Foxlight - Katya Balen - E-Book

Foxlight E-Book

Katya Balen

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Beschreibung

Von zwei Schwestern, die trotz aller Unterschiede immer zusammenhalten. Katya Balens bewegendes Abenteuer vor atemberaubender Naturkulisse Rey und Fen sind Zwillinge mit einer ungewöhnlichen Vergangenheit: Als Säuglinge wurden sie inmitten eines Rudels wilder Füchse gefunden. Niemand weiß, woher sie kommen. Je älter sie werden, desto häufiger denken sie über ihre Herkunft nach. Als eines Abends ein Fuchs vor dem Fenster auftaucht, folgen Rey und Fen dem Tier kurzerhand. Bald schon befinden sich die beiden tief im Wildland – einer rauen Gegend voll unberührter Wälder und einsamer Täler. Dort irgendwo vermuten sie ihre Mutter. Doch reißende Bäche, steile Klippen und ein großes Unwetter stellen die Schwestern auf die Probe. Nur wenn sie zusammenhalten, kommen sie den Antworten auf ihre Fragen näher.

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Seitenzahl: 228

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das ist das Cover des Buches »Foxlight« von Katya Balen

Über das Buch

Eine bewegende Geschichte über die besondere Verbindung zwischen Schwestern. Rey und Fen sind Zwillinge mit einer ungewöhnlichen Vergangenheit: Als Säuglinge wurden sie inmitten eines Rudels wilder Füchse gefunden. Niemand weiß, woher sie kommen. Je älter sie werden, desto häufiger denken sie über ihre Herkunft nach. Als eines Abends ein Fuchs vor dem Fenster auftaucht, folgen Rey und Fen dem Tier kurzerhand. Bald schon befinden sich die beiden tief im Wildland — einer rauen Gegend voll unberührter Wälder und einsamer Täler. Dort irgendwo vermuten sie ihre Mutter. Doch reißende Bäche, steile Klippen und ein großes Unwetter stellen die Schwestern auf die Probe. Nur wenn sie zusammenhalten, kommen sie den Antworten auf ihre Fragen näher.

Katya Balen

Foxlight

Zwei Schwestern im Herzen des Wildlands

Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann

Hanser

Für Miranda Prag,meine wilde So-gut-wie-Schwester

1

Sonntagabend. Rey und ich haben uns in der Garderobe versteckt. Es riecht nach ungewaschenen Füßen, nach Schuhcreme, dem Wachs unserer Jacken und nach Regenwetter.

Ich höre Lissa rufen und drücke mich noch tiefer in die Garderobe, mitten hinein in die Gerüche aus verschiedenen Jahreszeiten. Wolle kratzt an meiner Haut wie eine ganze Armee winziger, gestrickter Ameisen, aber ich zappele nicht. Ich lege mir einen Finger auf die Lippen, um Rey klarzumachen, dass sie ganz still sein muss, doch das ist gar nicht nötig — Rey hasst Sonntage genauso sehr wie ich.

Sonntagabende sind aus vielen Gründen doof. Einer davon ist, dass alle in die Badewanne müssen. Das zieht sich ewig hin, Jahre, und am Ende ist der Fußboden im Badezimmer sauberer als die meisten von uns.

Ein anderer Grund, weswegen wir den Sonntagabend hassen, ist das Essen: Sonntags gibt es immer Resteessen, das heißt Kohl mit Kartoffeln und dazu eine zähe, graue Masse, die wir für Maus halten. Wir haben zwar noch nie eine echte Maus gesehen, aber Alice schwört, sie hätte schon mal etwas auf dem Teller gehabt, was nur ein Mauseschwanz gewesen sein konnte. Also stochere ich für alle Fälle nur lustlos in meinem Essen herum, was Lissa gar nicht leiden kann. Verschwendung von Lebensmitteln sei das. Rey isst alles, egal was es gibt, und findet alles lecker.

Gerade drückt sie sich in einen Berg Handschuhe und starrt zur Decke hoch. Sie hält ein Buch in der Hand, weil Rey immer ein Buch in der Hand hält, selbst wenn es so dunkel ist, dass sie kaum ein Wort entziffern kann. Sie presst Bücher immer ganz fest an sich, so als könnten die Wörter auf diese Weise in sie einsickern.

Rey weiß unheimlich viel, redet aber kaum mit anderen darüber. Sie spricht nun mal nicht gerne. Sie kann aber sehr wohl sprechen, auch wenn Alex manchmal gemein zu ihr ist und sie fragt, ob sie ihre Zunge verschluckt habe. Sie findet es nur meistens unnötig, etwas zu sagen, und das macht auch nichts, ich weiß sowieso immer, was sie möchte und braucht und denkt. Nur ab und zu, da platzt es aus ihr heraus, und dann sagt sie etwas, das so wahr ist und so brillant, gerade so, als würde ganz plötzlich ein Feuerwerk losgehen oder am pechschwarzen Himmel auf einmal die Sonne erscheinen. Aber das passiert nur ganz selten. Normalerweise ist sie still und schüchtern und witzig und überhaupt der beste Mensch auf der ganzen weiten Welt, und auch wenn ich gar nicht so viele Menschen kenne, weiß ich doch, dass es so ist.

Jetzt höre ich, wie das Badewasser einläuft und die Gummilippe vom Wischmopp quietschend über den Boden rutscht. Vielleicht ist das aber auch Lissa, die gerade laut quiekende Mäuse für unser Abendessen einfängt. Die verschiedenen Sonntagsgeräusche kommen unter der Tür zu uns hereingekrochen, und ich versuche mir vorzustellen, wir wären woanders, egal wo, nur nicht in diesem feuchten Haus voller Findelkinder, das immer mehr verfällt, nur nicht hier, am Rand des nebligen Wildlands, sondern irgendwo, wo wir willkommen sind, wo wir hingehören.

Rey blättert eine Seite in ihrem Buch um.

Ich kneife die Augen fest zu und versuche, mir etwas vorzustellen. Ich schalte meine Gedanken ab und lasse mich tief fallen, und fast habe ich es geschafft, fast bin ich weit weg, irgendwo anders, irgendwo, wo es besser ist.

Stell dir vor flüstere ich. Stell dir vor, wir stehen auf einem eiskalten Berg ganz weit von hier, nur wir beide, und …

Doch in dem Moment wandern die Schatten, und Licht fällt herein.

2

Ich schaue auf, als Lissa die Tür zur Garderobe öffnet. Ein Geruch nach abgestandenem Kohl, nassen Böden, zu vielen Kindern dringt herein. Wie eine empörte Mutter in einem Bilderbuch steht Lissa da, die Hände in die Seiten gestemmt, aber eigentlich ist sie nicht böse auf uns, und unsere Mutter ist sie auch nicht, und das hier ist keine Geschichte aus einem Bilderbuch.

Komm jetzt da raus, Rey, bitte. Ich seh dich doch, da unter den Handschuhen sagt sie, und ein bisschen klingt ihre Stimme, als würde sie gekitzelt, doch Lissa schluckt einmal, und es ist weg.

Rey hebt den Kopf. Mindestens drei Handschuhe hängen in ihren wilden Locken fest. Sie grinst Lissa an und steigt aus dem Haufen, aber ich bleibe stocksteif stehen, wie eine Statue.

Fen, du bist nicht unsichtbar sagt Lissa. Komm bitte raus, sonst futtern die Vielfraße euch noch alles weg.

O nein, doch nicht an einem Sonntag, das wäre ja furchtbar murmele ich, schäle mich dann aber doch aus einer der Jacken. Rey und ich verlassen die Garderobe, diesen wundervoll ruhigen Ort, und schleppen uns in die Küche, wo uns Maussuppe und Briefe erwarten.

Noch so eine schreckliche Sache an den Sonntagen: Wir sollen Briefe an unsere Mütter schreiben.

Aber Rey und ich haben keine.

3

Wir wurden in der Stunde des Fuchslichts gefunden. Jedenfalls hat Lissa es uns so erzählt. Genau in dem Moment, als der Morgen dämmerte, als Sonne und Mond und Sterne ihr Licht ineinander woben und sich das Fell vorüberhuschender Füchse vor dem erwachenden Himmel abzeichnete. Wir haben noch nie Füchse gesehen, aber aus irgendeinem Grund wache ich jeden Morgen genau dann auf, wenn Tag und Nacht einander die Hand reichen. Dann schaue ich hinüber ins Wildland, und wenn das Licht wächst und sich ausbreitet, habe ich mit einem Mal das Gefühl, dazuzugehören.

Es war mitten im tiefsten Winter, der Boden war gefroren, und in der dünnen Eisschicht spiegelte sich ein zersplitterter Himmel. Ganz am Rande des Wildlands kauerten wir an der tiefsten Stelle des Tals. Wir schmiegten uns aneinander, klein und still, zwei Fragezeichen mitten im Schnee, zwischen rötlichem Fell und weißen Zähnen. Fast hätte Lissa uns übersehen, denn an dieser wilden, ungezähmten Grenze rechnete sie nicht mit Babys. Fast wäre sie an uns vorbeigelaufen, doch auf einmal hörte sie ein Quäken, das ganz sicher nicht von einem Fuchs kam. Lissa kann nicht sagen, welche von uns gequäkt hat, und das regt mich auf, denn wenn schon die ganze Geschichte gerade mal ein paar Sekunden lang ist, sind solche Dinge einfach wichtig.

Zwei winzige Babys! Eines so zornig, und eines so still. Eines mit Augen wie ein Sommerhimmel, und eines mit Augen so dunkel wie Schuhwichse, aber beide mit wunderschönen roten Löckchen. Das wart ihr! Ausgesetzte Babys aufzunehmen, gehört zu meiner Arbeit, aber mit euch beiden hatte ich gar nicht gerechnet. Anders als sonst hatte niemand angerufen, um mir zu sagen, ich solle bitte aus dem Haus kommen und nach euch Ausschau halten. Es war pures Glück, vermute ich. Glück für mich, Glück für euch.

Ganz eng hatten sich die Füchse um euch geschmiegt, und nur deswegen wart ihr nicht blau gefroren und zu Eisbabys geworden. Das hat uns Lissa erzählt, und ich weiß, was sie damit meinte, nämlich dass wir damals nicht gestorben sind, aber so direkt wollte sie es nicht sagen, sie meint es gut mit uns und kann sich nicht vorstellen, dass Rey und ich die Wahrheit wissen wollen. Sie kann sich auch nicht vorstellen, dass wir die Wahrheit ertragen können, denn für sie sind wir nur Kinder, und was Kinder und Großwerden angeht, gibt es eine Menge Dinge, von denen Lissa nichts versteht.

Obwohl die Füchse mit ihren leuchtend weißen Zähnen nach Lissas zarten Unterarmen schnappten, hat sie uns vorsichtig aus unserem Nest herausgehoben. Wenn mein Blick heute auf ihre schmalen Handgelenke fällt, dann sehe ich so etwas wie einen Halbmond aus Nadelstichen, Spuren der Reißzähne. Lissa hat uns dann in ihren Mantel gewickelt, ist mit festen Schritten über das gefrorene Marschland gelaufen, unter einem Himmel voller Schneewolken, hat uns mit in ihr Haus genommen und am Kaminfeuer langsam auftauen lassen, und erst als wir am ganzen Körper rosig waren und zornig brüllten, wusste sie, dass wir alles heil überstanden hatten und auch alle unsere Zehen behalten würden.

Alle, die hier leben, sind irgendwann von ihrer Mutter verlassen worden, von einer Frau, die allein war und Probleme hatte und deshalb nicht für sie sorgen konnte. Das Haus heißt DER LEUCHTTURM, weil es das einzige in dieser wilden, menschenleeren Gegend ist, vor dem ein Licht flackert. Jeder weiß, wo es steht. Sein Licht führt Mütter zu ihm, die einen Ort suchen, an dem sie ihr Baby sicher ablegen können. Der Unterschied ist nur: Genau das hat unsere Mutter nicht getan. Sie hat uns bei den Füchsen zurückgelassen.

Lissa gibt allen Kindern Namen, damit will sie erreichen, dass wir alle gleich sind. Aber die anderen Kinder hatten alle schon einen Namen, als sie herkamen; deshalb bekamen sie nur einen zusätzlichen, einen Mittelnamen. Rey und ich haben aber auch unsere Vornamen von Lissa. Fuchsnamen sagt sie dazu. Wir alle, sagt Lissa, hätten Namen, die mit unserem Anfang, aber auch mit unserem neuen Leben zu tun haben, mit der neuen Familie, die Lissa uns zu geben versucht, genauso wie mit der Familie, die wir zuerst hatten. Aber alle anderen hier haben einen Namen, den ihre Mutter so oft probeweise gesprochen hat, bis er passte. Einige von uns sind sogar zusammen mit einem richtigen Schatz hier abgelegt worden, und alle, wirklich alle brachten einen Brief mit, in dem ihre Geschichte erzählt wurde, die reine Wahrheit, mit Worten in Tinte.

Zakis Mutter hat ihm ein Medaillon hinterlassen mit einem Bildchen, das ihr Gesicht zeigt, außerdem drei Paar handgestrickte rote Söckchen. Lesen lässt er uns ihren Brief nicht. Zakis Mittelname ist Regen, denn am Tag, als er hier abgelegt wurde, goss es in Strömen.

Alex’ Mutter hat sein richtiges Geburtsdatum in ein herzförmiges Stück Eichenrinde geritzt. In ihrem Brief stand, wie sie ihn bekommen hat und wie es kam, dass sie ihn hier ablegen musste. Und dass sie ihn so bald wie möglich zu sich holen kommt. Alex’ Mittelname ist Februar. Als er gefunden wurde, schossen gerade die ersten grünen Spitzen der Narzissen aus dem Boden.

Jasmine hat von ihrer Mutter eine Medaille bekommen, eine Art Orden aus einem Krieg vor langer, langer Zeit. Und dazu noch alles über ihren Vater, der Soldat war und von weither kam, von der anderen Seite des blauschwarzen Meeres. Jasmines Mittelname ist Winter. Es hatte gefroren, als sie gefunden wurde.

Alices Mutter hat ihrer Tochter eine silberne Halskette mit einem Anhänger daran mitgegeben, einem silbernen Blatt, und dazu die Zeichnung eines Stammbaums mit ausladenden Ästen, wie Arme, die sich zu einer Umarmung öffnen. Ihr Mittelname ist Löwenzahn, denn als Lissa sie bei sich aufnahm, leuchtete die Heide hinter dem Haus. Sie war übersät mit diesen gelben Sonnen.

Robins Mutter hat ihrem Sohn eine Decke mitgegeben, in die sie mit großen Buchstaben seinen Namen gestickt hat, damit der nie verlorengehen sollte. In ihrem Brief erzählt sie ihm von den Vögeln, die bei seiner Geburt gezwitschert haben, und warum sie nicht mit ihm dableiben und ihren Liedern lauschen konnte. Robins Mittelname ist Blau, blau wie der Himmel an dem Tag, als Marl, ein Mann aus dem Dorf, Robin auf unserer Türschwelle gefunden und hereingebracht hat.

Alle haben sie ihren Namen und ihren Brief und die Geschichten ihrer Mütter darüber, wer sie sind und was sie vielleicht einmal sein könnten.

Doch als die Füchse aus dem Nest glitten und auf den gefrorenen Horizont zuliefen und Lissa unsere dünnen grauen Decken aufschlug, da fiel keine Geschichte aus den kratzigen Falten. Einen Moment lang glaubte Lissa, es gebe doch eine Nachricht, denn ein eingerissenes Blatt Papier, anscheinend eine Zeichnung, flatterte federleicht zu Boden, doch als sie es aufhob, war kaum zu erkennen, was die verwischten schwarzen Kohlestriche darstellen sollten.

Eine flüchtige Kohlezeichnung.

Ein davonschleichender Fuchs, mit krümeliger Kohle rasch auf Papier geworfen.

Das ist alles.

Kein einziges Wort.

Nur der eilig hingestrichelte Schatten eines Fuchses.

Wir haben keine Mutter. Und auch keine Geschichte.

4

Manche der Kinder im Leuchtturm haben ihre Mütter gefunden. Von denen bekamen sie dann Briefe, Briefe voll leuchtender Worte und mit Sätzen wie Ich kann es kaum glauben, dass wir beide gerne Suppe essen und Ich wusste, dass du mich eines Tages finden würdest. Am liebsten würde ich dazwischenrufen, dass das ja wohl nichts Besonderes ist, wenn Leute Suppe mögen, und überhaupt: Warum ist sie dich denn nicht holen gekommen?

Rey findet die Briefe schön, sie sagt Dinge wie Würdest du so was nicht auch gerne wissen? Ich rümpfe dann bloß die Nase und sage Nein, danke. Lissa hängt all diese Briefe an eine Pinnwand in der Eingangshalle, und jedes Mal, wenn in dem matten Licht, das es durch die Fensterscheiben schafft, ein neuer Reißnagel aufleuchtet, kriege ich einen Wutanfall. Einmal habe ich sämtliche Briefe abgenommen, ich wollte sie ins Feuer werfen und zusehen, wie die Wörter hell aufleuchten, sich dann einrollen und verkohlen, bis nichts von ihnen übrig bleibt, aber Rey hat meine Hand weggerissen und alle Briefe wieder aufgehängt. Da leuchteten sie matt an der Pinnwand, und ich habe sie nur noch mehr gehasst.

Jedes Mal, wenn wieder ein Baby an dieser scharfen Kante zwischen Wildnis und Welt abgelegt wird, sind alle gespannt, was für eine Geschichte es wohl haben mag, was es mitbringt und was es über sich erfahren wird, wenn es erst groß genug ist. Aber eigentlich ist es egal. Man kommt hier sowieso nicht weg, ganz gleich, ob jemand dir alles erzählt oder gar nichts.

Mir macht es nichts, dass wir keine Mutter haben. Und mir macht es auch nichts, dass wir überhaupt nichts wissen.

Aber Rey schon.

5

Sonntags möchte Lissa immer, dass wir Briefe an unsere Mütter schreiben. Sie bringt sie aber nicht zur Post oder so. Wir sollen sie in besondere Mappen legen, die wir verzieren durften, als wir noch klein und dumm waren und es nicht besser wussten. Die von Rey ist wunderschön, voll leuchtender Farben, die Ecken sorgfältig verziert mit Blumen und Früchten und Tieren, die sie in Märchenbüchern gefunden hat. Auf meiner Mappe ist nur so ein Gekrakel, dazwischen gezackte Formen, die an Fangzähne irgendeines wilden Tieres erinnern. Ist ja auch egal, wir haben niemanden, an den wir schreiben könnten, also sparen wir uns die Mühe. Rey versucht manchmal, ein paar Zeilen zu schreiben, aber ich lache sie aus, sage, ich hätte bessere Geschichten für sie, und will mir ihren Brief schnappen, aber sie zerknüllt ihn schnell, ich zerknülle meinen, und wir beginnen eine Wohnzimmerschneeballschlacht.

Lissa will uns beide trotzdem immer dazu kriegen, etwas zu schreiben, sie sagt, es geht darum, in Verbindung zu bleiben, sich eine eigene Geschichte zu erfinden. Robin zum Beispiel schreibt heute seiner Mutter, was er alles über die verschiedenen Teile eines Vogelskeletts gelernt hat. Bestimmt, sagt er, wird sie stolz auf ihn sein, denn sie liebt Vögel genauso sehr wie er. Also frage ich Lissa, ob ich schreiben kann, ich würde mir bald meinen eigenen Fuchsbau graben, nach Nahrung jagen und ein freies Leben in der Natur leben? Schließlich seien wir ja in der Wildnis gefunden wurden, bei Füchsen. Lissa sieht mich traurig an, aber das ist mir egal. Je mehr ich über diesen Brief nachdenke, desto mehr spüre ich, dass ich tatsächlich gern so leben würde. Dann stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn es nur noch Rey und mich gäbe und den Himmel und die Wildnis. Dann wäre alles gut.

Während die anderen also ihre blöden Briefe schreiben und Bilder malen, lassen Rey und ich unsere Bleistifte auf dem Tisch kreiseln, und Rey kritzelt rätselhafte Muster in ihr spezielles blaues Notizbüchlein, das Lissa ihr geschenkt hat für alle ihre Wörter und Zeichnungen, und das so viel besser ist als diese bescheuerten Mappen, unsere sogenannten Lebensbücher. Anschließend spielen wir Drei gewinnt und Galgenraten, bis der Abendhimmel das letzte Tageslicht verschluckt hat und wir endlich gehen dürfen. Lissa sieht sich an, was wir gespielt haben, verdreht die Augen und sagt, wir sollten doch versuchen, so wie alle anderen auch, unsere Gedanken auszudrücken. Ich mache schnell eine kleine Zeichnung unseres Hauses, und Lissa lächelt, doch dann zeichne ich die Umrisse eines Drachens, der sich auf das Dach stürzt, um es zu fressen, und Lissa verdreht wieder die Augen. Robin ist gerade damit fertig, den Vogel, den er gezeichnet hat, einen Star, farbig auszumalen, die Federn sind leuchtend bunt, und es sieht aus, als würde sein Vogel im nächsten Moment vom Papier abheben und sich in einem weit entfernten Baum ein Nest bauen.

Sobald Lissa uns lässt und so schnell es ohne auszurutschen geht auf der frisch geputzten, noch nassen Treppe, rennen Rey und ich hoch ins Mädchenzimmer. Lissa ruft uns irgendetwas hinterher, aber wir drehen uns nicht um, denn sonst müssen wir womöglich noch die Fenster putzen oder den Kleinen eine Gutenachtgeschichte vorlesen, und das eine ist so schrecklich wie das andere.

Unser Schlafzimmer liegt im Turm. Das hört sich cool an und ist es eigentlich auch, denn aus unseren Fenstern können wir meilenweit sehen. Außerdem hat das Haus seinen Namen von diesem Turm, denn ganz oben hängt eine riesige Laterne, die ihr sanftes goldenes Licht in die dunkle Nacht hinausschickt, wie das Licht von einem Leuchtturm, der Schiffe vor zähnefletschenden, spitzen Felsen bewahrt und sicher nach Hause geleitet.

Heute Abend ist es kalt in unserem Schlafzimmer, aber nicht so kalt, dass mein Atem Wölkchen bildet, und Eisblumen sind auch nicht am Fenster zu sehen. Das heißt, im Bett wird es heute kuschelig warm sein, vor allem, wenn wir die Socken anbehalten.

Ich sitze auf der klumpigen Matratze und schaue durchs Fenster in die wilde Welt da draußen. Immer zieht es mich in dieses Wildland. Es scheint, als ginge es immer, immer weiter, selbst dann noch, wenn meine Augen schon längst ihre Grenze erreicht haben. Ich sehe kleine Gruppen von Bäumen, aber auch tiefe dunkle Wälder, die scharfen Grate der blauen Berge, und manchmal kann ich sogar weit hinten das schmutzig braune, feucht glänzende Marschland erkennen oder den gewundenen, glitzernden Fluss. Das Wildland bedeutet mir alles. Am allerliebsten stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn Lissa uns nie gefunden hätte und wir trotzdem nicht erfroren wären. Stattdessen wären wir wild und schlau und ganz allein auf uns gestellt aufgewachsen. Wie in einer großartigen Geschichte würden wir leben, nur dass diese Geschichte wahr wäre und ganz allein unsere. Kein Mensch würde uns sagen, wann Schlafenszeit ist, es gäbe keine Buchstaben, keine Badewanne und keine Maussuppe. Stattdessen würden wir von Beeren leben, die wir von Sträuchern pflückten, würden unter dem Sternenhimmel schlafen, Lagerfeuer machen und verkohltes Fleisch von Knochen kratzen, würden im hell glitzernden Fluss schwimmen und Fische mit der bloßen Hand fangen.

Solche Geschichten erzähle ich Rey.

6

Unsere Laterne ist die einzige Beleuchtung weit und breit, es gibt hier auch sonst niemanden, der ein Licht anzünden könnte, außer Marl, aber dessen Hütte liegt auf der Rückseite unseres Hauses, ungefähr eine Meile entfernt und noch dazu in einer Senke. Seit die Nacht sich dicht um unser Haus gelegt hat, umgibt uns endloses Schwarz wie ein gähnender Abgrund. Selbst die Sterne schweigen heute. Einen Moment lang sehe ich durch das Dunkel hindurch in die Welt dahinter, sehe, wie etwas flackernd aufleuchtet, aber dann zwinkere ich einmal, und weg ist das ferne Licht, und ich sehe gerade noch, wie die Nacht unser Haus gierig verschlingt.

Okay sagt Rey. Sie ist schon im Schlafanzug. Über ihren Knöcheln liegt ein mondheller Streifen Haut frei, die Hose ist ihr nämlich inzwischen zu kurz. Rey war immer kleiner als ich, aber vielleicht holt sie ja gerade auf. Sie hält ein Buch über den Nachthimmel und die Sterne in der Hand, aber sie hat ein Lesezeichen hineingelegt und das Buch zugeschlagen. Das heißt, sie will erst später lesen.

Wie wär’s mit einer Runde Stell dir vor schlage ich vor, denn ich weiß, sie wartet schon darauf, dass ich das sage. Sie nickt und macht sich daran, die Flamme in unserer Laterne heller zu drehen. Will hat sie uns geschenkt, als er uns verlassen musste, weil er sechzehn und damit zu alt für das Heim wurde. Er kauft uns eine bessere, hat er gesagt, von seinem Lohn als Mechaniker, aber bis jetzt ist nichts gekommen. Andererseits ist diese Laterne ja völlig in Ordnung, und dass außer uns niemand so eine hat, macht sie erst recht zu etwas ganz Besonderem. Man muss endlos lange eine Kurbel drehen, bis die Birne im Inneren endlich flackert und dann leicht glüht. Auf jeden Fall ist sie besser als eine mit Batterien. Wir würden Lissa ja doch nie dazu kriegen, uns Batterien zu kaufen. Wir haben immer zu wenige davon, aber sie sind auch furchtbar teuer.

Rey stellt die Laterne unter die Bettdecke. Ich springe so schnell in meine Schlafanzughose, dass das Gummi im Bund reißt und mit einem leisen Schauder zusammenschnurrt. Ich kremple die Hose ein paarmal um und nehme mir vor, Lissa morgen zu bitten, das Gummi wieder einzuziehen, mit Nadel und Faden und ihren winzigen, sauberen Stichen, die fast nicht zu sehen sind. Als ich hinübergucke zu unserem Bett mit dem sanft beleuchteten Rey-Hügel darin, fällt mein Blick auf den Mond. Geheimnisvoll sieht er aus in der undurchdringlichen Dunkelheit da draußen. Sein silbernes Licht scheint auf die sanft rollenden Hügel, auf Täler und Berge, die in jedem Licht und bei jedem Wetter anders aussehen. Ein einsamer Ort ist dieses Haus, und er grenzt dicht an einen anderen, ebenso einsamen Ort. Kein Mensch ist da draußen.

Ich krieche schnell unter die Decke, das Laken fühlt sich glitschig an, so kalt ist es, aber wir schaffen uns unsere eigene Welt unter der Decke, eine Welt voller Wärme und Licht und Schatten.

Stell dir vor flüstert Rey. Ein Mondstrahl fällt auf ihr Gesicht. Sie beendet den Satz nicht.

Stell dir vor, wir wären hoch oben auf einem Berg, im Herzen des Wildlands beginne ich, doch Rey schüttelt den Kopf.

Stell dir vor, wir würden in einem Fluss schwimmen, um uns herum leuchtend bunte Fische wie ein schillernder, wogender Umhang versuche ich es erneut, doch wieder schüttelt Rey den Kopf. Sie will meine wilden Geschichten nicht hören. Was sie von mir will, das sind Geschichten von unserer Mutter.

Stell dir vor, sie würde Edelsteine sammeln sage ich, und jetzt nickt Rey, also spreche ich weiter. In unserer warmen Welt unter der Decke spinne ich die Geschichte weiter aus, bis sie den Raum zwischen uns restlos füllt und in der Laterne nach und nach zuckend und flackernd das Licht verglüht.

Stell dir vor, sie würde Edelsteine sammeln und wäre auf der Jagd nach dem berühmten Moor-Opal, den man nur im feuchten Wildland findet, dort, wo der Himmel auf die Erde trifft. Die Leute erzählen sich, der Opal sei ein Stück vom Mond oder vielleicht eine Sternschnuppe und für immer im Moorwasser verloren. Er sei mehr wert als jeder andere Edelstein auf der ganzen Welt. Er könnte Kranke heilen und normale Steine in Berge von Rubinen und Diamanten verwandeln. Der Opal wäre magisch und irdisch zugleich. Doch das Moor war dunkel und gefährlich; es konnte einen Menschen in die Tiefe saugen und dort festhalten. So mutig und so kühn war diese Frau.

Ich beobachte Rey die ganze Zeit, während ich ihr die Geschichte erzähle, wie unsere Mutter eines Tages den Moor-Opal entdeckt hat. Aber auch andere waren hinter dem Stein her, die hätten alles dafür getan, um ihn in die Hände zu bekommen. Also musste unsere Mutter fliehen, und da sie uns nicht mitnehmen konnte, legte sie uns dort ab, wo sie wusste, dass Lissa uns finden würde. Rey hat ganz rote Backen, so gebannt lauscht sie den Worten, die sie einhüllen.

Noch einmal von vorn flüstert sie, legt die Arme um die mageren Knie und lehnt sich an mich. Inmitten von Geschichten und Laternenlicht ist sie ganz entspannt. Sie will jedes Fitzelchen der Geschichten hören, die ich über unsere Mutter zusammenspinne, und alle sollen sie wahr sein, dabei sind sie nur so etwas wie Zauberei, wie Wunschdenken. Geschichten über unseren Vater will sie nicht hören, ich kenne auch keine. Worüber die Kinder hier sich Gedanken machen und worüber sie reden, das sind immer die Mütter. Glaube ich jedenfalls. In ihnen sind wir gewachsen. Sie haben uns zur Welt gebracht, sie kannten uns. Dann haben sie uns verlassen.

Gib mir ein Stichwort sage ich, und Rey zieht die Stirn in Falten und wickelt sich eine kastanienrote Locke um einen Finger. Ich selbst habe mir die Haare mit Lissas Küchenschere kurz geschnitten. Lissa hat einen Schrei losgelassen, als sie mich sah, später aber behauptet, das sei nur deswegen gewesen, weil mir der Schnitt ziemlich missraten sei. Anschließend hat sie um die Ohren herum nachgebessert.

Stell dir vor, sie lebt im Dorf und verkauft Bücher? sagt Rey, und zum Satzende hin steigen die Wörter hoch wie Rauch in die Luft, sie ist sich selbst nicht sicher, was sie von dieser Geschichte halten soll, und ich schüttele den Kopf, ich mag solche Geschichten nicht. Am liebsten erzähle ich solche, in denen es wild und verrückt zugeht und die völlig anders sind als diese langweiligen Briefe der anderen. Rey kann nicht genug bekommen von meinen Geschichten, egal worum es darin geht. Sie glaubt mir einfach jedes Wort.

Stell dir vor, sie ist eine Forscherin sage ich.

Diese Geschichte habe ich so viele Male erzählt, dass sie an den Ecken schon ganz abgegriffen ist und die Wörter sich in meinem Mund alt und krümelig anfühlen. Eigentlich will ich sie nicht noch einmal erzählen. Ich will mir einfach ausmalen, dass wir beide allein im Wildland sind, denn bei solchen Geschichten habe ich das Gefühl, dass mir nichts fehlt. Wenigstens eine Zeit lang. Aber solche Geschichten mag Rey wiederum nicht so gerne.

Stell dir vor, sie ist eine Forscherin wiederhole ich, und Rey kuschelt sich an mich. Diese Geschichte funktioniert ganz gut. Wir bauen uns eine Mutter aus Wörtern, und im matten Licht unter unserer Bettdecke nimmt sie Gestalt an, bis sie fast wirklich sein könnte. Rey mag es am liebsten, wenn ich unsere Mutter in den Geschichten zu uns zurückkommen lasse. Das ist so, als könnte ich für Rey ein Puzzleteil schnitzen, genau das, nach dem sie ihr Leben lang gesucht hat. Für ein paar Augenblicke ist sie dann glücklich. Also forme ich den Schatten unserer Mutter, und so als würde ich Musik komponieren, gebe ich ihr eine Stimme, und mit dieser Stimme sagt sie Meine Babys, meine Babys.