Fräulein Kubitschek pfeift auf die Liebe - Anna Stein - E-Book

Fräulein Kubitschek pfeift auf die Liebe E-Book

Anna Stein

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Beschreibung

Charlotte Kubitschek ist 34 und glaubt nicht an die Liebe. Sie braucht keinen Mann für alle Lebenslagen, sondern nur für die eine, die man im Bett einnimmt. Wenn sie die Männer morgens in Boxershorts aus ihrer Berliner Wohnung schiebt, fühlt sich ihre 94-jährige Nachbarin Elise bestätigt: »Dat Frollein Kubitschek hat keen Charakter.« Charlotte hingegen nennt die meckernde Alte nur "die fiese Elise". Als das Haus luxussaniert werden soll, müssen sich die beiden Streithähne zusammenraufen, um sich gegen ihren Vermieter zu verbünden. Schon bald bemerken sie, dass sie nicht nur die Liebe zum Swing teilen, sondern Elise verrät Charlotte auch ein Geheimnis, das ihr Leben für immer verändert. Anna Stein erzählt mit raubeiniger Zärtlichkeit, lebenskluger Güte und erfrischender Schnodderschnauze von der magischen Kraft der Sehnsucht.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 252

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Anna Stein

Fräulein Kubitschek pfeift auf die Liebe

Roman

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Charlotte glaubt nicht an die Liebe. Sie braucht keinen Mann für alle Lebenslagen, sondern nur für die eine, die man im Bett einnimmt. Sie will das Leben genießen und jede Nacht in Berliner Clubs zu Swing-Musik tanzen. Wenn sie die Männer am nächsten Morgen nur in Schlüppis bekleidet aus ihrer Wohnung schiebt, fühlt sich die 93jährige Nachbarin Elise bestätigt: »Dat Fräulein Kubitschek ist een ganz schönes Luder und hat überhaupt keen Charakter.« Charlotte hingegen nennt die miesepetrige alte Schachtel nur »die fiese Elise«.

Als ihr Haus luxussaniert werden soll, müssen sich die beiden Streithähne zusammenraufen, um sich gegen ihren Vermieter, den Halsabschneider Sattkowski, zu verbünden. Zu allem Übel stellt der auch noch einen neuen Assistenten ein – den »French Bauleiter« Arthur. Und Arthur wirbelt Charlottes Lebensphilosophie gehörig durcheinander und sorgt für großes Chaos.

Inhaltsübersicht

Motto

Eine kleine Kriminelle in einer großen Stadt

Ein Likörchen am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen

Mixtape des Lebens

Schwerenöter haben es nicht leicht

Lieber dreist als feist

Der gute alte Paragraph eins

Schneekönigin im Lacoste-Shirt

Swing ist voll ihr Ding

Wer anderen ’ne Grube gräbt, kippt selba rin

Zusammen ist man mehr gemein

Heinrich Schliemann in der Kehrbachstraße

Eine geile Sau in nachtblau

Die Gäste machen den Club

Das ekelhafte Wort mit G

Mediaspree ist keine bonne Idee

Raider heißt jetzt Twix – sonst ändert sich nix

Das ollste und tollste Geschenk

Baby macht Johnny nass

Befehlsverweigerin

Das Leben ist ein Wunschkonzert

Selbstgespräche sind die besten Gespräche

Warum alte Menschen immer erdfarbene Kleidung tragen

Gibt es wirklich ein Leben außerhalb des S-Bahnrings?

Wie man dicke Luft in dünne Scheiben schneidet

Fiese Elise

Im falschen Film

Ein bisschen Spaß muss sein

Beichte

Trinkt der Gevatter Tod auch Kirschlikör?

Aus die Maus

Wie ein Floh im Hundefell

Ein Herz in den Schnee pinkeln

 

 

 

 

Love is possible

Graffito-Spruch an Berliner Hauswand

Eine kleine Kriminelle in einer großen Stadt

Charlotte stand im Bademantel vor der Tür der Nachbarwohnung und fummelte am Schloss herum. Es schnappte zurück, und die schwere Holztür ging langsam auf. Ganze zwanzig Sekunden hatte sie heute gebraucht. Das war neue Einbruchsbestzeit. Charlotte beglückwünschte sich selbst. Sie fühlte sich wie eine kleine Kriminelle in einer großen Stadt.

Anfangs hatte sie es mit einer Bankkarte, einem Zahnstocher und einer verbogenen Speiche ihres Rennrades versucht. Das hatte sie sich von den Gangstern in den alten Ami-Filmen abgeschaut. Doch Fehlanzeige. Vor ein paar Wochen gab es dann endlich den langersehnten Durchbruch beim Einbruch: mit einer Nagelfeile von Rossmann für schlappe eins zwanzig.

Charlotte stellte sich vor, Griesebach schliefe noch in seinem Bett, während sie durch seine Wohnung spazierte. Ein Schauer jagte über ihren Rücken, und sie stieß einen Seufzer der Verzückung aus. Dann lief sie ins Bad und drehte den Wasserhahn auf. Seit der Halsabschneider Sattkowski die Miete erhöht hatte, musste sie erfinderisch sein, damit es unterm Strich wieder aufs Gleiche hinauslief. Den dicken Aufschlag konnte sie aus ihrem schmalen Geldbeutel nicht berappen. So sparte sie eben bei den Betriebskosten. Seit Monaten brach sie regelmäßig in Griesebachs Wohnung ein und gönnte sich ein Bad in seiner Wanne. Das drängte sich förmlich auf: Die Wohnung von Hubertus Griesebach lag auf der gleichen Etage und stand seit Ende letzten Jahres leer. Griesebach hatte dem Druck des Vermieters Sattkowski nicht mehr standgehalten und war, wie viele andere Mieter auch, ausgezogen. Ratten im Hof, regelmäßiger Stromausfall und ständig Probleme mit der Heizung – das erforderte eine gewisse Nachsicht, die nicht jedermann aufbrachte. Charlotte konnte das alles nichts anhaben. In einer Wohnung mit Hahnentritt-Buchenparkett und Villeroy-&-Boch-Kloschüssel lebte heutzutage doch jeder Schnösel. Aber das Wohnen im letzten unsanierten Haus in der Kehrbachstraße war ein Abenteuer, eine Mutprobe und eine tägliche Kampfansage. Hier lautete die Frage: Wohnst du noch oder überlebst du schon?

 

Charlotte lag in einem Meer aus Schaum. Ihre Knie ragten aus dem Badewasser empor, und in den roten Locken hingen kleine Schaumfetzen. Sie wälzte das Wasser in der Wanne umher. Charlotte liebte das Wasser: in der Wanne, im See und vor allem im Meer. Wasser war ihr Element und ihr Traum zugleich. Sich einmal mit zusammengekniffenen Pobacken in türkisblaues, pisswarmes Wasser fallen lassen – eine Arschbombe in die Karibik –, das wäre der Hit. Vielleicht in Mexiko? Oder doch lieber auf Jamaika? Das stand noch nicht fest. Aber eine Arschbombe in die Karibik, so viel stand schon mal fest, musste einmal im Leben drin sein.

Sie stieg aus der Wanne. Musik drang durch das offene Fenster. Charlotte tänzelte auf einem Fuß, trocknete den anderen ab und pfiff sich eins dabei. Der Tag fing gut an, und wenn sich der Typ in ihrer Wohnung jetzt endlich verzogen hätte, wäre alles paletti.

Ein Likörchen am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen

Elise Buffke musste sich heute Morgen ausnahmsweise bereits um zehn Uhr ein Gläschen Kirschlikör genehmigen. Normalerweise trank sie nie in der Früh. Sie hatte ihre Prinzipien. Vor zwölf kam ihr nichts ins Kristallglas. Aber der Brief von Sattkowski hatte sie durcheinandergebracht. Wenn dieser Windbeutel von Vermieter schrieb, das wusste sie, konnte das nur eins bedeuten: nichts Gutes.

Auf diese findige Erkenntnis hatte sie sich zwei weitere Gläschen genehmigt und den Brief ungelesen in die unterste Schublade der Kommode wandern lassen.

 

Langsam schlurfte sie den Flur entlang zur Wohnzimmertür. Von da ging es weiter zum Büfettschrank. Auf der Abstellfläche stützte sie sich mit den mageren Hexenhändchen ab, zupfte an dem gehäkelten Deckchen, pustete den Staub von der Tänzerin aus Keramik und schlurfte weiter zur Truhe. Sie hielt einen Moment inne und rang nach Luft. Das Laufen fiel mit jedem Tag schwerer, und das Bein schmerzte heute besonders. Schließlich bückte sie sich. Das Furnier quietschte. Ein Lächeln flog über Elises Gesicht, als sie den Inhalt der Schatzkiste erblickte: Alte Schallplatten lugten zwischen verrosteten Straßenschildern hervor, ein Paar abgetragene Damenhandschuhe aus rotem Ziegennappaleder lag auf einem Stapel vergilbter Berliner Illustrirte. Neben den Zeitungen steckte ein verschnürtes Bund Briefe, und zwischen all den Kostbarkeiten wartete ungeduldig die Hauptattraktion – ein blaues, ledernes Fotoalbum. Es räkelte sich Elise förmlich entgegen. Sie griff danach, schob es unter den Arm und hangelte sich langsam an der Wanduhr vorbei zum Sessel. Umrahmt von einer Grünlilie zur Linken, einem Gummibaum zur Rechten und Duftveilchen auf dem Fensterbrett, stand ihr Ohrensessel. Die Sonne schien durch die geöffnete Balkontür und ließ die Blätter der Pflanzen smaragdfarben leuchten.

Elise setzte sich, umfasste die Armlehnen und schob sich mit aller Kraft zurück, bis sie die Lehne im Rücken spürte. Sie sank in den weinroten Sessel, lehnte ihren Kopf einen Moment an das Sesselohr und röchelte. Schließlich legte sie das Album auf ihren Schoß, umfasste das rechte Bein und rückte es zurecht, bis die Schmerzen erträglicher wurden. Vom Beistellwägelchen nahm sie die Piepe und zündete sie an. Dann griff sie nach der Lesebrille und schob sie auf der Nase zurecht. Jetzt konnte es endlich losgehen – auf dem Trampelpfad der Vergangenheit in den Garten Eden.

Behutsam schlug sie das Album auf. Die schwarzweißen Fotos waren sorgsam in Zweierreihen aufgeklebt. Die weißgerahmten Bilder glänzten auf dem grauen Papier. Unter den Aufnahmen waren mit schwungvoller Schrift Ort, Datum und Namen notiert. Elise schob das raschelnde Pergamentpapier beiseite und betrachtete lange ein Foto, das sie in einem Birkenwald zeigte. Früher war sie im Sommer oft dort gewesen. Sie hatte den kleinen Wald geliebt. Er grenzte direkt an den Hof der Großeltern. Und ein paarmal hatte sie sich auch mit ihm dort getroffen. Anfangs mussten sie das heimlich tun. Elise erinnerte sich noch genau an das erste Treffen im Wald. Es war ein warmer Maitag gewesen. Der Wind zerzauste ihr ständig das sorgsam frisierte Haar. Schweigend liefen sie nebeneinanderher und warfen sich verlegene Blicke zu. Dann flatterte ihr ein Zitronenfalter entgegen und flog weiter zum Fluss. Elise jagte ihm nach. Im Slalom rannte sie zwischen den Birkenbäumen hindurch zum Fluss hinunter. Er folgte ihr und holte sie nach kurzer Zeit ein. Vorsichtig griff er nach ihrer Hand und zog sie zu sich.

Elise öffnete die Augen und seufzte. Bedächtig zog sie an der Piepe und nahm die Kaffeetasse vom Beistellwägelchen. Sie trank einen Schluck und stellte sie ab, um sich wieder aufzumachen, zu ihren Juwelen, ihren Heiligtümern, ihren Erinnerungen. Langsam lehnte sie sich zurück und sann eine Weile ihren Gedanken nach. Frau Schmidt rieb sich an ihren Filzlatschen und miaute. Elise schaute erst auf die Katze und dann zum Balkon. Blaumeisen machten sich an ihren Tomatenstauden zu schaffen. Eilig zog Elise eine Packung Taschentücher aus der Sesselritze und warf sie gegen die Brüstung des Balkons. »Geht mir bloß von meene Tomaten, ihr ollen Mistviecher.« Die Meisen schraken auf und flogen davon. Elise zwinkerte Frau Schmidt zu. »Na also, geht doch.« Jetzt konnte es endlich weitergehen.

Elise blätterte weiter im Album und lachte laut auf, als sie ein Foto sah, das eine ganze Seite ausfüllte. Schützenkönigin 1938 stand darunter. Sie schlug mit der Faust auf die hölzerne Armlehne. »Das war ’ne Harke damals. Den hab ick gezeigt, was so’n junges Ding aus Berlin alles kann. Die standen da wie ’n Kind beim Dreck und haben gekiekt. Ick hab mir nur eens gekringelt.« Sie lachte laut auf. Das Lachen ging in ein Röcheln über, und schließlich spuckte sie in ein Taschentuch.

Im Schießen war Elise ein Naturtalent gewesen. Nur zufällig hatte sie das herausgefunden. Zusammen war sie mit ihm im Wald umhergestreift. Er erklärte ihr die Vogelarten, erzählte, dass der Eichelhäher der Polizist des Waldes sei, weil er immer so ein Spektakel machte. Aus Spaß befestigte er seine leere Zigarettenschachtel, Marke Josetti Juno – das wusste Elise noch wie heute –, an einer Birke und gab ihr das Luftgewehr. Kimme und Korn müssen übereinanderliegen, sagte er und zwinkerte ihr zu. Elise nahm das schwere Gewehr. Sie brauchte eine Weile, bis es ruhig in der Kuhle ihrer Achsel lag. Der Schuss ging mitten durch die Zigarettenschachtel. Anfängerglück, sagte er und befestigte eine zweite Schachtel an der Birke. Elise setzte erneut an. Ein sauberer Durchschuss. Nie zuvor hatte sie ein Gewehr in der Hand gehalten, obwohl sie oft die Großeltern auf dem Dorf besuchte und Großvater Konrad Jäger war.

Natürlich war es einige Tage später auf dem Schützenfest ein Leichtes für sie. Alle stach sie aus. Ihr Großvater nahm am Wettschießen nicht teil. Ich lass mich doch nicht von meiner Enkelin vorführen, sagte er. Als die Schützenkönigin auf den Holzbrettern stand und die Krone in Empfang nahm, strahlte sie, und er stand unten und rauchte eine Zigarette, Marke Josetti Juno, und schüttelte fassungslos den Kopf. Mein olles Flintenweib, nannte er sie von da an. Beim Mondscheinwalzer drückte er sie das erste Mal fest an sich, und anschließend gingen sie zusammen zum Fluss hinunter. Sie und er allein. Mulmig war ihr schon gewesen. Elise war achtzehn und ganz nach der Mutter gekommen: hochgewachsen, Alabasterhaut und schwarzes, glänzendes Haar. Die Männer im Dorf verrenkten sich reihenweise den Hals nach ihr. Elise ließ sie alle mit ihren steifen Nacken stehen.

Sie saßen am Fluss, und der Mond spiegelte sich im Wasser. Von der Festwiese klang das Lied Ich tanze mit dir in den Himmel hinein herüber. Er sah Elise an und sagte: Ich gebe dir die Erlaubnis, mir eine zu kleben, wenn ich mich unanständig benehme. Ich bin auch nur ein Mann. Dann legte er seinen Arm um sie und fuhr durch das schwarze Haar. Er beugte sich zu ihr, strich mit seinem Handrücken über ihre Wange, lächelte und küsste ihr die Stirn. Elise war noch nie so glücklich gewesen wie an diesem Abend.

Die Balkontür knarrte. Ein Windhauch fegte durch das Zimmer und tänzelte mit der Gardine. Elise sah auf und blickte auf die letzte Packung Taschentücher, die auf dem Beistellwägelchen lag. Nein, sie würde jetzt nicht anfangen zu flennen. Die Zeiten waren ein für alle Mal vorbei. Früher hatte sie oft geweint, wenn sie sich die Fotos angesehen hatte. Selbst als er nicht mehr da war und sie schon mit Gustav, ihrem Ehemann, zusammenwohnte, hatte sie heimlich das blaue Album durchgeblättert und danach hemmungslos in der Küche geflennt. Als Ausrede hatte das Lieblingsgericht von Gustav herhalten müssen: Bratkartoffeln mit Zwiebelringen. Sie stand vor dem Küchentisch, die Häufchen geschnittener Kartoffeln und Zwiebeln darauf und schneuzte Taschentücher voll. Das tat gut. Auf die Weise konnte sie flennen, so viel sie wollte, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Gustav hatte ihre Tränen vor dem Zwiebelhäufchen immer für einen Liebesbeweis gehalten. Dass Elise sich die Heulerei nur für ihn antat, rührte ihn selbst zu Tränen.

 

Heute vergoss Elise keine Tränen mehr. Keine winzigen und auch keine bitteren. Elise fühlte sich alt und vertrocknet. In ihr floss nichts mehr. Haut, Hirn und Herz waren zu einem Klumpen Trockenmasse verkommen, der darauf wartete, in Staub zu zerfallen und in alle Winde verstreut zu werden. Elise hatte nicht mehr viel Zeit. Das wusste sie. Das war Ahnung und Hoffnung zugleich. Niemand würde sie vermissen. Dieser Niemand war ihr engster Vertrauter geworden. Niemand rief zu ihrem Geburtstag an, niemand nannte sie mehr beim Vornamen, und niemand trank ein Schluck Kirschlikör aus dem Kristallgläschen mit ihr.

Kurz nachdem es sich dieser Niemand bei Elise gemütlich gemacht hatte, quartierte sich auch seine kleine Schwester, die Einsamkeit, bei ihr ein. Schon seit vielen Jahren waren die beiden treue Untermieter.

Elise blätterte weiter im Album und betrachtete lange ein Foto, auf dem sie beide zu sehen waren. Damals war sie achtzehn, in der einen Hand hatte sie ein Jagdgewehr und in der anderen seine Hand.

»Genug für heute.« Sie schlug das Fotoalbum zu. Dann nahm sie das Portemonnaie vom Wägelchen, knipste die Bügel auf und legte eine Münze nach der anderen auf die Glasplatte des Beistelltisches. Mit ihrem Zeigefinger tippte sie auf ein Zwei-Euro-Stück. Der spröde Fingernagel klackte auf der Geldmünze.

»Zehn fuffzig, zwölf fuffzig. Das machten früher mal mehr als zwanzig D-Mark. Und ganz ville früher mehr als hundert Ostmark.« Sie schob die Münze auf der Glasplatte hin und her. »Ick kann noch so lange die Pinke hin und her schieben. Das wird nicht mehr, aber für ’nen Schnabus beim ollen Karl reicht es allemal.«

Es war kurz nach zehn Uhr. In zwanzig Minuten öffnete der olle Karl seine Eckkneipe. Dann könnte sich Elise mit ihrem Rollator rüberschieben und ihm einen Besuch abstatten. Sie würde einen Kirschlikör trinken und ein paar Worte mit dem ollen Karl wechseln und, wenn sie Glück hatte, auch mit dem schönen Giovanni, dem italienischen Kellner. Das wären ihre ersten Worte seit drei Tagen. Wenn man die Gespräche mit ihren Zimmerpflanzen beiseiteließ.

Elise schätzte die Unterhaltungen mit ihren Pflanzen. Aber natürlich erzählte sie niemandem davon. Denn natürlich würde man sie für meschugge halten. Und natürlich hatten die Leute recht. Sie war eine verschrobene, alte Schachtel, die ständig von der Vergangenheit faselte, die Zukunft abgeschrieben hatte und das Hier und Jetzt nur schwer ertrug.

Mixtape des Lebens

Als Charlotte Griesebachs Wohnungstür zuzog, stand ein junger Typ vor ihr im Treppenhaus. Charlotte musterte ihn. Er kam nicht von hier, das erkannte sie sofort. Für einen Berliner war er einfach zu gepflegt und zu gebräunt. Er trug eine schwarze Jeans und ein dunkelblaues Hemd. Der graue Riemen seiner ledernen Umhängetasche spannte auf seiner Brust. Seine schmalen, langen Finger fuhren durch sein schwarzes Haar. Dunkelbraune Augen waren auf Charlotte gerichtet. Auf seinem Gesicht wechselten sich Neugier und Verstörung ab. Er suchte nach Worten.

»Was guckst du so?«, fragte Charlotte.

»Wohnst du hier?« Seine Stimme klang weich und dunkel.

Charlotte sah auf Griesebachs Tür und schüttelte den Kopf. Er wollte gerade ansetzen, um etwas zu sagen, aber Charlotte war schneller. »Willst du auch in die Kehrbachstraße fünf einziehen? Überleg dir das besser noch mal.« Und ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Die Wohnungen sind okay, aber der Eigentümer kann den Hals nicht vollkriegen.«

Er lächelte und schien etwas erwidern zu wollen, aber Charlotte ließ ihn einfach stehen. »Sorry, ich muss«, sagte sie, wandte sich ab und schob ihre Wohnungstür auf. Erwartungsvoll spähte sie in den Flur. Dort lagen noch immer das schwarze Hemd und der dunkelblaue Hilfiger-Schlüppi auf den Dielen. Charlotte verdrehte die Augen, ein One-Night-Stand war heutzutage auch nicht mehr das, was er einmal war. Laut ließ sie die Tür ins Schloss fallen.

Sie nahm einen Kaugummi aus der Schachtel, die auf dem Schuhschrank lag, und ging ins Schlafzimmer. Schweigend lehnte sie sich an den Türrahmen, kaute gelangweilt auf dem Kaugummi und machte eine Blase, die groß und größer wurde. Der Typ lag auf dem Bett. Er schüttelte den Kopf und lachte.

Plötzlich schrillte die Klingel. Charlotte kratzte sich die Kaugummifetzen von der Nase, während sie zur Tür lief. Der Postbote drückte ihr einen Umschlag in die Hand. Charlotte betrachtete den Absender, warf den Brief ungelesen auf den Schuhschrank und ging zurück ins Schlafzimmer.

»Das war phänomenal«, rief der Typ und rekelte sich. Er machte keinerlei Anstalten, sich endlich zu verziehen.

»Sag mal, M…« Charlotte hielt inne und suchte nach seinem Namen. Irgendwas mit M. Da war sie sich sicher. Michael oder Martin oder so. Charlotte kniff die Augen zusammen. Glatzköpfig und gut gebaut, das passte zu einem Martin. »Sag mal, Martin …«

»Ich heiße Adrian.« Er sah Charlotte irritiert an.

Okay, knapp daneben. Aber man konnte schließlich mal den einen oder anderen Namen vergessen. Das war kein Beinbruch und Charlotte auch nicht mehr die Jüngste. Vierunddreißig Jahre, um genau zu sein.

»Sag mal, vermisst deine Frau dich nicht?«

»Woher weißt du, dass ich verheiratet bin?«

»Der Abdruck auf dem Ringfinger ist nicht zu übersehen.«

»Das mit dem Ring … das ist nur …«

»Habt ihr Kinder?«, unterbrach sie ihn.

»Eine Tochter. Aber wir denken schon lange über Scheidung nach.«

»Gemeinsame Kinder – das verbindet. Die kann man nicht so einfach vom Tisch fegen und die vielen gemeinsamen Erinnerungen schon gar nicht.«

»Wir haben ein Kind.« Der Typ richtete sich auf.

»Das erste Ultraschallbild im Portemonnaie und die winzigen, blutverschmierten Fäustchen nach der Geburt. Ach, wie süß.« Charlotte seufzte.

Sein Gesicht bekam einen sanften, fast zärtlichen Ausdruck. Er sah verträumt an Charlotte vorbei.

»Und Weihnachten nicht zu vergessen«, setzte Charlotte ihr Plädoyer für die Familie fort. »Die leuchtenden Augen der Kleinen, wenn sie vor dem Weihnachtsmann stehen, mutig einen Dreizeiler aufsagen und endlich den Schnuller abliefern. Weißt du, ich kann das verstehen.«

»Was verstehen?«

»Ab und zu braucht man ein bisschen Abwechslung. Das ist wie mit einem guten Bordeaux, der schmeckt auch irgendwann fad, wenn man sich zwischendurch nicht mal was anderes gönnt«, sagte sie.

»Ich trinke lieber Martini.«

Das Argument mit dem Wein zog offensichtlich nicht. Also postierte Charlotte sich aufrecht wie ein Soldat vor dem Bett, hielt sich am metallenen Gestell fest und zielte: »Eine Ehe ist nun mal kein gerührter Martini.«

Er schnellte vom Bett auf und stellte sich vor Charlotte. »Du weißt doch gar nicht, wie das bei uns ist. Wir schweigen uns nur noch an. Das hält doch keiner auf Dauer aus.«

»Ach ja, die Ehepaare von heute. Haben verlernt, miteinander zu reden. Aber nur weil man kein Wie war dein Tag, Schatz? zu hören kriegt, muss man nicht gleich die Ehe abschreiben. Eine Ehe … das … das … ist eine ehrwürdige Institution. Da steht man andächtig davor und verneigt sich, wie vor den Gebeinen eines heiligen Apostels.« Charlotte machte eine galante Verbeugung, wobei sie ihre Hand wie ein französischer Hofgesandter mehrmals in der Luft kreisen ließ. »Wo sind nur die guten, alten Werte in unserer modernen Zeit geblieben?« Langsam richtete sie sich wieder auf und schüttelte theatralisch den Kopf. »Ts, ts …«

»Warst du denn schon mal verheiratet?«

»Hey, lenk nicht vom Thema ab. Du darfst nicht vergessen, du hast deiner Frau versprochen, dein Leben mit ihr zu teilen, und sie hat zu dir gestanden, dich in schweren Zeiten unterstützt.«

»Woher willst du denn wissen, ob ich schwere Zeiten hatte?«

»Die vierzig hast du doch schon locker überschritten, und die Midlife-Crisis ist sicherlich nicht spurlos an dir vorbeigeschlendert.«

»Ich hatte keine Midlife-Crisis«, erwiderte er trotzig.

»Ach komm, gib es doch zu, dass du heimlich den jungen Fräuleins auf ihre kleinen, festen Brüste starrst, einen Kolben in der Hose kriegst und dir sehnlichst wünschst, noch einmal zwanzig zu sein.«

Er ließ sich wieder aufs Bett fallen und schien um Fassung zu ringen.

»Mal im Ernst. Deine Kinder brauchen dich. Du kannst nicht immer nur an dich denken.«

»Wir haben ein Kind, hörst du?! Ein Kind!« In seiner Stimme war jetzt deutlich eine Gereiztheit zu vernehmen.

»Ja, ja … ist ja gut. Sei doch nicht gleich sauer. Sei lieber froh, dass ich deine Ehefrau so gelassen hinnehme. Ich könnte dir auch eine Szene machen und heimlich meinen Slip in deine Jackettasche stecken. Mach ich aber nicht. Weißt du, warum?«

Der Typ sah Charlotte neugierig an.

»Weil … weil …« Sie suchte nach einer guten Begründung. Denn sie durfte den Schluss ihres Familien-Plädoyers nicht verreißen. Alles musste wohlüberlegt sein, damit der Delinquent reumütig in den Schoß seiner Familie zurückkehrte. »Weil … ich finde, ein Kind braucht Beständigkeit. Ja, genau. Wo gibt es das heute noch? Nichts ist mehr von Dauer. Weißt du, Mike, ich hätte dich nicht so sprunghaft eingeschätzt.«

»Adrian, ich heiße verdammt noch mal Adrian! Charlotte, ich steig nicht einfach so mit einer Frau ins Bett.«

»Denkst du, ich vielleicht?«

»Hör mir doch mal zu.«

»…«

»Ich bin nicht der Typ, der die Frauen reihenweise abschleppt, am Morgen danach seine Klamotten eilig zusammensucht und sich hastig den Lippenstift von der Backe wischt.«

»Ich habe gestern gar keinen Lippenstift getragen.«

»Du willst es nicht verstehen, oder?«

Charlotte ging zum Fenster und schimpfte leise vor sich hin. Schließlich machte sie eine Kehrtwendung und lief zum Sessel in der anderen Ecke des Zimmers. Mit einer Handbewegung fegte sie die Jeans fort und setzte sich. Bedächtig fuhr sie über das rissige Leder und musterte ihn. Zugegeben, der Typ war nicht übel. Aber Charlotte suchte keinen Mann, mit dem sie viel Zeit zu zweit verbringen konnte, der mit ihr im Partnerlook verreiste und ihr die Hand streichelte, wenn es mal schlecht lief. Sie suchte keinen Mann für alle Lebenslagen. Sie war bescheiden. Ihr genügte diese eine, in der er sich heute Nacht befunden hatte. Sie glaubte nicht an die Liebe. Charlotte hielt die Liebe für ein Produkt der Triebe. Nichts weiter. Im Gegensatz zu vielen anderen konnte sie es verkraften, dass Menschen die gleichen Bedürfnisse wie Erdmännchen oder Bonobos hatten. Sie fand es heuchlerisch, diese Mann-Frau-Kiste in rosarotes Papier zu packen und von großer Liebe zu faseln. Das war Kokolores, Schnickschnack und grober Unfug zugleich. Liebe brachte nur Schererei, und das Einzige, was Charlotte wirklich liebte, war ihr Leben. Und zwar so, wie es war. Charlotte wollte ein leichtes und beschwingtes Leben. Sie wollte das Leben tanzen und vielleicht auch irgendwann einmal ihren Namen. Das Mixtape ihres Lebens sollte Swing und ein bisschen Deutschpop abspulen, und Charlotte wollte sich eins dazu pfeifen. Das war der Plan.

Fieberhaft überlegte sie, wie sie aus dieser Nummer unbeschadet wieder rauskam. Als er gestern vor ihr an der Kasse gestanden hatte, war sie sich absolut sicher gewesen, dass er seine Frau nicht einfach so nach einer Nacht voller Küsse und Körperlichkeiten abschreiben würde. Gewöhnlich hatte Charlotte ein gutes Gespür dafür. Der Supermarkt war ihr heimliches Jagdrevier und sie die Queen of the Kassiermaschin. Nirgendwo war es leichter, Männer kennenzulernen, als zwischen einer Packung Maoam und einer Stange Marlboro. In den vielen Jahren, in denen Charlotte bei Pinkemann arbeitete, hatte sie ausgiebig Feldforschung betreiben können. Sie hatte Informationen und Erfahrungen gesammelt, diese ausgewertet und noch mal überprüft. Sie wusste genau, welchen Männern sie sich sorglos zuwenden konnte und wen sie lieber unter den Kassentisch fallen ließ. Dreh- und Angelpunkt ihrer Feldforschung waren die Einkäufe. Man musste sich nur die Mühe machen und genau hinschauen, was die Jungs aufs Band packten.

Da gab es zum einen Männer, die edle Feinkost und noch edlere Weinkost auf das Band legten, mit einem Blumenstrauß unterm Arm und einem Strahlen im Gesicht. Sie waren hoffnungslose Fälle und konnten sofort abgeschrieben werden. Denn die Jungs befanden sich in einem völlig schrägen Space; weit weg jeglicher Realität und von Charlottes Abkassierplace.

Dann gab es Männer, die sich an einem umfangreichen Einkaufszettel abarbeiteten, durch den Supermarkt hasteten und den Einkaufswagen mit Bioprodukten vollpackten. Alle Produkte natürlich ohne Laktose und Saccharose. Mit Ausnahme der Kinderschokolade. Geschafft und außer Puste standen sie schließlich an der Kasse. Da war ohne Zweifel jemand, der hinter den Kulissen die Fäden zog und noch dazu auf eine ausgewogene Ernährung achtete. Das fein austarierte Zusammenspiel von gut organisiert und bestens durchgeführt wollte Charlotte keinesfalls durcheinanderbringen. Das hatte bestimmt Jahre und einiger intensiver Gespräche bedurft. Und außerdem waren die Jungs schon atemlos genug, wenn sie vor ihr an der Kasse standen. Die hätten eh keine Puste mehr für mehr.

Weiterhin gab es Männer, die auf eine äußerst platzsparende und praktische Ernährung Wert legten: Brokkolisuppe in der Dose, Becks im Sixpack und Burgländer Käse in der wiederverschließbaren Packung. Kleine Portionen kompakt verpackt, obwohl es in dem Ein-Personen-Haushalt sicherlich eine Menge Platz gab. Diese Männer standen mit Bambi-Augen vor Charlottes Kasse und fassten es bereits als Flirtversuch auf, wenn sie ihnen den Gesamtbetrag des Einkaufs nannte. In diesem Fall hieß es für die Queen Zähne zusammenbeißen und jeden Blickkontakt vermeiden.

Zugegeben, bei einigen Männern versagten Charlottes analytische Fähigkeiten. Deren Einkaufsverhalten konnte sie sich trotz sorgfältiger Untersuchung nicht erschließen. Hier ging die Queen of the Kassiermaschin kein Risiko ein. Hier hieß es einfach abkassieren und gut.

Last, but not least blieb eine Fraktion übrig, auf der Charlottes gesamtes Augenmerk lag: Männer, die neben allen erdenklichen Produkten einen kleinen, aber ganz entscheidenden Artikel aufs Band schoben: eine Du-darfst-Margarine. Haben Sie schon mal einen Mann Du-darfst-Margarine aufs Brot streichen sehen? Sehen Sie! Da musste eine Frau im Spiel sein. Also ließ Charlotte diesen Jungs eine besondere Behandlung zukommen. Sie vertippte sich oder vergaß, etwas abzukassieren – natürlich ganz aus Versehen. Dann schob sie zusammen mit dem Kassenzettel ihr charmantestes Lächeln über das Band. Die Jungs wiederum legten einen Fünfeuroschein für einen Einkauf von fünfzig Euro in die Schale, vergaßen in der Aufregung, die Hälfte einzupacken, trabten nach zwei Minuten wieder an, steckten den Rest ein und fragten zaudernd, ob sie Charlottes Telefonnummer haben dürften. Natürlich! Du darfst.

In diesem Fall, das hatte bisher jeder Praxistest bestätigt, war die Kassiererin aus dem Schneider. Charlotte hatte die Erfahrung gemacht, dass sich die Zauderer oft in einer kritischen Phase ihres Beziehungslebens befanden. Eine Nacht mit Charlotte brachte ihnen wieder die notwendige Klarheit. Plötzlich besannen sich die Jungs darauf, dass das, was sich bewährt hat, doch nicht so verkehrt ist. Klammheimlich schlichen sie sich am Morgen davon und bekamen beim nächsten Zusammentreffen im Supermarkt einen blutroten Kopf. Diese Männer waren Charlotte die liebsten. Sie fühlte fast eine moralische Genugtuung, wenn sie an diese Nächte dachte. Denn durch ihren persönlichen Einsatz wurden Männer zurück auf den richtigen Weg und Paare wieder zusammengebracht. Das war Charlottes selbstloser Beitrag für eine liebevollere Welt. Also, falls es noch keiner gesagt hat: Many thanks to the Queen of the Kassiermaschin.

Aber dieser Typ in ihrem Schlafzimmer schien all ihre Studienergebnisse völlig über den Haufen zu werfen.

Charlotte saß im Ledersessel und wippte in einem fort mit ihrem Fuß. Der Typ kauerte vor ihr, legte seine Arme auf ihre Knie, schob seine Hand unter ihren Bademantel und fuhr sanft über ihren nackten Bauch. Dann öffnete er den Bademantel, begutachtete ihre Narbe und strich mit einem Zeigefinger darüber.

»Woher hast du eigentlich die Narbe?«

»Blinddarm.«

»Der liegt doch rechts.« Zärtlich fuhr er noch einmal über ihre Narbe.

Charlotte zuckte unter seinen Berührungen zusammen. Sie schob ihn von sich, stand auf und schnürte den Bademantel so fest es ging zu. »Was soll das?«, fragte sie und lief zum Fenster.

»Was soll was?«

Charlotte drehte den Fensterknauf hin und her und schaute hinaus auf die Straße. Verdammter Mist. Der Typ strapazierte ihre Geduld mehr als nur sehr. Er wollte sich einfach nicht verpfeifen, und jetzt fing er auch noch an, in ihrer Vergangenheit rumzuschnüffeln. Was ging diesen wildfremden Typen die Sache von damals an? Sie schob ihre Hand in die Tasche des Bademantels und spürte, wie ihre Narbe pochte. Das alles lag so viele Jahre zurück. Daran wollte sie jetzt nicht denken, geschweige denn darüber reden. Sonst wäre ihre ganze Woche gelaufen. Warum hatte sie sich in diesem M… Marcel nur so getäuscht? Er war nicht nur bereit, seine Familie für sie zu verlassen, er schien auch ein Exemplar dieses unsäglichen Typus moderner, sanfter Mann zu sein. Diese neue Sorte Mann, die so unerträglich verständnisvoll war und die Bedürfnisse und Gefühle ihrer Partnerin als das Epizentrum des eigenen Lebens betrachtete. Ständig sonderten diese Männer so bescheuerte Sätze ab wie Ich kann über Gefühle reden. Ich kann dir zuhören. Ich nehme deine Bedürfnisse ernst.

Sie schielte zu dem Typ rüber.

»Charlotte, du kannst mir vertrauen. Weißt du, im Gegensatz zu anderen Männern kann ich …«

Charlotte verzog das Gesicht und fiel ihm ins Wort: »Sprich den Satz nicht zu Ende. Bitte!« Sie warf ihm einen verächtlichen Blick zu, den er mit einem liebevollen erwiderte. Charlotte spürte, wie sich alles in ihr zusammenzog. In ihrem Bauch fühlte es sich an, als ob sie einen schweren Klumpen mit sich herumtrüge. »Denkst du, M… Moritz …«

»Adrian!«, rief er genervt.

»Ja, ist ja schon gut. Denkst du, du kannst mich ausfragen?«

»Ich will dich nicht ausfragen.«

»Warum tust du es dann?«

»Ich möchte einfach mehr über dich erfahren.«

»Ich erzähl dir nach einer verdammten Nacht doch nicht mein ganzes Leben!«, schrie sie ihn an und war selbst über ihren plötzlichen Ausbruch erstaunt.

»Das musst du auch nicht«, antwortete er mit besänftigender Stimme. »Nicht jetzt. Aber vielleicht ein anderes Mal.« Er lief zu ihr und umarmte sie.

»Lass mich.« Sie schob ihn weg, stolperte davon und suchte Hose, Hemd und Hilfiger-Schlüppi zusammen. Sie drückte ihm alles in die Hand und schob ihn rückwärts aus dem Zimmer in den Flur.

»Beruhige dich, Charlotte.«

Aber Charlotte wollte sich nicht beruhigen, sie öffnete die Wohnungstür und schubste ihn in den Hausflur. Danach ließ sie die Tür ins Schloss krachen.

»Charlotte, das ist nicht dein Ernst«, rief er und pochte an der Tür.