Frankenstein - Mary Wollstonecraft Shelley - E-Book

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Mary Wollstonecraft Shelley

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Beschreibung

Vollständige deutsche, überarbeitete und kommentierte Fassung mit Vorwort zu Autorin und Werk Einer der wichtigsten Schauerromane ("Gothic fiction") der Literaturgeschichte. In einem Atemzug zu nennen mit Dracula oder den Werken von H.P. Lovecraft und Edgar Allan Poe. 1818 unter denkwürdigen Umständen von einer blutjungen 20-jährigen geschrieben, erzählt diese Novelle die Geschehnisse um den genialen Viktor Frankenstein, der einen künstlichen Menschen erschafft. Es ist der Kampf des Menschen mit Gottes Werk. Schließlich muss auch Frankensteins faustischer Pakt misslingen. Das Monster entkommt. Weltbekannt durch zahlreiche Verfilmungen; die bekannteste mit Boris Karloff in der Rolle seine Lebens. Gelistet in Harenbergs "Das Buch der 1000 Bücher" Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 340

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Mary Wollstonecraft Shelley

Frankenstein

Oder: Der moderne Prometheus

Mary Wollstonecraft Shelley

Frankenstein

Oder: Der moderne Prometheus

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2020Übersetzung und Fußnoten: Jürgen SchulzeÜbersetzung: Heinz Widtmann EV: Fischer Taschenbuch Verlag, 1908 4. Auflage, ISBN 978-3-954180-23-3

null-papier.de/frankenstein

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Inhaltsverzeichnis

Zum Buch

An­mer­kun­gen

Ein­füh­rung

1. Brief

2. Brief

3. Brief

4. Brief

1. Ka­pi­tel

2. Ka­pi­tel

3. Ka­pi­tel

4. Ka­pi­tel

5. Ka­pi­tel

6. Ka­pi­tel

7. Ka­pi­tel

8. Ka­pi­tel

9. Ka­pi­tel

10. Ka­pi­tel

11. Ka­pi­tel

12. Ka­pi­tel

13. Ka­pi­tel

14. Ka­pi­tel

15. Ka­pi­tel

16. Ka­pi­tel

17. Ka­pi­tel

18. Ka­pi­tel

19. Ka­pi­tel

20. Ka­pi­tel

21. Ka­pi­tel

22. Ka­pi­tel

23. Ka­pi­tel

24. Ka­pi­tel

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Zum Buch

»Fran­ken­stein oder Der mo­der­ne Pro­me­theus« (Ori­gi­nal: »Fran­ken­stein or The Mo­dern Pro­me­theus«) ist ein Ro­man von Mary Shel­ley, der 1818 erst­mals an­onym ver­öf­fent­licht wur­de. Er er­zählt die Ge­schich­te des jun­gen Schwei­zers Vik­tor Fran­ken­stein, der an der da­mals be­rühm­ten Uni­ver­si­tät In­gol­stadt einen künst­li­chen Men­schen er­schafft.

Die Ent­ste­hungs­ge­schich­te des Wer­kes ist nicht min­der span­nend als das Werk selbst. Mary Shel­ley, da­mals noch Mary God­win, schrieb den Ro­man in der Vil­la Dio­da­ti in der Nähe des Gen­fer Sees. Bei Lord By­ron1 und des­sen Leib­arzt John Po­li­do­ri ver­brach­te sie mit ih­rer Stief­schwes­ter Claire Clairmont und ih­rem (zu­künf­ti­gen) Ehe­mann Per­cy Byss­he Shel­ley den Som­mer 1816.

By­ron, der sich selbst als »Eng­lands größ­ten Sün­der« be­zeich­ne­te, war auf der Flucht vor Gläu­bi­gern und Skan­dal­ge­schich­ten in die Schweiz ge­kom­men. Mary God­win leb­te »in Sün­de« mit Per­cy Shel­ley zu­sam­men, der noch mit ei­ner an­de­ren Frau ver­hei­ra­tet war. Es war also eine il­lus­t­re Cli­que von ge­bil­de­ten Frei­geis­tern zu­sam­men.

1816 ging auf­grund des Aus­bruchs des Vul­kans Tam­bo­ra auf Java im Jahr zu­vor als das Jahr ohne Som­mer in die Ge­schich­te ein. We­gen des schlech­ten Wet­ters konn­ten die An­we­sen­den oft das Haus nicht ver­las­sen. So be­schlos­sen sie, je­weils eine Schau­er­ge­schich­te zu schrei­ben und den an­de­ren vor­zu­tra­gen. Die da­mals 20-jäh­ri­ge Mary Shel­ley schrieb die Ge­schich­te von Fran­ken­stein und sei­nem Mons­ter und John Po­li­do­ri ver­fass­te »Der Vam­pyr – eine Vam­pir­ge­schich­te«. Letz­te­res üb­ri­gens lan­ge vor dem Ent­ste­hen von Bram Sto­kers Dra­cu­la.

Mit­te Juni be­gann Mary Shel­ley mit der Ar­beit an der Ge­schich­te in No­vel­len­län­ge. Im Herbst 1816 ent­schloss sie sich, die No­vel­le zum Ro­man aus­zu­bau­en. Per­cy Shel­ley über­nahm das Lek­to­rat.

Das Buch er­schi­en im Ja­nu­ar 1818 – an­onym, was da­mals durch­aus üb­lich war, bot es doch einen ge­wis­sen Schutz vor Straf­ver­fol­gung und Ver­leum­dungs­kla­gen. Erst im Juni 1818 gab sich Mary Shel­ley als Au­to­rin aus, nach­dem man in der Öf­fent­lich­keit ver­mu­te­te, dass nicht sie, son­dern ihr (mitt­ler­wei­le) Ehe­mann Per­cy Shel­ley der Ver­fas­ser sei. Die­se Ver­mu­tung hielt sich noch über et­li­che Jah­re. Al­ler­dings ist man heu­te da­von über­zeugt, dass Mary Shel­ley die tat­säch­li­che und al­lei­ni­ge Ur­he­be­rin war, nicht zu­letzt, weil ihr hand­schrift­li­ches Ma­nu­skript noch zu 90% er­hal­ten ist. Es be­fin­det sich – mit den An­mer­kun­gen von Per­cy Shel­ley – auf­be­wahrt in der Bod­lei­an Li­bra­ry in Ox­ford). Das Buch wur­de zu­nächst nur in ei­ner ge­rin­gen Stück­zahl von 500 Exem­pla­ren ge­druckt, was selbst für den da­ma­li­gen Al­pha­be­ti­sie­rungs­stand in Eng­land sehr we­nig war und mehr als 25 Jah­re lang nicht neu auf­ge­legt. Man kann also nicht von ei­nem so­for­ti­gen Er­folg spre­chen.

Schon früh, ge­nau­er 1823, wur­de das ers­te, auf dem Buch ba­sie­ren­de ein­stün­di­ge Thea­ter­stück »Pre­sump­ti­on; or, The Fate of Fran­ken­stein« urauf­ge­führt. Mary Shel­ley selbst war un­ter den Zuschau­ern. Er­staun­li­cher­wei­se war das Stück selbst sehr viel er­folg­rei­cher als das Buch, die Vor­stel­lun­gen wa­ren fast im­mer aus­ver­kauft. Zur da­ma­li­gen Zeit gab es in Eng­land aber nur ein lücken­haf­tes Ur­he­ber­recht, Ro­ma­ne durf­ten qua­si be­lie­big auf die Büh­ne ge­bracht wer­de, so­dass Mary Shel­ley vom Er­folg des Stückes fi­nan­zi­ell nicht pro­fi­tie­ren konn­te.

Eine zen­tra­le Rol­le in der Ge­schich­te – ne­ben dem al­ten Mo­tiv der künst­li­chen Er­schaf­fung ei­nes Men­schen – ist die auf­kom­men­de Eu­pho­rie über die Er­for­schung der Elek­tri­zi­tät. In da­mals sehr be­lieb­ten Ex­pe­ri­men­ten hat­te man zu­nächst Tier­mus­keln und schließ­lich so­gar Mus­keln und gan­ze Glied­ma­ßen von To­ten durch das An­le­gen ei­ner elek­tri­schen Span­nung zum Zu­cken ge­bracht. Die­se so­ge­nann­ten »Frosch­schen­kel­ex­pe­ri­men­te« weck­ten in wis­sen­schafts­gläu­bi­gen und in­tel­lek­tu­el­len Krei­sen, zu de­nen si­cher­lich auch Mary Shel­ley, ihr Mann und ihr Be­kann­ten­kreis zu zäh­len wa­ren, die Hoff­nung schon bald Le­ben künst­lich er­schaf­fen zu kön­nen.

In In­gol­stadt, ei­nem Hand­lungs­ort, er­in­nert heu­te noch eine nächt­li­che Fran­ken­stein-Stadt­füh­rung (seit 1995) an den be­rühm­ten fik­ti­ven Stu­den­ten. 1800 wur­de die Uni­ver­si­tät nach Lands­hut und 1826 nach Mün­chen ver­legt – die di­rek­te Nach­fol­ge­rin der Uni­ver­si­tät In­gol­stadt ist so­mit die heu­ti­ge Lud­wig-Ma­xi­mi­lians-Uni­ver­si­tät Mün­chen.

Der Ro­man wur­de viel­fach ver­filmt; erst­ma­lig be­reits 1910. Mitt­ler­wei­le ist die Ge­schich­te un­aus­lösch­lich ver­bun­den mit der Dar­stel­lung des Mons­ters durch Bo­ris Kar­loff in Film­ver­si­on von 1931 – auch wenn hier die Um­set­zung in Vie­lem von der li­te­ra­ri­schen Vor­la­ge ab­weicht. Den­noch, wer Frank­stein denkt, hat fast im­mer die Mas­ke des Un­holds vor Au­gen. Erst die Ver­fil­mung von Ken­neth Bra­nagh aus dem Jah­re 1994 mit Ro­bert De Niro als Mons­ter hält sich in sei­ner Um­set­zung am dich­tes­ten an das Buch.

Die Ent­ste­hung des Werks diente dem Re­gis­seur Ken Rus­sell 1986 als Vor­la­ge für sei­nen Film »Go­thic«.

Ge­or­ge By­ron, engl. Schrift­stel­ler und Frei­heits­kämp­fer, † 1824  <<<

Anmerkungen

Die vor­lie­gen­de Fas­sung be­ruht auf ei­ner Über­set­zung von 1908. Der Text wur­de in die neue Deut­sche Recht­schrei­bung mit Wir­kung vom 01.08.2006 über­tra­gen, aber ohne da­bei den Cha­rak­ter und den Ch­ar­me des Ori­gi­nals zu ver­än­dern.

Of­fen­sicht­li­che Feh­ler der Er­st­über­set­zung wur­den still­schwei­gend kor­ri­giert, dazu ge­hö­ren haupt­säch­lich Zei­chen­set­zungs- und Nu­me­rus­feh­ler. Der Tex­te wur­de mit Fuß­no­ten zu geo­gra­fi­schen Da­ten ver­se­hen. Wo not­wen­dig wur­den die Orts­na­men und sons­ti­gen Be­zeich­nun­gen den heu­ti­gen an­ge­passt.

Eben­falls im Null Pa­pier Ver­lag er­schie­nen »Der Vam­pyr (The Vam­py­re)« von John Wil­liam Po­li­do­ri in »Vam­pi­re – Töd­li­che Ver­füh­rer« (www.null-papier.de/vampire) und »Dracula – Vollständige Deutsche Fassung« von Bram Stoker (www.null-papier.de/dracula).

Pro­me­theus (der Vor­aus­den­ken­de, aus dem Grie­chi­schen) ist in der grie­chi­schen My­tho­lo­gie der Freund und Kul­tur­stif­ter der Mensch­heit. Oft wird er auch als Schöp­fer der Men­schen und Tie­re be­zeich­net.

Einführung

Die Her­aus­ge­ber der »Meis­ter­no­vel­len« ha­ben mich vor Ver­öf­fent­li­chung mei­nes »Fran­ken­stein« ge­be­ten, ih­nen ei­ni­ges über des­sen Ent­ste­hung zu be­rich­ten. Ich ent­spre­che die­sem Wun­sche umso lie­ber, als mir da­durch Ge­le­gen­heit ge­bo­ten ist, all­ge­mein die so häu­fig an mich ge­rich­te­te Fra­ge zu be­ant­wor­ten, wie ich als Frau da­zu­käme, einen so ent­setz­li­chen Stoff zu er­den­ken und zu be­ar­bei­ten. Ich stel­le mich ja al­ler­dings nicht gern in den Vor­der­grund; aber da die­se Er­klä­rung mehr oder min­der nur ein An­hang zu mei­nem Wer­ke ist und ich mich nur auf das be­schrän­ken wer­de, was un­be­dingt mit mei­ner Au­tor­schaft zu­sam­men­hängt, kann man mir kaum per­sön­li­che Ei­tel­keit zum Vor­wurf ma­chen.

Es ist mei­nes Erach­tens nichts Au­ßer­or­dent­li­ches, dass ich, als Kind zwei­er li­te­ra­ri­scher Berühmt­hei­ten, ziem­lich früh im Le­ben am Schrei­ben Ge­fal­len fand. Schon als ganz klei­nes Mäd­chen wuss­te ich mir kei­nen bes­se­ren Zeit­ver­treib als das »Ge­schich­ten­schrei­ben«. Bis ich al­ler­dings noch ein schö­ne­res Ver­gnü­gen fand, das Bau­en von Luft­sch­lös­sern, das Ver­sen­ken in Wachträu­me, das Ver­fol­gen von Ge­dan­ken­rei­hen, die sich aus er­fun­de­nen Er­eig­nis­sen er­ga­ben. Mei­ne Träu­me wa­ren auf alle Fäl­le schö­ner und fan­tas­ti­scher als das, was ich nie­der­schrieb. Denn beim Schrei­ben folg­te ich mehr den Spu­ren an­de­rer, als dass ich mei­ne ei­ge­nen Ge­dan­ken wie­der­gab. Ich mach­te mich selbst nie zur Hel­din mei­ner Er­zäh­lun­gen. Denn das Le­ben er­schi­en mir in Be­zug auf mich selbst als nichts Ro­man­ti­sches und ich konn­te mir nicht vor­stel­len, dass au­ßer­ge­wöhn­li­che Lei­den oder merk­wür­di­ge Er­eig­nis­se in mei­nem Da­sein eine Rol­le spie­len soll­ten. Und so konn­te ich in mei­ner Fan­ta­sie Ge­schöp­fe ent­ste­hen las­sen, die mir da­mals weit in­ter­essan­ter wa­ren als mei­ne ei­ge­nen Ge­füh­le.

Dann aber wur­de mein Le­ben er­eig­nis­rei­cher und die Wahr­heit trat an die Stel­le der Dich­tung. Al­ler­dings war mein Mann ängst­lich dar­auf be­dacht, dass ich mei­ner li­te­ra­ri­schen Ab­stam­mung Ehre ma­che und selbst zu ei­ner Berühmt­heit wer­de. Er er­reg­te in mir den Wunsch, einen li­te­ra­ri­schen Ruf zu er­rin­gen; ein Ziel, ge­gen das ich heu­te voll­kom­men gleich­gül­tig ge­wor­den bin.

Im Som­mer 1816 be­reis­ten wir die Schweiz und lie­ßen uns in der Nähe Lord By­rons nie­der. Wir ver­brach­ten mit ihm herr­li­che Stun­den auf dem See oder an des­sen Ufern. Der Ein­zi­ge un­ter uns, der sei­ne Ge­dan­ken schrift­lich nie­der­leg­te, war Lord By­ron. Er hat­te eben den drit­ten Ge­sang sei­nes »Chil­de Ha­rold« in Ar­beit. Die­se Ver­se, die er uns nach und nach zu Ge­hör brach­te, schie­nen uns ein Aus­fluss all der uns um­ge­ben­den Na­tur­schön­heit, ver­klärt durch den Glanz und den Wohl­laut sei­ner Kunst.

Ein feuch­ter, un­freund­li­cher Som­mer fes­sel­te uns viel ans Haus. Da fie­len uns ge­le­gent­lich ei­ni­ge Bän­de deut­scher Ge­s­pens­ter­ge­schich­ten in die Hän­de.

»Wir wol­len alle eine Ge­s­pens­ter­ge­schich­te schrei­ben«, schlug da Lord By­ron vor, und alle stimm­ten wir die­sem Vor­schla­ge bei. Wir wa­ren un­ser drei. Der Ur­he­ber des Ge­dan­kens be­gann eine Ge­schich­te, von der er ein Frag­ment am Schlus­se sei­nes »Ma­zeppa« ver­wen­de­te. Shel­ley, der es bes­ser ver­stand, Ge­dan­ken und Ge­füh­le in die schöns­ten, glän­zends­ten Ver­se zu brin­gen, die un­se­re Spra­che kennt, als eine Ge­schich­te zu er­fin­den, er­zähl­te ein Ju­gen­der­leb­nis.

Ich selbst gab mir Mühe, eine Ge­schich­te zu er­den­ken, die es mit den von uns ge­le­se­nen auf­neh­men kön­ne. Eine Ge­schich­te, die das tiefs­te Ent­set­zen im Le­ser her­vor­ru­fen, das Blut sto­cken und das Herz hef­ti­ger klop­fen las­sen soll­te.

Oft und lan­ge dis­ku­tier­ten Lord By­ron und Shel­ley, wäh­rend ich als be­schei­de­ne aber auf­merk­sa­me Zu­hö­re­rin da­bei saß. Eine der phi­lo­so­phi­schen Haupt­fra­gen, die dis­ku­tiert wur­den, war die nach dem Ur­sprün­ge des Le­bens und ob es je mög­lich sei, ihm auf den Grund zu kom­men. Man be­sprach die Ex­pe­ri­men­te Dar­wins. Es han­delt sich für mich nicht dar­um, dass der Ge­lehr­te die­se Ex­pe­ri­men­te wirk­lich vor­nahm, son­dern um das, was dar­über ge­spro­chen wur­de. Dar­win hat­te in ei­ner Glas­do­se ein Stück­chen Mac­caro­ni auf­be­wahrt, das dann aus ir­gend­wel­chen Ur­sa­chen will­kür­li­che Be­we­gun­gen zu ma­chen schi­en. Je­den­falls glaub­te ich nicht, dass auf die­sem Wege Le­ben er­zeugt wer­den kön­ne. Aber viel­leicht wäre es denk­bar, einen Leich­nam wie­der zu be­le­ben, was ja auf gal­va­ni­schem Wege be­reits ge­sche­hen ist, oder die Be­stand­tei­le ei­nes Le­be­we­sens zu­sam­men­zu­fü­gen und ihm le­ben­di­gen Odem ein­zu­hau­chen.

Un­ter die­sen Ge­sprä­chen wur­de es tie­fe Nacht. Als ich mein Haupt auf die Kis­sen bet­te­te, konn­te ich nicht ein­schla­fen; ein halb schlum­mern­des Nach­sin­nen be­mäch­tig­te sich mei­ner. Fan­tas­ti­sche Bil­der tauch­ten un­ge­be­ten vor mir auf und er­reich­ten einen sel­ten ho­hen Grad von Le­ben­dig­keit. Ich sah mit ge­schlos­se­nen Au­gen den blei­chen Jün­ger der schreck­li­chen Wis­sen­schaft vor dem Din­ge kni­en, das er ge­schaf­fen. Ich sah das schreck­li­che Zerr­bild ei­nes Men­schen aus­ge­streckt da­lie­gen und dann sich plump, ma­schi­nen­mä­ßig re­gen. Furcht­bar müss­te es auf den Men­schen wir­ken, wenn es ihm ge­län­ge, den Schöp­fer in sei­nem wun­der­ba­ren Wir­ken nach­zuah­men. Der Er­folg müss­te den Künst­ler aufs Tiefs­te er­schre­cken, so­dass er ent­setzt der Stät­te sei­ner Ar­beit ent­flieht. Er müss­te hof­fen, dass der schwa­che Le­bens­fun­ke, den er ent­zün­det, sich selbst über­las­sen, wie­der er­lö­sche; dass das Ding, dem er eine Art Le­ben ein­ge­haucht, wie­der in die Ma­te­rie zu­rück­sin­ke; und er müss­te ein­schla­fen in dem Ge­dan­ken, dass das Grab sich wie­der schlös­se über dem häss­li­chen Lei­be, den er als Tri­umph des Le­bens bis­her be­trach­tet hat­te. Er schläft, aber nicht tief; er öff­net plötz­lich die Au­gen – an sei­nem Bet­te steht das Un­ge­heu­er, hält die Vor­hän­ge aus­ein­an­der und starrt auf ihn mit sei­nen gel­ben, wäs­se­ri­gen, aber auf­merk­sa­men Au­gen.

Auch ich öff­ne­te er­schreckt die Li­der. Die Idee hat­te mich der­art ge­fan­gen ge­nom­men, dass es mich eis­kalt über­lief und ich ver­ge­bens mich be­müh­te, das ge­spens­ti­sche Bild mei­ner Fan­ta­sie wie­der mit der Wirk­lich­keit zu ver­tau­schen. Ich er­in­ne­re mich noch heu­te ganz ge­nau an das dunkle Zim­mer mit sei­ner Tä­fe­lung, auf der sich durch die ge­schlos­se­nen Gar­di­nen fahl das Licht des Mon­des spie­gel­te. Ich wuss­te, dass drau­ßen spie­gel­glatt der See lag und die Al­pen ihre Häup­ter starr zum Him­mel er­ho­ben; aber trotz­dem konn­te ich mei­nes Fan­ta­sie­ge­bil­des nicht le­dig wer­den. Ich muss­te ver­su­chen an an­de­res zu den­ken. Da fiel mir mei­ne Ge­s­pens­ter­ge­schich­te ein, mei­ne un­glück­se­li­ge Ge­s­pens­ter­ge­schich­te! Oh könn­te ich doch eine er­fin­den, die mei­ne Le­ser eben­so er­schüt­tern wür­de wie mich das Ge­sicht je­ner Nacht!

Wie ein Licht flamm­te es in mir auf. Ich habe sie! Was mich er­schreck­te, soll auch an­de­re er­schre­cken. Ich habe nur den un­heim­li­chen Halb­traum je­ner Nacht zu be­schrei­ben.

An­fangs dach­te ich dar­an, nur eine kur­ze Er­zäh­lung zu schrei­ben. Aber dann fes­sel­te die Idee mich so stark, dass ich sie wei­ter aus­ge­spon­nen habe. Und nun, du un­heim­li­ches Kind mei­ner Muse, gehe hin­aus und wirb dir Freun­de!

Lon­don, 15. Ok­to­ber 1831. M.W.S.

1. Brief

An Frau Sa­ville, Lon­don

St. Pe­ters­bur­g, den 11. Dez. 17..

Es wird Dir Freu­de be­rei­ten, zu hö­ren, dass kein Miss­ge­schick den An­fang des Un­ter­neh­mens be­trof­fen hat, des­sen Vor­be­rei­tun­gen Du mit solch trü­ben Ah­nun­gen ver­folg­test. Ich bin ges­tern hier an­ge­kom­men, und das Ers­te, was ich tue, ist, mei­ner lie­ben Schwes­ter mit­zu­tei­len, dass ich mich wohl be­fin­de und dass ich mit im­mer wach­sen­den Hoff­nun­gen dem Fort­gang mei­nes Un­ter­neh­mens ent­ge­gen­se­he.

Ich bin ein gu­tes Stück wei­ter nörd­lich als Lon­don, und wenn ich so durch die Stra­ßen Pe­ters­burgs schlen­de­re, pfeift mir ein ei­si­ger Wind um die Wan­gen, der mei­ne Ner­ven er­frischt und mich mit Be­ha­gen er­füllt. Be­greifst Du die­ses Ge­fühl? Die­ser Wind, der aus den Ge­gen­den her­braust, de­nen ich ent­ge­gen­rei­se, gibt mir einen Vor­ge­schmack je­ner fros­ti­gen Kli­ma­te. Die­ser Wind trägt mir auf sei­nen Flü­geln Ver­hei­ßun­gen zu und mei­ne Fan­tasi­en wer­den leb­haf­ter und glü­hen­der. Ich ver­su­che ver­ge­bens, mir klar zu ma­chen, dass der Pol eine Eis­wüs­te sein muss; im­mer stel­le ich ihn mir als eine Stät­te der Schön­heit und des Ent­zückens vor. Dort, Mar­ga­re­te, geht die Son­ne nicht un­ter; ihre mäch­ti­ge Schei­be streift am Ho­ri­zont und ver­brei­tet ein mil­des Licht. Was dür­fen wir er­war­ten von die­sem Lan­de der ewi­gen Son­ne? Vi­el­leicht ent­de­cke ich dort den Sitz je­ner ge­heim­nis­vol­len Kraft, die der Ma­gnet­na­del ihre Rich­tung ver­leiht, und bin im­stan­de, die Un­rich­tig­keit so man­cher astro­no­mi­schen Beo­b­ach­tung und Hy­po­the­se zu be­wei­sen. Mei­ne bren­nen­de Neu­gier­de will ich mit dem An­blick von Län­dern be­frie­di­gen, die nie ei­nes Men­schen Auge noch sah, Erde wer­de ich be­tre­ten, die nie vor­her ei­nes Men­schen Fuß be­trat. All das er­scheint mir so ver­lo­ckend, dass ich Not und Tod nicht fürch­te und die müh­se­li­ge Rei­se mit den freu­di­gen Ge­füh­len ei­nes Kin­des an­tre­ten wer­de, das mit sei­nen Ge­spie­len das ers­te Mal ein Boot be­steigt, um den be­nach­bar­ten Fluss zu be­fah­ren. Und selbst wenn alle mei­ne Ver­mu­tun­gen mich täu­schen soll­ten, wer­de ich we­nigs­tens dar­in ein er­ha­be­nes Ziel fin­den, eine Pas­sa­ge nahe dem Pole zu je­nen Län­dern zu ent­de­cken, de­ren Er­rei­chung heu­te noch Mo­na­te in An­spruch nimmt, oder dem Ge­heim­nis des Ma­gne­tis­mus nä­her zu kom­men, was ja doch nur durch eine Rei­se ge­sche­hen kann, wie ich sie un­ter­neh­men will.

Die­se Be­trach­tun­gen ha­ben die gan­ze Rüh­rung ver­flie­gen las­sen, die sich mei­ner bei Be­ginn die­ses Brie­fes be­mäch­tigt hat­te, und ich glü­he vor him­mel­stür­men­dem En­thu­si­as­mus. Nichts ver­mag der See­le so sehr das Gleich­maß zu ver­lei­hen als eine erns­te Ab­sicht, ein fes­ter Punkt, auf den sich das geis­ti­ge Auge rich­ten kann. Die­se Ex­pe­di­ti­on war schon ein Wunsch mei­ner frü­hen Ju­gend­jah­re. Ich habe mit heißem Kop­fe die man­nig­fa­chen Be­schrei­bun­gen der Rei­sen ge­le­sen, die die Ent­de­ckung ei­ner Pas­sa­ge durch die den Pol um­ge­ben­den Mee­re nach dem nörd­li­chen Tei­le des Stil­len Ozeans bezweck­ten. Du er­in­nerst Dich viel­leicht, dass sol­che Rei­se­be­schrei­bun­gen den Haupt­be­stand­teil der Biblio­thek un­se­res gu­ten On­kels Tho­mas bil­de­ten. Jene Wer­ke wa­ren mein Stu­di­um, dem ich Tage und Näch­te wid­me­te, und je mehr ich mich mit ih­nen be­freun­de­te, de­sto tiefer be­dau­er­te ich es, dass mein Va­ter auf dem Ster­be­bett mei­nem On­kel das Ver­spre­chen ab­ge­nom­men hat­te, mich nicht See­mann wer­den zu las­sen.

Sechs Jah­re sind es nun, dass ich den Plan zu mei­nem jet­zi­gen Un­ter­neh­men fass­te. Ich er­in­ne­re mich noch, als sei es ges­tern ge­we­sen, der Stun­de, in der ich mich der großen Auf­ga­be wid­me­te. Ich be­gann da­mit, mei­nen Kör­per zu stäh­len. Ich nahm an den Fahr­ten meh­re­rer Wal­fisch­fän­ger in die Nord­see teil; ich er­trug frei­wil­lig Käl­te, Hun­ger und Durst und ver­sag­te mir den Schlaf; ich ar­bei­te­te zu­wei­len här­ter als der letz­te Ma­tro­se und wid­me­te dann mei­ne Näch­te dem Stu­di­um der Ma­the­ma­tik, der Me­di­zin und je­nen phy­si­ka­li­schen Dis­zi­pli­nen, von de­nen der See­fah­rer Nut­zen er­war­ten darf. Zwei­mal ließ ich mich als ge­mei­ner Ma­tro­se auf ei­nem Grön­land­fah­rer an­wer­ben und ent­le­dig­te mich er­staun­lich gut mei­ner selbst ge­wähl­ten Auf­ga­be. Ich muss ge­ste­hen, ich emp­fand einen ge­wis­sen Stolz, als mir der Ka­pi­tän die Stel­le ei­nes ers­ten Of­fi­ziers auf sei­nem Schif­fe an­bot und mich al­len Erns­tes be­schwor, zu blei­ben. So hoch hat­te er mei­ne Diens­te schät­zen ge­lernt.

Habe ich es also nicht ver­dient, lie­be Mar­ga­re­te, eine große Auf­ga­be zu er­fül­len? Ich könn­te ein Le­ben voll Reich­tum und Lu­xus füh­ren, aber ich habe den Ruhm den An­nehm­lich­kei­ten vor­ge­zo­gen. O möch­te mir doch eine er­mun­tern­de Stim­me sa­gen, was ich zu er­war­ten habe! Mein Mut ist groß und mein Ent­schluss steht fest; aber mein Selbst­ver­trau­en hat oft ge­gen tiefs­te Ent­mu­ti­gung an­zu­kämp­fen. Ich habe eine lan­ge, schwie­ri­ge Rei­se vor mir, de­ren An­for­de­run­gen mei­ne gan­ze Kraft be­an­spru­chen, und ich soll ja nicht nur mir selbst den Mut er­hal­ten, son­dern auch noch den an­de­rer an­feu­ern.

Ge­gen­wär­tig ha­ben wir die für das Rei­sen in Russ­land vor­teil­haf­tes­te Jah­res­zeit. In Schlit­ten fliegt man pfeil­schnell über den Schnee. Die Käl­te ist nicht läs­tig, wenn man sich ge­nü­gend in Pel­ze gehüllt hat, und das habe ich mir schon an­ge­wöhnt. Denn es ist ein be­deu­ten­der Un­ter­schied, ob Du an Deck spa­zie­ren gehst oder stun­den­lang un­be­weg­lich auf einen Sitz ge­bannt bist, so­dass Dir das Blut tat­säch­lich in den Adern er­starrt. Ich habe ab­so­lut nicht den Wunsch, auf der Post­stra­ße zwi­schen Pe­ters­burg und Archan­gel1 zu er­frie­ren.

Dor­thin will ich in vier­zehn Ta­gen oder drei Wo­chen ab­rei­sen. Ich be­ab­sich­ti­ge, dort ein Schiff zu mie­ten und un­ter den an die Wal­fisch­fän­ge­rei ge­wöhn­ten Leu­ten die nö­ti­ge An­zahl von Ma­tro­sen an­zu­wer­ben. Ich wer­de kaum vor Juni ab­fah­ren kön­nen. Aber wann wer­de ich zu­rück­keh­ren? Wie könn­te ich wohl die­se Fra­ge be­ant­wor­ten, liebs­te Schwes­ter? Wenn ich Er­folg habe, kön­nen vie­le, vie­le Mo­na­te, viel­leicht Jah­re ver­ge­hen, ehe wir uns wie­der­se­hen. Wenn es miss­lingt, se­hen wir uns viel­leicht eher wie­der oder nie mehr.

Leb wohl, Mar­ga­re­te. Der Him­mel schen­ke Dir sei­nen rei­chen Se­gen und schüt­ze mich, dass es mir auch fer­ner­hin ver­gönnt sei, Dir mei­ne Dank­bar­keit für all Dei­ne Lie­be und Güte zu be­wei­sen.

Stets Dein treu­er Bru­der

R. Wal­ton.

Eine an­de­re Be­zeich­nung für die rus­si­sche Stadt Archan­gelsk. Ha­fen­stadt in Nor­druss­land. Archan­gelsk war im 16. Jahr­hun­dert der ers­te rus­si­sche See­ha­fen, über wel­chen Han­del mit Eng­land und an­de­ren west­eu­ro­päi­schen Staa­ten ge­trie­ben wur­de.  <<<

2. Brief

An Frau Sa­ville, Lon­don

Archan­gel, 28. März 17..

Wie lang­sam hier doch die Zeit ver­geht, mit­ten in Eis und Schnee! Der zwei­te Schritt zur Aus­füh­rung mei­nes Pla­nes ist ge­tan. Ich habe ein Schiff ge­mie­tet und bin dar­an, mei­ne Ma­tro­sen zu heu­ern. Die, wel­che ich schon an­ge­wor­ben habe, schei­nen mir Leu­te zu sein, auf die man sich ver­las­sen kann und die un­be­grenz­ten Mut be­sit­zen.

Aber et­was fehlt mir, Mar­ga­re­te, ein Freund. Wenn ich von dem En­thu­si­as­mus mei­ner Er­fol­ge glü­he, dann habe ich kei­nen Men­schen, mit dem ich mei­ne Freu­de tei­len kann; und habe ich Mis­ser­fol­ge, dann ist nie­mand da, der mir zu­spricht und mich wie­der auf­mun­tert. Ich wer­de mei­ne Ge­dan­ken dem Pa­pier an­ver­trau­en, das ist we­nigs­tens et­was; aber im­mer­hin ist es doch ein arm­se­li­ges Mit­tel zur Auf­nah­me un­se­rer Ge­füh­le. Ich be­dürf­te ei­nes Man­nes, ei­ner gleich füh­len­den See­le. Du wirst mich viel­leicht sen­ti­men­tal schel­ten, aber ich kann nichts da­für, ich brau­che einen Freund. Ich habe nie­mand um mich, der, zu­gleich vor­nehm und mu­tig, ge­bil­det und ver­stän­dig, von den­sel­ben Nei­gun­gen wie ich, im­stan­de wäre, mei­nen Plä­nen zu­zu­stim­men oder da­von ab­zu­ra­ten. Welch gu­ten Ein­fluss könn­te ein sol­cher Freund auf Dei­nen ar­men Bru­der ha­ben! Ich bin zu un­über­legt und ver­lie­re bei Schwie­rig­kei­ten zu rasch die Ge­duld.

Was hel­fen aber alle Kla­gen? Auf dem wei­ten Ozean wer­de ich eben­so we­nig einen Freund fin­den wie hier in Archan­gel mit­ten un­ter Kauf­leu­ten und See­fah­rern. Nicht als ob ich sa­gen möch­te, dass die­se rau­en Na­tu­ren ohne jeg­li­ches mensch­li­che Füh­len wä­ren. Mein Leut­nant zum Bei­spiel ist ein Mensch von au­ßer­or­dent­li­chem Mut und un­ver­gleich­li­cher Tat­kraft, ge­ra­de­zu be­gie­rig nach Ruhm. Oder wenn ich mich deut­li­cher aus­drücken muss, be­gie­rig, in sei­nem Be­ruf Her­vor­ra­gen­des zu leis­ten. Er ist Eng­län­der und hat sich mit­ten in sei­nem Be­ru­fe, fern von al­ler Kul­tur, ei­ni­ge fei­ne mensch­li­che Re­gun­gen zu be­wah­ren ge­wusst. Ich lern­te ihn zu­erst an Bord ei­nes Wal­fisch­fän­gers ken­nen. Da er hier in Archan­gel kei­ne ge­eig­ne­te Be­schäf­ti­gung zu ha­ben schi­en, war es mir ein Leich­tes, ihn für mich zu ge­win­nen.

Der Maat ist ein Mann von vor­züg­li­chen An­la­gen und auf dem Schif­fe be­liebt we­gen sei­ner Mil­de und der vor­neh­men Be­hand­lung der Mann­schaft. Die­ser Um­stand, ver­bun­den mit sei­ner un­ta­de­li­gen Ehr­lich­keit und sei­nem rück­sichts­lo­sen Mut, brach­ten mich zu dem Ent­schluss, den Mann an­zu­wer­ben. Mei­ne ein­sam ver­brach­te Ju­gend, der Ein­fluss, den Du in mei­nen spä­te­ren Jah­ren auf mich ge­übt, ha­ben mein Ge­müt der­art ver­fei­nert, dass mir der üb­li­che rohe Ton an Bord ein Gräu­el ist; ich habe ihn von je­her für un­nö­tig ge­hal­ten. Es ist da­her sehr be­greif­lich, dass ich mich der Diens­te ei­nes Man­nes ver­si­cher­te, der zu­gleich we­gen sei­ner Her­zens­gü­te als auch we­gen des großen Ein­flus­ses auf sei­ne Un­ter­ge­be­nen be­kannt war.

Mei­ne Ge­füh­le kann ich Dir nicht be­schrei­ben, die mich be­see­len, jetzt, wo ich so nahe der Er­fül­lung mei­ner Träu­me bin. Es ist un­mög­lich, Dir auch nur an­nä­hernd die Emp­fin­dun­gen zu schil­dern, die alle mei­ne Rei­se­vor­be­rei­tun­gen be­glei­ten. Ich bin im Be­griff, un­er­forsch­te Land­stri­che zu be­tre­ten, die Hei­mat des Ne­bels und des Schnees; aber ich wer­de nicht nach Al­ba­tros­sen ja­gen, des­halb sei um mei­ne Si­cher­heit nicht be­sorgt.

Wer­de ich Dich erst wie­der­se­hen, wenn ich nach lan­ger Fahrt durch un­ge­heu­re Ozean­wei­ten ein­mal an der Süd­spit­ze von Afri­ka oder Ame­ri­ka her­aus­kom­me? Sol­che Er­fol­ge darf ich ja gar nicht er­war­ten; aber ich brin­ge es jetzt nicht über das Herz, die Kehr­sei­te der Me­dail­le zu be­trach­ten. Schrei­be mir je­den­falls so oft, als es Dir mög­lich ist, viel­leicht er­rei­chen mich Dei­ne Brie­fe ge­ra­de dann, wenn ich ih­rer am not­wen­digs­ten be­darf. Ich habe Dich herz­lich lieb. Den­ke auch Du mei­ner in Lie­be, wenn es sich tref­fen soll­te, dass wir uns nim­mer se­hen. Stets Dein ge­treu­er Bru­der

Ro­bert Wal­ton.

3. Brief

Frau Sa­ville, Lon­don

7. Juli 17..

Lie­be Schwes­ter! Ich schrei­be Dir in al­ler Eile, um Dich wis­sen zu las­sen, dass ich wohl­auf bin und dass ich schon ein Stück mei­ner Rei­se hin­ter mir habe. Die­sen Brief wird ein Kauf­mann von Archan­gel aus nach Eng­land mit­brin­gen. Der Glück­li­che! Er kann wie­der Hei­mat­luft at­men, was mir viel­leicht auf Jah­re hin­aus nicht ver­gönnt sein wird. Trotz­dem bin ich bes­ter Lau­ne. Mei­ne Leu­te sind kühn und of­fen­bar zu al­lem wil­lig; auch die schwim­men­den Eis­ber­ge, die un­auf­hör­lich an uns vor­bei­zie­hen und uns die Ge­fah­ren vor­au­sah­nen las­sen, de­nen wir ent­ge­gen­ge­hen, schei­nen ih­nen kei­ne Sor­ge ein­zu­flö­ßen. Wir ha­ben schon eine hohe nörd­li­che Brei­te er­reicht, aber es ist Hoch­som­mer, und wenn es auch nicht ganz so warm ist wie in Eng­land, so tra­gen uns doch die Süd­win­de, in­dem sie uns dem heiß er­sehn­ten Zie­le nä­her­brin­gen, eine wohl­tu­en­de Wär­me zu, wie ich sie nicht er­war­tet hät­te.

Bis­her hat sich noch nichts er­eig­net, was der Mit­tei­lung wert wäre. Ein oder zwei­mal eine stei­fe Bri­se und ein­mal ein klei­nes Leck, das sind Zu­fäl­le, de­ren ein er­fah­re­ner See­mann kaum Er­wäh­nung tut, und ich will recht zu­frie­den sein, wenn uns auf der gan­zen Rei­se nichts Un­an­ge­neh­me­res pas­siert.

Lebe Wohl, teu­re Mar­ga­re­te. Sei über­zeugt, dass ich um Dei­net- wie um mei­net­wil­len mich nicht all­zu kühn der Ge­fahr aus­set­zen wer­de. Ich will kalt­blü­tig, über­legt und ver­nünf­tig sein.

Aber der Er­folg muss mein Werk krö­nen. Wa­rum auch nicht? So weit bin ich nun ge­kom­men über die pfad­lo­se See; nur die Ster­ne am Him­mel sind Zeu­gen mei­nes Sie­ges. Wa­rum soll ich nicht noch wei­ter fort­schrei­ten auf dem un­ge­zähm­ten, aber doch zähm­ba­ren Ele­ment? Was wäre im­stan­de, sich auf die Dau­er dem mu­ti­gen, wil­lens­star­ken Man­ne ent­ge­gen­zu­stel­len?

Mein Herz ist zu voll, als dass es nicht über­lau­fen soll­te. Aber ich muss schlie­ßen. Gott sei mit Dir, lie­be Schwes­ter!

Ro­bert Wal­ton.

4. Brief

An Frau Sa­ville, Lon­don

5. Au­gust 17..

Et­was sehr Merk­wür­di­ges hat sich er­eig­net und ich muss es Dir be­rich­ten, wenn ich auch wahr­schein­lich eher bei Dir bin, als die­se Zei­len Dich er­rei­chen.

Letz­ten Mon­tag (31. Juli) wa­ren wir fast ganz von Eis ein­ge­schlos­sen, so­dass das Schiff kaum mehr den zum Vor­wärts­kom­men nö­ti­gen Platz hat­te. Un­se­re Lage war ei­ni­ger­ma­ßen ge­fähr­lich, be­son­ders des­we­gen, weil ein dich­ter Ne­bel uns ein­hüll­te. Wir dreh­ten des­halb bei, in der Hoff­nung, dass die Wit­te­rung end­lich an­ders wer­de.

Ge­gen zwei Uhr lich­te­te sich der Ne­bel und wir er­blick­ten, wo­hin wir sa­hen, wei­te, fast un­er­mess­lich schei­nen­de Eis­flä­chen. Ei­ni­ge mei­ner Leu­te wur­den un­ru­hig und auch mich be­schli­chen trü­be, ängst­li­che Ge­dan­ken, als plötz­lich et­was Selt­sa­mes un­se­re Auf­merk­sam­keit auf sich zog und uns un­se­re ge­fähr­li­che Si­tua­ti­on ver­ges­sen ließ. Wir be­merk­ten einen nied­ri­gen Wa­gen, der auf Schlit­ten­ku­fen be­fes­tigt war, von Hun­den ge­zo­gen wur­de und sich in ei­ner Ent­fer­nung von etwa ei­ner hal­b­en Mei­le nord­wärts be­weg­te. Im Schlit­ten saß eine Ge­stalt, die ei­nem Men­schen, aber ei­nem sol­chen von au­ßer­ge­wöhn­li­cher Grö­ße glich und die Tie­re lenk­te. Wir ver­folg­ten mit un­se­ren Fern­roh­ren den Rei­sen­den, der blitz­schnell da­hin­flog und bald durch Une­ben­hei­ten des Ei­ses un­se­ren Bli­cken ent­zo­gen wur­de.

Die­se Er­schei­nung er­reg­te be­greif­li­cher­wei­se un­se­re Neu­gier­de in ho­hem Maße. Wir hat­ten ge­glaubt, uns Hun­der­te von Mei­len vom fes­ten Lan­de ent­fernt zu be­fin­den, die­se Er­schei­nung aber schi­en uns das Ge­gen­teil zu be­wei­sen. Da wir vom Eis völ­lig ein­ge­schlos­sen wa­ren, war es uns un­mög­lich, die Spu­ren des rät­sel­haf­ten We­sens zu ver­fol­gen.

Etwa zwei Stun­den da­nach hör­ten wir die Grund­dü­nung, und ehe es Nacht wur­de, lös­te sich das Eis und das Schiff wur­de frei. Trotz­dem aber blie­ben wir bis zum Mor­gen lie­gen, da wir fürch­ten muss­ten, in der Dun­kel­heit mit den trei­ben­den Eis­mas­sen zu­sam­men­zu­sto­ßen. Ich be­nütz­te die­se Zeit, um mich et­was aus­zu­ru­hen.

Als es Tag wur­de, ging ich an Deck und fand alle Ma­tro­sen auf ei­ner Sei­te des Schif­fes ste­hen, sich mit je­mand un­ter­hal­tend, der schein­bar un­ten auf dem Was­ser war. Es war in der Tat ein Schlit­ten, ähn­lich dem, den wir ges­tern ge­se­hen hat­ten; er war in der Nacht auf ei­nem schwim­men­den Stück Eis zu uns her­an­ge­trie­ben wor­den. Nur ein Hund war noch vor­ge­spannt, und im Schlit­ten saß ein Mensch, den die Ma­tro­sen ver­an­las­sen woll­ten, an Bord zu kom­men. Er war nicht, wie uns der Frem­de von ges­tern ge­schie­nen hat­te, ein wil­der Ein­ge­bo­re­ner ir­gend­ei­nes un­ent­deck­ten Ei­lan­des, son­dern ein Eu­ro­pä­er. Als ich an Deck kam, sag­te der Maat: »Da kommt un­ser Ka­pi­tän, der wird nicht zu­ge­ben, dass Sie auf of­fe­ner See zu­grun­de ge­hen.«

Der Frem­de ge­wahr­te mich und sprach mich dann eng­lisch, al­ler­dings mit et­was ei­gen­tüm­li­chem Dia­lekt, an. »Ehe ich an Bord Ihres Schif­fes gehe«, sag­te er, »bit­te ich Sie mir zu sa­gen, wo­hin Sie zu fah­ren ge­den­ken.«

Du wirst be­grei­fen, dass ich mo­men­tan sehr er­staunt war, die­se Fra­ge von ei­nem Men­schen zu hö­ren, der eben knapp dem Un­ter­gang ent­ron­nen zu sein schi­en und von dem man an­neh­men muss­te, dass ihm mein Schiff ein Zuf­luchts­ort sei, den er nicht ge­gen alle Reich­tü­mer der Erde mehr ver­tauscht ha­ben wür­de. Ich er­klär­te ihm, dass ich mich mit mei­nem Schif­fe auf ei­ner Ent­de­ckungs­rei­se nach dem Nord­pol be­fän­de.

Dies schi­en ihn zu­frie­den­zu­stel­len und er nahm mei­ne Ein­la­dung an. Gro­ßer Gott! Mar­ga­re­te, wenn Du den Mann ge­se­hen hät­test, der sich nur so schwer ret­ten ließ, Dein Er­stau­nen hät­te kei­ne Gren­zen ge­habt. Sei­ne Glie­der wa­ren fast völ­lig er­fro­ren und sein Leib war förm­lich ge­bro­chen von Mü­dig­keit und Krank­heit. Ich habe noch nie einen Men­schen in ei­ner so kläg­li­chen Ver­fas­sung ge­se­hen. Wir ver­such­ten ihn in die Ka­jü­te zu tra­gen, aber kaum hat­ten wir ihn un­ter Deck, da wur­de er schon ohn­mäch­tig. Wir brach­ten ihn also wie­der an Deck zu­rück und such­ten durch Rei­ben mit Brannt­wein und Ein­flö­ßen von klei­nen Schlu­cken ihn ins Le­ben zu­rück­zu­ru­fen. Als er Le­bens­zei­chen von sich zu ge­ben be­gann, wi­ckel­ten wir ihn in Lei­nen­tü­cher und leg­ten ihn in der Nähe des Kü­che­nofens nie­der. All­mäh­lich er­hol­te er sich und aß ein paar Löf­fel Sup­pe, die ihm sehr wohl ta­ten.

Zwei Tage ver­gin­gen, ehe es ihm mög­lich war zu spre­chen, und mir kam es zu­wei­len vor, als hät­ten ihm all die Lei­den den Ver­stand ge­raubt. Als er ei­ni­ger­ma­ßen her­ge­stellt war, ließ ich ihn in mei­ne Ka­jü­te brin­gen und pfleg­te ihn, so weit es sich mit mei­nen Pf­lich­ten ver­ein­ba­ren ließ. Ich habe nie in mei­nem Le­ben einen in­ter­essan­te­ren Men­schen ken­nen­ge­lernt. Sei­ne Au­gen ha­ben meist den Aus­druck der Wild­heit, ich möch­te fast sa­gen des Irr­sin­nes; aber in man­chen Mo­men­ten, be­son­ders wenn ihm je­mand et­was Lie­bes er­weist oder ihm einen, wenn auch noch so klei­nen Dienst leis­tet, leuch­tet sein gan­zes We­sen auf und wird durch­strahlt von ei­nem Schim­mer von Lie­bens­wür­dig­keit und Freund­lich­keit, wie man ihn sel­ten fin­det. Sonst ist er aber me­lan­cho­lisch und ver­zwei­felt und knirscht zu­wei­len mit den Zäh­nen, als kön­ne er das Über­maß der Qua­len, die er lei­det, nim­mer tra­gen.

Als mein Gast ei­ni­ger­ma­ßen wie­der ge­sund war, hat­te ich große Mühe, mei­ne Leu­te zu ver­hin­dern, dass sie ihn mit al­len mög­li­chen Fra­gen be­läs­tig­ten. Ich konn­te es doch nicht ge­stat­ten, dass durch ihre mü­ßi­ge Neu­gier­de die geis­ti­ge und kör­per­li­che Ge­ne­sung des Frem­den, die of­fen­bar nur durch un­ge­stör­tes­te Ruhe be­wirkt wer­den konn­te, auf­ge­hal­ten wer­den soll­te. Ein­mal je­doch ge­lang es mei­nem Leut­nant den­noch, die Fra­ge an ihn zu rich­ten, wo er denn in sei­nem selt­sa­men Ve­hi­kel so weit über das Eis her­käme.

Ein Schat­ten tiefs­ter Be­trüb­nis husch­te über sein Ge­sicht, dann sag­te er: »Um einen zu su­chen, der mich floh.«

»Und reis­te der Mann, den Sie such­ten, in der­sel­ben Wei­se, wie Sie?«

»Ja.«

»Dann, glau­be ich, ha­ben wir ihn ge­se­hen. Denn am Tage, ehe wir Sie fan­den, sa­hen wir einen Mann auf ei­nem von Hun­den ge­zo­ge­nen Schlit­ten über das Eis hin­weg­fah­ren.«

Dies er­reg­te die Auf­merk­sam­keit des Frem­den und er stell­te eine Rei­he drin­gen­der Fra­gen, die sich dar­auf be­zo­gen, wel­che Rich­tung der Dä­mon – so nann­te er den an­de­ren – ge­nom­men habe. Als er kurz nach­her mit mir al­lein war, sag­te er: »Ich habe ohne Zwei­fel Ihre Neu­gier­de er­regt, eben­so wie die die­ser gu­ten Leu­te, aber Sie selbst sind ja zu rück­sichts­voll, um mich aus­zu­fra­gen.«

»Ge­wiss; ich wür­de es für auf­dring­lich und un­mensch­lich hal­ten, Sie mit ir­gend­wel­chen Fra­gen zu be­läs­ti­gen.«

»Und das, trotz­dem Sie mich aus ei­ner selt­sa­men, ver­zwei­fel­ten Si­tua­ti­on ge­ret­tet und mich zum Le­ben zu­rück­ge­bracht ha­ben!«

Ei­ni­ge Zeit da­nach frag­te er mich, ob ich glau­be, dass der Eis­gang den Schlit­ten des »An­de­ren« zer­stört habe. Ich ant­wor­te­te ihm, dass ich hier­über mit Be­stimmt­heit nichts aus­sa­gen kön­ne, denn der Eis­gang habe erst ge­gen Mit­ter­nacht ein­ge­setzt und der Rei­sen­de kön­ne bis da­hin recht wohl sich in Si­cher­heit ge­bracht ha­ben.

Seit die­ser Aus­kunft schi­en neu­er Le­bens­mut den ge­brech­li­chen Kör­per des Frem­den zu durch­strö­men. Er woll­te ab­so­lut an Deck blei­ben, um nach dem Schlit­ten aus­zu­spä­hen, von dem wir ihm ge­spro­chen hat­ten. Aber ich habe ihn über­re­det, sich in der Ka­bi­ne auf­zu­hal­ten, da er für die raue Tem­pe­ra­tur da oben doch noch nicht stark ge­nug sei. Ich habe ihm aber ver­spro­chen, dass je­mand an sei­ner Stel­le Aus­schau hal­ten und ihn so­fort be­nach­rich­ti­gen wer­de, wenn sich ir­gen­det­was se­hen las­sen soll­te.

Bis zum heu­ti­gen Tage habe ich Dir nun al­les über das selt­sa­me Er­eig­nis be­rich­tet. Der Frem­de scheint sich nach und nach zu kräf­ti­gen, aber er ist still und in sich ge­kehrt und ist är­ger­lich, wenn ein an­de­rer als ich sei­ne Ka­jü­te be­tritt. Aber er ist trotz­dem so freund­lich und lie­bens­wür­dig, dass die Ma­tro­sen ihn alle gern ha­ben, wenn sie auch nur sehr we­nig mit ihm in Berüh­rung kom­men. Ich aber ge­win­ne ihn all­mäh­lich lieb wie einen Bru­der und sein stän­di­ger, tiefer Gram flö­ßt mir tie­fes Mit­leid mit ihm ein. Er muss in sei­nen gu­ten Ta­gen ein präch­ti­ger Mensch ge­we­sen sein, er, der noch als Wrack so an­zie­hend und lie­bens­wert ist.

Ich habe schon ein­mal in ei­nem mei­ner Brie­fe ge­sagt, lie­be Mar­ga­re­te, dass es mir wohl nicht ver­gönnt sein wer­de, auf dem wei­ten Ozean einen Freund zu fin­den. Aber ich habe we­nigs­tens einen Mann ken­nen­ge­lernt, der mir wirk­lich, wäre sein Geist nicht so tief ver­stört, ein Her­zens­freund hät­te wer­den kön­nen.

Ich wer­de Dir von Zeit zu Zeit von dem Frem­den be­rich­ten, vor­aus­ge­setzt, dass es et­was zu be­rich­ten gibt.

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13. Au­gust 17..

Mei­ne Zu­nei­gung zu dem un­glück­li­chen Gas­te wächst von Tag zu Tag. Ich be­wun­de­re und be­mit­lei­de ihn zu­gleich. Wie wäre es mög­lich, ein so ed­les Ge­schöpf von Gram ver­zehrt zu se­hen, ohne selbst den tiefs­ten Schmerz mit­zu­emp­fin­den? Er ist so gut und da­bei klug, auch ist er au­ßer­or­dent­lich ge­bil­det und spricht wohl­ge­setzt und ge­wandt.

Er hat sich jetzt von sei­ner Krank­heit ziem­lich er­holt und hält sich un­aus­ge­setzt auf Deck auf, of­fen­bar um den Schlit­ten nicht zu über­se­hen, auf den er im­mer noch war­tet. Er ist un­glück­lich, aber in all sei­nem Elend hat er doch im­mer noch In­ter­es­se für die Plä­ne der an­de­ren. Er hat viel mit mir über den Mei­ni­gen ge­spro­chen, den ich ihm rück­halt­los dar­ge­legt habe. Auf­merk­sam folg­te er al­lem, was ich im Sin­ne ei­nes glück­li­chen Aus­gan­ges mei­nes Un­ter­neh­mens vor­zu­brin­gen wuss­te, und ver­tief­te sich mit mir bis in die De­tails der Maß­nah­men, die ich ge­trof­fen. Er hat­te mir so viel Sym­pa­thie ein­ge­flö­ßt, dass ich of­fen mit ihm re­den muss­te. Ich ließ ihn in mei­ne lei­den­schaft­li­che See­le bli­cken und sag­te ihm auch, dass ich gern mein gan­zes Ver­mö­gen, mei­ne Exis­tenz, mei­ne Zu­kunft aufs Spiel set­ze, um mein Un­ter­neh­men zu ei­nem gu­ten Aus­gan­ge zu füh­ren. Le­ben oder Tod ei­nes Man­nes sei­en ja gar nichts im Ver­gleich zu dem, was der Wis­sen­schaft durch mein Un­ter­neh­men genützt wer­de. Wäh­rend ich sprach, über­zog eine dunkle Glut das Ant­litz mei­nes Zu­hö­rers. Ich be­merk­te, dass er an­fäng­lich sich be­müh­te, sei­ne Be­we­gung zu meis­tern. Er hielt die Hän­de vor das Ge­sicht, und mei­ne Stim­me beb­te und stock­te, als ich sah, dass Trä­nen zwi­schen sei­nen Fin­gern nie­der­ran­nen, als ich hör­te, wie ein we­hes Stöh­nen sich sei­ner Brust ent­rang. Ich hielt inne, da sag­te er mit ge­bro­che­ner Stim­me: »Un­glück­li­cher! Hat Sie der­sel­be Wahn­sinn er­fasst wie mich? Ha­ben auch Sie von dem Gif­te ge­trun­ken? Hö­ren Sie mich an, las­sen Sie mich mei­ne Ge­schich­te be­rich­ten und Sie wer­den den Be­cher mit dem un­heil­vol­len Trank von Ihren Lip­pen weg­sto­ßen.«

Du kannst Dir den­ken, dass die­se Wor­te mei­ne gan­ze Neu­gier er­reg­ten. Aber das Über­maß des Schmer­zes hat­te die schwa­chen Kräf­te des Frem­den über­mannt und es be­durf­te vie­ler Stun­den der Ruhe und sanf­ter Über­re­dung, um ihn wie­der ins Gleich­ge­wicht zu brin­gen.

Nach­dem er sei­ner hef­ti­gen Ge­füh­le Meis­ter ge­wor­den war, schäm­te er sich, dass sei­ne Lei­den­schaft ihn so über­wäl­tigt hat­te. Er un­ter­drück­te mit Ge­walt sei­ne Verzweif­lung und ver­an­lass­te mich, über mich selbst zu spre­chen. Er frag­te nach mei­ner Kind­heit. Die­se war rasch er­zählt, aber den­noch gab sie ver­schie­de­ne An­knüp­fungs­punk­te. Ich sprach von mei­nem Wun­sche, einen Freund zu fin­den, von mei­ner Sehn­sucht nach ei­ner gleich ge­stimm­ten See­le, die ich nie mein ei­gen nen­nen durf­te, und gab mei­ner Über­zeu­gung Aus­druck, dass nie­mand wah­res Glück ge­nos­sen habe, der sich nicht ech­ter Freund­schaft rüh­men kön­ne.

»Ich bin ganz Ih­rer An­sicht«, ent­geg­ne­te der Frem­de. »Wir sind nur hal­be Ge­schöp­fe, wenn uns nicht ein Wei­se­rer, Bes­se­rer – und das muss ja ein Freund sein – zur Sei­te steht, um un­se­re schwa­che, feh­ler­haf­te Na­tur zu ver­bes­sern. Ich hat­te ein­mal einen Freund, den edels­ten Men­schen, den man sich den­ken kann, und habe des­halb ein ge­wis­ses Recht mit­zu­spre­chen, wenn von Freund­schaft die Rede ist. Sie sind noch vol­ler Hoff­nung und ha­ben die Welt vor sich und des­halb kei­nen Grund zu ver­zwei­feln. Aber ich – ich habe al­les ver­lo­ren und kei­nen Mut mehr, von vorn an­zu­fan­gen.«

Als er das sag­te, nahm sein Ge­sicht einen gram­vollen Aus­druck an, der mir bis ins Herz hin­ein weht­at. Aber er sprach nicht wei­ter und zog sich in sei­ne Ka­jü­te zu­rück.

Trotz sei­nes Lei­des hegt er eine tie­fe, in­ni­ge Lie­be zur Na­tur. Der ster­nen­be­sä­te Him­mel, das Meer und alle Wun­der die­ser herr­li­chen Re­gio­nen schie­nen er­he­bend auf sei­ne See­le zu wir­ken. Ein sol­cher Mensch hat ei­gent­lich eine dop­pel­te Exis­tenz: Er mag lei­den und sich grä­men, aber wenn er sich in sich selbst zu­rück­zieht, dann ist er wie ein himm­li­scher Geist, den ein Hei­li­gen­schein um­gibt, den Leid und Schmerz nicht zu ver­dun­keln ver­mö­gen.

Lächle nur über den En­thu­si­as­mus, mit dem ich von die­sem präch­ti­gen Men­schen er­zäh­le. Wenn Du ihn kenn­test, wür­dest Du nicht lä­cheln. Ich weiß, Dei­ne fei­ne Er­zie­hung und die Zu­rück­ge­zo­gen­heit Dei­nes Le­bens ha­ben Dich wäh­le­risch ge­macht; aber ge­ra­de das wür­de Dich be­son­ders ge­eig­net ma­chen, das Au­ßer­or­dent­li­che an die­sem Men­schen zu er­ken­nen und zu schät­zen. Ich habe mich schon öf­ter be­müht, mir klar zu wer­den, was es ist, das ihn so him­mel­hoch über alle an­de­ren Men­schen er­hebt. Ich glau­be, vor al­lem ist es sein mehr als na­tür­li­cher Scharf­sinn, eine nie feh­len­de Ur­teils­kraft, eine Er­kennt­nis der Ur­sa­chen al­ler Din­ge. Stel­le Dir nun noch vor, dass er die Gabe be­sitzt, sich glän­zend, da­bei klar und prä­zis aus­zu­drücken und dass sei­ne Stim­me eine au­ßer­ge­wöhn­li­che Mo­du­la­ti­ons­fä­hig­keit hat, so wirst Du be­grei­fen, dass die­ser Mann im­stan­de ist, je­mand zu be­stri­cken.

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19. Au­gust 17..

Ges­tern sag­te der Frem­de zu mir: »Sie ha­ben si­cher­lich er­kannt, Ka­pi­tän Wal­ton, dass mich großes, un­sag­ba­res Leid be­trof­fen hat. Ich hat­te schon be­schlos­sen, dass die Erin­ne­rung dar­an mit mir ins Grab stei­gen sol­le; aber Sie ha­ben mich so weit ge­bracht, dass ich mei­nem Ent­schluss un­treu ge­wor­den bin. Sie su­chen, wie ich einst, nach Wis­sen und Weis­heit und ich wün­sche Ih­nen von gan­zem Her­zen, dass die­ses Stre­ben Ih­nen nicht, wie mir, zum fürch­ter­lichs­ten Fluch wer­de. Ich weiß nicht, ob Ih­nen die Er­zäh­lung mei­ner Lei­den von Nut­zen sein wird; wenn ich aber be­den­ke, dass Sie den­sel­ben Weg ge­hen wie ich, sich den­sel­ben Ge­fah­ren aus­set­zen, die mich zu dem mach­ten, was ich jetzt bin, so kommt mir die Über­zeu­gung, dass Sie aus mei­ner Er­zäh­lung doch eine Moral zu zie­hen ver­mö­gen; eine Moral für den Fall, dass Sie Er­folg mit Ihren Be­stre­bun­gen ha­ben, wie auch für den Fall, dass Sie ent­täuscht wer­den. Be­rei­ten Sie sich dar­auf vor Din­ge zu hö­ren, die Sie als un­glaub­lich be­zeich­nen möch­ten. Wä­ren wir in kul­ti­vier­te­ren Zo­nen der Erde, ich wür­de mich be­sin­nen zu er­zäh­len, weil ich fürch­ten müss­te, dass Sie mir nicht glau­ben oder mich gar ver­la­chen könn­ten; aber in die­sen wil­den, ge­heim­nis­vol­len Re­gio­nen wird Ih­nen man­ches mög­lich er­schei­nen, was sol­che, die mit den im­mer wech­seln­den Kräf­ten der Na­tur nicht ver­traut sind, zum Spot­te rei­zen wür­de.« – Du kannst Dir den­ken, dass ich dank­bar und er­freut das An­ge­bot an­nahm, wenn ich mir auch sa­gen muss­te, dass durch die Er­zäh­lung sein Leid wie­der le­ben­di­ger, die Wun­den nur wie­der auf­ge­ris­sen wür­den. Ich war un­ge­heu­er ge­spannt auf das, was ich hö­ren soll­te, teils aus wirk­li­cher Neu­gier­de, teil­wei­se aber auch, weil ich hoff­te, viel­leicht da­durch einen Fin­ger­zeig zu be­kom­men, wie ich, wenn es über­haupt mög­lich wäre, ihm hel­fen könn­te.

»Ich dan­ke Ih­nen«, sag­te er, »für Ihre Teil­nah­me, aber sie ist un­nütz; mein Schick­sal ist na­he­zu er­füllt. Ich war­te nur ei­nes ab; wenn dies ein­trifft, wer­de ich zur Ruhe ge­hen. Ich ver­ste­he Ihre Ge­füh­le«, fuhr er fort, nach­dem ich ver­ge­bens ver­sucht hat­te, ihn zu un­ter­bre­chen, »aber Sie sind im Irr­tum, mein Freund – wenn ich mir er­lau­ben darf, Sie so zu nen­nen – wenn Sie mei­nen, ir­gen­det­was wäre im­stan­de, mein Ge­schick zu än­dern. Hö­ren Sie erst mei­ne Ge­schich­te und Sie wer­den ver­ste­hen, wie un­ab­än­der­lich es fest­steht.«

Er sag­te mir noch, dass er am nächs­ten Tage mit sei­ner Er­zäh­lung be­gin­nen wol­le, wenn es mei­ne Zeit er­lau­be. Die­ses Ver­spre­chen ver­pflich­te­te mich zu auf­rich­ti­gem Dan­ke. Ich habe be­schlos­sen, im­mer nachts, wenn mich nicht ge­ra­de mein Dienst ab­hält, mög­lichst wört­lich al­les nie­der­zu­schrei­ben, was ich am Tage er­fah­ren ha­ben wer­de. Zum Min­des­ten aber wer­de ich mir kur­ze No­ti­zen ma­chen. Die­se Auf­zeich­nun­gen wer­den Dir si­cher in­ter­essant sein, und mit wel­cher Teil­nah­me wer­de erst ich, der ich doch al­les von sei­nen ei­ge­nen Lip­pen höre, in spä­te­ren Zei­ten die Zei­len le­sen. Wäh­rend ich dar­an den­ke, wie ich mei­ner Auf­ga­be ge­recht wer­den soll, tönt in mei­nen Ohren noch sei­ne vol­le, me­lo­di­sche Stim­me; ich sehe sei­ne war­men, me­lan­cho­li­schen Au­gen auf mir ru­hen, sei­ne fei­nen, schma­len Hän­de sich leb­haft be­we­gen, wäh­rend sich in den Zü­gen sei­nes Ant­lit­zes sei­ne See­le wi­der­spie­gelt. Selt­sam und schreck­lich muss sei­ne Ge­schich­te, furcht­bar der Sturm ge­we­sen sein, der das schö­ne Le­bens­schiff zer­brach.

1. Kapitel

Ich bin in Genf ge­bo­ren. Mei­ne Fa­mi­lie ist eine der vor­nehms­ten die­ser Stadt. Mein Va­ter war an­ge­se­hen bei al­len, die ihn kann­ten, we­gen sei­ner un­be­stech­li­chen Recht­schaf­fen­heit und der un­er­müd­li­chen Hin­ga­be an sei­ne Pf­lich­ten. In jün­ge­ren Jah­ren schon hat­te er im Diens­te sei­ner Va­ter­stadt ge­stan­den und ver­schie­de­ne Um­stän­de hat­ten es mit sich ge­bracht, dass er lan­ge nicht zur Grün­dung ei­nes ei­ge­nen Her­des ge­kom­men war. Erst spä­ter hat­te er ge­hei­ra­tet, als er die Mit­tags­hö­he des Le­bens schon über­schrit­ten.

Da die Vor­ge­schich­te sei­ner Ehe für sei­nen gan­zen Cha­rak­ter be­zeich­nend ist, kann ich nicht um­hin, ih­rer Er­wäh­nung zu tun. Ei­ner sei­ner in­tims­ten Freun­de war ein Kauf­mann, der in­fol­ge miss­güns­ti­ger Schick­sa­le von der Höhe des Glückes her­ab in die tiefs­te Ar­mut ge­riet. Die­ser Mann, er hieß Beau­fort, war stolz und un­beug­sam und konn­te es nicht er­tra­gen, jetzt an der glei­chen Stät­te arm und ver­ges­sen zu le­ben, wo man ihn einst we­gen sei­nes Reich­tums und sei­nes glän­zen­den Auf­tre­tens be­son­ders ge­ehrt hat­te. Er zahl­te als ehr­li­cher Mann noch sei­ne Schul­den und zog sich dann mit sei­ner Toch­ter nach Lu­zern zu­rück, wo er un­er­kannt und arm­se­lig sein Le­ben fris­te­te. Mein Va­ter war ihm in auf­rich­ti­ger Freund­schaft zu­ge­tan und fühl­te tie­fes Er­bar­men mit dem un­glück­li­chen Man­ne. Auch be­dau­er­te er sehr den falschen Stolz, der den Freund hin­der­te, sei­ne Hil­fe an­zu­neh­men; hat­te er doch ge­hofft, ihm mit sei­nem Rat und sei­nem Kre­dit wie­der auf die Bei­ne hel­fen zu kön­nen.