Frauen sind anders krank. Männer auch. - Marek Glezerman - E-Book

Frauen sind anders krank. Männer auch. E-Book

Marek Glezerman

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  • Herausgeber: Mosaik
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Forschung, Diagnose, Behandlung – auf nahezu allen medizinischen Gebieten wird oft nur vom Mann ausgegangen. Prof. Dr. Marek Glezerman, einer der weltweit renommiertesten Forscher zum Thema geschlechtsspezifische Medizin, hat ein leicht verständliches und hochspannendes Buch geschrieben, das unmissverständlich klarstellt: Wir müssen ganz dringend umdenken, wenn wir eine wirksamere Medizin haben wollen, die das Wohl der Patienten tatsächlich in den Mittelpunkt stellt.

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Seitenzahl: 331

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Buch

Forschung, Diagnose, Behandlung – auf nahezu allen medizinischen Gebieten wird oft nur vom Mann ausgegangen. Prof. Dr. Marek Glezerman, einer der weltweit renommiertesten Forscher zum Thema geschlechtsspezifische Medizin, hat ein leicht verständliches und hochspannendes Buch geschrieben, das unmissverständlich klarstellt: Wir müssen ganz dringend umdenken, wenn wir eine wirksamere Medizin haben wollen, die das Wohl der Patienten tatsächlich in den Mittelpunkt stellt.

Autor

Prof. Dr. Marek Glezerman ist Professor emeritus für Geburtsheilkunde und Gynäkologie, Direktor des Forschungszentrums für Geschlechtsspezifische Medizin am Rabin Medical Center, Vorsitzender des Fachbereichs Geschlechtsspezifische Medizin an der Universität Tel Aviv und bis 2017 Präsident der »International Society for Gender Medicine«. Er hat an den Universitäten von Frankfurt und Paris studiert und lebt heute in Tel Aviv. Amos Oz, der Verfasser des Vorworts, ist der wohl weltweit bekannteste israelische Schriftsteller, dessen über 30 Werke in 42 Sprachen übersetzt wurden.

PROF. DR. MAREK GLEZERMAN

FRAUEN

sind anders krank.

MÄNNER

auch.

Warum wir eine geschlechtsspezifische Medizin brauchen

Vorwort von Amos OzAus dem Amerikanischenvon Imke Brodersen

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Gender Medicine« bei The Overlook Press, Peter Mayer Publishers, Inc., New York/London.Alle Ratschläge in diesem Buch wurden vom Autor und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Eine Garantie kann dennoch nicht übernommen werden. Eine Haftung des Autors beziehungsweise des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe März 2018

Copyright © 2016 der Originalausgabe: Marek Glezerman

Copyright © 2016 des Vorworts: Amos Oz

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe: Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: *zeichenpool

Umschlagmotiv: shutterstock/peart

Redaktion: Antje Steinhäuser

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

JT ∙ Herstellung: IH

ISBN 978-3-641-21689-4V001www.mosaik-verlag.de

Dieses Buch ist meinem engsten Familienkreis gewidmet:Meiner geliebten Frau und besten Freundin Zvia, meinen geliebten Töchtern Shira, Maya und Tamar, meinem besten Freund Avi, der auch mein Bruder ist, und meinen fünf Enkeln – die große Freude in meinem Leben.

Inhalt

Vorwort von Amos Oz: Die Suche nach dem kleinen Unterschied

Vorbemerkung des Autors

EinleitungWas ist Gendermedizin?

1. Biologisches und soziokulturelles Geschlecht und die personalisierte Medizin

2. Das Leben im Mutterleib, Teil 1

3. Das Leben im Mutterleib, Teil 2

4. Stress in der Schwangerschaft

5. Frauenherzen ticken anders

6. Magen, Darm und Genderfragen

7. Der Darm: Mikrobiom und zweites Gehirn

8. Geschlechtsspezifische Aspekte bei der Fortpflanzung

9. Der unerfüllte Kinderwunsch

10. Genderabhängige Schmerzwahrnehmung und Schmerzbewältigung

11. Zu heiß, zu kalt – genderspezifische Aspekte der Temperaturregulierung

12. Männer – das schwächere Geschlecht

13. Ist der Mann vom Aussterben bedroht?

14. Die Arzt/Ärztinnen-Patient/innen-Beziehung aus männlicher und weiblicher Sicht

15. Die Zukunft der Gendermedizin

Danksagung

Quellenangaben

Register

VORWORT VON AMOS OZ:Die Suche nach dem kleinen Unterschied

In meinem Roman Mein Michael von 1968 berichtet uns die zentrale Figur Hannah, dass ihr verstorbener Vater über Männer und Frauen zu reden pflegte, »als sei schon die bloße Existenz zweier verschiedener Geschlechter eine Unordnung, die das Leid auf der Welt vermehre, eine Unordnung, deren Folgen Männer und Frauen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Kräften mildern mussten.«1

Wie sehr er sich irrte, dieser alte Mann! Denn in Wahrheit ist die bloße Existenz zweier derart unterschiedlicher Geschlechter eines der erstaunlichsten Geschenke, die uns zugestanden wurden – zusammen mit dem Leben an sich, mit dem Glück von Liebe und Elternschaft, dem Glück der Kreativität.

Und dennoch haben Ärzte über Generationen hinweg diesen Unterschied missachtet, wie Marek Glezerman es in diesem ebenso faszinierenden wie innovativen Werk schildert. Genauer gesagt: Ganze Generationen von Ärzten sahen in Frauen nichts als eine etwas andere Art Mann, vielleicht eine etwas mangelhafte oder schwächere Ausgabe des Mannes, doch (abgesehen von der Gebärfähigkeit) im Wesentlichen identisch mit dem »Original«.

Bis zum heutigen Tag werden Mädchen und Frauen vielerorts mit denselben Methoden, denselben Medikamenten und vielfach sogar denselben Dosierungen behandelt wie Männer. Die Ergebnisse sind häufig schädlich, mitunter jedoch katastrophal. Der Grund dafür ist Glezerman zufolge die Tatsache, dass Forscher und Pharmakonzerne neue Arzneimittel viele Jahre lang vornehmlich an Männern getestet haben, unter anderem weil der männliche Körper nicht den Veränderungen durch die monatliche Menstruation unterliegt, was Experimente einfacher und kostengünstiger macht. All dies mag auch mit einem wichtigen Trend der Gegenwart in Verbindung stehen, den Glezerman in seinem Buch nicht erwähnt, und zwar die Modevorgaben, die moderne Frauen auffordern, sich wie Männer zu kleiden, männliche Verhaltensweisen und Gewohnheiten zu übernehmen und sich zumindest bis zu einem gewissen Punkt an eine von Männern geformte Welt anzupassen – als unauffällige, aber entscheidende Voraussetzung, um in der Gesellschaft und am Arbeitsplatz als gleichberechtigtes Individuum einen höheren Status zu erlangen.

Das revolutionäre Konzept der Gendermedizin, das mit Glezerman einen wichtigen Fürsprecher, Pionier und Vorreiter in Israel und auf der Welt gefunden hat, beruht auf einem Konzept wahrer menschlicher Gleichberechtigung, das über die gegenwärtige Bedeutung hinausgeht: Gleichberechtigung bedeutet nämlich nicht, »dass wir alle gleich sind«, ganz im Gegenteil. Wahre Gleichberechtigung bedeutet, dass jeder Mensch, jede Gruppe und jedes Geschlecht dasselbe Recht auf sein oder ihr Anderssein hat.

Marek Glezermans Buch richtet sich nicht an Wissenschaftler und Forscher (denen es dennoch unbedingt ans Herz zu legen ist). Geschrieben wurde es für neugierige Leser, die sich gern überraschen und aufklären lassen, die Spaß daran haben, neue und provozierende Dinge über sich, über andere Menschen und über die Welt zu erfahren. Wie viele andere Ärzte vor ihm, ob Dr. Tschechow oder Dr. Arthur Conan Doyle, weiß auch Marek Glezerman, wie man eine spannende Geschichte erzählt, eine Geschichte voller Überraschungen, mit Auf und Ab, mit starken, eigenständigen Frauen, die besonders gut kommunizieren konnten, und mit Männern, die in gewisser Weise stark waren und im Laufe der Evolution viele wichtige Dinge gelernt haben, wobei sie in Bezug auf die Kommunikation häufig lieber von den Frauen lernen sollten. Abgesehen von den vielen Fakten, die dieses Buch über Männer und Frauen und über Gendermedizin liefert, verhilft es uns in erster Linie zu spannenden Einblicken in die Verbindungen zwischen Körper und Seele, zwischen Krankheit und Emotionen, zwischen Schmerzen und unserer Fähigkeit, diese auszudrücken, zwischen dem Gehirn in unserem Kopf und dem zweiten, sehr komplexen und entschiedenen Gehirn in unserem Verdauungssystem. Sagen wir nicht selbst, dass wir manchmal auf unseren Verstand und manchmal auf unser Bauchgefühl hören? Glezermans Buch bestätigt diese Tatsache. Der Bauch denkt oft ohne Kopfbeteiligung und ohne, dass wir uns seiner überhaupt bewusst sind. (Aktuell erleben wir konkret, wie praktisch eine komplette Nation einschließlich ihrer Anführer direkt aus dem Bauch und nur aus dem Bauch heraus denkt …)

Dieses Buch präsentiert faszinierende Beispiele für die Unterschiede zwischen dem weiblichen und dem männlichen Gehirn, Unterschiede, die bereits im Mutterleib angelegt wurden. Selbst unsere sexuellen Vorlieben entstehen teilweise schon vor der Geburt.

Ein anderes Kapitel basiert ausdrücklich auf der neuen Gendermedizin, obwohl sein Inhalt indirekt deutlichen Bezug zu den Werken von Shakespeare und Virginia Woolf, Agnon und Dahlia Ravikovitch nimmt. Es geht darin um die unterschiedliche Schmerzempfindung. Wer ist schmerzempfindlicher, Männer oder Frauen? Welche Schmerzarten nehmen Frauen stärker wahr als Männer? In welchen Lebensabschnitten? Dieses Kapitel schildert auch Diskussionen, die an den Grundfesten bestehender Konventionen rütteln und Vorurteile zu geschlechtsspezifischen Aspekten von Herzkrankheiten und Erkrankungen des Sexualsystems bis hin zu geschlechtsspezifischen Aspekten bezüglich des vorgeburtlichen Lebens im Mutterleib zerschlagen (auch die Vorurteile von Ärzten).

Hinzu kommt ein sensationelles Detail, nämlich die gut etablierte und schlüssige Einschätzung, dass im Reich der Evolution aus medizinischer Sicht eigentlich die Männer das schwächere Geschlecht sind. Das männliche Chromosom unterliegt einem Prozess der Verschlechterung, und es ist ausgesprochen wahrscheinlich, dass der Mann innerhalb der nächsten 200000 Jahre vom Antlitz der Erde verschwindet. (Unserer Ansicht nach sollten die Vereinten Nationen den Mann damit dringend zur bedrohten Art erklären. Wobei dies vermutlich für die gesamte Menschheit gilt, wenn man überlegt, was wir im Fernsehen so sehen.)

All diese Erkenntnisse werden in Gendermedizin vorgestellt, humorvoll und in einem faszinierend klaren, flüssigen Erzählstil, der beim Leser (zumindest bei mir) sehnsüchtige Erinnerungen an den guten, alten Hausarzt von einst heraufbeschwört, jemanden, der bei der Behandlung noch Zeit hatte, mit seinen Patienten zu reden, ihnen die Dinge verständlich zu erklären, Geschichten zu erzählen, laut nachdachte und faszinierende Erinnerungen und Einblicke mit uns teilte, die auf tiefer Weisheit und Lebenserfahrung beruhten. Der Arzt, der dieses Buch verfasst hat, weckt aber nicht nur Erinnerungen, sondern erzählt zugleich eine revolutionär neue Geschichte über uns, eine Geschichte, die viele überlieferte Grundsätze der Medizin auf den Kopf stellt und uns mit provozierenden, neuen Beobachtungen konfrontiert. Nicht nur zum eigenen Körper. Und nicht nur in Bezug auf die Medizin der Zukunft. Weit mehr als das: Glezerman ermöglicht uns auch sozial und kulturell, ja, sogar politisch ganz neue Sichtweisen.

Der Untertitel der hebräischen Version dieses provozierenden Buches lautet Auf dem Weg zum Offensichtlichen. Zu Recht. In der Wissenschaft und mitunter sogar außerhalb der Wissenschaft galt stets, dass etwas, was gestern noch unglaublich erschien, heute eher neugierig macht, herausfordert und Streit hervorruft, ehe es morgen offensichtlich ist.

Ich habe dieses Buch verschlungen wie einen Thriller. Und wie es einem oft mit Thrillern ergeht, sagte ich mir am Ende: »Das habe ich doch eigentlich längst gewusst.« Der Ausdruck »Gendermedizin« ist neu. Unser intuitives Wissen, dass Männer und Frauen in mancherlei Hinsicht unterschiedlich sind, ist natürlich alt – so alt wie die Menschheit selbst. Seit dem Aufkommen der Gendermedizin und der Veröffentlichung dieses lesenswerten, beredten Buches ist das, was wir immer gespürt, immer vermutet und immer überlegt haben, endlich offensichtlich.

Vorbemerkung des Autors

Dieses Buch ist für alle, die mehr über die Wunder des menschlichen Körpers erfahren möchten. Entstanden ist es aus einer Vorlesungsreihe für Laien in Zusammenarbeit mit der Universität Tel Aviv, die 2013/2014 ausgestrahlt wurde. Später wurde die Reihe auf Hebräisch als Buch veröffentlicht und seither viermal nachgedruckt. Für die englische Ausgabe habe ich das Buch noch einmal komplett umgeschrieben und um fünf neue Kapitel erweitert – in die deutsche Ausgabe sind außerdem weitere Ergänzungen und Aktualisierungen eingebracht worden.

In der gegenwärtigen Form richtet sich das Buch nach wie vor an Laien, wird aber hoffentlich auch Ärzten, Studierenden, Sanitätern, Krankenpflegern, Psychologen, Physiotherapeuten, Ernährungsfachleuten und allen anderen von Nutzen sein, die sich mit der Diagnose und Behandlung von Männern und Frauen befassen. Darüber hinaus gehe ich davon aus, dass alle Patienten (oder potenzielle Patienten) sich für dieses Buch interessieren dürften und mindestens ein bis zwei Punkte finden, die sie auf sich persönlich beziehen können. Die Hardcover-Ausgabe von 2016 enthielt über 280 Literaturhinweise und ein ausführliches Stichwortverzeichnis, damit Leser sich gründlicher in die Bereiche einarbeiten können, die ihnen besonders wichtig sind. In der Zwischenzeit habe ich viele Anfragen von Studenten und Kollegen erhalten, die um weitere Quellenangaben baten. Dieser Bitte bin ich selbstverständlich gerne nachgekommen.

Man muss dieses Buch keineswegs von Anfang bis Ende oder auch nur in der vorgegebenen Reihenfolge lesen. Abgesehen von den Kapiteln »Das Leben im Mutterleib, Teil 1« und »Das Leben im Mutterleib, Teil 2«, »Geschlechtsspezifische Aspekte bei der Fortpflanzung« und »Der unerfüllte Kinderwunsch« sowie »Männer – das schwächere Geschlecht« und »Ist der Mann vom Aussterben bedroht?«, die aufeinander aufbauen, kann jedes Kapitel für sich stehen. Der Grundtenor des gesamten Buches basiert auf der Einsicht, dass alle Körpersysteme bei Mann und Frau zwar ähnlich aussehen, aber unterschiedlich funktionieren und bei einer Erkrankung unterschiedlich auf Behandlungen ansprechen können. Ich habe zwar versucht, für dieses Buch die wichtigsten Themen zu wählen, doch aus Platzgründen musste ich dabei vieles auslassen, darunter Schlaf, Reisemedizin, Chirurgie, Geriatrie, Pädiatrie, Pulmonologie, Ophthalmologie, Onkologie, Dermatologie, Transplantationsmedizin, Grundlagenforschung, Psychologie und Sexualwissenschaften. All diese Gebiete sind für die Gendermedizin hochinteressant und werden hoffentlich anderweitig weiterverfolgt werden.

Eine Anmerkung zur Wortwahl: Um der Einfachheit willen verwende ich lieber einzelne Pronomen (sie/ihr oder er/sein) anstatt in jedem Fall die männliche und die weibliche Form zu nennen (sie/er oder ihr/sein). Im Zweifelsfall sind normalerweise beide Geschlechter gemeint. Ebenso werde ich in diesem Buch stets von Gendermedizin sprechen, obwohl es streng genommen um »geschlechts- und genderbasierte Medizin« geht. Wenn ich über den Fötus oder das Ungeborene spreche, unterscheide ich nicht zwischen Fötus und Embryo, und wenn ich eine Schwangere als »Mutter« bezeichne, ist mir durchaus bewusst, dass die Mutterschaft eigentlich erst mit der Entbindung beginnt. Vor allem aber sei gesagt: Wenn ich Unterschiede zwischen den Geschlechtern herausarbeite, meine ich damit nicht, dass alle Männer oder alle Frauen sich in dieser oder jener Hinsicht unterscheiden. Es gibt fast überall gewisse Überlappungen, und nicht alle Männer oder alle Frauen haben alle männlichen oder weiblichen Eigenheiten. Mir ist auch bewusst, dass viele Theorien und Hypothesen, die in diesem Buch vorgestellt werden, nicht überall akzeptiert werden und dass durchaus andere Theorien und Hypothesen existieren könnten, von denen ich nichts weiß. So ist die Medizin: Wir stoßen oft auf andere Ansichten und auf wissenschaftliche Daten, die einander zu widersprechen scheinen, aber gleichzeitig jeweils für sich korrekt sein mögen. Solche Kontroversen darzustellen, würde den Rahmen dieses Buches sprengen. In meinem Buch geht es um Menschen, die von Menschen behandelt werden. Darum kann es kein Schwarz und Weiß und kein absolutes Richtig oder Falsch geben.

Ihr Prof. Dr. Marek Glezerman

Anmerkung des Verlags:

Im Sinne des Autors wurde bei der Übersetzung ins Deutsche um der besseren Lesbarkeit willen zumeist die männliche Pluralform gewählt – bitte denken Sie sich bei Begriffen wie »Wissenschaftler« die engagierten »Wissenschaftlerinnen« und bei »Ärzten« die kompetenten »Ärztinnen« ausdrücklich hinzu.

EINLEITUNGWas ist Gendermedizin?

Im Laufe der sechs Millionen Jahre währenden menschlichen Evolution übernahmen Männer und Frauen unterschiedliche Aufgaben, um das Überleben der eigenen Art zu sichern. Neben einigen anderen Gründen haben sich aufgrund der Spezialisierung der Männer auf Jagd und Kampf sowie der Spezialisierung der Frauen auf Sammeln und die Versorgung von Angehörigen bei den Funktionsweisen der Körpersysteme von Mann und Frau bestimmte genetische Unterschiede herausgebildet.

Trotz der Tatsache, dass uns die speziellen gender- und geschlechtsbezüglichen Unterschiede zwischen Männern und Frauen zunehmend bewusst werden, verharrt die Medizin in der Praxis bis heute stur in der Vergangenheit. Wir lesen regelmäßig von Untersuchungen, denen zufolge Frauen – beispielsweise bei einem Herzinfarkt – ganz andere Symptome entwickeln als Männer, und dass die Unkenntnis solcher Unterschiede eine erhöhte Sterblichkeit und schlechtere Behandlung nach sich zieht. Es ist an der Zeit, die Medizin mit unserem neuen Verständnis für gender- und geschlechtstypische Unterschiede ins 21. Jahrhundert zu führen, und mit diesem Buch möchte ich Gespräche anregen, wie wir dies erreichen können. Vor einer Weile wurde ich um Rat gebeten. Es ging um eine junge Frau, bei der aufgrund wiederholter epileptischer Anfälle immer wieder Veränderungen der Medikation erforderlich waren. Es stellte sich heraus, dass ihre Anfälle häufiger und schwerer auftraten, wenn sie in der zweiten Zyklushälfte war. Zu diesem Zeitpunkt wird unter anderem verstärkt Progesteron ausgeschüttet, ein Hormon, das Mittel gegen Epilepsie in gewissem Maße neutralisieren kann. Die angemessene Behandlung für diese Frau lag also nicht in einer Umstellung der Medikamente, sondern in einer Dosiserhöhung während dieses speziellen Zeitfensters. Ihr Neurologe akzeptierte diesen Vorschlag, und das Problem war gelöst. Dieses Beispiel verdeutlicht, wie das Verständnis für die physiologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau einen Behandlungsansatz erfolgreich beeinflussen kann.

Die menschliche Entwicklung

Aus kosmischer Sicht entspricht die Geschichte der Menschheit eher dem Bruchteil einer Sekunde. Dennoch hat sich unsere genetische Ausprägung über Millionen Jahre hinweg entwickelt. Begonnen hat alles vor etwa vier bis sechs Millionen Jahren. Es vergingen zwei Millionen Jahre, bis unsere Vorfahren lernten, Werkzeuge zu verwenden. Nach einer weiteren Million Jahre stellten wir uns auf die Hinterbeine und wurden zum Homo erectus – dem aufrecht gehenden Menschen. Eine Million Jahre darauf tauchten die ersten Neandertaler auf, und vor etwa 100000 Jahren schließlich unsere heutige Spezies, der Homo sapiens (»der weise Mensch«).

Im Gegensatz zu dieser langen genetischen Entwicklung spielte sich die uns bekannte kulturelle Entwicklung des Menschen – die Bibel, die ägyptischen Pyramiden, Philosophie, Mathematik, Medizin, Landwirtschaft und dergleichen – erst in den letzten 5000 bis 10000 Jahren ab. Erst vor 25 Generationen lernten wir, den Kompass so zu nutzen, dass wir damit Meere und ganze Ozeane überqueren konnten, und erst vor 20 Generationen entstand die mechanische Uhr, mit deren Hilfe wir die Zeit messen und in genaue Einheiten unterteilen können. In (relativ) rascher Abfolge erfanden wir das Mikroskop, die Druckerpresse, die Dampfmaschine und das Automobil. Hinzu kamen die revolutionären Entwicklungen, die Menschen in den letzten 80 Jahren – nur zwei Generationen – zustande gebracht haben: Die Entdeckung des Penizillins und des Insulins, die Millionen Menschen das Leben gerettet haben, bemerkenswerte Entdeckungen auf Gebieten wie Landwirtschaft, Bauwesen, Mechanik, Optik, Transportwesen, Luftverkehr und der Erforschung des Universums, aber auch die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen. Und was ist mit der jüngsten Generation? Parallel zu derselben exponentiellen Kurve an Erfindungen und Innovationen haben wir Instrumente entwickelt, dank derer unsere Welt kaum noch wiederzuerkennen ist: PC, Internet, Smartphone und soziale Netzwerke, all dies entstand innerhalb von nur einer Generation und hat insgesamt eine völlig neue Umgebung geschaffen, die sich enorm von der unserer technisch weniger fortgeschrittenen Vorfahren unterscheidet.

Was können wir daraus lernen?

Zunächst einmal verlief die Entwicklung des Menschen die meiste Zeit langsam und über lange Zeiträume linear. Wenn die Lebensbedingungen und insbesondere das Klima auf unserem Planeten sich im Verlauf der Jahrmillionen änderten, passten unsere Vorfahren sich an. Wärmeperioden und Eiszeiten haben sich auf der Erde mehrfach abgewechselt, und diese Veränderungen führten zum Verschwinden bestimmter prähistorischer Ausprägungen des Menschen. Gleichzeitig tauchten andere Spezies auf und konnten sich ausbreiten. Menschen lernten, auf zwei Beinen zu stehen, entdeckten den Gebrauch des Feuers, zähmten Tiere und erfanden den Ackerbau. All diese Ereignisse spielten sich über einen größeren Zeitrahmen hinweg ab und haben letztlich unsere Fähigkeiten, mit unserer jeweiligen Umwelt fertigzuwerden, verbessert und erhebliche biologische Veränderungen forciert.

Kultur, Technik und der menschliche Körper

Während unsere Biologie auf eine lange Geschichte zurückblickt, haben die meisten massiven Veränderungen unsere Lebensweise erst in den letzten 100 bis 150 Generationen stattgefunden, also in den letzten Jahrtausenden. In dieser Phase nahm die Menschheitsentwicklung deutlich an Fahrt auf, wie Ray Kurzweil es in seiner Pionierarbeit »Menschheit 2.0«1 darlegt. Darin erklärt Kurzweil, wie die menschliche Biologie, die bis vor kurzem sehr langsam fortgeschritten ist, erzwungenermaßen mit dem schwindelerregenden Tempo der technischen Entwicklungen fertigwerden muss, die um uns herum ablaufen. Diese Beschleunigung betrifft alle Bereiche unseres Lebens, ganz besonders aber die Gesundheit. Während wir immer fortschrittlichere Techniken zur Krankheitsbehandlung und zur Erweiterung unserer begrenzten menschlichen Fähigkeiten entwickeln, geht das kollektive Wissen über die lange Geschichte des menschlichen Körpers verloren – und damit einer der grundlegenden Faktoren zur Funktionsweise unserer Körper.

Im Verlauf unserer Existenz hatte unsere Spezies ausreichend Zeit, sich an ihre Umgebung anzupassen. So haben wir Eigenschaften, Kenntnisse und Fähigkeiten entwickelt, die angesichts natürlicher Gefahren das Überleben und Fortbestehen der Art sichern konnten. Laut Darwin hatten diejenigen, die sich am besten an ihre Umwelt anpassten, am lernfähigsten waren und passende Fähigkeiten entwickeln und an ihren Nachwuchs weitergeben konnten, bessere Überlebenschancen als diejenigen, die dies nicht vermochten. Mit der Zeit wurden solche Vorteile damit Teil unserer genetischen Struktur, die an spätere Generationen weitervererbt wurden.

Das bedeutet wiederum, dass unsere Körper allem modernen Schnickschnack zum Trotz bestimmte Verhaltensweisen unserer Ahnen verinnerlicht haben. Um unsere Biologie zu verstehen, müssen wir uns zunächst vor Augen halten, wie unsere frühen Vorfahren gelebt haben (schon vor zwei Millionen Jahren in Höhlen) und wie ihr damaliges Verhalten noch heute unsere Gesundheit beeinflusst. Genaue Aufzeichnungen aus der Zeit des prähistorischen Höhlenmenschen fehlen natürlich, sodass wir uns auf Hypothesen, Mutmaßungen und spärlich gesäte Beweise verlassen müssen. Es gibt jedoch starken Grund zu der Annahme, dass die soziale Rollenverteilung – die im Laufe der menschlichen Entwicklung bemerkenswert statisch blieb – zu signifikanten äußerlichen und physiologischen Unterschieden zwischen beiden Geschlechtern geführt hat. Dieser Unterschied, der in der Medizin gegenwärtig kaum beachtet wird, bildet die Grundlage für die moderne gender- und geschlechtsspezifische Medizin.

Geschlechterrollen

Wir dürfen davon ausgehen, dass das Bedürfnis nach einer Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen in erster Linie mit der Fortpflanzung und der unterstützenden Sozialstruktur zu tun hatte. Das Wichtigste dabei war der Instinkt, Kinder zu bekommen und großzuziehen, um das Fortbestehen der eigenen Art zu sichern. Die Frauen, die Kinder zur Welt brachten, stillten und aufzogen, waren naturgemäß stärker an die Höhle oder später ihren dauerhaften Wohnsitz gebunden. Während und nach der Schwangerschaft waren sie besonders verwundbar und schutzbedürftig. Ihre Hauptaufgabe bestand somit darin, eine Schwangerschaft gefahrlos zu überstehen, Kinder aufzuziehen, das »Nest« zu versorgen und durch das Sammeln von Nahrung rund um den Wohnplatz ihren Anteil zur allgemeinen Wirtschaftsform beizusteuern. Den Männern kam die Aufgabe zu, die Gruppe zu beschützen und über das Erjagen von Wild proteinreiche Nahrung zu beschaffen. Zur Erfüllung dieser Aufgaben waren im männlichen und im weiblichen Körper unterschiedliche Entwicklungen erforderlich, die zu körperlichen Merkmalen geführt haben, die auch beim modernen Menschen noch vorliegen. Besonders auffällig ist dabei die Körpergröße. Männer sind durchschnittlich acht bis zehn Prozent größer als Frauen und haben rund 20 bis 30 Prozent mehr Muskelmasse.

Dass Männer größer, breiter und stärker sind, ist ein Vorteil, der heute überflüssig erscheinen mag, zumal sich unsere Sozialstruktur seit prähistorischen Zeiten erheblich verändert hat. Man könnte sogar das Gegenteil behaupten: Manche Merkmale des körperlich überlegenen Mannes sind für die Gesellschaft heute eher hinderlich als förderlich. Die höhere Aggressivität des Mannes (aufgrund seiner Hormonlage und seiner Körperkraft) ist eine der Ursachen für Gewalt in der Gesellschaft insgesamt und insbesondere gegen Frauen. Die meisten Gewaltverbrechen werden von Männern verübt. Wenn Maskulinität sich nicht ausgerechnet in Form von mehr Körperkraft und Muskelmasse ausdrücken würde, wäre das Problem der Gewalt gegenüber Frauen weniger allgegenwärtig. Was einst überlebenswichtig war, erscheint heute mitunter nicht nur überflüssig, sondern sogar lebensfeindlich.

Die Unterschiede: einige Beispiele

Ein weniger offensichtliches Relikt der männlichen Biologie betrifft die Schmerztoleranz. Der männliche Jäger konnte seine eigenen Überlebenschancen und die seiner Familie dank einzigartiger Fähigkeiten und Merkmale erhöhen. Als Jäger und Krieger entwickelten Männer eine höhere Schmerztoleranz als Frauen. Auf diesen Genderunterschied gehe ich in Kapitel 10 »Genderabhängige Schmerzwahrnehmung und Schmerzbewältigung« näher ein. Schmerzen ertragen zu können galt in alten Zeiten vermutlich wie noch heute als Zeichen für Männlichkeit. Die biologische Grundlage für diese größere Schmerztoleranz ist das männliche Hormon Testosteron.2 Schon im Alter zwischen 30 und 40 Jahren geht der Testosteronspiegel beim Mann allmählich zurück und mit ihm auch die Schmerztoleranz. Ältere Männer klagen nicht einfach vermehrt über Schmerzen; sie sind tatsächlich schmerzempfindlicher als in ihrer Jugend.

Auch die verbalen Fähigkeiten von Männern und Frauen sind unterschiedlich stark ausgeprägt, was wiederum eine interessante Bedeutung für die Gehirnfunktion hatte. Für Männer war Sprache ein Medium, das entscheidende Informationen übermittelte. Auf der Jagd war überflüssiges Reden nicht nur unnötig, sondern es konnte auch die Beute verjagen oder unerwünschte Aufmerksamkeit von Raubtieren oder Feinden erregen. Frauen hingegen, die gemeinsam zum Nahrungssammeln aufbrachen, hatten mehr Kommunikationsfreiheit. Sie kommunizierten miteinander über die Pflanzen, die sie bei der Arbeit entdeckten, stellten Fragen und warnten einander vor möglichen Gefahren.

Im Zeitalter moderner Bildgebungsverfahren bekommen solche Unterschiede neue Bedeutung. Die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) gestattet die Aufzeichnung der Gehirnaktivität unter unterschiedlichen Bedingungen. Wenn eine Person beispielweise ärgerlich oder traurig ist, wenn sie lacht oder verschiedene Denkprozesse ablaufen, sieht man, welche Hirnregionen aktiv werden. Forscherteams stellten überrascht fest, dass identische Aktivitäten im männlichen Gehirn andere Areale aktivieren als im weiblichen Gehirn. Zum Beispiel wurde bei verbalen Aktivitäten bei Männern eine bestimmte Region in der linken Gehirnhälfte angesprochen, wohingegen bei Frauen andere Regionen in beiden Gehirnhälften reagierten.3 Das führte zu der These, dass Männer ein einziges Sprachzentrum haben, wohingegen die meisten Frauen zwei oder mehr besitzen. Was wiederum eine biologische Begründung für ein Talmud-Sprichwort wäre: »Zehn Maße der Rede stiegen in die Welt hinab: Neun davon nahmen die Frauen.« Aus Sicht der Gendermedizin ist dies ein signifikanter Unterschied: Wenn ein Schlaganfall bei einer Frau das Sprachzentrum beeinträchtigt, spricht sie besser auf die Behandlung an und erholt sich im Allgemeinen schneller als ein Mann, dem etwas Vergleichbares zugestoßen ist.4 Die zentrale Bedeutung der verbalen Aktivität bei Frauen könnte auch einer der Gründe sein, weshalb Mädchen früher sprechen als Jungen und warum sie sich ein breiteres Vokabular aneignen. Im Durchschnitt sind die verbalen Fähigkeiten bei Frauen höher entwickelt als bei Männern, und das beginnt schon in der frühen Kindheit.5, 6, 7

Auch die Immunsysteme von Männern und Frauen unterscheiden sich infolge von sehr alten geschlechtsspezifischen Rollenverteilungen. In den Jahrmillionen der Menschheitsentwicklung waren vor allem die Frauen – ob allein oder in Gruppen – für die Kinder verantwortlich. Außerdem haben Mütter ihre Kinder so lange wie möglich gestillt. Deshalb waren Säuglinge und Kleinkinder ihren Müttern körperlich deutlich näher als ihren Vätern, ein Muster, das noch heute besteht. (Männer übernehmen erst in jüngerer Zeit und in bestimmten Gesellschaftsschichten der entwickelten Länder eine aktivere Rolle in Bezug auf die Betreuung kleiner Kinder.)

In der Gendermedizin spielt der Umstand, dass das Wohlergehen und Erziehen der Kinder historisch gesehen Frauensache war, eine besondere Bedeutung. Der enge körperliche Kontakt, den diese Rolle mit sich brachte, bedeutete für Frauen ein höheres Risiko, sich bei ihren Babys und Kleinkindern mit Infektionskrankheiten anzustecken. Zum besseren Schutz entwickelten sie daher ein robusteres Immunsystem als Männer. Von diesem Erbe profitieren Frauen bis heute in Form einer geringeren Infektanfälligkeit. Allerdings hat die Medaille ihre Kehrseite, denn Frauen neigen verstärkt zu Autoimmunkrankheiten, bei denen das Immunsystem Amok läuft und den eigenen Körper angreift, anstatt ihn zu schützen.8 Mittlerweile sind über 70 Autoimmunkrankheiten bekannt, die größtenteils deutlich mehr Frauen als Männer befallen. Hierzu zählen Arthritis (vier Mal mehr betroffene Frauen als Männer), Autoimmunthyreoiditis (acht Mal mehr betroffene Frauen als Männer) und Lupus erythematodes (zehn Mal mehr betroffene Frauen als Männer).

Auf orthopädischem Gebiet bestehen andere Genderunterschiede, die gesundheitlich unterschiedliche Entwicklungen in Gang gesetzt haben. Im Laufe von Jahrmillionen haben die Frauen aufgrund ihrer Verantwortung für die Kinder feinmotorisch geschicktere Hände entwickelt, was sich bis heute beobachten lässt. Bei den meisten Frauen ist das Daumengelenk deutlich beweglicher als bei Männern.9 Auch hier gilt, dass der Vorteil dieser erhöhten Feinmotorik heutzutage eher in den Hintergrund rückt, die Frauen jedoch weiterhin einen Preis dafür zahlen. So beginnt Arthritis bei Frauen häufig am Daumengelenk.

Abschließend sind Frauen aufgrund ihrer Beckengröße, die für die Gebärfähigkeit entscheidend ist, anfälliger für Knieverletzungen. Als der Mensch vor etwa drei Millionen Jahren zum aufrechten Gang überging, mussten Frauen eine andere Haltung entwickeln als Männer. Sie halten das Gleichgewicht, indem sie die Knie im Stehen stärker durchdrücken. Dadurch lastet auf ihren Knien ein höheres Gewicht, und deshalb treten Knieverletzungen bei Sportlerinnen zwei bis acht Mal häufiger auf als bei männlichen Sportlern.10

Wegen ihrer Spezialisierung auf den Umgang mit den Kleinsten mussten Mütter auch in der Lage sein, Säuglingen am Gesicht abzulesen, was sie brauchten. Aus diesem Grund ist die Fähigkeit, insbesondere Mimik, aber auch Körpersprache insgesamt zu verstehen, bei Frauen im Allgemeinen stärker entwickelt als bei Männern11 (siehe Kapitel 12 »Männer – das schwächere Geschlecht«). Die weibliche Intuition stützt sich in hohem Maße auf diese Fähigkeiten, die für Frauen bis heute charakteristisch sind. Aus Sicht der Gendermedizin ist das Erkennen nonverbaler Signale wichtig für die Arzt-Patienten-Kommunikation (Kapitel 14 »Die Arzt-Patienten-Beziehung aus männlicher und weiblicher Sicht«). Das sind nur einige der vielen Beispiele, die ich in diesem Buch ansprechen möchte. Sie demonstrieren, wie sehr die Umwelt des prähistorischen Menschen noch heute den Körper formt und nach wie vor unsere Gesundheit beeinflusst. Wenn wir eine Medizin entwickeln wollen, die den körperlichen Ansprüchen von Männern und Frauen gleichermaßen gerecht wird, müssen wir diese geschichtlichen Faktoren verstehen.

* * *

Gendermedizin: eine vielseitige Disziplin

Das zentrale Ziel der Gendermedizin ist die Anerkennung physiologischer und pathophysiologischer Unterschiede zwischen Männern und Frauen bei der Behandlung ihrer Körper. Die meisten derartigen Unterschiede haben sich im Verlauf der Jahrmillionen unserer Evolution herausgebildet und existieren bis heute, obwohl wir davon kaum noch profitieren. Das unbestreitbare Vorliegen dieser Unterschiede erfordert jedoch, dass der ärztliche Berufsstand offen anerkennt, dass Männer und Frauen in Bezug auf ihre Gesundheit unterschiedliche Bedürfnisse haben.

Wir brauchen mehr Untersuchungen zu Krankheiten, die beide Geschlechter betreffen, sich aber jeweils unterschiedlich manifestieren. Wir müssen begreifen, warum bestimmte Erkrankungen bei Männern und Frauen nicht in derselben Häufigkeit und mitunter auch unterschiedlich schwer auftreten. Wir müssen auch herausfinden, wie Medikamente auf das jeweilige Geschlecht wirken und in welchem Ausmaß sie bei Männern und Frauen jeweils unterschiedliche Nebenwirkungen hervorrufen. Und wir müssen lernen, wie sich die Ergebnisse aus Tierversuchen auf beide Geschlechter des Menschen übertragen lassen.

Diagnoseprozesse hängen unter anderem davon ab, wie gut ein Diagnoseinstrument für Männer und Frauen geeignet ist. Doch auch das Geschlecht desjenigen, der die Diagnose stellt, beeinflusst das Ergebnis. Angesichts all dieser Punkte will die Gendermedizin Krankheiten neu definieren und als Speerspitze für präzisere, spezialisierte Diagnose- und Behandlungsverfahren für Männer und Frauen dienen. Damit ist Gendermedizin für alle Fächer der Medizin und für vieles mehr von Bedeutung. Letztlich ist dieser neue Blickwinkel auf den Menschen für jeden Berufszweig wichtig, der sich um Männer und Frauen kümmert, und natürlich für jeden Menschen, der behandelt, versorgt oder gepflegt wird. Deshalb möchte ich ein breites Themenspektrum aus unterschiedlichen Fachgebieten ansprechen. Ich beginne mit einigen grundsätzlichen Erläuterungen zu Gendermedizin und personalisierter Medizin (auch als individualisierte oder auch Präzisionsmedizin bezeichnet). Da Genderunterschiede schon im vorgeburtlichen Leben ihren Ursprung haben, widme ich diesem Thema zwei Kapitel. In einem ergänzenden Kapitel geht es um die gern ausgeblendete Frage, wie Stress, dem eine Schwangere ausgesetzt ist, ihr ungeborenes Kind beeinflussen und später psychische Probleme hervorrufen kann, die sich bei Männern und Frauen unterschiedlich äußern. Bei der Frage, welche Körpersysteme ich unter dem Genderaspekt näher beleuchten wollte, musste ich eine Wahl treffen. Jedes Organ, jedes Körpersystem und jedes Fach der Medizin hätte jede Menge Beispiele für Genderunterschiede bieten können. Ich habe das Herz und das Verdauungssystem ausgewählt, doch es hätten sich auch andere Systeme angeboten. Kein Buch über Gendermedizin kann das Sexualsystem ausklammern, wo die offensichtlichsten genderspezifischen Themen verankert sind, sodass ich auch dazu zwei Kapitel geschrieben habe. Vier Kapitel befassen sich mit übergreifenden Themen wie Schmerzen, der Temperaturregulierung oder gendertypischen Aspekten der Arzt-Patienten-Beziehung, wobei letzteres wiederum einige Ausführungen über das allgemeine Kommunikationsverhalten erforderlich macht. Abschließend – und um zu betonen, dass Gendermedizin mehr ist als ein ambitionierter Vorstoß der Gynäkologie – widme ich zwei Kapitel mit provozierendem Titel dem Mann.

Bevor wir uns nun den Genderunterschieden zuwenden, sollten wir die Begriffe Gendermedizin und personalisierte Medizin voneinander trennen. Da dieses Thema häufig zu Diskussionen führt, gehe ich gleich im ersten Kapitel ausführlicher darauf ein.

1. Biologisches und soziokulturelles Geschlecht und die personalisierte Medizin

Begriffsklärung von Männlichkeit und Maskulinität, Weiblichkeit und Femininität, biologischem und soziokulturellem Geschlecht (Gender). Wie beeinflussen unsere Gene und unser Lebensumfeld Gesundheit und Krankheit?

Eines möchte ich von vorneherein klarstellen: Der Begriff Gendermedizin ist streng genommen nicht richtig. Ich habe diesen Begriff der Einfachheit halber gewählt, und ehe wir uns näher mit den medizinischen Dimensionen von Geschlecht und Gender befassen, möchte ich die Unterschiede zwischen diesen beiden eng verknüpften, aber doch unterschiedlichen Konzepten veranschaulichen.

Der Begriff Gender stammt ursprünglich aus der Soziologie und bezieht sich auf eine Gruppe Menschen in der Gesellschaft, die gemäß bestimmter einzigartiger Merkmale dieser Gruppe – wie Kultur, Sozialgefüge, Bräuche, Verhalten, Werte und Geschlecht – zusammengefasst werden. In diese Genderdefinition fällt auch das soziokulturelle Geschlecht, also die Rolle in der Gesellschaft, Selbstdefinitionen und gesellschaftliche Erwartungen, wie man sich kleidet und viele andere Punkte. Gendermerkmale sind dabei fließend, sie können sich mit der Zeit oder je nach Umgebung ändern. Sie sind nicht biologisch festgelegt, sondern eher vom jeweiligen sozialen Umfeld. Gender ist also kein unveränderliches Kennzeichen, sondern eher etwas, was jemand tut, wie er oder sie handelt und sich in einer bestimmten Umgebung verhält (und nicht was jemand ist).1

Das Geschlecht hingegen ist (zumindest beim Menschen) biologisch und im Erbgut definiert. Wir unterscheiden zwischen dem genotypischen Geschlecht (ob jemand ein Y-Chromosom hat oder nicht) und dem phänotypischen Geschlecht (die individuelle Ausprägung dieser Chromosomenstruktur und der Gene in Bezug auf die äußere Erscheinung und die Eigenschaften). Die Genexpression, die insgesamt das phänotypische Geschlecht erzeugt, kann auch von weiteren Faktoren wie der Epigenetik und hormonellen Prozessen beeinflusst werden. (Hierzu komme ich später und in den Kapiteln 2 und 3 »Das Leben im Mutterleib, Teil 1« und »Das Leben im Mutterleib, Teil 2«).

In der Tierwelt ist das Geschlecht fließender und nicht zwingend von den Chromosomen bestimmt. Bei Schildkröten und Krokodilen wird das Geschlecht von der Umgebungstemperatur zur Zeit des Schlüpfens bestimmt. Schildkröten, die bei unter 27 Grad Celsius aus dem Ei schlüpfen, werden Männchen, diejenigen, die bei höheren Temperaturen schlüpfen, werden Weibchen. Bei Krokodilen ist es genau umgekehrt.2 Manche Fische, die in Korallenriffen leben, können ihr Geschlecht wechseln – von weiblich zu männlich oder andersherum –, wenn bestimmte Umweltauslöser vorliegen, zum Beispiel, wenn das dominante Männchen der Gruppe stirbt. Dieser Wechsel umfasst das äußere Erscheinungsbild, die Sexualorgane, die Sexualdrüsen und die Fähigkeit, Spermien zu erzeugen. Der ganze Prozess dauert nur wenige Tage.3

Während die Natur viele Beispiele für die Fälle bereithält, in denen das Geschlecht eher von Umweltbedingungen als von einer starren Chromosomenstruktur bestimmt wird, sind die meisten Säugetiere biologisch auf männlich oder weiblich festgelegt. Veränderungen der Chromosomenstruktur erfordern weit mehr als einen Todesfall in der Familie. Sie entstehen durch winzige evolutionäre Veränderungen über den Verlauf von Tausenden bis Zehntausenden von Jahren.

Das biologische Geschlecht scheint also fest verankert zu sein, doch seit diejenigen, die in LGBTQ-Kategorien (lesbisch, schwul, bisexuell, transgender und fraglich) fallen, zunehmend sichtbar werden und Gleichstellung einfordern, sehen wir, dass die genetischen Eigenschaften des männlichen und des weiblichen Geschlechts keineswegs bedeuten, dass Männlichkeit und Weiblichkeit biologisch verankert und nicht für Grundeigenschaften verantwortlich sind. Vielmehr beruhen unsere Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit auf Gesellschaft und Erziehung, sozialen Wertesystemen und geschlechtstypischen Rollenzuweisungen und unterliegen einem raschen Wandel. So können bestimmte Berufe oder Verhaltensweisen innerhalb weniger Jahre ihre maskuline oder feminine Note verlieren. Denken Sie nur daran, wie rasch sich Vorstellungen von »femininer Kleidung« in der Modewelt verändern oder wie maskulines Verhalten in unterschiedlichen Kulturen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten innerhalb dieser Kulturen definiert wird. Die Kategorien Geschlecht und Sexualität sowie die sozialen Unterkategorien von Männlichkeit und Weiblichkeit sind weder binär noch schließen sie einander gegenseitig aus. Biologische und soziale Kategorien existieren entlang eines Kontinuums, und es gibt unvermeidbare Überlappungen zwischen diesen Unterteilungen. Das heißt, die Linien, die umweltbedingte und biologische Veränderungen einerseits und Weiblichkeit und Männlichkeit andererseits trennen, sind eher unscharf. Gendermedizin – die Disziplin, die all diese Aspekte des biologischen und soziokulturellen Geschlechts beachtet – müsste also eigentlich als geschlechts- und genderbezogene Medizin bezeichnet werden oder noch besser als gender- und geschlechtsbewusste Medizin.

Nachdem dies geklärt ist, möchte ich darauf eingehen, wie Gendermedizin diese speziellen Faktoren anspricht und einbezieht, um dem individuellen Patienten besser gerecht zu werden. Die nachfolgende Grafik beschreibt Struktur und Interessensgebiete der Gendermedizin. Die Basis bilden die Chromosomen, sozusagen als biologische Hardware. Die nächste Schicht sind die biologischen Veränderungen, denen Männer und Frauen im langen Verlauf der Evolution unterworfen waren. Diese biologischen Anpassungen haben unseren Vorfahren gestattet, bestimmte Bedürfnisse im Zusammenhang mit ihren sozial definierten Genderrollen zu bedienen, wo die Männer eher Jäger und Verteidiger waren und die Frauen sammelten und für die Kinder zuständig waren. Diese Veränderungen wurden genetisch von Generation zu Generation weitergereicht, und dieses Erbe bildet die Grundlage für die wichtigsten biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern, die wir beim Menschen heute beobachten.

Definition GendermedizinKörperliche Anpassung bezieht sich auf die Anpassung des menschlichen Körpers an die Rollenanforderungen, die Menschen im Verlauf der Jahrmillionen ihrer Evolution erfüllt haben.Umgebung bezieht sich auf die Anpassung des menschlichen Körpers an die Rollenanforderungen, die Menschen in der jeweiligen Gesellschaft aktuell ausfüllen.

Abschließend habe ich diese biologischen, im Erbgut verankerten Ebenen um eine zusätzliche Schicht ergänzt, die soziale und umgebungsbedingte Einflüsse enthält, also die Schicht des soziokulturellen Geschlechts (Gender). Alle Komponenten des Gesamtgebildes stehen in engem Zusammenhang mit Gesundheit und Krankheit.

Wie ich nachfolgend erklären werde berücksichtigt Gendermedizin sowohl den soziokulturellen Genderaspekt als auch dessen biologischen Anteil. Beides trägt entscheidend zum Verständnis der Arbeitsweise des Körpers (und deren Störungen) bei und wie wir Patienten heute am effektivsten behandeln können.

Umweltbezogene Gendermedizin

Umweltbezogene Gendermedizin berücksichtigt, dass gendertypisches Verhalten und gesellschaftliche Normen sich auf die Körper von Frauen und Männern sehr unterschiedlich auswirken können. Zur Erklärung führe ich einige Beispiele an:

Frauen sind anfälliger für die Infektionskrankheit Trachom, die zur Erblindung führen kann. Die unterschiedlichen Erkrankungsziffern beruhen in erster Linie auf Umweltfaktoren und Genderrollen. Das Trachom wird durch bestimmte Bakterien – Chlamydien – verursacht, die durch Fliegen übertragen werden. Die Fliegen werden von Sekreten um Augen und Mund von Kindern angezogen, die in schlechten hygienischen Verhältnissen leben; so ist die Krankheit beispielsweise in Dörfern im Sudan sehr verbreitet. Die Kinder erkranken, und ihre Mütter erkranken wiederum über den engen Kontakt zu den Kindern. Weil in dieser Region praktisch ausschließlich die Frauen für die Kinder zuständig sind, stecken sie sich weitaus häufiger an als Männer.Ähnlich ist es bei der Ansteckung mit Schistosomiasis (auch als Bilharziose bezeichnet), die über den Wurm Schistosoma übertragen wird. Dieser Parasit erreicht eine Länge von sieben bis 20 Millimeter, lebt vornehmlich in Flüssen und Seen in Afrika und in Ostasien und dringt über die Haut in den Körper ein. Anschließend nistet er sich in den inneren Organen seines Wirts ein, was bis zum Organversagen führen kann. Von dieser Krankheit sind etwa 200 Millionen Menschen auf der Welt betroffen, in erster Linie Frauen. Warum? In vielen Regionen, wo die Schistosomiasis verbreitet ist, sind Frauen für die Wäsche und das Putzen zuständig. Demzufolge stehen sie deutlich länger barfuß in Flüssen und sind einem höheren Risiko ausgesetzt, mit dem Parasiten in Kontakt zu kommen. Bei umgekehrter Rollenverteilung – wenn die Männer mehr Zeit in den verseuchten Flüssen verbringen würden – wären vermutlich mehr Männer von der Erkrankung betroffen.Malaria, die von einem Einzeller hervorgerufen wird, der von der Anopheles-Mücke übertragen wird, ist bei Männern deutlich stärker verbreitet. In den Regionen der Welt, wo diese Mücken häufig sind, verlangen kulturelle und religiöse Normen, dass Frauen sich von Kopf bis Fuß bedecken. Dadurch sind sie besser vor Moskitostichen geschützt als die Männer, die mehr nackte Haut zeigen.Das Karpaltunnelsyndrom, eine verbreitete Erkrankung, bei der als Reaktion auf ständig wiederkehrende Belastungen der Medianusnerv im Karpaltunnel des Handgelenks eingeklemmt wird, ist bei Frauen doppelt so häufig wie bei Männern.4, 5 Das liegt daran, dass Arbeiten, die mit sich wiederholenden Hand- und Handgelenksbewegungen verbunden sind – zum Beispiel Kellnern und insbesondere Tastaturschreiben –, als typische Frauenberufe gelten. Denken wir einmal an eine Schreibkraft, die 400 Anschläge pro Minute schreibt. Innerhalb ihres achtstündigen Arbeitstags schafft sie rund 190000 Anschläge. Wenn für jeden Anschlag auch nur 20 Gramm Kraft erforderlich sind, sind ihre Handgelenke im Laufe dieses Tages vier Tonnen Kraft ausgesetzt!

Diese Beispiele belegen, dass wir verstehen müssen, wie das Sozialgefüge sich gendertypisch auswirkt. Nur so können wir gezielte Maßnahmen zum besseren Schutz der menschlichen Gesundheit einleiten.

Biologische Gendermedizin