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Katya Balen über neue Freundschaften, Freiheit und die Liebe zur Natur. „Großartig erzählt von einer bemerkenswerten, neuen Autorin. Ein zukünftiger, wilder Klassiker!“ The Times Eine bezaubernd schöne Geschichte über Neuanfänge, Freiheit und die Wildheit, die in uns allen steckt. October lebt mit ihrem Vater in einer Waldhütte, im Einklang mit der Natur und fernab anderer Menschen. Geheimverstecke zwischen den Bäumen, Winterschwimmen im Teich, nächtliche Lagerfeuer und ein gerettetes Eulenküken: Das ist Octobers Welt. Bis zu ihrem elften Geburtstag, als ihr Vater einen schweren Unfall hat. Während er sich erholt, muss October zu ihrer Mutter in die Großstadt ziehen. Dort ist alles fremd: das sterile Haus, die Schule, die Frau, die ihre Mutter ist. October muss erst neue wilde Orte und Freunde finden, um zu erkennen, dass Veränderungen zwar Angst machen können, am Ende aber oft etwas ganz Wunderbares sind.
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Seitenzahl: 240
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Eine bezaubernd schöne Geschichte über Neuanfänge, Freiheit und die Wildheit, die in uns allen steckt. October lebt mit ihrem Vater in einer Waldhütte, im Einklang mit der Natur und fernab anderer Menschen. Geheimverstecke zwischen den Bäumen, Winterschwimmen im Teich, nächtliche Lagerfeuer und ein gerettetes Eulenküken: Das ist Octobers Welt. Bis zu ihrem elften Geburtstag, als ihr Vater einen schweren Unfall hat. Während er sich erholt, muss October zu ihrer Mutter in die Großstadt ziehen. Dort ist alles fremd: das sterile Haus, die Schule, die Frau, die ihre Mutter ist. October muss erst neue wilde Orte und Freunde finden, um zu erkennen, dass Veränderungen zwar Angst machen können, am Ende aber oft etwas ganz Wunderbares sind.
Katya Balen
October, October
Die weite, wilde Welt wartet auf mich
Aus dem Englischen von Birgitt Kollmann
Mit Illustrationen von Angela Harding
Hanser
Für dich, Ruby Lambert
Wir finden die Eule weit hinten in unserem Wald, am Morgen nach dem großen Sturm. Vom Wind zerzaust, die Flügel steif gefroren, die runden Augen glasig. Mit einem Finger tippe ich leicht auf ihr Gefieder und bin überrascht, wie lebendig es sich anfühlt, obwohl die Eule eigentlich schon nicht mehr da ist und Dad gerade ein Loch für sie in der regensatten Erde gräbt.
Ich bücke mich und hebe den Vogel hoch. In meinen Händen kommt er mir so groß vor, doch die hohlen Knochen machen ihn leicht, fast erwarte ich, dass die Eule sich jeden Moment die Starre aus dem Gefieder schüttelt und davonfliegt.
Manchmal sehe ich zwischen den Bäumen Eulen im Flug aufblitzen. Ich höre ihr leises Rufen, vielleicht sind das ja Abendlieder, die sie einander vorsingen. Schön sind diese Vögel, wie in der Dunkelheit verborgene Geheimnisse. Ich finde nicht, dass so eine Eule in ein Loch in der Erde gehört, und das sage ich auch zu Dad, doch er meint, das sei nun mal der Kreislauf des Lebens und die Eule werde nun eben wieder zu einem Teil der Natur. Sie verwest in der Erde, bis nur noch ihre Knochen übrig sind; mit ihrem Fleisch wird sie die Erde nähren, und aus ihren Federn werden die Wurzeln von Pflanzen wachsen. Fast wünschte ich mir, ich könnte dabei zusehen. Einmal habe ich ein Fuchsskelett gefunden, einen Kreis aus Knochen, dazwischen einzelne Fellfetzen. Der schräg zulaufende Schädel und die gebogenen Rippen schimmerten hell und schön wie Elfenbein.
Noch eine letzte Schaufel Erde, dann setzt sich Dad und lehnt sich an einen Baumstamm. Er atmet tief aus, Atemwölkchen schweben durch die Luft. Ich lege den Vogel ins Loch und markiere die Stelle mit einem glatten Stein, damit ich sie immer wiederfinde.
Nachdem wir die Eule begraben haben, gehen wir durch den Wald und beseitigen die gröbsten Schäden, die Wind und Regen hinterlassen haben. An der alten Eiche, deren Äste sich ausstrecken wie die Arme eines gigantischen Tintenfisches, hat ein Blitz geleckt. Doch insgesamt sind die Schäden nicht so schlimm wie nach früheren Unwettern, eher fühlt es sich so an, als hätte der Sturm ein Großreinemachen veranstaltet und alles sei wieder neu und frisch. Mit meinen Adleraugen suche ich rasch den Boden ab und finde wie immer alle möglichen Schätze in der vom Regen aufgeweichten Erde: Tonscherben und etwas, was nach einer römischen Münze aussieht, Edelsteine aus blaugrünem, glatt geschliffenem Glas. Ich stecke alle meine Fundstücke in die Tasche, wo sie sich laut schimpfend gegenseitig anrempeln, weil mir jedes dringend seine Geschichte erzählen will, aber das hat Zeit bis später. Jetzt müssen wir erst einmal hacken und schaben, harken und schleppen, bis die halb abgebrochenen Äste und gespaltenen Stämme aufgeräumt sind und der zerrupfte Waldrand wieder besser aussieht.
Ich helfe Dad, die besten der abgebrochenen Äste auf den Hänger zu laden. Später hacken wir sie zu handlichen Scheiten, entweder als Brennholz für unseren Ofen oder vielleicht auch für ein Lagerfeuer. Als wir fertig sind, fahren wir mit dem Quad auf Schlammwegen zurück zum Haus, wo wir das Holz gleich im Schuppen lagern. Das ist die Arbeit, die ich am wenigsten gerne mache; ich bekomme Muskelkater davon, und egal, wie viel Holz ich vom Hänger in den Schuppen schleppe, der Haufen scheint nie kleiner zu werden. Dann denke ich an die Geschichten, die sich in meiner Tasche verbergen, und schon spüre ich, wie Anfänge, Mittelteile und Enden sich in meinem Gehirn miteinander verweben, und auf einmal arbeiten meine Muskeln von ganz allein. Wieder und wieder greifen meine Hände nach Holz, bis sie plötzlich nur noch Luft ertasten und der Hänger leer ist. Dad und ich steigen aufs Quad, um eine letzte Runde durch den Wald zu drehen und zu schauen, ob noch irgendwo etwas herumliegt.
Dad lässt mich ans Steuer, obwohl meine Beine noch nicht lang genug sind, um mit den Füßen die Gangschaltung zu bedienen. Deswegen übernimmt er das. In großen Schleifen kehren wir zurück zur Eule.
Warte mal sagt Dad mach mal langsam aber ich fahre ohnehin schon so langsam, dass ich nur noch vollständig anhalten kann. Er steigt ab, schiebt einen Vorhang aus Riedgras beiseite und bückt sich. Komm, schau dir das an sagt er, und ich hüpfe vom Quad und spähe ins Dunkel; vielleicht hat er am Boden noch mehr Schätze entdeckt, die der Regen an die Oberfläche gespült hat.
Eine Eule. Ein kleines, flauschiges Bündel von einer Babyeule.
Ein herzförmiger weißer Fleck im Gesicht, der sich gerade erst ausbildet. Weit aufgerissene Augen. Ein winziges spitzes Schnäbelchen. Eine breite, zerbrechliche Brust. Bei jedem Atemzug bebt der kleine Körper vom Kopf bis zu den Spitzen der angelegten Flügel.
Ich strecke die Finger nach der Eule aus, aber Dad fängt meine Hand sanft ab und schüttelt den Kopf. Wir müssen sie in Ruhe lassen. Kann sein, dass eine andere Eule kommt, um nach ihr zu sehen, und wenn wir eine so kleine Eule mitnehmen …
Seine Stimme wird immer leiser, und am liebsten würde ich ihm die unausgesprochenen Worte aus dem Mund reißen und in den immer dunkler werdenden Himmel werfen, denn ich will diese Eule nicht so ganz allein zurücklassen, verborgen in all dem zerdrückten Laub.
Ich soll schon mal ins Haus gehen, sagt er, während er das Quad unterstellt, soll mir etwas Heißes zu trinken machen und mich ein bisschen aufwärmen, bevor wir noch mal losziehen, um uns etwas zum Abendessen zu besorgen.
Im Haus stelle ich den Wasserkessel auf den Holzofen und setze mich in meinen Lieblingssessel. Er ist geflickt und durchgesessen und sieht aus, als wäre er mindestens hundert Jahre alt. Auf einer Seite quillt langsam die Polsterung heraus, wie eine Gewitterwolke sieht sie aus.
Ich mach’s mir gemütlich und schlage nach, wie lange es dauert, bis von einem begrabenen Vogel nichts mehr übrig ist als hohle Knochen, die sich unter meinen Händen wie Luft angefühlt hatten. Alle unsere Bücher sagen, sechs Monate. Das heißt, im März wird unsere Eule schneeweiß in der dunklen Erde unter meinen Füßen liegen. Wo das Eulenbaby dann sein wird, daran denke ich lieber nicht, aber ich kreuze so fest die Finger, dass die Knöchel sich weiß färben, und wünsche mir, dass Vater oder Mutter Eule zu ihrem Kind zurückkehren.
Ich lese alles nach über Eulen und ihre Ernährungsgewohnheiten. Am liebsten mögen sie alle Arten von Mäusen. Meist verschlingen sie ihre Beute vollständig, und was sie nicht verdauen können, würgen sie wieder hoch. Das ist das Gewölle. Darin findet man Haut und Knochen und Fell von allem, was sie gefressen haben. Wer ihnen zum ersten Mal Nahrung bringt, lese ich, den sehen sie für immer als Eltern an, selbst wenn es nur eine Handpuppe mit einer Maus in der Pfote ist.
Ich höre auf zu lesen und wasche mir meine verschwitzten Haare in der Küchenspüle. Ich schüttele sie trocken, sodass die Tropfen wie Perlen um mich herum durch die Luft fliegen.
Wir leben im Wald. Wir sind Wilde.
Heute Abend heulen wir den sternenübersäten Himmel an. Wir werfen unsere Stimmen hinauf, mischen sie und formen sie wie Töpfer ein Stück Ton. Wir können den Klang in die Länge ziehen, bis er hinaufreicht in die höchsten Baumkronen und hinunter in die von Geheimnissen angefüllte Erde oder bis er sich in den Brombeerranken verfängt und über den Teich gleitet, denn diese Welt gehört uns, und wir sind allein.
Nur wir zwei.
Ein von zwei Menschen bewohntes Fleckchen Erde in einem Flecken der Welt, der klein ist wie eine Murmel. Wir sind winzig, und wir sind alles, und wir sind wild.
Wir leben im Wald.
Wir leben im Wald, und wir sind wild.
Unser Haus steht mitten im Wald. Gebaut wurde es aus Bäumen wie denen, die es einrahmen. Damit daraus ein Haus wurde, mussten sie gefällt, glatt gehobelt und geschliffen werden, und natürlich sehen sie jetzt ganz anders aus als die sich draußen in alle Richtungen streckenden Äste. Trotzdem gefällt es mir, so mitten im Wald zu sein. Wie ein Geheimnis fühlt es sich an, dass wir hier sind, verborgen und vergessen auf eine gute Art, auch wenn es schon Leute gibt, die wissen, dass wir hier sind. Ein oder zwei Mal im Jahr fahren wir in den nächstgelegenen Ort, ein Städtchen, und kaufen alles, was wir nicht selbst anbauen oder herstellen können; bestimmte Lebensmittel oder Kleidung. Bei Kleidung gilt das für so gut wie alles außer Socken. Dad schafft es locker, mit munter klappernden Nadeln ein Wollknäuel in die Form eines Fußes zu bringen, während er gleichzeitig mit einem Auge den Herd im Blick hat, aber wenn ich mich daran versuche, gibt es jedes Mal ein einziges Wirrwarr. Wenn wir alles zusammenhaben, was wir im Laufe eines Jahres brauchen, schlüpfen wir wieder zurück in den Wald, und das Städtchen vergisst uns von Neuem.
Unser Haus hat Dad schon bevor ich zur Welt kam gebaut. Geboren bin ich allerdings trotzdem nicht hier, denn im letzten Moment hat die Frau, die meine Mutter ist kommt gar nicht infrage gesagt und sich eilig ins Krankenhaus bringen lassen, wo sie durch lange Gänge gerollt wurde, die weiß und grell und baumlos und blank gescheuert waren, und sie konnte sich erst nicht erinnern, dass es früher so gewesen sein sollte. Doch dann fiel ihr alles wieder ein, und sie erinnerte sich an lauter Dinge wie Mikrowellengeräte und Computer mit Internet und Heizungen, die auf Knopfdruck funktionieren, anstelle eines bullernden Holzfeuers, von dem all unsere Sachen leicht süßlich nach Rauch riechen. Das alles fiel ihr wieder ein, und als sie ihr Baby gereicht bekam, eingewickelt in eine zu den Wänden und Laken und Kissen passende weiße Decke, da sagte sie zu Dad, sie könne nicht zurückgehen.
Sie tat es dann aber doch, wenigstens für eine Weile. Aber sie verschwand immer wieder in jener Welt, die an unsere angrenzt, und als ich vier war, verließ sie uns endgültig. Ich meine mich an den Tag zu erinnern, an dem sie wegging, aber mit dieser Erinnerung geht es mir wie mit Wasser, das man in den gewölbten Händen hält und das zwischen den Fingern verrinnt, während man zusieht. Ganz schwach sehe ich vor mir noch das Bild einer Frau, die mich an der Hand hält, mein Körper wird mitgezogen von dem eines anderen Menschen, der so schnell rennt, dass meine Beine nicht mitkommen. Um mich herum höre ich Geschrei, und ich weiß noch, dass ich selbst auch geschrien habe, so laut, dass es den Himmel zerriss und die Vögel erschrocken aufflogen.
Ich habe nicht zugelassen, dass sie mich mitnahm. Ich wollte den Wald nicht verlassen.
Wenn ich jetzt versuche, mich an sie zu erinnern, dann ist es, als wäre sie aus meinem Gedächtnis herausgeschnitten worden. Dort, wo sie sein sollte, ist nichts weiter übrig als ein schwarzer Schatten in Form eines Menschen. Manchmal taucht sie sogar kurz auf, doch dann verschwimmen ihre Umrisse und lösen sich in Rauch auf, bis nichts mehr zurückbleibt. Ich hasse sie dafür, dass sie die Wildnis verlassen hat, ich hasse sie dafür, dass sie uns verlassen hat, und ich hasse sie dafür, dass sie unsere vollkommene kleine Ecke der Welt verlassen hat.
Sie schreibt uns andauernd, aber ich lese ihre Briefe nie. Ich weiß nicht, warum Dad sich überhaupt die Mühe macht, sie aus dem hölzernen Briefkasten zu nehmen, der ganz am Ende des Weges steht, der in die Welt hinausführt. Sie ist ohnehin der einzige Mensch, der uns je irgendetwas mit der Post schickt. Einmal hat Dad einen dieser Briefe offen auf den Küchentisch gelegt, damit ich ihn lesen sollte, aber ich habe das Papier zerknüllt und zugesehen, wie es Feuer fing und die mit Tinte geschriebenen Worte in der Glut verblassten. Noch früher, als ich erst fünf war, ist sie einmal zu uns in den Wald gekommen, aber da habe ich mich auf einem Baum versteckt und mich bis spätabends geweigert, abzusteigen, nicht einmal als Dad zu mir hochkletterte und versuchte, mich herunterzulocken. Das nächste Mal kam sie, als ich sieben war, und dann noch einmal, als ich neun war, und jedes Mal habe ich mich im sicheren Schutz der Äste versteckt. Sie wohnt gar nicht so weit entfernt, sagt Dad, ich solle sie doch besuchen gehen und mir ansehen, wo sie lebt, mit ihr reden und wieder ihre Tochter sein, aber wann immer er von ihr anfängt, höre ich sofort mit meiner Schatzsuche auf und steige auf den nächsten Baum. Inzwischen tut er es immer seltener. Von hier aus ist alles so weit weg, und genau hier möchte ich bleiben.
In der deutschen Sprache gibt es all diese seltsamen, magischen Wörter, von denen ich gelesen habe. Wörter, die das Englische nicht kennt und hinter deren Buchstaben sich lauter spezielle Gefühle verbergen, zum Beispiel Schadenfreude oder Heimweh. Heimweh habe ich schon, wenn wir nur kurz im Städtchen sind. Mein Lieblingswort aber ist Waldeinsamkeit, das beschreibt so gut, wie ich mich fühle, wenn ich allein im Wald bin, ruhig und glücklich und sicher. Der Frau, die meine Mutter ist, würde das nicht gefallen. Sie möchte, dass ich unter der Woche zur Schule gehe und die Wochenenden bei ihr verbringe, weit weg von hier, aber was wäre dann? Wann wäre ich dann je wieder wild und frei, könnte auf Bäume klettern und Schätze suchen oder am Feuer sitzen und Geschichten erzählen?
Ich will sie nicht.
Sie ist nicht so wild wie wir.
Wir beenden unser Geheul und lassen unseren Atem als Wölkchen in die Nachtluft steigen. Wir sammeln Zweige und ganz trockenes Laub und grünes Moos aus Baumstümpfen und machen damit ein Feuer. Dad zaubert aus seiner Tasche Kartoffeln hervor, und wir schieben sie in die Glut, bis sie zu singen anfangen. Wenn sie gar sind, spieße ich sie auf ein Stöckchen und hole sie so heraus. Sie duften so köstlich, dass ich am liebsten sofort hineinbeißen würde. Aber das lasse ich lieber, denn seit dem letzten Mal weiß ich, wie Feuer schmeckt. Anschließend musste ich meinen wunden, roten Gaumen stundenlang mit Eiswürfeln kühlen. Ich puste also auf meine aufgespießte Kartoffel, und Dad zeigt mir wie immer die Sternbilder, die durch Lücken im Blätterdach über uns zu erkennen sind. Eigentlich kann ich sie inzwischen alle selbst benennen. Orion, der Himmelsjäger mit den drei Gürtelsternen. Die beiden Bären Urs Major und Urs Minor. Lupus, der Wolf mit den Diamantzähnen. Wilde Gestalten am Nachthimmel.
Als das Feuer ganz erloschen ist, gehen wir zu unserem Häuschen zurück. Meine Haarspitzen gefrieren in der kalten Luft, und ich ertaste mit den Fingern kleine Eisbröckchen wie gezackte Sterne. Wir stapfen am Teich vorbei, dessen Oberfläche sich schon zusammenzieht, und ich überlege, ob Dad mich wohl in diesem Jahr eislaufen lässt mit den braunen, hochgeschnürten Schlittschuhen, die er hatte, als er in meinem Alter war. Viel zu gefährlich, sagt er jedes Mal, das glatte Glas würde brechen und ich würde auf den Grund sinken und unterm Eis eingeschlossen. Dabei will ich doch einfach nur auf der Oberfläche dahingleiten wie dieses Mädchen, von dem ich einmal in einem meiner Bücher gelesen habe. Angeblich fühlt es sich ein bisschen so an wie Fliegen.
Auch im Haus ist es kalt. Innen sehe ich meinen Atem genauso wie draußen, aber jetzt noch den Herd anzuwerfen hat keinen Sinn. Dad stapelt schon Holz für morgen früh und stochert in der grauen Asche, um dem Bauch des Holzofens noch die allerletzte Wärme zu entlocken.
Er legt mir eine Hand auf den Kopf und ich lehne mich an ihn und fühle seinen Herzschlag und ich bin klein und warm und sicher.
Er macht kurz Licht, damit ich den Weg zu meinem Zimmer finde, dabei würde ich den auch in schwärzester Nacht finden. Manchmal nehme ich eine Kerze mit, obwohl ich den Weg kenne und obwohl wir elektrischen Strom haben, aber ich fühle mich dann wie eins der Kinder in einem meiner Bücher, die noch in der Zeit vor der Erfindung der Glühbirne spielen.
Mein Zimmer ist klein und hat schräge Wände bis zum Boden, aber mir gefällt das, es wirkt so gemütlich. Auf einem Bord neben meinem Bett liegt ein holzgeschnitzter Fuchs. Fast scheint er zu schweben, so leicht ist er. Daneben steht ein Krug, der mit lauter Stückchen von Glas und Plastik und Metall verziert ist. Beides sind Geschenke von Dad, glaube ich. Zwei Wände sind bedeckt mit Bücherregalen. Ich sortiere meine Bücher gerne nach Farben, sodass die Buchrücken einen Regenbogen bilden. Nie würde ich mich von meinen Büchern trennen. Egal, welches ich herausziehe, immer weiß ich sofort, was für eine Geschichte das war, was darin vorkam und wie es sich angefühlt hat, sie zum ersten Mal zu lesen.
Auf meinem Bett liegt eine Patchworkdecke aus Dreiecken, die einmal Teil meiner Kleider und Hemden und Pullover und Hosen waren und sich zu etwas ganz Neuem zusammengefügt haben. Ich liebe diese Decke, weil darin lauter Geschichten aus meinem Leben zusammenkommen und sich um mich legen. Ich kuschele mich abends gern darunter, schaue aus meinem Fenster, sehe zu, wie sich der Wald langsam in der Dunkelheit auflöst, und lausche den Nachtvögeln, die ihren Gesang anstimmen. Aber heute Nacht kann ich dabei nur an die tote Eule und das Eulenkind denken. Ich kneife die Augen fest zu, und die Bilder des immer schwärzer werdenden Waldes zerfallen zu Staub.
Doch mein Herz hört nicht auf, schmerzhaft gegen meine Rippen zu pochen, und so winde ich mich aus dem Bett und öffne meine Schatzkiste. So eine, oder zumindest eine ganz ähnliche, könnten echte Piraten auf ihrem Schiff haben, doch statt Goldmünzen bewahrt meine Schatzkiste Teile von Geschichten aus dem Wald auf. Dad hat sie mir gemacht, als ich sechs war, ein Weihnachtsgeschenk aus Holz aus unserem Wald, das er zu einer Kiste zusammengesetzt, glatt gehobelt und verpackt hat. Der Inhalt ist reine Magie: ein Puzzle aus Tonscherben, die einmal einer Familie gehört haben müssen, die vor langer, langer Zeit wild hier im Wald lebte, auf offenem Feuer kochte und unterm Sternenhimmel schlief; hell leuchtende Knochen vom Skelett eines Drachen, der früher einmal mit seinem heißen Feueratem den Wald bewacht hat; Federn von einem Vogel, dessen Gesang Verbrennungen heilen konnte. Jedes Mal, wenn ich ein neues Geheimnis im Boden finde, lege ich es in meine Schatzkiste. Dann ist es so, als wäre mein Kopf voll mit dem Leben anderer.
Ich nehme die drei Dinge, die ich am Nachmittag gefunden habe, und breite sie auf meinem Bett aus. Wenn man sie bewegt, klappern Geschichten darin. Die verbogenen, schwarz angelaufenen, flachen Metallteile mochten einmal Münzen gewesen sein, vielleicht die allerletzten Pennys eines Jungen, den Dorfbewohner bei den Wölfen im Wald aussetzten, weil sie ihn seltsam fanden und er so ungewöhnliche Fähigkeiten hatte. Er konnte Heiltränke mischen, mit denen er entzündete Wunden, rippenbrechenden Husten und schweißtreibendes Fieber zu kurieren verstand, doch die anderen trauten ihm nicht. Da nahm er seine Flöte, blies ein paar tiefe Töne, machte eine kleine Handbewegung, und schon hatte er die eben noch knurrenden Wölfe für sich gewonnen. Er setzte sich auf den mit dem kräftigsten Rücken und ritt mit dem ganzen Rudel davon. Im Wilden Wald brachten sie ihm Essen, und er heilte ihre Wunden. Die Tonscherben stammten von den Töpfen, in denen er Speisen zubereitete, deren Zutaten er im Wald fand. Gemüse und leuchtende Beeren kochte er über einem gierigen Feuer. Die vom Wasser glatt geschliffenen, blaugrünen Glasscherben waren seine magischen Steine, sie gaben ihm die Kraft, alles, was krank oder kaputt war, zu heilen oder wieder ganz zu machen. Ich reibe mit dem Daumen über die in langen Jahren glatt geschliffenen Ränder, dann lege ich die Steine zurück in meine Schatzkiste.
Zwei Tage später beginnt der Oktober, mein Monat. Wenn man im Wald lebt, aber vielleicht auch sonst, keine Ahnung, ist der Oktober der beste Monat von allen. Dann werfen die Bäume nach und nach ihr Laub ab, bis der Erdboden darunter wie Feuer leuchtet und die Blätter eine Art Patchworkdecke bilden. Die Luft ist frisch und riecht nach Rauch, man spürt schon einen Hauch vom ersten Frost. Alles fühlt sich neu und aufregend an.
Ich bin im Oktober zur Welt gekommen, in jenem klinisch weißen Krankenhaus weit weg von hier. Es gibt ein Bild von mir als Baby, noch unfassbar klein und in eine regenbogenfarbene Decke gewickelt. Das Foto wurde mit einer uralten Kamera aus Dads Kindheit aufgenommen, die die Bilder sofort nach der Aufnahme ausspuckte. Einen Film gibt es dafür nicht mehr, aber ich brauche auch keine Fotos, um mich an Dinge zu erinnern.
Dad sagt, er und die Frau, die meine Mutter ist, hätten damals lauter Namen für mich in den Raum geworfen, aber alle seien sie an den Wänden abgeprallt und mit einem dumpfen Knall am Boden aufgekommen. Keiner hätte sich richtig angefühlt. Dann haben sie mich in den Wald gebracht, zum Ofen mit dem bullernden Feuer im Bauch, zu den Vögeln und den Dachsen und dem Herbstlaub, und auf einmal hat Dad October gesagt, und das war endlich ein Name, der fliegen konnte.
Der Oktober ist also mein Monat. Und wir beginnen ihn immer auf dieselbe Weise.
Selbst wenn es draußen schon friert.
Ich schlüpfe aus meinen gelben Gummistiefeln und prüfe mit den Füßen vorsichtig das Wasser im Teich. Der seidige, kühle Lehm quillt zwischen meinen Zehen durch. Blitzschnell ziehe ich mich aus, bis ich nur noch in der Unterhose dastehe, der mit dem völlig ausgeleierten Gummiband, das mich irgendwie an Tintenfischarme erinnert. Auf der glasigen Oberfläche des Teichs glitzern erste Eissplitter. Für den Bruchteil einer Sekunde glaube ich, dass ich es nicht schaffe. Ich bin erstarrt wie der Boden und das Eis und das Gras, gefangen in der Luft, und kann nicht einen einzigen Muskel bewegen. Doch dann schreit aus purer Lebensfreude über mir ein Vogel und stößt hinab auf die Beute, die er gerade entdeckt hat, und wir sehen uns an, Dad und ich, und dann — drei, zwei, eins —
s
p
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g
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wir.
Das Wasser dröhnt beim Aufprall in meinen Ohren, und meine kurze Starre zerspringt in tausend winzige Splitter. Der Teich ist so kalt, dass meine Knochen wie Feuer brennen. Fast fürchte ich, dass mein Herz aussetzt. Unter der Oberfläche ist die Welt trüb und grün, und plötzlich bin ich eine Meerjungfrau, die aus einem von Haien geführten Seegrasgefängnis entkommen ist und in die Freiheit schwimmt.
Ich kicke mit den Beinen in der scharfen Kälte ich bin ein Blitz unter Wasser ich drehe mich auf den Rücken und reiße mich los Pflanzen verwandeln sich in Hände und greifen nach mir wollen mich auf den Grund ziehen ich winde mich doch die Haie kommen immer näher jetzt sind sie so nah ich spüre ihren warmen Fischatem an meinem Hals und ihre Zähne an meiner Haut doch im allerletzten Augenblick kann ich einen vorbeischwimmenden Riesentintenfisch am Arm fassen er bringt mich in Sicherheit und ich tauche wieder auf.
Dad ist neben mir, schnappt nach Luft und schüttelt sich das Wasser aus den Haaren. So kalt war es noch nie sagt er und massiert sich mit rotgefrorenen Händen die Schultern. Wir sehen uns an und grinsen zähneklappernd wegen dieser unglaublichen Explosion von Kälte und Schock. Wie ein Feuerwerk war das gewesen, und ich schicke einen Jubelschrei in den Oktoberhimmel.
Dad hilft mir aus dem Wasser, wir legen uns ans Ufer des Teichs und schauen hoch zum Himmel mit seinen träge dahinziehenden Wolken. Jedes Jahr warten wir gespannt, wer es wohl als Erster nicht mehr aushält. Dieses Jahr ist es Dad, der ins Haus rennt und eine Thermoskanne holt und die trockenen Sachen, die wir an einer Leine über dem Herd vorgewärmt haben. Dann sitzen wir da und schlürfen dampfend heißen Tee, dessen Wölkchen an den letzten Atem des Drachen erinnern, dessen Knochen verborgen in meiner Schatzkiste liegen. Ich ziehe mir dicke Socken an und einen leuchtend blauen Pullover, der Dad gehören muss, denn er reicht mir bis zu den Knien, aber er ist mollig warm, deshalb ist es mir völlig egal. Dad zeigt mir die verschiedenen Arten von Wolken. Altocumulus, Zirrus, Stratus und Altostratus. Ich zeige ihm ganz andere Wolkenformen, nämlich den Allosaurus, der einen Fisch frisst, oder die Kriegerin, die auf einem Pferderücken über den blauen Abgrund galoppiert, um ihr Zuhause vor einem Drachen mit Feuersteinaugen und einem Bauch voll Rauch zu retten. Dann erzähle ich ihm die Geschichte des Jungen mit den Heilsteinen aus blaugrünem Glas und führe uns tief hinein in seine Welt.
Dad hört immer gut zu, wenn ich ihm meine Geschichten erzähle, und diese hier dehne ich immer weiter aus, so lange, bis der Junge mit den Heilkräften und seine Wölfe das Städtchen von einer tödlichen Seuche befreien und die Menschen begreifen, wie gut und freundlich er ist. Da wollen sie ihn wieder zurückhaben, aber er will lieber tief im Wald leben, zusammen mit seinem Rudel heulender Wölfe.
Mit der Zeit fangen wir wieder an zu zittern, und Dad macht Feuer in einem Ring aus Steinen. Dann überlegen wir, was wir noch tun müssen, um den Wald winterfertig zu machen, und Dad notiert alles in seinem weichen grünen Notizbuch.
So beginnen wir jeden Oktober.
Nach dem Frühstück schreiben wir alles, was noch fehlt, auf die Liste. Sie wird sehr sehr sehr lang.
Um Bäume muss man sich kümmern. Man kann sie natürlich auch einfach sich selbst überlassen, dann wachsen sie und recken und strecken sich zu allen Seiten und zum Himmel, aber das tut ihnen überhaupt nicht gut. Manchmal kommt es mir so vor, als wären wir ständig damit beschäftigt, Bäume zu stutzen, zu beschneiden, zu fällen und zu zähmen, damit sie nicht wild durcheinanderwachsen und sich mit ihren ausladenden Ästen gegenseitig erwürgen. Der Wald ist ein Schlachtfeld, und ich bin eine Kriegerin. Schon möglich, dass die Bäume mit ihrem Laub und den kahlen Ästen, die sich zueinander ausstrecken, eine perfekte Krone bilden, aber ich weiß, es gibt unter ihnen einen gnadenlosen Wettbewerb: Wenn sie zu viele werden, dann sterben alle.
Zu breit
zu klein
zu dürr
zu hoch
dann
sterben sie.
Also machen wir uns jeden Oktober daran, den Wald auszudünnen. Wir fällen gerade so viele von ihnen, dass andere Platz haben zu wachsen. Aus den Baumstümpfen kann noch einmal etwas Neues werden. Andere Bäume bringen wir in Form, stützen sie und helfen ihnen dabei, miteinander in diesem Durcheinander zu leben. Manchmal schäme ich mich schrecklich bei dem Gedanken, dass wir so tief in die wilde Natur eingreifen, denn natürlich ist es eigenmächtig, was wir tun, wir benutzen scharfes Metall und dickes Garn, um die Instinkte des Waldes zu zähmen, aber wenn wir es nicht tun, dann ist am Ende gar nichts mehr übrig. Ein Baum, der wieder und wieder und wieder zurückgeschnitten wird, kann ewig leben, und das ist eine Vorstellung, bei der mir der Kopf schwirrt.
Mit der kreischenden Kettensäge, mit der mein Vater hantiert, darf ich nicht umgehen. Jedes Jahr bettele ich aufs Neue, aber er sagt October, October, noch nicht, noch nicht. Mein Vater sagt meinen Namen nie nur einmal, wenn er die Chance hat, ihn zweimal zu sagen, so als wären es Worte aus einem Lied, und so hört es sich auch an, wie aufsteigende Musik.
Aber eine kleine Machete, die darf ich haben, und die ist scharf genug, um Äste und Knochen zu durchtrennen. Ich muss dabei aber ein spezielles Hemd tragen, das furchtbar warm und kratzig ist und das angeblich das Messer daran hindern soll, mit seinen scharfen Zähnen durch mich hindurchzuschneiden wie durch Butter. Ich hab aber noch nie danebengehauen mit der Machete. Kein einziges Mal.
Wir beschneiden und stutzen und stützen und binden, bis ich durch die Baumkronen über uns sehe, wie die Sonne sich langsam höher schiebt. Meine Hände sind voller Splitter, die sich anfühlen, als würden sie unter meinen Fingernägeln zu Bäumen heranwachsen. Dads Hände sind so rau und unempfindlich, da schafft es kein Splitter mehr hinein.
Ich weiß nicht, ob es mit dem Kreislauf des Lebens zu tun hat, dass es erlaubt ist, den Wald am Sterben zu hindern. In das Leben der Bäume eingreifen, das dürfen wir, aber ein Eulenkind mitnehmen, das ist verboten. Wirklich einleuchtend scheint mir das nicht.