stimme in ihrem Inneren riet ihr, vor Lukrezia auf der Hut zu sein. Ganz sicher nicht, weil sie sie fürchtete, sie wusste einfach nur, dass sie nie Freunde werden würden.

„Ist schon komisch“, füge sie nachdenklich hinzu, „dass ich ausgerechnet ihr begegnet bin.“

„Kismet“, sagte Batori und lächelte in sich hinein.

Milli sah ihn fragend an.

„Eine Redewendung, wenn mir nichts Besseres einfällt“, er lachte, „es bedeutet so was wie Schicksal oder Vorsehung.“

Der Schuppen

Am Ortsende musste man auf einen ungepflasterten Weg abbiegen, der zur Villa Apollo führte, einem fantasievollen Jugendstilbau. Der Name stammte von ihrem Erbauer, einem seinerzeit vielgelesenen Schriftsteller mythologischer Ausrichtung.

Über dem Eingang gab es eine gemeißelte Figurengruppe – der siegreiche Apollon mit einer Lanze über der erlegten Schlange Python, die aber eher einem Drachen glich. Apollon hatte seine Nase eingebüßt und der Drachenschlange fehlten Teile des Schwanzes und eine Kralle, aber die Szene wirkte immer noch eindrucksvoll.

Zu Zeiten der DDR war die Villa in fünf Wohnungen unterteilt gewesen. Batori hatte das Haus nach der Wiedervereinigung gekauft und renoviert. Das Erdgeschoss war wieder, wie ursprünglich, eine einzige Zimmerflucht. In der ersten Etage gab es leichte Schwingtüren aus Holz. Batoris Bereich lag im rechten Flügel und Millis Zimmer im linken. Sie hatte sogar ein Bad mit Badewanne für sich allein. Noch ein Stockwerk höher, im Dachgeschoss, wohnte Rippel.

Im Keller trainierte Chong mit Rippel Kung Fu und Karate. Auf diesen Raum hatte Milli bereits heimlich ein Auge geworfen. Sie tanzte leidenschaftlich gern, und an der Willi-Brandt-Schule gab es eine Tanz-AG. Dafür reichten die Räume in der Schule normalerweise nicht, oder sie waren überbelegt, das wusste sie aus Erfahrung.

Auf dem Anwesen gab es ein zweites Gebäude, ehemals Sitz der Gutsverwaltung. Es hatte während der Zeit als Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft gelitten, war aber ebenfalls wieder vollständig renoviert. Dort wohnte die Familie Dachs, Chong mit seinen Eltern und seiner niedlichen kleinen Schwester.

Kaum aus dem Auto ausgestiegen, wurden sie von Bello, dem schwarzen Jagdterrier, empfangen. Er war vor zwei Jahren zugelaufen und wich seitdem nicht mehr von Batoris Seite. Bello war ein großer Knurrer, trotz seines Namens, denn Bellen tat er kaum.

Am Eingang eilte ihnen Emma entgegen. Sie machte den Haushalt und wohnte im Erdgeschoss, und Milli betrachtete sie als Verbündete. Emma hatte ein freundliches Gesicht mit leicht slawischem Einschlag und schelmisch blickenden Augen. Ihr volles, von grauen Strähnen durchzogenes Haar trug sie zu einem lockeren Knoten gebunden.

Kurze Zeit später tauchte auch schon Chong auf. Er war inzwischen größer als Milli und war angezogen, als käme er vom Training. Die schönen Mandelaugen hatte er von seiner Mutter. Nur sah man sie kaum, seine schwarzen Haare fielen ihm bis aufs Nasenbein.

„Alles okay?“, fragte er, während er seinen Pony zur Seite wischte, der ihm gleich wieder ins Gesicht fiel.

„Deine Haare sind lang geworden“, sagte Milli, weil ihr nichts Besseres einfiel.

„Ist das schlecht?“

„Nein. Ich meinte auch nur, dass es deine Sicht behindern könnte.“

Chong machte eine ausladende Handbewegung und grinste.

„Und sonst … die Leute hier, wie findest du sie?“

„Wen? Batori und Emma?“

„Seine neue Mitarbeiterin.“ Chongs Stimme stieg eine Oktave höher. „Rosabella Schlips.“

„Die kenne ich noch nicht“, sagte Milli. „Batori sagt, sie ist verreist. Wieso?“

„Sie hat immer Röcke an und lange rote Haare, und ihre Haut ist so weiß wie die Kreidefelsen von Rügen.“

„Hmm ...“

Chong wühlte mit seinem rechten Fuß in der Erde herum.

„Sie und Emma streiten oft.“

Milli musste lachen und stupste ihn an der Schulter. „Wenn’s weiter nichts ist, ich lerne sie ja bald kennen. Aber mal was anderes –“, ihr Blick flog an ihm vorbei zum Hauseingang, „vielleicht kannst du mir sagen, was Rippel für eine Sorte von Anwalt ist? Ich habe nämlich kein Schild an der Tür gesehen.“

„Er vertritt keine Gauner“, sagte Chong prompt. „Er ist spezialisiert auf Internationales Recht und Wirtschaftsrecht. Batori und er arbeiten an Verträgen und Gesetzentwürfen. Die beschäftigen sich mit Wirtschaft und Umwelt und beraten Politiker, Wissenschaftler und Diplomaten.“

Im Wirtschaftsbereich keine Gauner?, dachte Milli, aber sie war bereit, in Erwägung zu ziehen, dass Rippel vielleicht doch nicht so schlimm war. Gemeinsam gingen sie nach oben, um ihr neues Zimmer in Augenschein zu nehmen.

Währenddessen kam der Möbelwagen an, gefolgt vom blauen Volvo, der von allen gemeinsam benutzt wurde, und den Rippel für die Fahrt nach Berlin genommen hatte. Dem Möbelwagen war in Neukölln ein VW-Bus in die Seite gefahren, und es war zu Tätlichkeiten gekommen. Rippel genoss jetzt den Respekt der Möbelpacker, da er den Kampf erfolgreich für ihre Partei entschieden hatte. Das hatte natürlich nichts daran geändert, dass alles furchtbar lange dauerte.

Die arme Johanna hatte alles vom Volvo aus mit angesehen und übers Handy die Polizei gerufen. In der Klinik gab man ihr dann ein Beruhigungsmittel und brachte sie ins Bett.

„Sind die Neuköllner ein bisschen blöd?“, fragte Chong mit erstauntem Gesicht.

„Nicht mehr als andere“, antwortete Milli. „Solange du nicht wie ein irres Landei durch die Gegend bretterst, passiert dir auch nichts.“

Es entstand eine Pause. Milli schnappte sich ein paar Kartons und trug sie planlos herum. Dann setzte sie sich auf einen und nahm zufrieden ihr neues Zimmer in Augenschein.

„Echt viel Platz“, sagte Chong anerkennend, „was denkst du … gehen wir noch zum Bootssteg runter?“

Milli überlegte kurz und stimmte dann zu.

„Nehmt den Hund mit!“, rief ihnen Emma hinterher. „Der Trubel war zu viel für ihn. Ich musste ihn einschließen.“

Draußen war es nicht besonders kalt. Milli musste mit einem Grinsen an ihre festen Schuhe und dicken Pullover denken und an ihre Vorstellungen vom Land. Der Abendhimmel leuchtete durch die noch unbelaubten Bäume und warf schwache Schatten auf die Gebäude. Zwischen den zwei Haupthäusern stand ein großer Schuppen, gut versteckt zwischen Kiefern und Tannen. Chongs Mutter züchtete hier seltene Nadelbäume. Das Gemäuer war massiv und hatte keine Fenster. Milli berührte die Steine und war überrascht. Sie fühlten sich irgendwie warm an.

Chong trat neben sie. „Den hat Batori vor ein paar Jahren renoviert und umgebaut und ein gutes Stück breiter gemacht – war ’ne ordentliche Aktion.“

Vom Wald tönte ein heiserer Vogelruf, und die rötlichen Farben am Horizont verloschen langsam. Bello beobachtete die zwei aus sicherer Entfernung. Hin und wieder blitzten seine Augen im Dunkeln auf. Plötzlich knurrte er leise. Chong und Milli sahen sich an.

„Ganz schön schräg“, flüsterte Milli und suchte mit den Augen die Umgebung ab. „Ich habe hier so ein Kribbeln am Kopf. Richtig unheimlich. Findest du nicht auch?“

„Alles Gewöhnung“, meinte Chong und grinste.

„Und warum knurrt der Hund?“

„Macht er hier oft“, sagte Chong. „Er mag den Schuppen nicht.“

Sie rüttelte an der Tür. Sie war verschlossen. Die Wände waren frisch verputzt, aber ein paar große alte Feldsteine hatte man freigelassen. Sie strich vorsichtig mit den Händen darüber und fragte sich, ob das eine Bedeutung hatte oder nur der Dekoration diente.

„Denke mal, die sind bloß Verschönerung“, sagte Chong unaufgefordert.

„So weit war ich auch schon“, entgegnete Milli. „Bei der Größe könnte es locker ein Ferienhaus sein, wenn da Fenster wären … und was ist da drin?“

„Der Schuppen ist leer. Batori testet hier seine kleinen Maschinen“, Chong machte eine Pause und betrachtete den Mond, der plötzlich hinter einer Wolke aufgetaucht war und fahles Licht auf die hellen Wände warf. Dann sagte er: „Die haben irgendein Metall oder Quarz in den Verputz eingearbeitet, damit im Raum eine bestimmte Atmosphäre für bestimmte Experimente herrscht … und Magnete sind da auch.“

„Du weißt nichts Konkretes?“

Chong ließ die Arme hängen und blies die Backen auf. „Batori redet nicht darüber, aber einmal habe ich gesehen, wie grelles Licht aus dem Schuppen kam.“ Er packte Milli am Arm und zog sie einige Meter weiter. „Sieh mal da –“, er zeigte auf das Verwalterhaus, „da oben ist mein Zimmer. Von dort kann ich sehen, wenn Batori hier seine Experimente macht. Einmal hab ich mich zwischen den Büschen versteckt und gewartet, bis er wieder raus kam. Da konnte ich sehen, dass der Schuppen fast leer ist.“

Millis machte ein unzufriedenes Gesicht. „Aber Bello knurrt hier doch nicht zum Spaß“, sagte sie und sah sich achselzuckend in der Gegend um, als könne sie bei dem schwachen Licht noch etwas entdecken, das einen Hund zum Knurren brachte. „Und du fühlst hier wirklich gar nichts?“

„Nein“, antwortete er und ging in die Hocke, ohne Milli aus den Augen zu lassen. Dann sprang er auf, wirbelte mit den Armen, machte einen Kampfsprung und stieß merkwürdige Laute aus. „Was soll’s“, sagte er schließlich, „wenn Hunde nicht fressen, bellen oder herumschnüffeln, dann knurren sie eben.“

„Aber er wittert doch was“, protestierte Milli schwach.

„Klar, das Unsichtbare. Aber wie es scheint, tut es uns nichts.“

Milli ließ die Schultern hängen und gab sich fürs erste geschlagen.

„Komm, wir machen einen Rundgang ums Grundstück“, sagte Chong und lief voraus.

Die Willy-Brandt-Schule

Ein gewaltiges Konzert von Vogelstimmen drang durch das angelehnte Fenster. Milli lauschte andächtig. Ob wohl alle Vögel aus Freude sangen oder ob es auch welche gab, die protestierten? Sie drehte sich auf den Rücken und öffnete die Augen. Eine Woche Koppelitz – und das Chaos in ihrem Zimmer hatte eher zugenommen. Milli schob ein paar Umzugskartons aus dem Weg zum Bad, sprang unter die Dusche und zog sich an. Heute war ihr erster Schultag. Kaum war sie fertig, ging unten schon die Klingel. Sie war mit Chong verabredet und er war offenbar überpünktlich.

Emma hatte zum Frühstück den Tisch im Esszimmer gedeckt. Auf der roten Tischdecke standen grünweiß gemusterte Teller und Tassen, dazu grüne Servietten. Die Farben leuchteten intensiv. Das Esszimmer bestand aus einem großen Tisch mit vor Alter geschwärztem Holz und acht gewaltigen Stühlen drum herum. Es gab ein paar antike Schränke und dazwischen hinter Glas ungerahmte moderne Drucke in hellen Farben. Das Zimmer wirkte hell und einladend, trotz der dunklen Möbel.

Chong sah zerknirscht aus und starrte seine Tasse an.

„Seine Schwester hat ihn geärgert“, erklärte Emma und warf ihm einen ermutigenden Blick zu. Dann musterte sie kritisch Millis Bauch. „Oh Milli, der Pulli ist zu kurz – deine Nieren, du holst dir was weg.“

Milli seufzte. „Nein, die Hose ist nur tiefer geschnitten, und ich zieh noch einen warmen Pullover drüber.“

„Guten Morgen allerseits“, sagte Batori und betrat gut gelaunt das Zimmer.

Bello knurrte zärtlich. Milli setzte sich, um weitere Diskussionen über Bäuche und Pullis zu vermeiden.

„Was für ein schöner Morgen. Chong, alles in Ordnung?“, fragte er leutselig.

„Ich denke nach“, antwortete Chong düster.

„Das ist lobenswert. Und bist du zu einem Ergebnis gekommen?“

„Batori, nun quäl den Jungen nicht." Emma gab ein zwitscherndes Geräusch von sich. „Er hat sich heute schon geärgert.“

„Dann kann es ja nur noch besser werden“, antwortete Batori lächelnd. „Emily – Chong! Eine gute Freundin von mir wohnt jetzt auch in Koppelitz. Ihr jüngster Sohn geht ab heute ebenfalls in die Willy-Brandt-Schule. Sein Name ist Benjamin Rosen. Falls er in eure Klasse kommt, grüßt ihn von mir.“

„Den kenn ich“, sagte Chong zu Milli. „Der war mal hier. Im See badet er nicht, und er redet stundenlang von Computerviren und Nanotechnologie, und er hat zwanzig oder dreißig Allergien.“

Auf Batoris Gesicht machte sich ein Anflug von Belustigung breit.

„Das war im Herbst, Chong, und Benjamin war heftig erkältet. Er ist ein netter Junge. Nicht jeder ist so abgehärtet wie du.“

Es entstand eine Pause. Batori bestrich einen Toast mit Pflaumenmus.

„Ich glaube, wir müssen los“, sagte Milli, die langsam unruhig wurde.

„Chong, du passt mir bitte auf Emily auf“, sagte Batori in einem Ton, der offenließ, ob er sich heimlich über sie amüsierte.

Chong schenkte Milli ein selbstgefälliges Grinsen, die ihre Gedanken besser für sich behielt und genervt die Arme vor der Brust verschränkte.

„Was hat er mit diesem Benjamin Rosen? Ich hatte mir schon einen passenden Namen für ihn ausgedacht – Benni Tulpe, klingt doch gut, oder?“, erklärte Chong, kaum dass sie draußen waren.

„Er wollte bestimmt nur pädagogisch sein“, sagte Milli.

„Was hat er davon? Denkt er, ich hab’s nötig, oder was?“

Milli seufzte. „Er meinte natürlich uns beide. Aber wahrscheinlich hat Benjamins Mutter ihn darum gebeten, damit du ihn nicht dumm anmachst.“

„Anmachen! Sag mal, spinnst du?“

„Na ja, du als großer Kung Fu-Kämpfer.“

„Oh nee!“ Chong schnaubte verächtlich. „Schon mal was von der Ehre des Kriegers gehört? Kung Fu ist eine Geisteshaltung, eine Kunst, da fällt man nicht einfach Leute an.“

Milli schmunzelte heimlich. Sie hatte erreicht, was sie wollte und Chong erfolgreich auf ein anderes Thema gebracht.

Hinter einer Biegung mussten sie mit ihren Fahrrädern unerwartet scharf bremsen. Beinahe wären sie in einem Pulk merkwürdiger Figuren stecken geblieben. Milli sah sich um. Die Typen passten nicht nach Koppelitz. Sie trugen schwarze Hoddies oder Jacken mit Kapuzen. Einige hatten Tücher um den Hals und den Mund gewickelt. Sie sahen beinahe aus wie die Vorhut einer Kreuzberger 1. Mai Demo. Vielleicht kamen sie ja aus Berlin?

„Das sind Autonome“, sagte Milli, „läuft hier ’ne Demo?“

„Nicht, dass ich wüsste. Die nächste offizielle ist am 1. Mai.“

Die Willy-Brandt-Schule bestand im Wesentlichen aus einem langgezogenen Gebäude mit drei Etagen und viel Glas. Es gab verschiedene Gebäudeteile, die zur Abwechslung verschieden angestrichen waren. Auf der rechten Seite war zusätzlich eine Grundschule einquartiert. Der Rest des Bauwerks beherbergte die älteren Schüler. Auf dem Hof vor dem Gebäude gab es Fahrradständer und eine Skulptur, die Willy Brandt darstellte, aber der größere Teil des Schulhofs lag dahinter, mit einem Brunnen und ansehnlich mit Bäumen und Sträuchern bepflanzt. Links gab es eine Turnhalle und einen Sportplatz.

Auf dem Hof war der Teufel los. Von allen Seiten strömten Schüler herbei, mit Mopeds, Fahrrädern, zu Fuß oder mit dem Schulbus.

Sie schoben ihre Räder zu den Unterstellplätzen und trafen auf eine Gruppe Jungen, die Chong begrüßten. Sie sahen Milli und grinsten. Ihr war das unangenehm, aber Chong schien es nicht zu bemerken.

„Ich geh dann schon mal vor“, sagte sie.

Chong ließ seine Kumpel stehen und folgte ihr. „Hey! Wart mal! Ich hab Batori versprochen –“

„Ja, schon gut. Batori wollte bloß nett sein und dein Selbstvertrauen stärken. Auf meine Kosten. Ich pass schon auf mich selber auf.“

„Oh verdammt!“ Chong tauchte hinter einer Gruppe älterer Schüler unter. Dabei stolperte er über Millis Füße und riss sie beinahe mit um. „Tschuldigung. Ich glaub, ich hab ein Problem, und das steht da vorne. Verabredung in den Ferien, vermutlich ausrangiert“, sagte er mit allen Zeichen der Verlegenheit.

Milli fühlte sich gestresst und zappelte, um freizukommen.

„Ausrangiert?“, murmelte sie leise und reckte den Hals. Sie sah nur unbekannte Gesichter, außer einem Mädchen, das mit großen erstaunten Augen direkt in ihre Richtung blickte: Lukrezia Ziggedorn. Milli erkannte sie sofort und winkte ihr lebhaft zu.

Keine Reaktion.

Für eine Sekunde trafen sich ihre Blicke. Lukrezia verzog keine Miene und ihre Augen wanderten weiter.

Ist ja peinlich, dachte Milli, bestimmt sucht sie Chong und dann stehe bloß ich da. Verunsichert drehte sie sich nach ihm um und sah, wie gerade ein Junge und ein Mädchen auf ihn zusteuerten.

„Hey Alter!“ Ein schlaksiger Junge haute Chong zur Begrüßung auf die Schulter. Er hatte strohblonde Haare, einen Leberflecken auf der Nase und riesige Ohren. Das Mädchen stand etwas schüchtern daneben, mit den Händen in den Taschen.

Chong wirkte überrascht und erleichtert zugleich. Er nahm Milli am Arm und stellte sie einander vor: „... Lukas und Lisa.“

Lisa hatte eine kleine runde Nase und abstehende silberblonde Haare mit ein paar violetten Strähnchen drin. An ihren Ohrläppchen baumelten zwei spindelförmige Ohrringe.

Die unerfreuliche Begegnung mit Lukrezia hatte bei Milli irgendwie eine dunkle Vorahnung hinterlassen, aber Lisa lächelte sie so offen und herzlich an, dass es ihr angeschlagenes inneres Gleichgewicht fast ganz wiederherstellte. Sie wand sich aus Chongs eisernem Griff und sagte: „Hallo.“

In der Klasse gab es nur noch einen freien Tisch, und der war ganz vorn am Fenster.

„Wir kriegen aber drei neue“, sagte Lisa, während sie sich im Raum umschaute. „Einmal Milli … und da hinten neben Sophie Bürger sitzt schon eine Neue. Fehlt also noch jemand.“

In Chongs hellbraune Augen trat ein gewitzter Ausdruck. „Benni Tulpe“, flötete er.

„Er meint Benjamin Rosen“, schaltete Milli sich ein und warf Chong einen missbilligenden Blick zu.

„Obwohl sich Benni Tulpe eigentlich ganz süß anhört“, kicherte Lisa.

Die erste Stunde hatten sie bei ihrer Klassenlehrerin, Frau Breit. Sie unterrichtete Deutsch und Kunst. Frau Breit trug spitze Schuhe, die klackende Geräusche auf dem Boden machten. Ihr Mund stand halb offen. Milli versuchte, nicht unentwegt auf ihre sorgfältig geschminkten Lippen zu starren.

Frau Breit litt scheinbar unter Kopfschmerzen, sie fasste sich mehrere Male schmerzerfüllt an die Stirn. Dann rief sie die neuen Schüler auf. Emily Pietsch, Maria Frost und Benjamin Rosen.

„Benjamin Rosen – nicht anwesend“, notierte sie. „Bei dem Durcheinander da draußen … hoffentlich ist ihm nichts passiert.“

Es entstand eine Pause, von Stimmengewirr und Gekicher erfüllt.

„Gut –“, Frau Breit holte dramatisch Luft und betrachtete beim Ausatmen eingehend ihre lackierten Fingernägel. „Draußen herrscht das Chaos. Wieder so eine unangemeldete Demonstration, ausgerechnet vor der Schule, aber unser Schulleiter Herr Nestor hat schon die Polizei verständigt. Hier sind wir sicher.“

Kurze Zeit später klopfte es an der Tür, und ein großer bärenartiger Mann mit Vollbart und Glatze schob einen dünnen dunkelhaarigen Jungen mit schräg sitzender Brille durch die Tür mit den Worten: „Guten Morgen. Wird hier ein Benjamin Rosen erwartet?“

„Guten Morgen, Herr Nestor“, sagte Frau Breit mit einem strahlenden Lächeln und musterte irritiert den Jungen. Ein kurzes Schweigen trat ein. „Aber natürlich, Benjamin Rosen“, fuhr sie schließlich fort. „Sehr gut. Bist du verletzt, Benjamin?“

Der Junge räusperte sich. „Ähm – offensichtlich nicht. Wieso?“

„Fein. Dann setz dich.“ Frau Breit sah sich um. „Dort neben – Emily.“

Herr Nestor verabschiedete sich, und Benjamin wirkte ein wenig verwirrt. Er fasste seine Tasche, die offen stand, am falschen Ende an und sie entleerte sich neben und unter den Tisch. Beim Einsammeln stieß er von unten mit dem Kopf gegen die Tischplatte, so dass Millis Stifte auch noch runterrollten und der Tisch ins Wanken geriet. Die Klasse brüllte vor Lachen.

„Ich bin heute auch das erste Mal hier“, flüsterte Milli. „Mach dir nichts draus.“

Er lächelte zerstreut und rückte seine Brille zurecht.

„Ich heiße Ben.“

„Okay. Also Ben. Ich bin Milli.“

In der Pause sah Milli sich nach Chong um, aber der war offenbar beschäftigt. Er studierte die Deckenlampen, als wäre dort ein Vogelnest zu besichtigen. Neben ihm stand Lukrezia, die Arme auf seinen Tisch gestützt, und redete leise und eindringlich auf ihn ein.

Millis Blick wanderte zur Decke, aber etwas Besonderes war da nicht. Wenn das Chongs Methode war, sein Problem mit Lukrezia aus der Welt zu schaffen, warum nicht, dachte sie und nahm Lisas Angebot an, sie rumzuführen. Ben schloss sich ihnen an.

„Das hier ist die selbstverwaltete Schulkantine“, erklärte Lisa, „die wird von Schülern und Eltern gemeinsam organisiert, macht aber erst morgen auf.“

Als sie bei den Getränken vorbeikamen, blieben sie in einer Gruppe stecken, die sich um einen Schüler gebildet hatte, der einen der Automaten demolierte. Ein paar andere versuchten zuerst vergeblich, ihn davon abzubringen, bis sie dann gegenseitig aufeinander losgingen. Milli, Lisa und Ben flohen vor dem Tumult nach draußen. Aber da war es auch nicht besser. Eine eigentümliche Gereiztheit lag über allem, die sich anfühlte wie kurz vor der Entladung.

Lisa krempelte ihre Ärmel hoch und fing an, sich zu kratzen. „Mir ist schlecht und alles juckt“, sagte sie dumpf und sah Milli und Ben an.

Auch Milli fühlte sich nicht wohl. Ratlos hob sie die Schultern und stimmte in Lisas Geseufze ein.

„Das liegt an den Demonstranten“, sagte Ben. „Die übertragen ihren Stress auf uns.“ Er machte eine Pause und betrachtete den Himmel. „Hmm, oder ein Gewitter. Der Luftdruck ...“

Vor dem Schulhof war ein Dutzend Polizisten mit ergrimmten Gesichtern aufmarschiert, während sich der Park auf der anderen Seite der Dorfstraße mit Demonstranten zu füllen begann.

In der Ferne hörte man Sirenen. Ganz verschiedenes Volk war unterwegs, in der Mehrzahl normale Leute. Nur wenigen Vermummten war es gelungen, sich darunterzumischen. Es war nicht auszumachen, worum es bei der Demonstration wirklich ging, viel zu viele unterschiedliche Schilder und Transparente waren in Umlauf:

BEDINGUNGSLOSES GRUNDEINKOMMEN – WO IST ULRICH EBERFELD? – KONZERNE MÜSSEN STEUERN ZAHLEN – ZIGGEDORN EIN KRIEGSTREIBER – HURRA WIR VERBLÖDEN – FREIER UFERWEG IN KOPPELITZ – UNSER WASSER GEHÖRT UNS – TEILEN WIRD DIE WELT RETTEN – KEINE LÜGENPRESSE – STOPP KLIMAWANDEL ...

Lisa sah sich um und rief: „Guckt mal, wer da kommt!“

Chong marschierte quer über den Schulhof wie ein Schlachtkreuzer, ohne zu merken, wie die Umstehenden zur Seite sprangen.

„Ihr haut einfach ab und lasst mich mit diesem Vampir allein zurück!“, rief er schon von weitem.

„Oh Gott“, sagte Lisa und lief rot an. „Was ist denn in dich gefahren?“

„Dumme Frage. In mich fährt nichts.“ Chong schnitt eine Grimasse und schüttelte sich wie ein nasser Hund. „Seid ihr auch so verspannt?“

Milli nickte. Sie hatte Kopfschmerzen. Überall sah sie nur frustrierte, gereizte oder traurige Gesichter. Vielleicht hat dieses Koppelitz ja doch nicht so gesunde Luft, wie immer behauptet wird, dachte sie. Einige von den Leuten sahen aus wie kurz vorm Umkippen.

„Lasst uns auf den hinteren Hof gehen, zum Springbrunnen. Wasser beruhigt“, sagte Lisa und lief voraus, um ihnen den Weg zu zeigen.

Ben beugte sich über einen Blumenkübel. Er sah elend aus, als müsse er jeden Moment kotzen. Milli hakte sich spontan bei ihm ein und zog ihn mit sich fort.

„Benni Tulpe!“, pfiff Chong hinterher und holte sie ein. „Wir haben heute früh schon von dir gehört.“

„Der wohnt auf dem gleichen Grundstück wie Herr Batori“, keuchte Ben elend. „Den kenn ich.“

Milli fand Chongs Verhalten nicht besonders rücksichtsvoll und zerrte noch entschiedener an Bens Arm. „Batori ist mein Onkel“, verriet sie ihm und holte zu einer längeren Erklärung aus, weil sie Batori ja versprochen hatte, sich um Ben zu kümmern.

Aber daraus wurde nichts, denn am Durchgang zum hinteren Hof trafen sie auf Lukrezia. Sie stand mit drei Mädchen und zwei riesenhaften Jungs zusammen und gestikulierte in ihre Richtung.

„Eine von den Neuen!“, sagte Lukrezia so laut, dass einige der Vorbeigehenden sich neugierig umsahen. „Ich dachte, du kennst hier niemanden … hast ja schnell Freunde gefunden.“

Milli wollte keinen Streit. Sie ließ Ben los und versuchte sich vorbeizudrücken, aber die hünenhaften Jungen standen im Weg.

„Na und, was ist schlecht daran?“, stieß sie gepresst hervor.

„Nichts ist schlecht daran“, sagte Lisa alarmiert, und dann leise zu Milli, „kümmere dich nicht um sie – lass uns weitergehen.“

Lukrezia schenkte Lisa keine Beachtung und blickte kühl auf Milli herab.

„Chong Dachs hat dich zur Schule gebracht; wie hast du denn den rumgekriegt?“

Also hatte Lukrezia sie am Morgen doch gesehen. Aber rumgekriegt!? – Auf so was muss man erst mal kommen, dachte Milli und verspürte den übermächtigen Drang, Lukrezia eine reinzuhauen und zugleich ein ebenso heftiges Verlangen, den Ort zu verlassen, bevor sie etwas Dummes tat.