Frau Faust – Der letzte Kampf - Antje Zimmermann - E-Book

Frau Faust – Der letzte Kampf E-Book

Antje Zimmermann

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Beschreibung

»Die Ermittlerfigur Kata Sismann ist in der deutschen Kriminalliteratur einzigartig.« DEUTSCHLANDFUNK KULTUR über FRAU FAUST Kriminalhauptkommissarin Kata Sismann hat Gewissheit: Die ehemalige Boxerin leidet unter dem faustkämpferischen Syndrom, das ihr Gehirn zerstört. Nur in den USA wird eine experimentelle Therapie angeboten, die Heilung verspricht. Weil Kata dafür viel Geld braucht, nimmt sie den Auftrag einer dubiosen Sicherheitsfirma an. Sie soll die verschwundene Verlobte eines reichen, russischen Geschäftsmannes finden. Der Fall scheint einfach, doch Zeugen verschwinden, Verdächtige werden ermordet. Und Kata findet sich im Kampf ihres Lebens wieder.  »Modern, schnell und hart.« Podcast Sprenger spricht »Eine tolle neue Stimme auf dem Krimimarkt.« Hammett Krimibuchhandlung

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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© Piper Verlag GmbH, München 2023

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: Trevillion Images (James Wragg; Marie Carr)

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Zitat

Vorwort

Prolog

Deutschland im Spätsommer 2018

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Epilog

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

In all the good times, I find myself longin’ for change

And in the bad times, I fear myself

(Shallow/Lady Gaga)

Vorwort

Die Idee zu diesem Buch ist unmittelbar nach der Fertigstellung des ersten Bandes im Frühjahr 2020 entstanden. Lange vor dem völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg, der offiziell am 24. Februar 2022 begann. Daher, und weil der Roman im Jahr 2018 spielt, wird der Krieg nicht erwähnt, obwohl Personen aus der deutsch-russischen Community auftauchen. Meine Überlegungen gehen von einer diversen russischstämmigen Gesellschaft aus, die Lichtgestalten, Mitläufer und Monster hervorbringt, so wie jede andere Gesellschaft auch.

Ich möchte aber keinen Zweifel an meiner Überzeugung lassen: Meine ganze Solidarität gilt der angegriffenen Ukraine und den Menschen, die für Freiheit, Souveränität und Demokratie kämpfen.

Stand with Ukraine!

Prolog

Sie glitzerten in der Sonne wie Diamanten: blutrot, smaragdgrün und ozeanblau. Der Junge war schon Dutzende Male in der Ussuribucht gewesen und wusste natürlich, dass es nur Glas war, das er funkeln sah. Jahrzehntelang hatte die Glasfabrik von Wladiwostok ihre Abfälle achtlos in die Bucht geworfen: Bier- und Wodkaflaschen, die zersplitterten und den Strand unbegehbar machten. Doch dann bewirkte Gott ein Wunder: Winde und Wellen schliffen die Scherben zu Abertausenden Edelsteinen. Wenn der Junge sie anfasste, lagen sie weich und makellos in seiner Hand. Gerne hätte er auch jetzt ein besonders schönes Exemplar, einen handtellergroßen bernsteinfarbenen Stein berührt. Doch er musste vorsichtig sein. Von seinem Platz im Ufergestrüpp konnte er das schönste von Gottes Wundern am Strand ungestört beobachten: Ihre langen, honigblonden Haare wehten im Wind. Mit einer Hand strich sie eine Strähne zurück, die zwischen ihre Haut und die wärmende Sonne geraten war. Sie hatte die Augen geschlossen und genoss den ersten Sommertag. Der Junge war glücklich, sie zu betrachten, und wollte nichts mehr als das. Als er fühlte, dass sich sein Geschlecht aufrichtete, presste er mit aller Macht dagegen. Doch statt zu schrumpfen, schwoll es weiter an und drückte schmerzhaft gegen den Stoff seiner Jeanshose. Der Junge schämte sich und bat Gott um Vergebung. Er wollte doch nicht sündigen. Sondern nur seine Schöpfung bewundern. Das Mädchen hatte mittlerweile ihre Kleidung abgestreift und stand in einem eng anliegenden Badeanzug auf den glänzenden Kieseln. Plötzlich zuckte sie zusammen, und ein roter Fleck erschien auf ihrer Wange. Von dort breitete er sich als feines Rinnsal über ihren Hals und die Brust aus.

Was geschah da? Der Junge wurde panisch. Und erst als das zweite Geschoss den zarten weißen Mädchenkörper traf, verstand er.

Schreiend, mit Steinen in den geballten Händen, lief eine Gruppe Halbstarker über den Strand auf das Mädchen zu. Sie blickte sich verzweifelt um, wusste aber offenbar nicht, wohin sie fliehen sollte. Der Junge sprang auf, sah einen massiven Ast, umschloss ihn mit aller Kraft und rannte los. Seine Füße berührten kaum den Boden. Der Ast hatte kein Gewicht; und das Gebrüll, mit dem er sich in die Schlacht stürzte, nichts Menschliches. Er würde sein Leben geben, um ihres zu retten. Vor dem großen Ast, den er wild über seinem Kopf schwang, wichen die Angreifer, drei Jungen und zwei Mädchen, erschreckt zurück. Ängstlich suchten ihre Augen die Umgebung ab. Offenbar rechneten sie mit weiteren Gegnern. Doch da war niemand. Nur der schmale Junge, der wie ein Berserker schrie und um sich schlug. Die Gruppe formierte sich neu, umzingelte ihn und kam immer näher. Der Junge merkte, wie seine Schläge ins Leere gingen und seine Arme erlahmten. Lange würde er den schweren Ast nicht mehr halten können. Auch seine Stimme versagte. Aus seiner Kehle kam nur noch ein heiseres Krächzen. Tränen traten ihm in die Augen und verwässerten seine Sicht. Darum überraschte ihn der Schrei umso mehr: ein Schmerzensschrei, aus Qualen geboren, dem eine noch erschreckendere Stille folgte. Der Junge ließ den Ast sinken, rieb sich mit der Hand über die Augen, und dann sah er sie: das schöne Mädchen, über und über mit Blut beschmiert. In ihrer weißen Hand glitzerte ein spitzer Glasstein, den sie durch das Auge eines Angreifers in dessen Hirn getrieben hatte.

Deutschland im Spätsommer 2018

Kapitel 1

So lesen sich also Todesurteile, dachte Kata.

»Die im Blut gefundene Konzentration von Neurofilament-L (NF-L) lässt den Schluss massiver Schädigungen der Hirnzellen zu. Angesichts der Vorgeschichte der Patientin muss von einer chronisch-traumatischen Enzephalopathie (CTE) ausgegangen werden.«

Warum bin ich überrascht? Habe ich tatsächlich geglaubt, dass alles nur Einbildung ist? Ich einfach zu viel saufe, zu wenig schlafe und der letzte Tripper mir ins Hirn gewandert ist? Erst als zwei weiche Hände ihre harte Faust umklammerten, wurde Kata bewusst, dass sie sich selbst gegen den Kopf schlug.

»Bitte hören Sie auf, Frau Sismann«, sagte die Frau.

»Wir mussten doch mit dieser Diagnose rechnen. Darum hat Dr. Kreutzer Sie zu uns überwiesen. Dass wir heute die Konzentration von Neurofilament in ihrem Blut nachweisen können, ist ein medizinischer Meilenstein.«

Dr. Anita Kleinfinger zog mit dem Fuß einen der kleinen grau gepolsterten Hocker heran, die aufgereiht an der weißen Wand des Untersuchungsraumes standen, und setzte sich Kata gegenüber. Nur zögerlich ließ sie ihre Faust los. Offenbar fürchtete sie, dass Kata erneut zuschlagen könnte.

»Sie müssen sich Neurofilamente wie das Skelett von Nervenzellen vorstellen. Sterben die Zellen aufgrund einer neurologischen Erkrankung ab, werden die Neurofilamente freigesetzt und wir können sie jetzt im Blut nachweisen. Früher war das nur durch eine risikoreiche Punktion des Hirnwassers möglich.«

Die Neurologin kam in Schwung und lobte die langjährige internationale Forschungsarbeit, die zur Entwicklung des SIMOa-Analyzers geführt hatte. Kata hatte längst aufgehört, ihr zuzuhören. Sie dachte an die vielen Kämpfe, die sie bestritten hatte. Meistens war sie siegreich gewesen. Selten hatte sie eine Niederlage einstecken müssen, und, soweit sie sich erinnern konnte, kaum jemals einen nennenswerten Kopftreffer – bis zu ihrem letzten Kampf. Was sie damals den Titel und das Bewusstsein gekostet hatte, besiegelte jetzt ihren Tod. Einen langsamen und grausamen Tod, der sie erst all ihrer Talente, dann ihrer elementarsten Fähigkeiten berauben würde. Wie die meisten Boxer hatte sie immer um die Gefahren von CTE, dem faustkämpferischen Syndrom, gewusst. Und wie alle anderen hatte sie es ausgeblendet. Denn wer mit Angst in den Ring steigt, hat bereits verloren.

Kata spürte, wie etwas Dunkles in ihr aufging und sie immer tiefer zog. Es würde dieses Mal kein Zurück mehr geben. Wenn sie nicht miterleben wollte, wie sich ihre Persönlichkeit auflöste, sie immer depressiver, aggressiver und letztlich pflegebedürftig wurde, musste sie handeln. Am besten rasch.

Sie stöhnte auf. Und die Ärztin unterbrach ihren Redefluss.

»Haben Sie mir überhaupt zugehört?«, fragte sie.

»Nein«, bekannte Kata.

»Das sollten Sie aber. Denn da wir jetzt eine sichere Diagnose haben, können wir mit der Therapie beginnen.«

»Therapie?« Kata lachte auf. »Sie machen Witze.«

»Natürlich haben wir bis jetzt kein Heilmittel gegen CTE gefunden«, räumte Dr. Kleinfinger ein, »aber es gibt vieles, was wir tun können, um den Krankheitsverlauf zu beeinflussen.«

»Ich höre«, sagte Kata und meinte es so.

»Sie müssen jetzt akribisch auf Ihren Schlaf achten. Wenn wir schlafen, werden Tau-Proteine durch das nachtaktive Abfluss-System des Gehirns abgebaut. Bei CTE, genau wie bei Alzheimer, sind Ablagerungen von Tau-Proteinen typisch. Ausreichender Schlaf ist also ein wichtiger Bestandteil Ihrer Therapie, genauso wie körperliches Training, das die Durchblutung des Gehirns fördert. Wenn ich mir Sie so ansehe, dürfte das nicht das Problem sein, oder?«

Die Ärztin machte eine Pause und wartete offenbar darauf, dass Kata reagierte.

»Nein, das ist kein Problem.«

»Dann sollten Sie schnellstmöglich mit einer Verhaltenstherapie beginnen, um depressive Verstimmungen besser einordnen zu können und den Verlust kognitiver Fähigkeiten erträglicher zu machen.«

»Und das ist es dann?« fragte Kata.

»Im Großen und Ganzen schon«, antwortete Dr. Kleinfinger zögerlich.

Kata begann zu lachen. Erst leise in sich hinein. Dann lachte sie lauthals, als ob sie einen besonders guten Witz gehört hätte. Schließlich stand sie auf, klopfte Dr. Kleinfinger auf die Schulter und ging zur Tür. Sie war bereits auf dem Gang, als sie die Ärztin hinter sich hörte.

»Frau Sismann, warten Sie.«

Ohne sich umzudrehen, fragte Kata: »Warum?«

»Weil es da vielleicht doch noch etwas gibt.« Die Ärztin sprach leise und versicherte sich, dass niemand in Hörweite war.

Kata wandte sich ihr zu. Beugte sich zu der kleineren Frau herab, um jedes Wort aufzunehmen.

»Ich habe Ihnen ja erzählt, dass die neue Untersuchungsmethode in internationaler Zusammenarbeit entstanden ist. Unsere Bostoner Partner waren dabei federführend. Dort ist auch ein privates Gesundheitscenter angesiedelt, das eine Therapie anbietet«, erklärte sie.

»Was für eine Therapie?«, hakte Kata nach.

»Die arbeiten auch mit den genannten Bausteinen. Darüber hinaus setzen sie Stammzellen ein. Das ist bei CTE aber ein experimentelles Verfahren. Es gibt noch keine Studien, die eine Wirksamkeit belegen würden. Andererseits werden Stammzelltherapien, das wissen Sie sicherlich, bei Leukämie, bei Tumoren und auch bei frühkindlichen Hirnschädigungen erfolgreich eingesetzt. Es spricht also vieles dafür …«

»Aber?«

»Natürlich übernimmt das Bostoner Institut keine Garantie und keine deutsche Krankenkasse die Kosten.«

»Damit hatte ich auch nicht gerechnet«, sagte Kata. »Von welcher Summe sprechen wir? Was würde mich der Versuch kosten?«

»Ich weiß es nicht genau. Ich stehe mit den Bostoner Kollegen zwar im regelmäßigen Austausch. Über Geld haben wir aber nie im Detail gesprochen, weil das nichts mit unserer Klinik zu tun hat. Ich könnte lediglich schätzen.«

»Dann tun Sie das!«

»Mit hunderttausend Euro sollten Sie schon rechnen, für den Anfang«, sagte die Ärztin.

Kata verspürte wieder den Wunsch zu lachen. Stattdessen nickte sie kurz und ging den langen Gang des Dresdener Uni-Klinikums hinunter. Wieder roch es nach dem penetranten Putzmittel, das ihr schon beim Betreten der Station aufgefallen war. Der Gestank verursachte ihr Übelkeit. Und zusammen mit der Übelkeit fühlte Kata, wie Wut in ihr aufstieg. Sie wollte zuschlagen. Schnell und hart. Kein unbekanntes Gefühl für sie, doch in dieser Intensität hatte sie es außerhalb des Rings selten verspürt. Vermutlich der angekündigte Kontrollverlust, den sie im Rahmen einer Verhaltenstherapie lernen sollte »einzuordnen«. Kata trat gegen die lächerlich weiße Wand und hatte im gleichen Moment einen Gedanken. Sie konnte ihn nur nicht festhalten. Es hing mit den hunderttausend Euro zusammen, die Dr. Kleinfinger »für den Anfang« veranschlagt hatte. Von ihrem Gehalt als Kommissarin konnte sie in Köln ihre horrende Miete, die laufenden Kosten und ihr exzessives Nightlife bezahlen – aber das war es dann auch. Davon Rücklagen zu bilden war utopisch. Und was ihre Eltern ihr hinterlassen hatten, war längst aufgebraucht. Ihre Eltern. Die womöglich gar nicht ihre Eltern waren. Amalia Moor, die behauptete, ihre biologische Mutter zu sein. Ihr Streit, der Kampf und Amalias Tod. Daran erinnerte sie sich. Und vorher? Was war vorher gewesen? Kata presste ihren Kopf gegen die weiße Klinikwand. Zwei Krankenschwestern gingen kopfschüttelnd an ihr vorüber. Kata fuhr sich mit der Hand über die Stirn, strich das dunkle, glänzende Haar zur Seite und spürte die Abdrücke, die die raue Wand auf ihrer hellen Haut hinterlassen hatte. Sie wollte einen Drink. Einen in Eichenfässern gereiften Springbank Whisky, wie Amalia Moor ihn ihr damals angeboten hatte, als sie ihr noch etwas anderes offeriert hatte: Geld. Das Erbe, das ihr, der leiblichen Tochter, zustand. Das war es. Damals hatte Kata die Vorstellung entrüstet zurückgewiesen, von der zweifachen Mörderin Amalia Moor auch nur einen Cent anzunehmen, aber das war damals gewesen. Jetzt würde sie alles nehmen, was die frühere Stasi-Agentin gemeinsam mit dem ehelich verbundenen Waffenexporteur an Vermögen angehäuft hatte. Für die Moors mussten hunderttausend Euro ein Witz sein. Kata fühlte Hoffnung in sich aufsteigen. Sie rannte zur Universitätsklinik hinaus und zum Hauptbahnhof. Durchblutungsfördernder Sport – Dr. Kleinfinger würde sie sicherlich loben. Für einen Moment fühlte sie sich besser. Sie würde kämpfen. Und trotz aller Widrigkeiten siegen. Irgendwie. Dass sie das konnte, hatte sie Hunderte Male unter Beweis gestellt: im Ring und im Präsidium. Dann wurde ihr Blick von etwas Grauem angezogen, das unmittelbar vor ihr auf dem Gehweg lag. Erst in letzter Sekunde realisierte sie, was es war. Sie sprang zur Seite. Und vermied so, auf die tote Ratte zu treten. Der Magen des Tieres war aufgeplatzt, Gedärme hingen heraus. Einen Moment war Kata unfähig, sich zu bewegen. Sie blickte den Kadaver an. War er ein Omen? Kata fröstelte. Sie wollte nicht sterben. Nicht so. Indem sie sich langsam auflöste. Und nur noch wütend, traurig und ängstlich war. Die alte Kata hätte die tote Ratte aus dem Weg gekickt. Die kranke Kata fühlte, wie Tränen in ihr aufstiegen.

Kapitel 2

Kilian Neumann, Katas langjähriger Partner bei der Kölner Polizei, blickte sich in ihrem gemeinsamen Büro um. Kata war nicht mehr im Präsidium gewesen, seitdem die internen Untersuchungen gegen sie liefen. Dass Kata »vergessen« hatte zu erwähnen, dass sie Amalia Moor und deren ermordete Tochter Clarissa seit Kindertagen kannte, ließ die gesamten Ermittlungen in einem fragwürdigen Licht erscheinen und hatte Dirk Derisoire, dem Leiter der Mordkommission, den perfekten Vorwand geliefert: Er suspendierte Kata, deren unberechenbares Verhalten ihm schon lange ein Dorn im Auge war, und seither hatte Kilian nichts mehr von ihr gehört. Auf seine Anrufe und Nachrichten reagierte sie nicht. Auch schien sie nicht zu Hause zu sein. Kilian hatte mehrere Stunden vor ihrer Haustür in einem unbequemen Dienstwagen verbracht. Kata. Wenn sie anwesend war, wünschte er sie sich weit weg. Wenn sie weg war, fehlte sie ihm. Das ging jetzt schon seit Jahren so. Erst hatte er gedacht, dass Ehe und Familienleben das Gefühlschaos in ihm ordnen, sein Leben in geregelte Bahnen lenken würde. Meistens funktionierte das auch. Die drei gemeinsamen Kinder, die schönen Momente mit Biggi, die Ferien mit anderen Familien lenkten ihn ab und machten ihn gelegentlich sogar glücklich. Doch dann sah er Kata wieder. Wie sie jeden Kerl, der ihr dumm kam, mit einem Wort oder notfalls mit einem Schlag, in seine Schranken wies. Wie sie laut lachte. Tanzte, bis die Lichter angingen und betrunken beim Nachhausetorkeln den Arm um ihn legte.

Kilian war so in seine Gedanken versunken, dass er nicht hörte, wie sich die Bürotür öffnete und jemand den Raum betrat. Erst als ein Schatten auf ihn fiel, schaute er auf und blickte ihn das Gesicht einer vielleicht dreißigjährigen Frau. Ihre braunen kinnlangen Haare wirkten frisch geföhnt, die weiße Bluse unter dem blauen Jackett war adrett gebügelt und nur einen Knopf weit geöffnet. Sie streckte eine Hand mit sorgfältig manikürten Fingern aus. Lustlos ergriff er sie.

»Ich habe mich schon sehr auf die Zusammenarbeit gefreut, KK Lisa Altmeier«, sagte die Frau.

»Ganz meinerseits«, hörte Kilian sich murmeln.

Der Neuzugang in der Abteilung, der Kata ersetzen sollte, war ihm von Derisoire angekündigt worden. Aber Kilian hatte gehofft, dass er bis zu ihrem Eindringen in ihre gemeinsame Welt noch ein wenig mehr Zeit gehabt hätte. Nicht dass das viel geändert hätte.

»Das ist also mein Schreibtisch«, sagte Lisa Altmeier mit Blick auf Katas Arbeitsplatz.

Das ist Katas Schreibtisch, wollte Kilian sie korrigieren. Unterließ es dann aber. Auch ohne direkte Konfrontation würden die nächsten Wochen anstrengend werden.

»Sie muss früher ja mal wirklich gut gewesen sein. Nach allem, was man so hört.«

»Hmm. Hm«, machte Kilian.

»Ihre Extratouren wurden deshalb wohl so lange toleriert. Aber dass sie jetzt Tatverdächtige lyncht, ist doch ein bisschen too much, oder?«, fragte die Blondine.

»Wo haben Sie den Quatsch her?«, herrschte er die Frau an.

So viel zu meinem Vorsatz, es mit dem Neuzugang ruhig angehen zu lassen, dachte Kilian. Dass er für Katas verlorene Ehre würde kämpfen müssen, war ihm klar gewesen. Doch er hatte gedacht, dass die Attacken von der Männerriege im Kommissariat kommen würden, und nicht von einer Frau, die er erst vor fünf Minuten kennengelernt hatte. Mit Genugtuung sah Kilian, dass die Neue zusammenzuckte.

»Oh, okay. Ja. Sie haben recht. Man soll auf Flurfunk nicht viel geben und lieber die Ergebnisse der offiziellen Untersuchung abwarten.«

»Ja.«

Kilian wandte sich demonstrativ seinem Bildschirm zu und beschloss, Lisa Altmeier die nächsten Stunden zu ignorieren. Offenbar respektierte sie das und beschränkte sich darauf, Katas Sachen in einen Karton zu räumen und ihren eigenen Kram auf dem Schreibtisch auszubreiten: Stifte, Notizbücher und ein kleiner brauner Holzrahmen, in dem wohl ein Foto steckte, das Kilian aber nicht sehen konnte. Offenbar rechnete sie damit, länger auf Katas Platz zu sitzen. Kilian stöhnte, was ihm einen vorsichtigen Blick von Lisa Altmeier eintrug. Nach einiger Zeit wurde das Schweigen unangenehm. Und deshalb war Kilian erleichtert, als Linda Braun, Derisoires Sekretärin, zeitgleich mit einem kaum hörbaren Klopfen die Tür aufriss und schwungvoll den Raum betrat.

»Wie schön, dass ihr schon zusammengefunden habt«, sagte sie mit einem breiten Lächeln. Offenbar immun gegen die eisige Stimmung im Raum.

»Der Chef will, dass ihr einen Fenstersturz untersucht«, erklärte sie, während sie einen Bericht vor Kilian ausbreitete.

»Die Streife vor Ort hat die Sache als Unfall eingeordnet, aber der Oberarzt in der Uniklinik hat wohl Zweifel. Ihr sollt schauen, was an der Geschichte dran ist.«

»Okay.«

Kilian und die Neue standen gleichzeitig auf, gingen wortlos zum Parkplatz und fuhren über den Rhein zur Uniklinik. Kilian dachte an seinen letzten Besuch im Klinikum. Mit Kata. Sie war zum Wagen gerannt, hatte ihn überholt und »Erste« rufend auf das Dach des Dienstwagens geschlagen. Kilian konnte sich noch gut erinnern, wie albern er ihr Verhalten gefunden hatte. Wie sehr ihm ihre ewigen Inszenierungen auf die Nerven gegangen waren.

Kilian steuerte den Wagen, und die Neue fasste die Ergebnisse des Berichts zusammen.

»Bei dem Opfer handelt es sich um die fünfzehnjährige Elena Walijewa, Tochter deutscher Spätaussiedler aus Russland. Sie ist vom Balkon der elterlichen Wohnung vier Stockwerke nach unten gefallen. Offenbar hat eine alte Matratze, die dort neben anderem Sperrmüll lag, den Aufprall abgefedert. Anderenfalls wäre der Sturz wohl tödlich gewesen. Eltern und Geschwister haben zu Protokoll gegeben, dass sie den Halt verloren hat, als sie den Vogelkäfig auf dem Balkon reinigen wollte.«

»Wo und wann ist das passiert?«, hakte er nach.

»Vorgestern Abend gegen 19 Uhr in Chorweiler. Eines der Hochhäuser, Moment, hier ist die Anschrift: Osloer Str. 4«, präzisierte sie.

»Kein schöner Ort zum Aufwachsen.« Kilian war sich bewusst, wie privilegiert seine Kinder groß wurden. Dank zweier Einkommen und der finanziellen Unterstützung von Biggis Eltern lebten sie in einem schönen Reihenhaus mit großem Garten. Raderthal war nicht der Nabel der Welt, aber Wohnraum war dort in den letzten Jahren noch erschwinglich gewesen und das Viertel ein Ort, in dem selten etwas Beunruhigendes geschah. Im Gegensatz zu Chorweiler. Kilian parkte den Wagen bei der Uniklinik, und wenige Minuten später standen sie zusammen mit dem Oberarzt, der sich als Dr. Karl Waltz vorgestellt hatte, im Krankenzimmer des Mädchens. Sie schlief. In ihrem rundlichen Gesicht schimmerten großflächige Hämatome gelb, braun und blau. Ihr rechter Arm steckte in einem Gips, und durch den Verband an ihrem Knie sickerte Blut, das ein bizarres Muster bildete.

Perfekt für einen Rorschachtest, dachte Kilian.

»Wieso glauben Sie, dass das Mädchen gestoßen wurde?«, fragte die Neue den Oberarzt.

»Ich habe nicht gesagt, dass sie gestoßen wurde. Ich habe gesagt, dass mir einige Dinge aufgefallen sind, die nicht zur Schilderung des Hergangs passen«, sagte der Oberarzt.

»Warum?«, fragte Kilian.

»Weil sie leichte, bei oberflächiger Betrachtung kaum wahrnehmbare Abwehrspuren hat.« Der Arzt gefiel sich offenbar in der Ermittlerrolle. Er trat zum Bett und legte die Arme des Mädchens frei.

»Rechts können Sie wegen des Gipses nichts sehen. Aber hier auf der linken Seite – sehen Sie das?«

Lisa Altmeier und Kilian stellten sich neben den Arzt, inspizierten den präsentierten Arm und die dazugehörige Hand: Unter den Fingernägeln hatten sich rote Halbmonde gebildet, vermutlich Blut, und einer der Fingernägel war tief eingerissen. Zudem umgab ein zartes lilafarbenes Band das Handgelenk.

»Danke, dass Sie uns darauf aufmerksam gemacht haben«, sagte Kilian und zog sein Smartphone aus der Tasche. Er fotografierte die Wunden von allen Seiten und nahm Proben von dem Blut. Dann legte er die schmale weiße Mädchenhand zurück auf die Bettdecke.

»Was denken Sie, wann wir mit ihr sprechen können?«, fragte Lisa Altmeier.

»Wegen der massiven inneren Verletzungen haben wir sie in ein künstliches Koma versetzt. Im Moment ist es zu früh, um eine Prognose zu wagen,« erwiderte der Mediziner.

»Sie könnte also auch sterben?«

»Das können wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausschließen, wobei ich denke, dass nicht zuletzt aufgrund ihrer Jugend und guten Gesundheit die Heilungschancen überwiegen. Ich rufe Sie sofort an, wenn wir sie aufwecken.«

 

Wie immer staute sich der Verkehr auf der Inneren Kanalstraße, sodass sie fast vierzig Minuten nach Chorweiler brauchten. Entnervt stellte Kilian den Wagen in der Halteverbotszone vor dem Hochhaus ab und legte die städtische Ausnahmegenehmigung gut sichtbar auf das Armaturenbrett. Der Fahrstuhl in dem Gebäude funktionierte nicht, und sie mussten die Treppe nehmen. Mit einem Gefühl kindlicher Freude stellte Kilian fest, dass er die Stufen viel schneller hochkam als die Neue. Für einen Augenblick war er versucht, noch schneller zu laufen und dabei zu pfeifen, um den Unterschied noch deutlicher zu machen. Erstaunlich, was Katas Abwesenheit mit mir macht, dachte er. Als sie auf der vierten Etage ankamen, empfingen sie kaltes Neonlicht, das Lisa Altmeiers Gesicht fast unheimlich erschienen ließ, und ein intensiver Geruch, den Kilian nur schwer einordnen konnte. Er wusste, dass er ihn kannte, brauchte aber einen Moment, um draufzukommen.

»Ist das Weihrauch?«, fragte er seine Kollegin.

Lisa Altmeier schnüffelte nach links und rechts und nickte dann.

»Ich bin keine Kirchgängerin, aber ich glaube schon. Es riecht zumindest genauso penetrant.«

Je näher sie dem Appartement der Familie Walijew kamen, desto schlimmer wurde es. Offenbar lag die Quelle des Gestanks hinter der geschlossenen Wohnungstür. Kilian klingelte. Als sich nichts tat, klingelte er ein zweites Mal energischer und klopfte mit der flachen Hand gegen die Tür. Wenig später öffnete sie sich einen Spalt. Ein Schwall Weihrauch wehte Kilian entgegen und raubte ihm den Atem. Hustend nahm er seinen Ausweis aus der Hosentasche und zeigte ihn der Frau, die er jetzt durch die sich lichtenden Schwaden allmählich erkennen konnte. Ihr Gesicht war verquollen, die Augen gerötet. Unübersehbar hatte sie geweint.

»Frau Walijewa? Mein Name ist Kilian Neumann, das ist meine Kollegin Altmeier. Wir sind wegen des Sturzes ihrer Tochter hier.«