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Das Verbrechen schlägt zu – sie schlägt zurück! In einer männerdominierten Welt muss sie sich Tag für Tag durchschlagen: Kriminalkommissarin Katharina Sismann hat eine beeindruckende Erfolgsquote vorzuweisen – vielen ihrer Kollegen ist das ein Dorn im Auge. Aber auch privat lebt Kata am Anschlag: Zahllose Affären und die Stimmungsschwankungen nach einer Kopfverletzung machen sie einsam. Gleichzeitig aber auch hungrig nach Erfolg und Anerkennung. Der Fall, der alles verändert ... Als eine mondäne und schwerreiche Schriftstellerin brutal ermordet wird, beginnt für Kata der Fall ihres Lebens – ein Fall, der alles, woran sie bislang geglaubt hat, tief erschüttern wird … »Frau Faust« ist das Debüt der Kölner Journalistin Antje Zimmermann über eine Kommissarin, die geschlagen, aber nicht besiegt ist.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
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Cover & Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Köln, im Juni 2018
Pia Seiler trat vor die Tür. Zog die frische Sommerluft ein und freute sich über den milden Abend. Die Straßen der Stadt waren wie ausgestorben. Kein Mensch war zu sehen. Kaum ein Laut zu hören. Die Atmosphäre hätte beängstigend sein können, wenn sie nicht den Grund gekannt hätte: Es war Fußball-WM. Deutschland spielte gegen, o weh, sie hatte ganz vergessen, wer der Gegner war. Aber eigentlich war es ihr auch völlig egal. Sie würde jetzt laufen gehen. Den ganzen Stress der letzten Wochen bei einer langen Joggingrunde abschütteln.
Sie lief durch den kleinen Park, überquerte die Autobahnbrücke und war nach wenigen Minuten bereits im Wald. Eine Frau kam ihr entgegen, ihren altersschwachen Dackel hinter sich herziehend. Vögel gaben ihr Abendkonzert. Wasser spritzte auf, als eine Entengruppe auf dem spiegelglatten See landete. Pia fühlte sich so wohl wie lange nicht mehr. Die ganzen Überstunden und nervenden Kollegen – mit jedem Schritt fiel etwas von der Belastung der letzten Wochen von ihr ab. Nirgendwo sah sie einen anderen Menschen. Dafür hörte sie den Wind durch die Blätter rauschen. Sie lief und lief. Fiel in einen steten Rhythmus. Ihre Gedanken kamen zur Ruhe. Und ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln.
Was für ein schöner Sommerabend, sagte sie leise zu sich selbst. Ein strahlend weißes Schwanenpaar setzte zum Landeanflug an. Um die beiden besser bewundern zu können, drehte sie sich um und lief ein paar Meter rückwärts. Da sah sie ihn. Einen Mann. Ganz in Schwarz. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Mit gesenktem Kopf sprintete er auf sie zu. Pia erschrak so heftig, dass sie über ihre eigenen Füße stolperte. In letzter Sekunde fing sie sich. Und lief wieder vorwärts. So schnell sie konnte. Trotzdem hörte sie bereits die Schritte des Mannes hinter sich. Sie klangen wie Trommelfeuer auf dem Kies. Wurden lauter und lauter. Mit letzter Kraft beschleunigte sie noch einmal. Doch da spürte sie schon seinen Atem in ihrem Nacken. Er sprang sie an. Sein Gewicht drückte sie zu Boden. Sie schlug um sich. Schrie mit aller Kraft. Und wusste doch, dass es vergeblich war.
Was für ein Scheiß. So funktioniert das nicht. Alba Oster hieb auf die Tastatur ihres Computers. Verdammt. Das ist doch total abgedroschen. Man spürt ihre Angst nicht richtig. Und ist es überhaupt glaubhaft, dass niemand im Wald ist? Dass wirklich alle Fußball gucken? Wenn es nicht gelingt, den Leser von der ersten Seite an zu fesseln, wird er das Buch weglegen. Das wusste jeder blutige Anfänger. Der verdammte Einstieg in den Roman. Heute sollte sie ihren in der Schreibwerkstatt von Clarissa Moor vorstellen. Alba konnte es immer noch nicht glauben, dass es ihr tatsächlich gelungen war, einen der begehrten Plätze zu ergattern. Dass die berühmte Bestsellerautorin Clarissa Moor sie für ihren kostenlosen Kurs ausgewählt hatte, ausgerechnet sie. Aber natürlich hatte alles seinen Preis, das war ihr mittlerweile klar. Im Leben gab es nichts umsonst. Nicht grübeln, ermahnte sie sich. Das ist eine einmalige Chance. Nutze sie! Und vielleicht war der Anfang ja doch nicht so schlecht. Sie griff hastig zum Telefon.
»Darf ich dir etwas vorlesen? Bitte.«
Sie war so aufgeregt, dass sie sich verhaspelte. Mit angehaltenem Atem wartete sie auf die Antwort des Mannes, der ihr schon so viele wertvolle Tipps gegeben hatte.
»Nicht schlecht«, kam es schließlich vom anderen Ende der Leitung.
»Meinst du wirklich? Ich bin mir nicht sicher.«
»Doch, das ist ein solider Einstieg. Damit kannst du arbeiten.«
»Danke, vielen Dank. Ich bin dir so dankbar!«
Alba wollte noch mehr sagen, doch die Verbindung war bereits unterbrochen.
Eilig packte sie ihren Rucksack, trat in den dunklen Flur vor ihrem Appartement und ging durch den endlos langen Gang zu den Fahrstühlen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sich die Lifttüren quietschend vor ihr öffneten und sie die sechsunddreißig Stockwerke nach unten fahren konnte. Wie viele Kölner Studenten lebte Alba im Uni-Center, einem der größten Wohnhäuser Europas. Die kleinen Appartements waren bezahlbar und die Universität nur einen Katzensprung entfernt. Vor der Tür des Hochhauses schwang sie sich auf ihr altersschwaches Hollandrad. Zwanzig Minuten später kam sie völlig außer Atem in Ehrenfeld an und schloss ihr Rad an einer Laterne ab. Vis-à-vis von Albas Fahrradparkplatz lag das Gelände einer historischen Seifenfabrik. Neben dem wuchtigen Backsteingebäude ragte ein Schornstein in den Himmel. Silbrig schimmernde Olivenbäumchen in quadratischen Holzkübeln waren über den gesamten Hof verteilt. Doch Alba hatte keinen Blick für die Schönheit des Ortes; sie strebte eilig zum Eingang. Direkt darüber prangte ein großer neonfarbener Schriftzug an der backsteinfarbenen Häuserwand: Schöner Schein. In dem ehemaligen Fabrikgebäude war heute ein Restaurant untergebracht. Ein Nobelrestaurant, das Clarissa Moor gehörte.
»Das einzige Sternerestaurant weltweit, das zugleich Tafel ist«, hatte die Erfolgsautorin mehr als einmal im Kurs behauptet: Was am Tage übrig blieb, landete auf den Tellern der Obdachlosen, für die es einen Extraraum auf der Rückseite der Fabrik gab. Promis kamen vorbei. Die Presse lobte das innovative Konzept, und eine Zeitung sprach sogar vom »Hof der Sonnenkönigin«.
Alba drückte gegen die massive Restauranttür und stellte fest, dass sie noch verschlossen war. Mist.
Sie wandte sich um und umrundete den Fabrikkomplex. Die Rückseite mochte sie nicht so gerne wie die aufgehübschte Vorderfront mit ihrem Urlaubsambiente. Hinten war es dunkel. Es roch nach Bratöl und Essensresten. Große Mülltonnen standen dicht gedrängt. Und oft lungerten hier irgendwelche Gestalten herum. Schnell und mit durchgestrecktem Rücken strebte sie zur Hintertür. Links vor ihr raschelte es. Ängstlich blickte sie in die Richtung. Dort lehnte ein Obdachloser an der Wand. Vermutlich einer der Tafelgäste. Sie sah genauer hin und erschrak. War das Blut? Ein großer roter Fleck prangte mitten auf dem verwaschenen Pulli des Mannes. Alba wusste nicht, was sie machen sollte. Weglaufen? Hilfe rufen? Vielleicht war schon jemand im Schönen Schein. Ihre Augen wanderten unschlüssig hin und her, während sie versuchte, eine Entscheidung zu treffen. Ein Klappern ließ sie auf den Boden blicken. Eine Flasche Rotwein rollte langsam über den Asphalt. Bei jeder Umdrehung schwappte etwas von der purpurnen Flüssigkeit heraus. Alba atmete erleichtert auf. Offensichtlich hatte der Mann sich nur bekleckert. Sie schaute ihn genauer an. Eigentlich vermied sie es, Menschen wie ihm ins Gesicht zu sehen. So viel Schmerz, Wut und Trauer waren für sie schwer zu ertragen. Von den fehlenden Zähnen und offenen Wunden ganz abgesehen. Aber als angehende Schriftstellerin musste sie sich den Dingen stellen. Und so furchtbar sah der Mann gar nicht aus. Ein bisschen verstört, vielleicht. Er starrte sie an, als ob er irgendetwas sagen wollte. Sein Mund klappte auf und zu, wie bei einem Fisch. Alba glaubte, ein Wort zu verstehen, aber es ergab überhaupt keinen Sinn. Deshalb eilte sie weiter zur Hintertür und gab den Code ein, den alle Teilnehmer zu Kursbeginn von Clarissa Moor bekommen hatten.
Das Portal sprang auf. Sofort roch es frisch und würzig. Alba folgte dem Duft und ging durch die hellen Flure zum Restaurant. Zu Dutzenden hingen dort Kräuter in dicken Bündeln von der fünf Meter hohen Decke. Daneben schwebten überdimensionale Lampen, die an Ufos erinnerten. Tische und Stühle standen überall bunt gemischt. Dazwischen Schaufensterpuppen. Sie trugen gewagte Klamotten. Hier blitzte eine Pobacke, dort eine Brust auf. In einer Ecke des Restaurants stand ein knallroter Trabi, die Türen einladend geöffnet. Alba ging die Stahltreppe hoch, die zu den Rängen führte. Gewöhnlichen Gästen war das verboten, und Alba liebte es, zum kleinen Kreis der Zutrittsberechtigten zu gehören. Denn dort oben befand sich der Seminarraum.
Alba legte die Hand auf die Klinke und wollte die Tür öffnen. Doch sie ging nicht auf. Sie drückte etwas kräftiger und sah eine rote Flüssigkeit auf dem Boden. Offensichtlich war hier die nächste Rotweinflasche umgefallen. Gestern waren ein paar Kursteilnehmer länger geblieben und hatten offenbar geglaubt, im Suff kreativer zu sein. Idioten, dachte Alba. Sie stemmte sich mit aller Kraft gegen die Tür, um den Spalt zu vergrößern. So schaffte sie es, ihren kleinen, gedrungenen Körper in den Raum zu schieben. Dann hörte sie einen schrillen Schrei, der nicht enden wollte. Sie brauchte etliche Sekunden, um zu begreifen, dass sie es war, die schrie. Und noch ein wenig länger, bis sie erkannte, wessen Gesicht die breiige, blutige Masse einmal gewesen war.
19 Tage vorher
Klack. Knapp daneben. Kata probierte es erneut. Und dieses Mal gelang es ihr, die Wohnungstür aufzuschließen. Ihre Hand tastete nach dem Lichtschalter und fand ihn schließlich. Kunstlicht flutete das Einzimmerappartement. Von keiner Wand gebremst, beleuchtete es das spärliche Mobiliar. Das Bett war immer noch so zerwühlt, wie Kata es am Morgen verlassen hatte. Sie schob den jungen Mann, den sie vor einer Stunde kennengelernt hatte, in Richtung des Bettes und ließ dabei ihre Hand zu seinem Po wandern. Ihre Finger schlossen sich um die linke Backe und drückten kräftig zu.
»Au«, klagte der Mann.
Hoffentlich ist der in der Horizontalen weniger empfindlich, schoss es Kata durch den Kopf.
»Willst du was trinken?« Kata ging zum Kühlschrank der offenen Einbauküche, die sich an der rechten Seite des Raumes befand, und holte die Eisbox heraus. Mit einem leisen Klirren landeten zwei Eiswürfel in einem Glas, das noch vom gestrigen Abend auf der Anrichte stand. Kata griff zu einer bauchigen Flasche. »Springbank Whisky 18 Years« stand auf dem Etikett. Sie schenkte sich gut zwei Fingerbreit ein und beobachtete, wie die goldene Flüssigkeit über die eisigen Würfel floss.
»Also, was ist?« Kata schwenkte die Flasche in Richtung ihres Besuchs.
»Whisky? Nee, mag ich nicht.«
O Gott, dachte Kata. Sie lehnte mit dem Rücken an der Küchentheke, ließ die Flüssigkeit im Glas kreisen und genehmigte sich einen kräftigen Schluck. Der torfige Duft stieg ihr in die Nase und erinnerte sie an Kintyre, die Heimat der Springbank-Destillerie. Überall auf der schottischen Halbinsel flirrte die Luft vom »Angels Share«. Was während der Whiskylagerung in den Eichenfässern verdunstet, gehört den Engeln, das hatten ihr die Schotten erzählt. »Angels Share« – Kata fand die Anekdote wunderbar poetisch. Ihr Schottlandbesuch war fünf oder sechs Jahre her, Kata wusste nicht mehr, wie lang genau, wohl aber, dass es ihr letzter Urlaub war. Seither verbrachte sie ihre freien Wochen in deutschen Kurorten.
Sie musste laut aufgelacht haben, denn der Typ schaute sie fragend an.
»Alles okay?«, fragte er.
»Alles bestens. Dann wollen wir mal. Zieh dich aus.«
Der Mann fummelte an seiner Gürtelschnalle herum und schaffte es schließlich, sie zu öffnen. Nachdem er auch den Knopf gemeistert hatte, schob er die Jeanshose langsam nach unten. Da hat wohl jemand zu oft Magic Mike gesehen, dachte Kata. Und von der Kunstfertigkeit der männlichen Stripper doch nichts gelernt. Dann zog ihr Besuch langsam das weiße T-Shirt über den Kopf. Eine wohlgeformte, für ihren Geschmack zu stark behaarte Männerbrust kam zum Vorschein. Ein Piercing schmückte die linke Brustwarze. Kata schüttelte es. Tattoos fand sie bereits grenzwertig und mochte sie nur an besonders attraktiven Menschen – deren Körper den Anschein erweckten, auch noch mit fünfzig oder sechzig der geeignete Ort für derlei Kunstwerke zu sein. Piercings mochte sie grundsätzlich nicht. An niemandem. Der Typ hatte es mittlerweile geschafft, sich ganz auszuziehen. Leicht schwankend stand er vor Kata. Der erigierte Penis hatte eine stattliche Größe, aber eine extreme Linkskrümmung, sodass die Eichel in Richtung des Bettes zeigte. Kata blickte in die Richtung, in die der Schwanz wies, und nahm einen weiteren Schluck. Der Whisky rann ihre Kehle herab und wärmte sie. Wohingegen sie der Anblick des nackten Mannes völlig kaltließ.
»Jetzt du!«, forderte der sie auf.
Kata ging langsam in die Knie und sah, wie sich der Typ die Lippen leckte. Er rieb seinen Schwanz und machte einen Schritt auf sie zu. Kata hatte mit ihrer linken Hand mittlerweile das weiße T-Shirt vom Boden gefischt und warf es dem Mann zu.
»Zieh dich wieder an.«
Innerhalb von Sekunden wechselte sein Gesichtsausdruck: von Geilheit zu Unglauben und schließlich zu Wut. Der Mund wurde zu einem schmalen Strich, und er biss die Zähne so fest zusammen, dass sich seine Kiefermuskeln deutlich abzeichneten.
»Du hast sie ja nicht alle«, stieß er schließlich hervor.
»Da magst du recht haben. Aber ich denke, es ist das Beste, wenn du jetzt gehst.«
Mit ihrem rechten Fuß kickte Kata die Jeanshose in Richtung des Mannes. Doch statt sie aufzuheben, ging er auf Kata los.
»Das wirst du bereuen, du miese Schlampe.«
Er war Kata jetzt so nah, dass sie spürte, wie etwas von seiner Spucke auf ihrer Wange landete. Der Mann versuchte, Katas Kopf zu fassen. Doch er griff ins Leere. Kata war abgetaucht und zur Seite ausgewichen. Wütend holte der Mann zum Schlag aus. Mit einem lauten Knall landete seine Faust auf der Front der Einbauküche. Wieder und wieder holte er aus. Doch keiner seiner Schläge fand sein Ziel. Kata stellte ihr Glas vorsichtig auf die Anrichte und ließ dann ihre linke Faust vorschnellen. Sie traf mitten ins Gesicht des Mannes. Blut spritzte aus seiner Nase und in alle Richtungen. Wie in Zeitlupe knickten seine Beine ein, und er fiel auf die Knie. Sein erschlaffender Penis wackelte dabei von links nach rechts. Ein Röcheln kam aus der Kehle des Mannes. Tränen rannen über sein Gesicht, vermischten sich dabei mit Blut und Rotz.
»Ich habe es dir ja gesagt: Du solltest jetzt gehen.«
Schwerfällig kam der Mann wieder auf die Beine. Schweigend sammelte er seine Kleidungsstücke auf und torkelte zur Tür hinaus. Kata fischte einen Eiswürfel aus ihrem Glas, kühlte die Knöchel ihrer linken Hand und wusch ihre schwarzen, kinnlangen Haare im Spülbecken aus. Sicherlich war etwas von dem Blut des Mannes darin hängen geblieben. Dann griff sie zu einem Küchenlappen. Mit ihm wischte sie über das Regal neben der Küchenzeile. Sorgfältig reinigte sie die Bretter und die glänzenden Gegenstände, die darinstanden. Einen nach dem anderen hob Kata die Sachen an und inspizierte sie von allen Seiten. Als sie sicher war, dass sie sauber waren, wandte sie sich der großen goldenen Schärpe zu, die an der Wand hinter den Pokalen lehnte. »Deutsche Meisterin im Weltergewicht 2008« – es war zwar kein einziger Blutspritzer zu sehen, aber Kata wischte liebevoll über den eingravierten Schriftzug.
Ggrrrr. Alba Oster blickte sich irritiert um, konnte aber nirgendwo einen Hund entdecken. Als sie im Haus kein Geräusch hörte, klingelte sie erneut: Ggrrrrr, machte es wieder. Offenbar war das wütende Knurren der Klingelton. Es klang nach einem großen, extrem aggressiven Hund. Alba war einen Moment verunsichert.
»Sie hat mich eingeladen«, sagte sie dann laut, um sich selbst zu beruhigen. Die Finger ihrer rechten Hand wühlten in ihrer Umhängetasche nach dem Schreiben. Endlich fand sie den Umschlag und zog ihn heraus. Sie hielt sich den Brief vors Gesicht. Wieder und wieder hatte sie ihn gelesen, im ersten Gefühlsüberschwang sogar geküsst. Auf dem teuren weißen Papier waren kleine Fettflecken von Albas Lippen zurückgeblieben. Sie legte ihr Ohr gegen die Tür, konnte aber immer noch kein Geräusch hinter der massiven Stahltür hören. Ob sie sich im Tag vertan hatte?
Hektisch faltete Alba das Schreiben auseinander. Verglich zum wiederholten Mal die Angaben mit der Datumsanzeige ihres Handys. Alles stimmte: Sie war zur rechten Zeit am rechten Ort – endlich am Ziel ihrer Träume. Na ja, nicht ganz, korrigierte sie sich selbst. Aber sie war auf der Zielgeraden. Und hier durfte sie auf keinen Fall mehr straucheln.
Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und klingelte ein drittes Mal. Endlich schwang die Tür auf. Vor Aufregung ließ Alba Oster den Brief fallen. Bückte sich so ungeschickt, dass ihr die Tasche von der Schulter rutschte und der Inhalt sich über den Eingang verteilte. Alba fühlte, wie sie errötete. Ich krieg die Krise, verdammt noch mal. Laut sagte sie in Richtung der Beine vor ihr:
»Bitte entschuldigen Sie, ich, es tut mir so leid. Ich bin ein solcher Tollpatsch.«
Alba blickte besorgt nach oben. Statt des erwarteten Frauengesichts, das ihr bis ins kleinste Detail vertraut war, schaute ein attraktiver junger Mann auf sie herab. Er war groß, bestimmt einen Meter fünfundachtzig. Hielt sich kerzengerade, und unter seinem engen T-Shirt zeichnete sich ein trainierter Körper ab. Seine Haare waren militärisch kurz geschnitten: Das helle Blond harmonierte perfekt mit dem klaren Blau seiner Augen. Der fleischgewordene Nazitraum, schoss es Alba durch den Kopf. Sofort schämte sie sich für den Gedanken und wurde noch eine Spur röter. Mittlerweile war sie wieder auf die Beine gekommen und stand unschlüssig vor dem Schönling.
»Ich bin Alba. Ich …«
»Ich weiß, wer Sie sind«, unterbrach sie der junge Mann.
»Geben Sie mir Ihre Tasche, bevor Sie Ihren Kram noch über das ganze Haus verteilen.«
Auffordernd streckte er Alba seine große Hand entgegen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm die Tasche auszuhändigen. Dann folgte sie ihm durchs Haus. Bodentiefe Fenster umgaben den riesigen Wohn-Essbereich. Mit den hohen Decken und unverputzten Betonwänden erinnerte der Raum Alba an ein Museum, das sie vor Jahren mit ihren Eltern besucht hatte. Damals hatten in der Ausstellung nur vereinzelte Exponate gestanden, und genauso waren die Möbel in dem lichtdurchfluteten Wohnzimmer angeordnet: als Hingucker, weniger als Gebrauchsgegenstände. Einen schwarzen, organisch geschwungenen Sessel mit passendem Fußhocker hatte Alba schon einmal in Schöner Wohnen gesehen. Und sich damals gefragt, wer wohl achttausendfünfhundert Euro für einen Sessel ausgeben konnte?
Jetzt wusste sie es: Clarissa Moor. Die zweite Charlotte Link, wie sie in den Medien immer wieder genannt wurde. Die schon seit Jahren erfolgreichste Krimiautorin Deutschlands. Die Eigentümerin der Villa, durch die Alba gerade ging.
Der Schönling hatte Alba am Arm gefasst. Fast schmerzhaft schlossen sich seine Finger um ihren Oberarm. Sie traute sich nicht, gegen das respektlose Verhalten aufzubegehren. Denn der Nazitraum stellte sich gerade als Clarissa Moors Assistent vor.
»Ich bin Carl Vian.« Er betonte seinen Namen überdeutlich. Und erwartete offensichtlich, dass Alba ihn sich merkte.
»Ich bin Clarissas rechte Hand und«, hier stockte er einen Moment und sagte dann noch eine Spur lauter: »… der Co-Autor ihres neuen Buches.«
»Vor allem bist du ein Schwätzer«, klang es vom anderen Ende des Raumes zu ihnen hinüber. Clarissa Moor kam mit ausgestreckter Hand auf Alba zu. Mit Genugtuung sah Alba, dass jetzt der Schönling errötete. Ein tiefes Rot überzog sein ganzes Gesicht.
»Da sind Sie ja endlich. Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Ihr Exposé hat mir besonders gut gefallen. So sehr, dass ich mich spontan entschlossen habe, Sie vor dem offiziellen Kursbeginn einzuladen. Nur Sie.«
Ihre Stimme füllte den großen Raum. Clarissa Moor war es gewohnt, vor vielen Menschen zu sprechen. Und sie alle in ihren Bann zu ziehen. Alba starrte die bewunderte Schriftstellerin an. Sie brachte keinen zusammenhängenden Satz zustande, dafür aber ein Lächeln, in dem sich Hoffnung und Dankbarkeit vermischten. Wenn ich doch nur wie sie wäre. So talentiert, so selbstbewusst, so erfolgreich.
Clarissa Moor hatte ihren Arm um Alba gelegt und führte sie auf die Terrasse des Hauses. Ein bestimmt zwanzig Meter langer Pool lag neben der Terrasse. Sein Wasser glitzerte im Sonnenlicht. Alba verlor sich für einen Augenblick im Anblick des intensiv schimmernden Blaus. An den Seiten des Beckens standen körpergeformte Liegen unter cremefarbenen Sonnenschirmen. Zu ihnen dirigierte Clarissa Moor ihren Besuch.
»Lassen Sie uns doch hier draußen ein bisschen plaudern. Ich bin gespannt, mehr über Ihre Ideen zu erfahren. Der Austausch mit jungen Talenten ist immer ein Vergnügen. Ich fühle mich dann an meine Anfangszeit erinnert – vor, o mein Gott, es sind tatsächlich bald zwanzig Jahre. Eine Ewigkeit in diesem Haifischbecken.«
Clarissa stöhnte auf und ließ sich theatralisch in eine der Liegen fallen. Dabei schwang ihr Kleid auf, und ihre Beine kamen zum Vorschein. Alba ertappte sich dabei, wie sie sie anstarrte. Ihre Form und Farbe bewunderte. Unwillkürlich fuhr sie mit ihrer Hand über ihren Oberarm. Die Stelle, die Carl Vian umklammert hatte, war immer noch rot. Und bildete einen unschönen Kontrast zu ihrem milchigen Hautton. Clarissa Moors Haut war hingegen karamellfarben. Dabei fest und glatt. Wie alt sie wohl ist? Alba hatte sich das schon oft gefragt. Aber Clarissa Moors genaues Alter war ein Geheimnis und fand sich nirgendwo. Sie hatte eben gesagt, dass sie seit zwanzig Jahren schrieb. Wenn sie damit keine kindlichen Schreibversuche meinte, müsste sie also auf die vierzig zugehen.
»Ich bin es leid, dass Frauen, und nur Frauen, ausschließlich über ihr Alter und ihr Äußeres definiert werden. Nicht über ihr Talent. Ihren Intellekt. Ihren Erfolg. Ihre Bildung. Ihr soziales Engagement – sondern ausschließlich über ihr knackiges Hinterteil und ihre faltenfreie Visage.«
Während sie der Erfolgsautorin gebannt lauschte, erinnerte sich Alba an die vielen Talkshow-Auftritte von Clarissa Moor. Regelmäßig ließ sie dabei die zumeist männlichen Moderatoren alt aussehen.
»Carl, bring uns mal zwei Aperol Spritz«, orderte sie in diesem Moment. Der Assistent war hinter ihnen hergetrottet. Stand ein wenig verloren in der Terrassentür und blickte so unglücklich drein, dass Alba sich für ihre Schadenfreude fast schämte. Aber nur fast.
Ein leichter Wind kam auf. Spielte mit den seidigen Haaren der Bestsellerautorin und ließ die Blätter einiger Zeitschriften, die neben ihrer Liege lagen, tanzen. Alba blickte auf den Blätterwirbel zu ihren Füßen. Das sind ja alles Klatschblätter, dachte Alba. Sie hatte erwartet, dass Clarissa Moor anspruchsvolle Sachen las und nicht einen solchen Schund. Einen Moment war sie so irritiert, dass sie nicht mitbekam, was die Autorin zu ihr sagte. Dann kam ihr eine Eingebung. Clarissa Moor recherchierte für einen neuen Roman. Das musste die Erklärung sein. Alba lächelte erleichtert und hörte wieder aufmerksam zu.
»Ich habe das Gefühl, dass wir uns prächtig verstehen werden.«
Clarissa Moor lächelte Alba über das orange schimmernde Glas, das der Assistent gerade gebracht hatte, an, und Alba konnte nur nicken. Selbst in ihren kühnsten Träumen hatte sie sich einen solchen Gesprächsverlauf nicht ausgemalt. Clarissa Moor sah in ihr, der von so vielen Übersehenen, eine Seelenverwandte. Alba verschluckte sich fast am Aperol, während sie gebannt an Clarissas Lippen hing.
»Wie bist du – wir duzen uns, nicht wahr – darauf gekommen, die Morde im Lehrerkollegium anzusiedeln? Ich finde es ganz wunderbar, wie du hier den biederen Schulalltag mit sexuellen Ausschweifungen verknüpfst. Ich hatte einmal einen ganz ähnlichen Plot entwickelt. Die Idee dann aber wieder fallen lassen. Nur an den Charakteren müssen wir noch arbeiten. Insbesondere Pia Seiler, deine Protagonistin: Die ist unscharf, stellenweise sogar unglaubwürdig. Aber damit starten wir ja im Kurs: Wie erschaffe ich glaubwürdige Figuren.«
Es folgten weitere Erklärungen zum Krimiseminar, das die Erfolgsautorin ab morgen für Alba und neun weitere Nachwuchsautoren geben würde. Nach einer Stunde, die Alba in einen rauschartigen Zustand versetzt hatte, verabschiedete die Bestsellerautorin ihren Gast.
»Ich muss jetzt ein bisschen was für meine Fitness tun«, sagte Clarissa Moor und deutete in Richtung des glitzernden Pools. Unter der Oberfläche waren kreisrunde Strahler angebracht, die für das hypnotische Blau des Wassers sorgten, wie Alba erst jetzt bemerkte. Clarissa Moor stand auf und streifte mit einer lässigen Bewegung die Träger ihres Kleides herunter. Ein gehäkelter Badeanzug kam zum Vorschein. Lediglich eine dünne Perlenkette hielt ihn über der Brust zusammen. Das Ding enthüllt ja viel mehr, als es verdeckt, dachte Alba. Sie starrte auf den Frauenkörper und schwor sich, es der bewunderten Schriftstellerin nachzutun: Sie würde künftig Sport machen. Regelmäßig trainieren und dann vielleicht eines Tages auch so aussehen.
»Jetzt hätte ich es doch beinahe vergessen«, unterbrach Clarissa Moor Albas Tagträume. »Ich möchte dir noch etwas geben.«
Barfuß, die fast nackten Hüften wiegend, ging die Erfolgsautorin ins Wohnzimmer und kam wenig später mit einem Buch zurück.
»Wie man die beste Spannungsliteratur schreibt«, las Alba auf dem abgegriffenen beigefarbenen Titel.
»Das hat mir in meinen Anfangstagen enorm geholfen. Hier sind überall Notizen von mir drin. So kannst du gleich sehen, welche Ratschläge gut und richtig sind. Und welche du vernachlässigen kannst.«
Während Alba noch versuchte, die richtigen Worte zu finden, sprang Clarissa Moor bereits kopfüber ins Wasser. Alba hatte zuvor nicht einmal geahnt, dass es derart hollywoodreife Pools in Köln gab. Vor dem heutigen Tag hatte sie den Hahnwald, das Kölner Villenviertel, auch noch nie betreten. Ob Clarissa mich eines Tages einlädt, mit ihr zu schwimmen? Alba konnte ihren Blick kaum abwenden. Und so dauerte es einen Moment, bis sie merkte, dass der nervige Assistent neben ihr stand.
Carl Vian wollte wieder nach ihrem Arm greifen, doch dieses Mal ließ Alba ihn damit nicht durchkommen. Clarissa Moors Wertschätzung hatte ihr neuen Mut gegeben. Im sicheren Abstand zu dem Assistenten ging sie zur Tür. Dort angekommen, hörte sie, dass der junge Mann ihr etwas zuraunte, konnte ihn aber nicht richtig verstehen.
»Entschuldigen Sie? Was haben Sie gesagt?«
»Ich sagte, dass du dir nichts einbilden sollst. Solche Landeier wie dich habe ich hier schon zu Dutzenden gesehen. Mit euren billigen Schuhen und großen Träumen. Erst gestern war eine Maja Meier hier, die in deinem Kurs ist. Die hat auch geglaubt, dass sie etwas Besonderes ist. Für ein paar Tage oder Wochen seid ihr vielleicht für Clarissa interessant. Aber von all ihren Schülern ist nur einer dauerhaft geblieben: ich!«
Alba starrte den Schönling fassungslos an.
»Guten Morgen, Frau Sismann. Wie geht es Ihnen?«
Kata brummte etwas, das mit viel Fantasie als »gut« durchgehen konnte. Sie setzte sich in den Stuhl, der vis-à-vis vom Schreibtisch des Mannes stand, der ihr diese Frage stellte. Stoisch starrte sie auf ihre schwarzen Lederboots, die bereits bessere Zeiten gesehen hatten. Rechts vorne an der Kappe entdeckte sie einen Fleck, der vorher noch nicht da gewesen war. Womöglich ein Blutspritzer? Der Typ von gestern hatte seines ja überall verteilt. Aber sie durfte jetzt keinesfalls anfangen, an den Schuhen herumzuwischen. Das würde nur ungewünschte Aufmerksamkeit nach sich ziehen.
»Wie war Ihr Wochenende?«
»Hmm.«
»Und die Fahrt hierhin? Kinder erschreckt? Senioren überfahren? Oder nur ein paar Passanten Angst eingejagt?«
Kata war klar, dass Walter Milde, der Psychologe im Kölner Präsidium, einen Witz machen wollte. Aber es war nicht ihre Schuld, dass der Typ genauso unwitzig wie unfähig war. Zu Beginn ihrer erzwungenen Bekanntschaft – sie hatte die Wahl zwischen Beurlaubung und wöchentlichen Sitzungen gehabt – hatte sie versucht, ernsthaft mit dem Mann zu reden. Doch es hatte zu nichts geführt.
»Sie wissen, dass ich einen vierteljährlichen Bericht verfassen muss?«, sagte er gerade überflüssigerweise.
»Ja.«
»Und Ihnen ist auch bekannt, dass von meiner Beurteilung Ihre weitere Laufbahn abhängt?«
Das war Kata nur zu gut bewusst. Und so saß sie hier. Woche für Woche. Monat für Monat.
»Frau Sismann, ich weiß, dass Sie die Dinge anders wahrnehmen. Aber wenn Ihre Vorgesetzten und Kollegen von Ihrem Verhalten gleichermaßen befremdet sind, wird das seine Gründe haben.«
»Die da wären?«, fragte Kata.
»Ich denke, Sie wissen genau, was ich meine.«
»Nein, weiß ich nicht. Darum frage ich Sie.«
»Gut.« Milde lächelte sanft und legte seine Finger zur Merkel-Raute zusammen. »Dann kläre ich Sie gerne auf: Ihr Verhalten wird als aggressiv, wenig rücksichtsvoll und stellenweise sogar unkollegial empfunden. Es hat sich in den drei Monaten, die wir uns sehen, leider auch nicht gebessert. Im Gegenteil.«
Milde sprach langsam und überdeutlich, als ob er einem Kind etwas erklären müsste. Er hatte sich sogar vorgebeugt, um ihre Hand anzutippen. Kata hatte diese Macke des Psychologen schon häufiger gesehen: Er tippte mit dem Zeigefinger auf Gegenstände und menschliche Gliedmaßen, wenn er eine Aussage bekräftigen wollte. Natürlich war Kata schneller, und seine manikürten Finger griffen ins Leere. Männer und Maniküre. Kata fand allein die Idee idiotisch. Wie konnte man sich freiwillig dem beißenden Gestank eines Nagelstudios aussetzen? Kata hasste bereits die Vorstellung. Und erst recht Mildes Hände, denen der gleiche Geruch anzuhaften schien. Permanent kreisten die zarten weißen Fingerchen durch die Luft und verteilten den Gestank.
»Am Weibe wird geschmäht, was am Manne geachtet. Der Hahn kräht, die Henne wird geschlachtet«, sagte sie schließlich.
Milde lächelte immer noch freundlich. Erst nach einigen Sekunden veränderte sich sein Gesichtsausdruck.
»Was haben Sie gesagt?«
»Am Weibe wird geschmäht, was am Manne geachtet. Oder warten Sie. Korrekt heißt es, glaube ich: was an dem Mann geachtet.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Bei einem Mann heißt es nicht ›rücksichtslos‹ und ›aggressiv‹, sondern ›durchsetzungsstark‹ und ›dynamisch‹. Was soziale Erwünschtheit bedeutet, muss ich Ihnen ja wohl nicht erklären, oder?«
Milde legte seine Finger erneut zur Raute zusammen.
»Was Sie hier machen, ist klassische Verdrängung. Sie haben sich dem Trauma Ihres abrupten Karriereendes immer noch nicht gestellt. Dabei habe ich Ihnen wiederholt geraten, das aufzuarbeiten. Und die Adresse einer sehr versierten Kollegin gegeben, die auf Promi-Abstürze spezialisiert ist.«
»Promi-Abstürze? Das ist doch lachhaft.«
»Wie nennen Sie denn den Hype, den es damals um Ihre Person gab?«
Während er sprach, hatte Milde zu einem Ordner gegriffen, der auf seinem Schreibtisch lag. Kata erkannte diverse Zeitungsartikel, säuberlich in Folie gepackt, die sich alle mit ihr befassten.
»Die schöne Boxerin siegt wieder.«
»Historischer Kampf mit Happy End.«
»Katharina die Große für WM qualifiziert.«
»Die Schönheit mit der Eisenfaust.«
»Ihr kann kein Mann widerstehen.«
Selbst in ihrer erfolgreichsten Zeit hatte Kata den Schund in den Boulevardblättern gehasst. Denn dort nahmen ihre körperlichen Attribute weit mehr Raum ein als ihre sportlichen Leistungen.
Doch das war nichts gegen die Berichte, die danach erschienen. Nach dem Tag, der alles veränderte. Als sie Stunden nach dem Titelkampf im Krankenhaus wieder zu sich kam. Mit entstelltem Gesicht. Ausgelöschter Erinnerung. Und einer tief sitzenden Angst, die bis heute anhielt.
»Sie kompensieren den Wegfall der öffentlichen Beachtung, indem Sie sich inszenieren. Etwa, indem Sie Ermittlungserfolge immer wieder für sich reklamieren.«
»Weil es meine Erfolge sind.«
»Ihr Partner dürfte daran auch einen Anteil haben.«
»Wenn er denn mal da wäre.«
»Was wollen Sie damit sagen?« Milde beugte sich nach vorne, und seine rechte Hand zielte wieder in Katas Richtung. »Finden Sie, dass Ihr Partner Ihnen zu wenig Aufmerksamkeit schenkt?«
Kata verspürte den dringenden Wunsch, das Gespräch mit einem gezielten Uppercut zu beenden. Aber natürlich hätte das auch das Ende ihrer Beamtenlaufbahn bedeutet. Sie verabscheute den Psychologen mit einer Intensität, die sie gelegentlich selbst erschreckte.
»Wie viel Alkohol trinken Sie eigentlich zurzeit?«, fragte er gerade.
»Warum?«
»Sie wissen, was passiert, wenn Sie Ihre Medikamente mit Alkohol kombinieren?«
»Darum mache ich es ja nicht.«
Nur mit Mühe gelang es Kata, ruhig zu bleiben. Sie verfluchte den Tag, an dem sie Milde um hochwirksame Schlaftabletten gebeten hatte. Zwar hatte ihr das verschreibungspflichtige Zolpidem tatsächlich geholfen, aber dass sie ihm dadurch Macht verlieh, hätte ihr eigentlich klar sein müssen.
Aber damals hatte sie schon seit Tagen nicht mehr geschlafen. Und da war noch irgendetwas anderes gewesen, weswegen sie ihn darum gebeten hatte. Doch was? Kata wusste es nicht mehr.
Die Tür war nur angelehnt. Paul blickte sich in dem dunklen Flur um. Seit er vor einem Jahr mit seinen Eltern in den siebten Stock des Hochhauses gezogen war, hatte er noch nie einen Menschen aus der Nachbarwohnung kommen sehen. Wohl aber Geräusche gehört: ein leises Wimmern. Erst hatte er gedacht, dass er sich täuschte. Oder dass es ein Tier war. Doch wenn er sein Ohr ganz dicht an die Tür presste, hörte er es wieder: ein Wimmern, das ihm Angst machte. Als er seinem Vater davon erzählt hatte, hatte der ihn ausgelacht. Sein Vater hatte erst den Job und dann jegliches Interesse an allem verloren. Er saß den ganzen Tag auf der Couch. Starrte in den Fernseher und stritt mit seiner Mutter. Auch seine Mutter hatte sich verändert. Früher hatte sie viel gelacht. Jetzt lachte sie kaum noch. Nur manchmal, wenn sie ihn anblickte, huschte ein trauriges Lächeln über ihr Gesicht. Paul fand das noch schlimmer als die ewigen Streitereien seiner Eltern. Seit Kurzem ging seine Mutter jeden Mittwoch für einige Stunden weg und kam mit Tüten voller Lebensmittel zurück. Einmal war er ihr hinterhergeschlichen. Sie ging in einen düsteren Hof zwischen den Häusern 4 und 5 der Hochhaussiedlung.
Damals, als sie von Mülheim wegzogen, hatte er nicht verstanden, warum alle in der Schule so seltsam reagierten, als er vom »Kölnberg« sprach. Berge waren doch etwas Tolles. Einmal hatte er mit seinen Eltern sogar Urlaub in den Bergen gemacht. Aber jetzt wusste er, dass der »Kölnberg« wirklich etwas Schlimmes war. Hier musste sich seine Mutter zusammen mit anderen Frauen in einer langen Schlange anstellen. Wenn sie endlich an die Reihe kam, drückte ihr ein Mann Kartoffeln und ein paar Dosen in die Hand. Während er auf seine Mutter einsprach, baumelte das große goldene Kreuz, das er um den Hals trug, hin und her: Sie solle dieses tun und jenes lassen – Paul verstand nicht alles, was der Geistliche sagte. Er sah aber sehr genau, wie der Mann den Arm seiner Mutter tätschelte und dabei immer wieder ihre Brust streifte.
»Mgghmm.«
Paul erschrak. Blickte sich ängstlich um und wusste wieder, wo er war: im spärlich beleuchteten Flur, vor der Wohnungstür ihres Nachbarn. Das Wimmern drang jetzt deutlich durch die nur angelehnte Holztür. Es klang kaum menschlich. Furcht und Neugier kämpften in Paul. Die Neugier siegte; ganz vorsichtig schob er die Tür ein Stück weiter auf. Und lugte in die Wohnung. Nur der schwache Schein der geöffneten Wohnungstür ließ ein wenig Licht in den Raum. Paul wartete und lauschte in alle Richtungen. Dann öffnete er die Tür noch ein bisschen weiter, sodass er seinen schmalen Körper hindurchschieben konnte.