Fräulein Schopenhauer und die Magie der Worte - Lucca Müller - E-Book

Fräulein Schopenhauer und die Magie der Worte E-Book

Lucca Müller

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Beschreibung

Weimar, 1806: Nach dem Tod des Vaters zieht Adele Schopenhauer mit ihrer Mutter Johanna in die Stadt der Literaten. Bruder Arthur bleibt vorerst in Hamburg, um seine Kaufmannslehre zu beenden. Fasziniert vom kulturellen Leben der Stadt eröffnet Johanna Schopenhauer einen Literatursalon, in dem Geistesgrößen ein- und ausgehen. Um die Familie über Wasser zu halten, beginnt Johanna, Romane zu schreiben, was Arthur sehr missfällt. Adele jedoch zieht es zur Dichtung, gefördert von Goethe, der von ihrem Talent begeistert ist. Dann erleidet Johanna einen Schlaganfall und braucht die Hilfe ihrer begabten Tochter dringender denn je. Plötzlich scheinen für Adele ihre eigenen Träume unerreichbar ...

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Seitenzahl: 559

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhalt

Cover

Inhalt

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Vorwort

1 Aufbruch

2 Kanonendonner

3 Teezirkel

4 Schwärmerei

5 Zerwürfnis

6 Verluste

7 Heiratspläne

8 Papier und Tinte

9 Liebesleben

10 Auf eigenen Wegen

11 Unter Frauen

12 Tumulte

13 Abschied

14 Entfaltung

15 Freiheit

Nachwort

Über das Buch

Weimar, 1806: Nach dem Tod des Vaters zieht Adele Schopenhauer mit ihrer Mutter Johanna in die Stadt der Literaten. Bruder Arthur bleibt vorerst in Hamburg, um seine Kaufmannslehre zu beenden. Fasziniert vom kulturellen Leben der Stadt eröffnet Johanna Schopenhauer einen Literatursalon, in dem Geistesgrößen ein- und ausgehen. Um die Familie über Wasser zu halten, beginnt Johanna, Romane zu schreiben, was Arthur sehr missfällt. Adele jedoch zieht es zur Dichtung, gefördert von Goethe, der von ihrem Talent begeistert ist. Dann erleidet Johanna einen Schlaganfall und braucht die Hilfe ihrer begabten Tochter dringender denn je. Plötzlich scheinen für Adele ihre eigenen Träume unerreichbar …

Über den Autor

Lucca Müller, geboren 1968 in Köln, hat Germanistik, Philosophie, Italienisch und Theaterwissenschaft studiert. Sie arbeitet seit über zwanzig Jahren als Drehbuchautorin für verschiedene Fernsehserien.

Lucca Müller

FräuleinSchopenhauerund die Magieder Worte

Roman

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Für die Originalausgabe:

Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de)

Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Textredaktion: Claudia Schlottmann, Berlin Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter der Verwendung von Motiven von © Richard Jenkins Photography und © shutterstock: Iryna Mukovoz | Stiva Urban | Chipmunk131 Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-7517-4230-6

Sie finden uns im Internet unter luebbe.de Bitte beachten Sie auch: lesejury.de

Der vorliegende Roman handelt vom Leben der Adele Schopenhauer, erhebt aber keinen Anspruch auf historische Wahrheit. Vieles ist frei erfunden.

1 Aufbruch

Adele, Winter 1805

Der Vater stand in der offenen Ladeluke oben im Speicher. Seine hagere Gestalt verdeckte den Blick auf den hölzernen Hebekran, mit dessen Hilfe die Waren von den Schiffen unten auf dem Fleet vier Stockwerke hoch in den Lagerraum gehievt wurden. Er wandte Adele den Rücken zu und blickte in die Tiefe. Sie wunderte sich, dass er sich nicht festhielt. Seine Arme baumelten lose neben dem Körper. Nun beugte er sich vor und streckte die Arme nach hinten, wie um das Gleichgewicht zu halten. Er schien unten etwas zu suchen. Plötzlich hatte sie Angst um ihn. Am Abgrund zu stehen, war gefährlich. Wenn die Ware gelöscht wurde, achtete der Vater stets darauf, dass die Lagerhelfer gesichert waren. Sie selbst durfte nie auch nur in die Nähe der Luke kommen, die so groß war, dass drei Männer aufrecht nebeneinander arbeiten konnten.

Sie hatte den Drang, ihn zu warnen, doch sie rang den Impuls nieder. Den Vater sprach man nicht an, das hatte die Mutter ihnen eingeschärft. Man wartete, bis man zum Reden aufgefordert wurde, was in letzter Zeit nur noch selten geschah. Der Vater flößte ihr zunehmend Scheu ein, dabei war sie früher sein Liebling gewesen. Er war sanfter zu ihr als zu Arthur oder selbst zur Mutter und hatte ihr oft Geschenke mitgebracht. Seit der langen Reise benahm er sich aber seltsam. Er beachtete sie kaum noch, starrte meist nur missmutig vor sich hin. Die Mutter beteuerte, es liege nicht an ihr. Den Vater plagten Sorgen. Bei den Mahlzeiten saß er schweigend am Kopfende, die Stirn in Falten gelegt. Adele hätte ihn gerne aufgeheitert, aber sie getraute sich nicht. Selbst ihr großer Bruder, der sich sonst nie einschüchtern ließ, blieb stumm. Lediglich die Mutter plauderte unentwegt, wobei der Vater meist gar nicht zuhörte. Manchmal nickte er an den falschen Stellen. Sobald er fertig gegessen hatte, stand er auf und zog sich in sein Schlafzimmer zurück.

Unschlüssig stand Adele im riesigen Lagerraum. Eigentlich hätte sie gar nicht hier sein dürfen. Seit Arthur beim Spielen die Seidenballen ruiniert hatte, war ihnen der Speicher untersagt.

Mehr noch als die Strafe des Vaters fürchtete sie die Gespenster. Hier oben spukte es. Die Geister flüsterten miteinander, man konnte sie hören. Einmal hatte eine eisige Hand sie rücklings an der Schulter gepackt, worauf sie schreiend weggerannt war. Da hatten die Gespenster eine Teekiste vom obersten Regalbrett geworfen. Nur um Haaresbreite hatte das Geschoss sie verfehlt. Seitdem wagte sie sich nicht mehr unters Dach. Aber heute hatte sie nicht widerstehen können. Das Schokoladenkonfekt war eingetroffen. Drei Kisten, frisch aus Belgien. Erst ein einziges Mal hatte sie davon naschen dürfen, an ihrem siebten Geburtstag. Den köstlich süßen Geschmack spürte sie heute noch auf der Zunge, nach über einem Jahr. Wenn sie ganz vorsichtig war, würden die Geister sie nicht bemerken, und der Vater auch nicht.

Sie raffte ihr Kleid zusammen, damit es nicht am Boden raschelte. Lautlos schlich sie durch den Speicherraum auf die Kisten mit dem Konfekt zu, die kleiner und aus besserem Holz waren als die anderen. Adele sah sie schon, sie standen an der Wand, einige Schritte neben der Öffnung, von deren Kante aus der Vater noch immer nach unten starrte. Beinahe war sie am Ziel, da knarrte ein Dielenbrett unter ihren Füßen. Reglos hielt sie den Atem an. Aber der Vater hatte sie schon bemerkt. Er wandte sich um. Sie zog den Kopf ein, ihre Hände umklammerten ihre Ellenbogen. Sein Blick senkte sich in ihre Augen. Um dem Donnerwetter zuvorzukommen, stammelte sie eine Entschuldigung, doch die Art, wie der Vater sie ansah, ließ sie verstummen. Diesen Ausdruck hatte sie noch nie an ihm gesehen. Als wäre er gar nicht hier, sondern unerreichbar fern, in einer anderen Welt, die nur noch fadendünn mit dem Diesseits verbunden war. Sie erschrak: Das war ja ein Geist!

Panisch rannte sie zum Ausgang und rüttelte an der Tür, die wieder einmal klemmte. Sie warf sich dagegen, doch der Fluchtweg blieb verschlossen. Den Tränen nahe, drehte sie sich um, erwartete grauenerregend kalten Gespensteratem in ihrem Nacken, meinte schon, die eisigen Hände zu spüren, die sie an der Schulter packten. Doch das Gespenst in Gestalt ihres Vaters wandte sich wieder von ihr ab. Mit dem Rücken zu ihr verharrte es wie festgenagelt in der Ladeluke. Sein Umriss zeichnete sich gegen das Abendrot ab. Adele fand es seltsam, dass das Gespenst nicht durchsichtig war. Es sah einem echten Menschen zum Verwechseln ähnlich. Statuenhaft unbewegt ragte es in der Öffnung auf. Die Haare, grau wie die des Vaters, flatterten im Wind.

Etwas an dem Anblick zog Adele in den Bann. Sie vergaß, dass sie eben noch hatte fliehen wollen. Mit einem Mal verschwand ihre Angst, und ein unbestimmtes Gefühl von Erwartung erfasste sie. Das Wesen flüsterte, ein leises Murmeln, fast wie ein Gebet. Der Vater würde niemals beten, er glaubte nicht an Gott. Das Gespenst breitete die Arme aus. Im Gegenlicht erinnerte es an einen Priester beim Segen. Plötzlich flog es los. Kerzengerade kippte es nach vorne, erst langsam, dann schneller, wie eine umstürzende Säule. Zuletzt lösten sich die Füße vom Grund, dann wurden auch sie unsichtbar. Von dem Geist blieb nur ein dünner Nebelstreif zurück, der vom Wind davongeblasen wurde.

Plötzlich ließ die Tür sich wieder öffnen. Benommen stieg Adele die Treppen hinunter. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Auf dem Absatz oberhalb der Wohnräume sank sie auf die Stufen. Die Ellenbogen auf die Knie gestützt, fragte sie sich, was sie gerade gesehen hatte. War es Einbildung gewesen? Ihr Französischlehrer sagte immer, sie habe zu viel Fantasie. Das sei nicht gut für ein Mädchen, meinte er. Wenn sie ihrer Mutter davon erzählte, zwinkerte die ihr verschwörerisch zu. »Monsieur Jacques beherrscht seine Sprache, aber sonst versteht er nicht viel.«

»Da steckst du!« Adele erschrak. Sophie, das Kindermädchen, stand vor ihr. »Ich habe dich schon gesucht. Du musst die Hände waschen. Es gibt gleich Abendessen.«

»Ich war nicht auf dem Speicher!« Sie errötete, kaum dass sie es gesagt hatte. Man durfte nicht lügen.

Die rundliche Frau mit dem freundlichen Gesicht musterte sie aufmerksam. »Ist alles in Ordnung, Kind?«

Sophie war kein gewöhnliches Kindermädchen. Sie konnte Gedanken lesen, jedenfalls ihre Gedanken. Adele konzentrierte sich auf die Astlöcher in den Bodendielen und versuchte, das Erlebte aus dem Kopf zu verbannen.

Sophie setzte sich neben sie. Auch sie war Französin, aber viel netter als der Lehrer. »Du kannst mir alles sagen.«

Adele beschloss, ihr zu vertrauen. »Hast du schon mal ein Gespenst gesehen?«

»Du warst also doch auf dem Speicher.«

Sie nickte kleinlaut.

Sophie strich ihr beruhigend über die Wange. »Gespenster spuken nicht tagsüber.«

Das leuchtete ihr ein. Wenn es aber kein Geist gewesen war, sondern der Vater selbst, wieso war er dann plötzlich verschwunden?

Beim Abendessen blieb sein Platz am Kopfende des Tisches frei. Adele fasste sich ein Herz. »Wo ist Vater?«

»Er hütet das Bett«, sagte die Mutter. »Er fühlt sich nicht gut.«

Also hatte sie auf dem Speicher nicht ihn gesehen. Und auch keinen Geist. Was aber dann? Ihre Verwirrung wuchs.

»Ist kein großer Unterschied«, meinte Arthur und nahm sich einen Nachschlag vom kalten Braten.

Die Mutter wies ihn unerwartet heftig zurecht. »Sprich nicht so über deinen Vater!«

»Aber ist doch so.« Arthur blieb unbeeindruckt. »Er sitzt nur da und schweigt.«

»Darf ich ihn vor dem Schlafengehen kurz besuchen?«, fragte Adele.

»Lieber nicht«, erwiderte die Mutter. »Er könnte ansteckend sein.«

Am nächsten Morgen rief sie sie noch vor dem Frühstück zu sich. »Ich muss euch etwas Trauriges sagen, Kinder. Euer Vater ist tot.«

Sie standen am Bett des Vaters. Darin lag wächsern und fahl eine Gestalt, die ihm ähnelte und die doch nicht er war. Ein weißes Laken bedeckte das Wesen bis zur Brust. Darüber waren die Hände wie zum Gebet gefaltet. Niemand sagte etwas. Adele hielt sich dicht bei der Mutter. Die Gestalt gruselte sie. Nun war der Vater wirklich ein Gespenst. Jeden Moment erwartete sie, dass er plötzlich die eingesunkenen Augen aufriss. Der Mund stand bereits leicht offen.

Ihr Bruder Arthur zeigte auf einen Fleck, der sich um den Kopf herum auf dem Kissenbezug abzeichnete. »Wieso sind seine Haare nass?«

Verwirrt starrte Adele auf die grauen Strähnen. Tatsächlich glänzten sie feucht. Wurden Gespenster nass? »Vielleicht ist er ins Wasser gefallen«, murmelte sie ratlos.

Ihre Mutter wandte sich abrupt zu ihr um und musterte sie forschend.

Mit zusammengezogenen Brauen blickte der große Bruder die Mutter an. »Ich dachte, er war krank?«

»Das stimmt auch«, bestätigte sie. »Deshalb ist er gestern ja früher aus dem Kontor hochgekommen als sonst.«

Adele sah plötzlich wieder die wie zum Flug ausgebreiteten Arme der Gestalt auf dem Dachboden. »Die Speicherluke stand offen …«, flüsterte sie.

Arthur starrte sie durchdringend an. »Was willst du damit sagen?«

Sie wusste jetzt gar nichts mehr. In ihrem Kopf war alles voller Nebel. Hilflos zuckte sie mit den Achseln.

»Was meint sie damit? Ist Vater gestürzt?«, fragte der Bruder die Mutter misstrauisch.

»Das Kind ist völlig verstört, Arthur. Merkst du das nicht?«

»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, beharrte er. »Wie kommt sie darauf?«

»Nun hab doch Respekt, Arthur. Dort liegt euer Vater!«

Der Bruder verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich will jetzt wissen, was passiert ist.«

»Nun gut.« Die Mutter lenkte ein. »Aber nicht hier.«

Im Salon nahmen sie Platz vor dem Kamin. Arthur wippte rastlos mit dem Knie. »Also?«

Die Mutter schürte das Feuer und blickte sie dann beide fest an. »Vater ging es schon länger nicht gut. Das Herz, sagt der Arzt. Ihm war auch oft schwindelig.«

»Davon höre ich zum ersten Mal.«

»Du kennst doch deinen Vater. So etwas gibt er nicht zu. Aber auf der Reise nach England hättest du es merken können. Es ging dabei auch um Luftveränderung, um Kur.«

»Und weiter?«

»Nichts hat geholfen, der Ortswechsel nicht und auch nicht die Tinkturen. Gestern war ihm so elend, dass er sich hinlegen musste. Trotzdem hat er sogar noch im Bett gearbeitet. Es gab eine Ungereimtheit in den Büchern. Also ist er abends noch einmal hoch ins Lager, um eine Lieferung zu überprüfen. ›Bis gleich‹, hat er zu mir gesagt.« Die Mutter machte eine Pause, ihre Unterlippe zitterte. »Aber er ist nicht zurückgekommen.«

Wieder blitzte das Bild der Gestalt mit den ausgebreiteten Armen vor Adeles innerem Auge auf. »Vielleicht habe ich ihn gesehen«, flüsterte sie.

»Das ist unmöglich, Liebes.« Die Mutter schenkte ihr ein bemühtes Lächeln. »Da hast du schon tief und fest geschlafen.«

»Wirklich?« Das Bild verschwand wieder, ehe sie es genau betrachten konnte.

»Aber ja, mein Schatz.« Die Mutter strich ihr mit der Hand über den Kopf. »Das hast du geträumt. Ich war spät noch mal bei dir im Zimmer. Du hast im Schlaf gesprochen, wolltest sogar aufstehen. Ich hab dich zugedeckt, dann hast du weitergeschlafen.« Sie blickte sie liebevoll an. »Ich weiß, wir sind alle durcheinander, aber du darfst dir das nicht einreden.«

Nur ein Traum also. Wenn ihre Mutter das sagte, musste es so gewesen sein. Jetzt meinte Adele, sich daran zu erinnern, wie die Mutter nachts an ihrem Bett stand. Sie war gar nicht wirklich auf dem Speicher gewesen.

»Was ist dann passiert?« Arthur ließ nicht locker.

»Danach?« Mit trübem Blick schüttelte die Mutter den Kopf. »Ich weiß es nicht. Er muss das Gleichgewicht verloren haben. Heute Morgen hat man ihn am Hafen aus dem Wasser gezogen. Sie konnten ihm nicht mehr helfen.«

Der Bruder bohrte immer weiter. »Wieso stand er in der Luke, wenn er Waren zählen wollte? Weshalb war die Luke überhaupt offen?«

»Die Kisten waren frisch angeliefert. Sie standen direkt dort am Rand. Er muss einen Schwindelanfall gehabt haben, ich habe sonst keine Erklärung. Er ist plötzlich zusammengesackt und gestürzt. Leute haben es von unten mit angesehen. Ihr könnt sie fragen.«

»Er ist einfach so hinausgefallen?«

Die Mutter nickte bedächtig. »Ein entsetzlicher, trauriger Unfall.«

Arthur schwieg nachdenklich.

Adele schmiegte sich an die Mutter. Der Vater war gestorben, während sie von ihm geträumt hatte. Ein grässlicher Gedanke trieb ihr einen Schauder den Rücken hinunter: Was, wenn sein Geist sie im Augenblick des Todes besucht hatte?

Die Mutter drückte sie an sich. »Wir müssen jetzt zusammenhalten.«

Adele hörte den ruhigen, stetigen Herzschlag der Mutter und dachte an den Vater, dessen Herz nun nicht mehr schlug. Gestern hatte er noch mit ihr am Frühstückstisch gesessen. Sie hatte ihm den Brotkorb gereicht, er hatte aufgeblickt und ihr ganz unerwartet ein freundliches Lächeln geschenkt, so wie früher, als sie noch sein Liebling war.

Ein merkwürdiges Geräusch riss sie aus den Gedanken. Es kam von der anderen Seite des Zimmers. Arthur stand dort und starrte aus dem Fenster. Er atmete komisch. Seine Schultern zuckten. Jetzt legte er die Hände vors Gesicht, und ihr wurde klar, dass er schluchzte. Mit einem Mal schossen auch ihr die Tränen in die Augen. Nie wieder würde sie mit dem Vater beim Frühstück sitzen. Nie wieder würde er ihr zulächeln. Der Raum um sie herum wurde plötzlich grau, die Wände dehnten sich aus und schrumpften wieder, alles begann, sich zu drehen. Adele klammerte sich an ihrer Mutter fest, doch das änderte nichts. Ihr war, als habe sie jeden Halt verloren.

Johanna, Winter 1805

Sie suchte sein bestes Gewand heraus. Heinrich sollte wieder der Mann sein, den sie geheiratet hatte. Sie klingelte nach dem Diener, überreichte ihm Brokatweste und Gehrock und bat, er möge sie rufen, wenn alles hergerichtet sei. Der Diener verschwand stumm im benachbarten Schlafgemach. Gegen ihren Willen folgte sie ihm mit dem Blick, wanderten ihre Augen zu dem reglosen Umriss unter dem weißen Laken. Durch die halboffene Tür sah sie nur die Beine, die Füße ragten sinnlos in die Höhe, bildeten ein kleines Zelt mit zwei Spitzen, die wie Zuckerhüte aussahen. Schnell wandte sie sich ab.

»Schließen Sie die Tür«, befahl sie.

Allein im engen Ankleidezimmer ihres Mannes, atmete sie den unverwechselbaren Duft von Tabak und Lavendel ein, den Heinrichs Leibwäsche verströmte. Der Marmorkopf, der seine altmodische Stutzperücke aus Rosshaar trug, starrte sie aus toten Augen an. Johanna ließ sich auf die Chaiselongue sinken, auf der noch sein zerknülltes Nachthemd lag. Man hatte sie im Morgengrauen aus dem Schlaf gerissen. Seitdem hatte sie nur eine Tasse Tee getrunken, und noch immer würde sie keinen Bissen herunterbekommen. Tränen weinte sie nicht. Doch auch wenn sie alles vorausgeahnt hatte, fühlte sie sich bis in die Haarspitzen erschüttert.

Sie hatte das Menschenmögliche versucht, aber das Unglück hatte sich nicht aufhalten lassen. Seit Langem schon war Heinrich nicht mehr der furchtlose, für seine Rechtschaffenheit und Urteilskraft hochangesehene Handelsherr gewesen, dem sie als Achtzehnjährige die Hand gereicht hatte. Mechanisch strich sie sein Nachthemd glatt und dachte an die Zeit in Danzig zurück. Wie unbeschwert sie gewesen waren! Auch er, jedenfalls hatte sie es damals geglaubt.

Das Jahr 1785 stand ihr vor Augen, als wäre es heute: Frisch in die Gesellschaft eingeführt, tanzte sie leichtfüßig durch ihr junges Leben, hüpfte in Seidenkleidern von Ball zu Ball. Nach einem klirrend kalten Winter hatten im Frühjahr die Promenadenkonzerte begonnen. Gewärmt von der noch sanften Sonne, flanierte sie nach dem Tee am Ufer der Weichsel entlang, begrüßte hier und dort Bekannte, spazierte weiter zum Konzertpavillon, ließ sich eine Erfrischung bringen und lauschte der Musik. Meistens wurde sie von einer Freundin aus dem Pensionat begleitet, das sie im Vorjahr beendet hatte. Tag für Tag begegnete ihnen ein hochgewachsener, fremder Herr mit eindrucksvollen Gesichtszügen. Jedes Mal, wenn er an Johanna vorbeiging, deutete er eine Verbeugung an. Anfangs hatte sie an eine Verwechslung geglaubt, aber bei der dritten Begegnung blickte sie ihm nach.

»Wer ist das?«, fragte sie ihre Freundin.

»Du kennst ihn nicht?«, lautete die erstaunte Antwort. »Das ist Herr Schopenhauer, der Republikaner. Alle sprechen von ihm. Während der Belagerung vor zwei Jahren, als die Preußen uns unterwerfen wollten, hat man versucht, ihn zu bestechen. Er sollte die Seiten wechseln, weil er so einflussreich war. Aber er hat sich geweigert. Sein Handelshaus ist unter der Hafenblockade beinahe bankrottgegangen, doch das freie Danzig war ihm wichtiger. Er hat sogar seine wertvollen Pferde geopfert, als es kein Futter mehr gab.«

»Ein stolzer Mann also.« Ihr Interesse war geweckt. »Und er betreibt ein Handelshaus?«

Die Freundin nickte. »Wie dein Vater, wieder sehr gut gehend übrigens. Fast ein Wunder, dass ihr einander noch nicht vorgestellt wurdet. Er verkehrt in unseren Kreisen, frag deine Eltern.«

Und in der Tat: Beim darauffolgenden Sonntagskonzert erschien Schopenhauer in Begleitung ihres Onkels.

»Welch ein Zufall«, raunte die Freundin ihr ins Ohr.

Johanna zog die Augenbraue hoch. Inzwischen war sie überzeugt, einen Verehrer zu haben. Sie wusste, sie war nicht unansehnlich, aber es schmeichelte ihr dennoch. Der Onkel stellte sie einander vor, und sie musterte Herrn Schopenhauer eingehend. Er war deutlich älter als sie, unter der Perücke schauten an den Schläfen graue Haare hervor. Aus der Nähe wirkte er noch größer. Trotz seiner Länge hielt er sich tadellos. Die selbstsicheren graugrünen Augen, der entschlossene Mund und die gebogene Nase vervollständigten das Bild eines Mannes, der seinen Wert kennt.

»Enchanté«, sagte er mit tiefer Stimme und schüttelte ihre Hand wie zu einem Vertragsabschluss. Ihre zierliche Hand verschwand fast in seiner Pranke.

»Sie dürfen loslassen«, erwiderte sie lächelnd und genoss den Anflug von Verlegenheit, den sie hervorrief.

Kurz darauf gab ihr Onkel, der sonst nie einlud, eine Gesellschaft. Den gesamten Abend über spürte sie den Blick von Herrn Schopenhauer auf sich ruhen. Nach dem Begrüßungstrunk flüsterte er ihrem Onkel etwas ins Ohr, woraufhin der zu ihr kam und sie bat, ein Lied vorzutragen. Sie zierte sich nicht, sondern setzte sich sogleich ans Klavier und stimmte Das Veilchen von Mozart an. Damals hatte sie einen schönen Mezzosopran. Schopenhauer trat näher, lauschte andächtig und blätterte die Noten um. Als sie geendet hatte, reichte er ihr ein Glas Wasser.

Am nächsten Tag ließ er seinen Besuch anmelden. Er wollte sie allein sprechen, sodass sie sich ausrechnen konnte, was er vorhatte. Als er vor ihr auf die Knie ging, geriet sie trotzdem aus der Fassung. Ihr war, als schwanke die Erde unter ihren Füßen.

Ähnlich wie jetzt und doch so anders, dachte sie traurig. Aus dem Nebenzimmer drangen beklemmende Geräusche an ihr Ohr. Der Diener bat eine Magd um Wasser für die Leichenwäsche. Johanna fröstelte. Sie versenkte sich wieder in ihre Erinnerungen, bevor der Jammer sie überwältigen konnte.

Damals hatte sie es ihm hoch angerechnet, dass er zuerst mit ihr sprach. Zu der Zeit war es üblich, beim Vater um die Hand der Braut anzuhalten. Doch Heinrich überließ ihr die Wahl. Er verstand ihren unabhängigen Charakter, ihren Stolz. Niemals hätte sie unter Zwang geheiratet. Aber so sagte sie ohne die übliche Bedenkzeit Ja.

Die Hochzeit war Stadtgespräch. Menschen aus den unteren Schichten drängten sich auf dem Kirchplatz, um einen Blick auf das Brautpaar zu erhaschen. Das Haus, über dessen Schwelle Heinrich sie trug, führte ihr vor Augen, dass sie zwar in Wohlstand, aber nicht in Reichtum aufgewachsen war. Besinnungslos verliebt, wie in früher Jugend in den Sohn des Hafenmeisters, war sie nicht. Für solche Gefühlsstürme war Heinrich zu gesetzt. Aber sie bewunderte ihn und war stolz, ihm anzugehören. Wenn ihr Gemahl und sie über die Promenade spazierten, grüßten selbst die einflussreichsten Bürger voller Respekt. Sie gaben ein schönes Paar ab, so gegensätzlich, wie sie waren. Er groß, hell und ernst, sie zierlich, flink und temperamentvoll, mit honigfarbenen Augen und haselnussbraunem Haar. Ihr Ehemann trug sie auf Händen. Selbst als sie längst verheiratet waren, brachte er ihr täglich frische Blumen mit. Den Altersunterschied empfand sie nicht als störend. Auch ihr Vater war älter als ihre Mutter. An Heinrichs leichte Schwerhörigkeit gewöhnte man sich schnell. Sie mochte es, wie er ihr den Kopf zuneigte und aufmerksam lauschte, wenn sie mit ihm sprach.

Es waren glückliche Monate, doch dann kam der Herbst. Heinrichs Stimmung verdüsterte sich, kaum merklich zunächst, mit den kürzer werdenden Tagen immer spürbarer. Er wurde schweigsam. Wo sie vorher angeregt geplaudert hatten, grübelte er nun dumpf vor sich hin. Sie wollte den Grund wissen, er zuckte mit den Achseln: »Melancholie. Gelegentlich bin ich mir selbst keine gute Gesellschaft. Das geht vorbei.«

Sie versuchte, ihn aufzuheitern, scherzte, plauderte und sang. Mit dem Frühling griff ihre unverwüstliche Lebensfreude auch auf ihn wieder über. Er war dankbar. Trotz der Jahreszeit trieb er erneut täglich Blumen für sie auf. Eines Tages musste sie die Maiglöckchen aus dem Zimmer schaffen lassen, weil ihr von dem Geruch übel wurde. Sie war guter Hoffnung.

Heinrichs Fürsorge kannte keine Grenzen. Keine Speise war zu erlesen, kein noch so flüchtiger Wunsch zu schwer zu erfüllen. Doch mit der Vorfreude auf das Kind schlich sich auch Rastlosigkeit ein. Heinrich wollte verreisen. »Mein Sohn soll in England zur Welt kommen. Dann ist er englischer Staatsbürger«, sagte er. »Später als Kaufmann wird das für ihn von Vorteil sein.«

Seit Kindertagen hatte Johanna von fernen Ländern geträumt. Aber in diesen besonderen Umständen widerstrebten ihr die Pläne. »Ich würde lieber bei meiner Mutter bleiben«, bat sie. »Dort fühle ich mich sicherer. Ich kann es dir nicht erklären.«

Ihre Einwendungen blieben ungehört. Die Kutsche wurde mit Kissen und Decken ausstaffiert und rollte los. Bei der Überfahrt nach Dover wurde Johanna in ihrer übelriechenden Schiffskajüte hin und her geschleudert, während sie krampfhaft den Eimer umklammerte und nach halbwegs frischer Luft schnappte. Der Anblick der Kreidefelsen kurierte ihre Seekrankheit jedoch schnell. Dann London: Theater, Bälle, neue Bekanntschaften, ein wahr gewordener Traum. Heinrich schaffte den besten Arzt der Stadt herbei, einen gebildeten Mann, mit dem sie plaudernd ihr Englisch vervollkommnete. Sie war Heinrich nun dankbar, dass er sie überredet hatte.

Doch mit Beginn der dunklen Jahreszeit schlug seine Stimmung urplötzlich wieder um. Ängste, die er zuvor an ihr belächelt hatte, ergriffen von ihm Besitz: »Eine Niederkunft so fern der Heimat ist eine Gefahr«, sagte er. »Wir müssen zurück nach Danzig!«

Wieder erhob sie Einwände, vergeblich. Inzwischen war sie hochschwanger. Fast wäre sie bei schwerem Seegang über die Reling geschleudert worden, als die Übelkeit sie an Deck trieb. Es war Februar, ganz Europa lag unter einer Schneedecke. Immer wieder rutschten die Pferde aus, einmal wäre um ein Haar die Kutsche umgestürzt. Nach schrecklichen vierzehn Tagen erreichten sie endlich Danzig. Noch in derselben Nacht setzten die Wehen ein. Am nächsten Morgen hielt sie einen gesunden Sohn im Arm: Arthur.

Der Stammhalter vertrieb die Schwermut. Heinrich sang seinem Sohn Lieder vor. Für einige Jahre blieben die dunklen Wolken fern.

Nebenan in Heinrichs Schlafzimmer wurde eine Waschschüssel abgestellt. Zwei Diener murmelten Unverständliches miteinander. Johanna merkte, dass sie noch immer geistesabwesend Heinrichs Nachthemd an sich drückte.

Sie hatte glauben wollen, dass alles gut werden würde. Voller naiver Hoffnung war sie gewesen, wie die Sansculotten in Frankreich, mit denen Heinrich und sie so mitfieberten. Doch kurz nach Arthurs fünftem Geburtstag war Heinrich zu ungewohnter Zeit atemlos ins Frühstückszimmer gestürmt: »Ruf die Dienerschaft zusammen. Wir packen. Die Preußen sind wieder da! Sie erobern die Stadt!«

Sie war erschrocken. »Du willst fliehen?«

»Es ist aussichtslos, Danzig wird sich keine Woche halten. Bisher gab es Absprachen, aber durch die Revolution in Frankreich sieht der Preußenkönig sich von uns freien Städten bedroht. Er fürchtet, das Beispiel könne Schule machen, auch anderswo zu Aufständen führen. Also verteidigt er sich durch Angriff. Und Russland schützt uns nicht mehr. Sie teilen Polen unter sich auf.«

»Sollten wir nicht zunächst abwarten? Vielleicht ändert sich für uns wenig.«

»Solange ich atme, unterwerfe ich mich keinem König. Ich bin freier Bürger einer freien Stadt. Lieber sterbe ich, als dass ich mich zum Untertanen degradieren lasse.«

Der Umzug nach Hamburg brachte Entbehrungen mit sich. Sie mussten Teile ihres Besitzes zurücklassen, aber schlimmer wog die Fremdheit. Heinrich war Respekt gewohnt, doch die einheimischen Kaufleute betrachteten ihn als Neuling ohne Wurzeln, als Flüchtling. Sie beäugten den Konkurrenten misstrauisch.

Klar und deutlich stand Johanna die erste Abendgesellschaft vor Augen, die sie in Hamburg gegeben hatten. Der Vorstand der Kaufmannsgilde ließ sich wegen Unpässlichkeit entschuldigen, vier weitere Personen erschienen mit Verspätung. Die eintreffenden Gäste sahen sich kritisch im Hause um, sodass Johanna schmerzlich bewusst wurde, in welch vergleichsweise bescheidenen Verhältnissen sie neuerdings leben mussten.

»Kein sehr erfolgreiches Handelshaus, scheint mir«, flüsterte eine Dame gut hörbar ihrem Gatten zu.

»Umso besser für uns«, antwortete der Reeder in Zimmerlautstärke. Für einen Augenblick war Johanna froh über Heinrichs Schwerhörigkeit.

Man begab sich ins Speisezimmer. Lohndiener servierten, waren aber nicht mit dem Haushalt vertraut. Johanna musste dafür sorgen, dass die überzähligen Gedecke abgeräumt wurden. Während der Mahlzeit bot Heinrich einem Ratsherrn Moselwein an.

»Danke, nein«, erwiderte dieser. »Ich bin bekanntlich Abstinenzler.«

Heinrich nickte dem Ratsherrn verbindlich zu. »In der Tat ein edles Tröpfchen. Ich lasse ihn aus Bernkastel kommen. Wenn Sie gestatten, schicke ich Ihnen eine Kiste zu.«

Wegen einer Gesprächspause waren Heinrichs Worte am ganzen Tisch hörbar. Alle Augen richteten sich auf ihn. Die Reedersgattin täuschte einen Hustenanfall vor. Ihr Gemahl wechselte einen spöttischen Blick mit dem Ratsherrn.

Heinrich, der seinen Fehler nun bemerkte, wurde fahl, während Johanna sich eilig für ihn in die Bresche warf. »Leider beeinträchtigt eine noch nicht abgeklungene Erkältung das Gehör meines Mannes zurzeit.«

Im weiteren Verlauf des Abends sprachen die Gäste so laut und so langsam mit Heinrich, als wäre er begriffsstutzig. »Soll ich es wiederholen?«, hörte Johanna mehrfach. In Danzig hatte man sein Gebrechen höflich ignoriert, hier nicht. Als alle gegangen waren, sagte Heinrich zu ihr: »Wir laden diese Schweine nicht mehr ein.«

Schon da schwante ihr nichts Gutes für die Zukunft.

Tatsächlich zog er sich mehr und mehr von der Gesellschaft zurück, wurde zum Menschenfeind. Brütend verbrachte er die Abende vor dem Kamin, starrte reglos ins Feuer, las nicht einmal ein Buch.

In ihrer Not regte Johanna eine Badereise an, schützte Brustbeschwerden vor, um ihn zu überreden. Sie fuhren nach Karlsbad. Ein Glücksfall führte sie im Kurhotel mit Bekannten aus Danzig zusammen. Heinrich lebte auf. Sie selbst hingegen fühlte sich plötzlich tatsächlich krank, als hätte die Lüge sie eingeholt. Der Arzt eröffnete ihr, dass sie wieder in anderen Umständen war, neun Jahre nach Arthurs Geburt. Die frohe Botschaft bewirkte Wunder. Von einem auf den anderen Tag verflog Heinrichs Trübsinn. Wieder verzärtelte er Johanna wie zu Beginn ihrer Ehe. Selig, wenn auch etwas ungeschickt, hielt er nach der Niederkunft die winzige Adele auf dem Arm. Johanna musste ihm zeigen, wie man das Köpfchen stützt. Als Arthur ein Säugling gewesen war, hatte er nie gewagt, ihn hochzunehmen.

Fünf glückliche Jahre vergingen. Auch das Handelshaus florierte wieder. Gelegentlich klagte Heinrich über Kopfschmerzen. Jedes Mal rechnete Johanna mit dem Schlimmsten, doch seit Adeles Geburt musste er nur sein Töchterchen um sich haben, schon waren alle Sorgen vergessen. Wenn er über ihr seidenweiches Haar strich, das anfangs ebenso strohfarben war wie das seine, legte sich eine kindliche Sanftheit auf seine Züge.

Eines Vormittags bei der Rückkehr von der Putzmacherin fand sie ihren Mann im Salon im ernsten Gespräch mit dem Buchhalter vor.

»Morgen früh kann ich den Schaden beziffern«, hörte sie den Untergebenen sagen.

Heinrich, der mit dem Gesicht zur Tür stand, bemerkte Johanna und verschluckte seine Erwiderung. Er nickte ihr mit gezwungenem Lächeln zu und meinte leichthin zum Buchhalter: »Alles Weitere bereden wir im Kontor.«

Am Abend, als die Kinder im Bett waren, sprach Johanna ihn auf die Begegnung an. »Ich konnte nicht umhin, ein paar Worte aufzuschnappen. Gibt es Schwierigkeiten im Geschäft?«

Ungewohnt heftig fuhr Heinrich sie an. »Gelddinge haben dich nicht zu interessieren. Kümmere du dich um die Kinder. Arthur hat eine furchtbare Schrift. Das solltest du ändern, anstatt mir zuzusetzen.«

Im ersten Moment verletzten sie die groben Worte nur, doch bald bemerkte sie, dass alles noch viel schlimmer war: Heinrichs Melancholie war zurück. Er verlor den Appetit, vernachlässigte seine Kleidung, verließ kaum mehr das Haus. Und er reagierte unwirsch auf Arthur. Selbst sein Sonnenschein Adele heiterte ihn nicht mehr auf. Die Kleine bekam Angst vor ihrem Vater. War sie ihm sonst freudig entgegengelaufen, wagte sie sich nun kaum mehr in seine Nähe.

Johanna verbrachte trübe Abende am Kamin neben ihrem Mann, der, in seinem Ohrensessel sitzend, eine bleierne Schwermut verströmte, die auch ihre Lebensfreude zu ersticken drohte. Sie war froh über die Abwechslung, als der Diener einen eben aus Schweden eingetroffenen Besucher anmeldete. Es handelte sich um einen Teehändler aus Danzig, der von früher her gut mit ihrem Mann bekannt war. Urplötzlich kam Leben in Heinrich. Er sprang auf und eilte dem Besucher entgegen. »Wie war die Reise? Ich hoffte schon früher auf Nachricht von Ihnen.«

Der Teehändler verbeugte sich höflich vor Johanna und sagte dann leutselig zu Heinrich: »Alles in Ordnung. Ihr Handelspartner in Göteborg ist ein anständiger Mensch. Auch ohne Frachtbrief hat er die Rechnung beglichen.« Er pochte auf seine Brusttasche. »Ich habe den Wechsel hier bei mir.«

Heinrich atmete spürbar auf. »Ich danke Ihnen für Ihre Mühe.« Er wandte sich an Johanna: »Klingele dem Diener. Unser Gast wünscht eine Stärkung.«

Erleichtert über Heinrichs aufgehellte Stimmung, ließ sie Wein und Braten servieren. Der Teehändler sprach dem Alkohol reichlich zu, was Heinrich dankenswerterweise nie tat. Je weiter der Abend fortschritt, desto redseliger wurde der Besucher. Lachend schilderte er die Unterredung mit dem schwedischen Handelspartner: »Ich habe auf ihn eingeredet wie auf einen lahmen Gaul! Er war felsenfest überzeugt, mit der Ware würde etwas nicht stimmen. Wer traut schon einem angesehenen Kaufmann solch einen Schnitzer zu? Die Frachtpapiere auf der Hafenmole liegen lassen, bis sie wegwehen! Ich muss sagen, Schopenhauer, wenn Sie es nicht gewesen wären, hätte ich selbst an eine faule Ausrede geglaubt.«

Johanna bemerkte, wie die Miene ihres Mannes sich schlagartig verdüsterte. Abrupt stand er auf. »Es ist spät geworden. Meine Frau lässt Ihnen ein Bett herrichten.« Dann nickte er dem Besucher zu und zog sich zurück.

Am nächsten Morgen reichte der verkaterte Teehändler ihm zum Abschied die Hand. »Nichts für ungut«, sagte er lächelnd. »Ich erzähle die Sache nicht herum.«

»Tun Sie, was Ihnen beliebt.«

Als er in die Kutsche gestiegen war, wandte sich Johanna ihrem Mann zu. »Wie schön, dass alles wieder gut ist.«

»Nichts ist gut«, erwiderte Heinrich missmutig. »Die ganze Welt lacht über mich.«

»Du hattest einen Moment der Zerstreutheit. Das passiert jedem dann und wann.«

»Verstehst du nicht? Mit meinem Kopf ist etwas nicht in Ordnung!«

Die Verzweiflung in seinem Blick traf sie mitten ins Herz. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. »Nun mach nicht aus einer Mücke einen Elefanten«, sagte sie leichthin. »Du bist der klügste Mann, den ich kenne.«

Er schüttelte heftig den Kopf. »Mein Gedächtnis lässt mich im Stich. Ich finde Gegenstände nicht mehr, die ich eben noch in der Hand hatte. Manchmal fallen mir Wörter nicht mehr ein.«

»Nun beruhige dich. Ich mache dir einen Tee.« Widerstandslos ließ er sich zu seinem Sessel führen. Er schien plötzlich geschrumpft zu sein, wie verloren saß er in dem mächtigen Polstermöbel, dessen Kopfstück ihn zu erdrücken schien. Mit zitternden Händen nippte er an dem Tee, den sie ihm reichte.

Johanna wurde plötzlich bewusst, wie alt er war. Unmerklich hatte sich sein Haar entfärbt, war von Gold zu Silber gewechselt, während seine ehemals wettergegerbte Haut nun fahl und faltig wirkte. Auch das leuchtende Blau seiner Augen war verblasst zu mattem Grau. Es war, als hätte jemand das Licht darin ausgeknipst.

Arthurs bevorstehender Schulbesuch in England brachte sie auf die Idee mit der großen Reise. Sie würden ihren Sohn zu seiner Boarding School in London begleiten, aber vorher gemeinsam den Süden des Landes besichtigen. Nach einiger Überredung willigte Heinrich ein. Sein Buchhalter bekam die Prokura.

Johanna war davon ausgegangen, dass ihre Tochter und das Kindermädchen mit ihnen reisen würden, aber Heinrich verwahrte sich dagegen: »Adele ist noch zu klein. Tag und Nacht in einer Kutsche, über Wochen? Unmöglich.«

Es kam sie hart an, sich von dem sechsjährigen Kind trennen zu müssen. Adele, die immer schon anhänglich gewesen war, klammerte sich weinend an ihren Hals. Schließlich musste Sophie die kleinen Finger auseinanderbiegen, um ihr die schluchzende Tochter aus den Armen nehmen zu können. Johanna warf ihr noch eine Kusshand zu, dann kletterte sie schnell in die Kutsche und blickte sich nicht mehr um, weil es sie sonst zu sehr geschmerzt hätte.

Die Reise schien einzulösen, was sie sich davon erhofft hatte. Heinrich war wie ausgewechselt. Selbstsicher und beinahe heiter führte er sie durch die deutschen, flandrischen und französischen Städte auf ihrem Weg nach England. Lediglich bei der Einschiffung in Calais wurde er plötzlich unruhig, weil seine Brieftasche verschwunden zu sein schien. Johanna hatte vorgesorgt und alle wichtigen Dokumente im Blick behalten. Sie steckte die Papiere unbemerkt in seine Rocktasche, wo er sie zu seiner großen Erleichterung schließlich fand. Noch bevor die französische Küste im Nebel verschwand, war der kurze Schreck vergessen.

Ihre Besichtigungstour führte sie an der englischen Südküste entlang. Johanna wurde nicht müde, sich die archaischen, wilden Landschaften und die großartigen Herrensitze anzusehen, wenn auch Arthur einiges dafür tat, ihr den Genuss zu verderben. Mit der typischen Trägheit seines Alters trottete er mürrisch hinter ihnen her, ohne der Umgebung auch nur das Geringste abgewinnen zu können. Heinrich wies ihn gelegentlich zurecht, doch insgesamt ließ auch er sich nicht aus der Ruhe bringen und erfreute sich mit Johanna an den Ausblicken, die ihnen zuteilwurden.

Nach zwei abwechslungsreichen Monaten erreichten sie Cornwall und mieteten sich in einem hübschen Landgasthof ganz in der Nähe der Küste ein. Manchmal waren Heinrich und sie bei ihren Wanderungen unter sich, weil Arthur es vorzog, in seinem Zimmer zu lesen. Es gab Momente, in denen sie sich wieder fühlte wie als Frischvermählte.

Der Tag, der ihr Leben veränderte, begann mit strahlendem Sonnenschein. Johanna erwachte spät, das Licht fiel schon hell ins Zimmer. Das Kissen neben ihr war leer, Heinrich bereits aufgestanden. Auch sie erhob sich und machte sich frisch. Bevor sie zum Frühstück hinunterging, warf sie einen Blick in Arthurs Zimmer. Wie erwartet schlief er noch tief und fest. Sachte zog sie die Tür hinter sich zu. Im Frühstücksraum traf sie nur die Gastwirtin an. Heinrich war eben an die frische Luft gegangen, um sich die Beine zu vertreten. Sie beschloss, ihn zu suchen.

Ein Fußweg führte zur Steilküste, die unmittelbar hinter einem mit Felsbrocken durchsetzten Kiefernwald senkrecht zum Meer abfiel. Frohgemut durchschritt sie das Wäldchen und umrundete einen kurios geformten Steinblock. Abrupt blieb sie stehen. Wenige Schritte vor ihr endete das Gelände am Abgrund. Unmittelbar an der Klippe stand Heinrich, das Gesicht der Morgensonne zugewandt, die flach über dem Meer stand. Sie sprach ihn an. Er schrak zusammen und fuhr herum. Er wirkte verstört. Hastig kam er auf sie zu und ergriff ihre Hände. Seine Stimme klang ungewohnt bewegt. »Für euch ist gesorgt. Sag den Kindern Lebewohl. Verzeih mir!« Er ließ los und lief schnurstracks zurück zur Klippe.

Erst als er unmittelbar an der Kante stand, erwachte sie aus ihrer Erstarrung: »Nein!«

Mit einem Satz war sie bei ihm und klammerte sich an seinen Arm. Beim Versuch, sie wegzustoßen, verlor er das Gleichgewicht. Mit dem freien Arm rudernd, kippte sein schwerer, großer Körper ins Leere. Auch sie selbst drohte, in die Tiefe gerissen zu werden. Mit aller Kraft stemmte sie sich dagegen, doch ihr Kampf wäre aussichtslos gewesen, wenn Heinrich sich nicht in letzter Sekunde an einem Riedbüschel festgehalten und wieder hochgezogen hätte. Nach Luft ringend fielen sie nebeneinander ins Gras. Kaum war sie wieder bei Atem, ging sie auf ihn los: »Warum tust du mir das an? Bedeute ich dir gar nichts?«

Er setzte sich aufrecht hin, schlang die Arme um die Knie und brach wie ein Kind in Tränen aus. In ihrer Erschütterung wusste sie nicht, wie sie ihn trösten sollte. Nie zuvor hatte sie ihn weinen sehen.

»Es ist das Beste für uns alle«, schluchzte er.

»Deine Stimmungen kommen und gehen«, versuchte sie ihn, aber auch sich selbst zu beruhigen. »Die Reise war doch schön bisher.«

»Du begreifst es nicht. Ich bin am Ende!«

»Geht es um Geld? Ich schränke mich ein. Nur bitte tu das nicht. Es ist Sünde.«

»Sünde?« Er lachte auf. »Wer glaubt an diesen Unsinn? Du nicht und ich nicht.«

»Ich glaube ans Leben. Du hast Familie. Denk wenigstens an uns.«

»Ohne mich seid ihr glücklicher dran.«

»Wie kannst du so etwas sagen?«

»Weil es die Wahrheit ist. Vertrau mir.«

Die tiefe Verzweiflung in seinem Blick schnürte ihr die Brust zu. »So sag mir doch bitte endlich, was los ist«, bat sie flehentlich.

Er zog sein Taschentuch hervor und schnäuzte sich. Sie setzte sich zu ihm und wartete schweigend. Erschöpft steckte er das Taschentuch weg. »Also gut.«

Doch weiter sagte er nichts.

»Was ist so schlimm, dass du es nicht aussprechen kannst?«

Er flüsterte fast. »Ich habe die Franzosenkrankheit.«

Sie verspürte einen tiefen Stich der Kränkung. Natürlich hielten sich viele Männer Geliebte, aber sie war sich seiner Treue immer sicher gewesen. »Du hattest andere Frauen?«, fragte sie.

»Vor unserer Hochzeit. Ich lebe seit vielen Jahren damit.« Immer noch blickte er sie nicht an. »Hast du dich nie gefragt, warum ich dich so selten berühre?«

Sie war wie vor den Kopf geschlagen. Es stimmte, ihre ehelichen Beziehungen hatten sich vor Jahren ins Geschwisterliche gewandelt, durchaus zu ihrem Leidwesen. Sie hatte es auf Heinrichs Alter geschoben.

»Du hast mich geheiratet, obwohl du es wusstest?«

»Es war verschwunden. Die Krankheit ist tückisch. Bei unserer Hochzeit hielt ich sie für überstanden.«

Sie musterte ihn forschend: Er war ehrlich. Seufzend beschloss sie, die Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen. »Du hast mich nicht angesteckt. Also verzeihe ich dir. Siehst du? Alles halb so schlimm. Du hättest viel früher mit mir sprechen sollen.«

Er sah sie müde an. »Du verstehst mich noch immer nicht. Ich bin im letzten Stadium. Die Anzeichen sind nicht zu übersehen. Erinnerst du dich an unseren Nachbarn in Danzig?«

Sie erschrak. Den Mann, von dem Heinrich sprach, hatte sie nur wenige Male gesehen, weil seine Familie ihn im Haus versteckte. Einmal war er nackt ins Freie gerannt, ein von Geschwüren übersäter, abgemagerter Greis, dem Spuckefäden aus dem verfilzten Bart liefen. Er hatte Laute ausgestoßen, die keiner Sprache angehörten.

»Der Mann hatte galoppierenden Schwachsinn, das ist etwas anderes«, sagte sie.

»Der Mann hatte Syphilis«, widersprach Heinrich. »Das ist meine Zukunft. Aber dazu lasse ich es nicht kommen.«

Von da an lebte sie in ständiger Angst. Jeder Tag konnte der letzte sein. Sie brachen die Reise ab. Johanna verschleierte das Erlebnis an der Klippe vor Arthur, so gut es ging. Er war erbost, dass er mit ihnen nach Hamburg zurückkommen sollte. Aber sie brachte es nun nicht mehr über sich, ihn in der Fremde zurückzulassen. Zudem war er einer der Fäden, die Heinrich vielleicht doch noch ans Leben binden konnten. Die angebliche späte Absage der Boarding School erklärte sie ihrem Sohn mit einem Irrtum ihrerseits, verursacht durch die fremdsprachige Korrespondenz.

Die Rückreise wurde zur Qual. Wenn Arthur sich nicht beklagte, herrschte drückendes Schweigen. In den Gasthöfen bestand Johanna darauf, ein Zimmer mit Heinrich zu teilen. Abends, wenn sie allein waren, wirkte sie auf ihn ein, sein Vorhaben hinauszuzögern. Nicht mehr lange, und Arthur wäre erwachsen. Adele wäre nicht mehr ganz so klein.

»Ich werde handeln, solange ich selbst dazu in der Lage bin«, lautete die immergleiche Antwort.

»Noch geht es dir gut«, beredete sie ihn. »Wirf das Leben nicht weg, bevor es nicht restlos ausgeschöpft ist.«

Widerstrebend ließ er sich schließlich auf ihre Bitte ein. »Ich versuche es.«

Hatte sie sich von diesem Versprechen Seelenfrieden erhofft, so sah sie sich getäuscht. Das Leben wurde zum Warten auf den Tod. Sie fand keinen Schlaf mehr, ertappte sich plötzlich selbst dabei, wie sie stumpfsinnig ins Kaminfeuer starrte und sich zu nichts aufraffen konnte. An anderen Tagen zuckte sie bei jedem Geräusch zusammen, wurde rastlos, erschien unter tausend Vorwänden in den Räumen ihres Mannes, um sich zu vergewissern, dass er keine Dummheiten anstellte. Mehr als einmal ertappte sie ihn dabei, wie er nachdenklich ein Fläschchen Laudanum gegen das Licht hielt oder, einen Seidenschal in der Hand, zum Deckenbalken hochblickte. Jedes Mal bettelte sie erneut, jedes Mal mit schwindender Überzeugungskraft. Immer wieder gab er nach, doch dann war der gestrige Tag angebrochen. Johanna hörte sich selbst seufzen. Ihr Herz schmerzte bei der Erinnerung, als würde es zerquetscht.

Beim Frühstück war Heinrich aufgekratzter gewesen als sonst. Zeitig brach er auf ins Kontor. Er bat sie jedoch, sich die Stunde vor dem Tee freizuhalten. Er wünsche eine Unterredung.

Eine dunkle Ahnung beschlich sie. Wie sollte sie ihn nur ein weiteres Mal umstimmen? Den Vormittag verbrachte sie vor dem Frisierspiegel, widmete sich mit besonderer Sorgfalt ihrer Toilette. Ihre Schönheit sollte ihn an diese Welt fesseln. Sie ließ Blumen bringen und ein fröhliches Feuer anfachen. Als Heinrich am frühen Nachmittag ihren Damensalon betrat, ging sie ihm mit strahlendem Lächeln entgegen und ergriff seine Hände. »Ich habe den Künstler angeschrieben, der die Ratsmitglieder malt. Er wird Porträts von uns anfertigen. Eine großartige Begabung.«

»Setz dich bitte und sieh dir das hier durch.« Ohne auf ihren Vorschlag einzugehen, schob er sie zu ihrem Kirschholzsekretär, zog sich einen zweiten Stuhl heran und drückte ihr einen Packen Dokumente in die Hand, von denen viele ein amtliches Siegel trugen.

»Wie du siehst, wird es den Kindern und dir an nichts fehlen.« Er sprach schnell, den Blick zu Boden gerichtet. »Mein Prokurist wird das Handelshaus für dich weiterführen. Falls du es wünschst, liquidiert er und zahlt dir den Erlös aus.«

»Heinrich, hör bitte auf!«

Er zeigte auf ein Papier. »Das sind unsere Besitzungen in Danzig. Das Landgut ist frisch verpachtet, man wird dir jährlich einen Wechsel schicken. Dies ist der Schlüssel zum Tresor. Darin liegen Goldstücke und Barren. Und das hier«, er legte einen versiegelten Brief vor sie auf den Tisch, »ist mein Testament. Alles wird zu gleichen Teilen unter euch aufgeteilt. Du verwaltest das Vermögen der Kinder bis zu ihrer Volljährigkeit.«

Den Tränen nahe, flehte sie ein weiteres Mal: »Heinrich, du bist noch weit entfernt von … Deine Gesundheit ist gut! Wie sonst könntest du alles so klar regeln?«

Unbeirrt sprach er weiter. »Ich hätte gerne Arthurs Eintritt in den Beruf erlebt. Er soll immer ehrlich und anständig sein, dann wird er ein guter Kaufmann. Sag ihm das. Und küsse Adele von mir, sie soll mich nicht vergessen.«

Verzweifelt sah sie ihm ins Gesicht. »Was kann ich tun, um dich umzustimmen?«

»Nichts.« Sein Blick war ernst und entschlossen. »Ich habe schon viel zu lange gewartet. Also nehmen wir Abschied.«

Mit ungewohnter Sanftheit legte er seine Arme um sie und küsste sie, erst auf die Stirn, dann auf den Mund. »Leb wohl und sei glücklich. Such dir einen anderen Mann. Sei frei. Und mach dir keine Vorwürfe. Du warst eine gute Ehefrau, besser, als ich es verdient habe.«

Unvermittelt machte er sich los und eilte aus dem Raum. Sein kerzengerader Rücken war das Letzte, was sie von ihm sah.

Die darauffolgenden Stunden waren furchtbar gewesen. Bestimmt hundertmal lief sie los, um ihn zu suchen, nur um im Flur wieder kehrtzumachen. Sie wusste, es war zwecklos. Sie musste seinen Wunsch respektieren. Jedoch ertrug sie es nicht, tatenlos dazusitzen, während in unmittelbarer Nähe der Mann, mit dem sie zwanzig Jahre Tisch und Bett geteilt hatte, ein schreckliches Ende fand.

Sie warf ihren Mantel über und verließ das Haus. Mit der Kutsche ließ sie sich an den Elbstrand bringen, dann befahl sie dem Kutscher, allein zurückzukehren. Sie wolle einen längeren Spaziergang machen. Ohne auf die Blicke der Bootsleute zu achten, die sich fragen mochten, was eine unbegleitete Dame hier suchte, folgte sie dem von Weiden gesäumten Treidelpfad am Elbufer, umrundete sorgsam die zahlreichen schlammigen Pfützen, wich einer Herde Schafe aus, die hier graste, und entfernte sich immer weiter von der Stadt. Mit jedem Schritt erschien ihr der Abschied von Heinrich etwas mehr wie ein Produkt ihrer überhitzten Fantasie.

Sie drehte erst um, als es bereits dämmerte. Man sah das andere Ufer nicht mehr, als sie in besiedeltes Gebiet zurückkehrte. Die Elbe floss nachtschwarz dahin, nur spärlich erhellt von mattem Licht, das aus den Fenstern der Fischerkaten drang. Je näher sie den wohlhabenden Bürgerhäusern am Handelshafen kam, desto zahlreicher und heller wurden die Laternen. Wie durch eine innere Wand hindurch beobachtete sie das träge Wellenspiel des Wassers, freute sich an den silbrigen Flämmchen, die hier und dort aufzüngelten und im nächsten Atemzug wieder von der Dunkelheit verschluckt wurden. Etwas trieb vorbei. Sie glaubte, ein Stück Holz auszumachen, oder vielleicht eine Ente mit dem Hinterteil in der Luft. Etwas an der Ente stimmte nicht, sie war rund wie ein Kopf. Johanna sah dem Umriss nach, blickte angestrengt stromabwärts, doch nun war sie nicht einmal mehr sicher, ob es nicht nur eine Welle gewesen war.

Als sie ins Haus zurückkehrte, nahm der Diener ihr wie immer schweigend den Mantel ab. Die Köchin erkundigte sich, ob sie servieren dürfe. Nichts schien geschehen zu sein, oder niemand war im Bilde. Beim Abendbrot fragte Adele nach dem Vater. Schlagartig war es mit Johannas Gelassenheit vorbei, sie stammelte eine Ausrede und zog sich so schnell wie möglich zurück. Bis lange nach Mitternacht grübelte sie, wie sie es den Kindern beibringen sollte. Erst im Morgengrauen schlief sie ein, nur um kurz danach von städtischen Bütteln geweckt zu werden. Man hatte Heinrichs Leichnam gefunden. Der Fluss hatte ihn hinter dem Hafen ans Ufer geschwemmt. Ihre erste Empfindung, für die sie sich sogleich schämte, war Erleichterung. Es war vorbei.

»Sie haben gerufen?« Der Diener stand in der Tür zu Heinrichs Ankleidezimmer, wie lange schon, konnte sie nicht sagen. Mit einem Tuch trocknete er sich die Hände, mit denen er eben noch ihren Ehemann gewaschen hatte. Ein sonderbarer Geruch schien von ihm auszugehen.

Sie nahm sich zusammen und erhob sich von der Chaiselongue. »Ist er so weit?«

Der Diener nickte.

»Dann dürfen Sie mich allein lassen«, erklärte sie. »Ich möchte nicht gestört werden.«

Zögernd ging sie hinüber in Heinrichs Schlafgemach und trat an sein Totenbett. Inzwischen trug er den Festtagsrock und die Weste, die sie herausgesucht hatte. Seine vom Flusswasser durchnässten Locken waren sorgfältig gekämmt. Das Gesicht war fahl, aber friedlich. Die Gramfalten der Vergangenheit waren geglättet, fast wirkte er wieder jung, wie er, frei von allen Sorgen, vor ihr lag.

Sie pflückte eine Rosenknospe aus dem Bouquet, das neben der Bettstatt in einer Vase stand, und steckte die Blüte sanft in Heinrichs auf der Brust gefaltete Hände. Sie hauchte dem Toten einen Kuss auf die Stirn: »Lebe wohl!«

Ein letztes Mal nahm sie seinen Anblick in sich auf, dann verließ sie den Raum, ohne sich umzusehen.

Im Flur musste sie sich anlehnen. Sie schloss die Augen. Schwäche konnte sie sich nicht erlauben, sie musste alles genau durchdenken. Niemand durfte es erfahren. Heinrich verdiente eine würdige Beerdigung, er sollte nicht in ungeweihter Erde verscharrt werden. Auch den Kindern würde sie einreden, es sei ein Unfall gewesen. Sie sollten ihren Vater in guter Erinnerung behalten.

Adele, Frühjahr 1806

Adele saß an einem niedrigen Tisch abseits der Teegesellschaft und malte ein Bild von ihrem Vater. Sie war das einzige Kind hier. Es war ein Damenkränzchen, nur Frauen waren zugegen. Geladen hatte die dicke Reedersgattin, die seit dem Tod des Vaters immer so freundlich zur Mutter war. Gerade schenkte sie ihr eigenhändig Tee ein. Die Mutter bedankte sich mit dünnem Lächeln. Adele konnte quer durch den Raum spüren, dass sie es nicht mochte, so behandelt zu werden. Sie vertiefte sich wieder in ihr Bild. Jemand tätschelte ihren Kopf.

»Du malst sehr schön.« Die Frau des Prokuristen setzte sich neben sie. Frau Jansen war ihr Name, sie war mit der Mutter befreundet und immer nett zu Adele.

Adele seufzte. »Es ist nicht sehr ähnlich.« Die Augen des Vaters waren gelungen, aber der Mund nicht. Sie wusste nicht mehr genau, wie er aussah. Wenn sie die Augen schloss, war er manchmal da, aber sobald sie sie wieder aufschlug, verschwand er. Versuchsweise zeichnete sie die Oberlippe und radierte sie wieder aus. Auch seine Stimme hatte sie nicht mehr im Ohr. Sie wollte die Erinnerung so gerne festhalten, aber es ging nicht. Die Mutter sprach nicht über den Vater. Sie sagte, es würde ihr zu sehr wehtun. Auch Arthur war keine Hilfe. Den Vater, von dem er sprach, kannte sie nicht. Er war streng und verlangte Gehorsam. Außerdem wurde der Bruder immer wütend, wenn vom Vater die Rede war. Er schimpfte dann auf die Mutter. Adele hatte es aufgegeben, ihn zu fragen, warum.

»Also, ich finde, er ist dir gut geglückt«, lobte Frau Jansen. »Ich habe ihn sofort erkannt.« Nach einer Weile fragte sie: »Vermisst du ihn sehr?«

Adele wollte nicht darüber reden. »Ein bisschen«, sagte sie und schwieg. Sie war froh, dass die Frau nicht weiter nachbohrte.

Sie hätte gar nicht sagen können, ob sie den Vater sehr vermisste. Manchmal war sie traurig, aber eigentlich hatte sich nicht viel verändert. Das Haus stand da wie immer, alles sah genauso aus. Ihre Hauslehrer erteilten ihr weiter Unterricht, die Mutter schrieb wie vorher Briefe, der Bruder verbrachte die Tage im Kontor. Nur die Mahlzeiten waren anders. Arthur stritt jetzt immer mit der Mutter.

Früher hatten sie sich immer gut verstanden. Aber jetzt schrie er die Mutter ständig an. So wie an dem Tag, als der Sessel des Vaters plötzlich verschwunden war. Adele bemerkte sein Fehlen, als sie abends zu dritt vor dem Kamin saßen. Also fragte sie nach.

»Ich konnte den Anblick nicht mehr ertragen und habe ihn entfernen lassen«, erklärte die Mutter.

Adele sah das ein, aber Arthur wurde sofort wütend.

»Was kommt als Nächstes?«, fauchte er. »Treibt der Sessel auch im Fluss?«

Die Mutter seufzte. »Musst du immer wieder daran rühren?«

»Solange du mich belügst, ja. Kannst du eigentlich ruhig schlafen?«

»Durchaus, mein Sohn, danke der Nachfrage. Und nun schlage ich vor, du findest dich damit ab. Ich lasse den Fauteuil aus dem kleinen Salon neu aufpolstern, du wirst sehen, er ist sehr bequem.«

»Worüber streitet ihr euch eigentlich?«, fragte Adele. Sie mochte es nicht, wenn der Bruder und die Mutter über ihren Kopf hinwegsprachen.

Arthur zeigte mit dem Finger auf die Mutter. »Alles ist ihre Schuld. Ohne sie würde Vater noch leben.«

Erschrocken schaute sie zur Mutter. »Stimmt das?«

Die Mutter funkelte Arthur an. »Nun hetz mir nicht auch noch das Kind auf!«

»Ich sage lediglich die Wahrheit: Es war kein Unfall!«

Die Mutter stand auf und stemmte die Hände in die Hüften. »Das reicht! Schluss damit, ein für alle Mal!«

Arthur öffnete den Mund, doch die Mutter unterbrach ihn schneidend. »Ich will nichts mehr hören! Auf dein Zimmer, sofort!«

Einen Moment starrten Bruder und Mutter einander wütend an. Adele zog den Kopf ein. Sie hatte das Gefühl, dass gleich etwas Schlimmes passieren würde. Doch plötzlich drehte Arthur sich wortlos um und stürmte aus dem Raum. Die Tür fiel krachend hinter ihm zu.

»Warum ist er denn so wütend?«, fragte sie die Mutter, die mit geschlossenen Augen dastand und tief ein- und ausatmete.

Die Mutter beruhigte sich wieder. »Er ist in einem schwierigen Alter. Irgendwann legt sich das.« Mit dem Handrücken strich sie begütigend über ihre Wange. »Besser, du beachtest ihn nicht, wenn er sich so verhält.«

Ähnliche Vorfälle wiederholten sich danach noch öfter, aber mehr sagte die Mutter nie dazu. Adele fragte auch den Bruder, doch der meinte nur von oben herab: »Das verstehst du nicht. Du bist noch zu klein.«

Mitunter träumte sie von ihrem Vater. Im Traum nannte er sie Motte, wie früher. Sie wollte dann nach ihm greifen, ihn berühren, aber immer zerfloss er, wurde durchsichtig wie Nebel, und sie wachte schweißgebadet auf. An regnerischen Abenden, wenn es auf dem Speicher knirschte und knarrte, fragte sie sich, ob er mit den anderen Geistern dort umging. Niemals wieder würde sie da hinaufgehen.

Im Salon bei der Teegesellschaft setzte sich jetzt noch eine andere Dame zu ihnen. Adele kannte sie nur flüchtig, sie war die Schwester eines Kaufmanns, der mit ihrem Vater Geschäfte gemacht hatte. »Du armes Kind«, sagte sie freundlich. »Ich kannte deinen Vater, er war oft geschäftlich bei uns. Ein eindrucksvoller Mann. Und dann solch ein Unglück! Wie das bloß passieren konnte?«

Die Frau sah sie an, als würde sie eine Antwort von ihr erwarten. Zum Glück zog Frau Jansen das Gespräch an sich. »Es stürzen immer wieder Leute aus den Speichern. Dass die Schutzvorrichtungen nicht endlich verbessert werden!«

»Die meisten dieser Menschen haben Geldsorgen«, erklärte die andere Dame mit merkwürdiger Betonung.

»Bitte, das Kind!«, flüsterte Frau Jansen und warf Adele ein Lächeln zu. »Hör nicht auf uns.«

Wieder hatte sie das Gefühl, dass über ihren Kopf hinweg Dinge besprochen wurden, die sie angingen.

Die Mutter setzte sich zu ihnen und reichte ihr ein Schälchen Quittenkonfekt. »Schau, hier ist etwas zu naschen.«

Sie griff zu. Schokoladenkonfekt schmeckte besser, aber sie hatte seitdem nie mehr davon gegessen.

Frau Jansen deutete auf die Zeichnung. »Ihre Tochter ist eine kleine Meisterin. Wie alt ist sie eigentlich?«

»Acht«, kam sie ihrer Mutter zuvor.

Die Mutter lächelte. »Bei aller Bescheidenheit, ich glaube, das hat sie von mir.«

»Eben habe ich davon gesprochen, welch große Hochachtung mein Bruder und ich für Ihren Gatten hegten«, sagte die Schwester des Kaufmanns. »Es muss schwer für Sie sein.«

Die Mutter wurde schlagartig ernst, wie immer, wenn vom Tod des Vaters die Rede war. Sie nickte stumm.

»Gott sei Dank sind Sie nicht in Not«, fuhr die Dame fort.

»Ja, ein Segen«, erwiderte die Mutter. Adele hörte an ihrer Stimme, dass ihr das Gespräch nicht gefiel. Die Mutter legte eine Hand auf ihren Arm. »Wollen wir uns wieder zu den anderen setzen?«

Adele blickte zu der Runde hinüber. Vier Damen unterhielten sich mit zusammengesteckten Köpfen. Jetzt schauten sie zu ihnen herüber, aber sofort wieder weg. Adele war sicher, dass es dort ziemlich langweilig war. »Ich würde gerne mein Bild fertig malen«, sagte sie.

»Wir plaudern doch gerade so nett«, entgegnete die Schwester des Kaufmanns. Die Mutter gab nach und blieb sitzen.

Nasen konnte Adele nicht, aber die Haare gelangen ihr gut. Das Bild wurde ein bisschen ähnlicher. Eine Dienerin schenkte Tee nach, außer für sie.

»Sie kommen doch zu unserer Soirée, hoffe ich?«, fragte Frau Jansen die Mutter nach einer längeren Gesprächspause.

»Sie gehen schon wieder in Gesellschaft?«, mischte sich die Schwester des Kaufmanns ein.

»Man kommt auf andere Gedanken«, antwortete die Mutter.

»Es ist nur eine kleine Gesellschaft«, erklärte Frau Jansen. Zur Mutter sagte sie munter: »Übrigens wird Herr Pistorius anwesend sein. Sie sind ihm im Theater begegnet.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich mich erinnere.«

»Er hingegen durchaus. Er nimmt großen Anteil an Ihnen.«

»Ist das nicht etwas verfrüht?«, fragte die Schwester des Kaufmanns.

Etwas an ihrem Ton ließ Adele aufblicken. Die Mutter runzelte die Stirn. »Seien Sie unbesorgt. Ich versichere Ihnen, ich werde nicht wieder heiraten.«

Adele fragte sich, warum die Mutter von so etwas anfing. Die beiden Damen am Tisch schwiegen.

Die Mutter strich ihr über die Wange. »Liebes, ist dir nicht wohl? Du siehst so blass aus.«

»Wirklich? Ich bin aber nicht krank«, beruhigte Adele sie. »Nur das dumme Bild wird nicht so, wie ich es will.«

Die Mutter erhob sich. »Wir gehen besser, Kind. Bestimmt ist es das viele Konfekt.«

Adele wollte etwas sagen, aber die Mutter hatte schon begonnen, sich zu verabschieden. Als sie auf die Straße traten, stieß sie einen Fluch aus, wie sie es sonst nie tat. »Diese Impertinenz, mich pausenlos an meine Lage zu erinnern! Die sollen mich verschonen mit ihrem falschen Mitleid und ihrer Tratschsucht!«

Adele wunderte sich. »Die waren doch ganz nett.«

»Nett?« Die Mutter lachte auf. »Vielleicht Frau Jansen, aber auch sie: Dein Vater ist kein Jahr unter der Erde, und sie will mich verkuppeln? Mit einem Freund ihres Gatten, der mein Geschäft führt? Wer bin ich, dass ich mir das bieten lassen muss?«

Die Mutter sprach so ärgerlich wie sonst nur im Streit mit Arthur. Beim Überqueren der Straße trat sie beinahe in den Kehricht, der in der Gosse schwamm. Adele zog sie gerade noch rechtzeitig am Arm zur Seite. Die Mutter legte die Hände an die Schläfen und atmete tief durch. »Verzeih, Liebes, ich habe mich gehen lassen«, sagte sie, wieder mit ihrer gewohnten Stimme.

Wenige Tage später rief die Mutter Arthur und sie abends zu sich in den Salon. Seit dem Tod des Vaters mied die Familie die Kaminecke, in der inzwischen ein bequemer Polstersessel mit weinrotem Samtbezug die Stelle des alten Lehnstuhls einnahm. Sie setzten sich ans Fenster. Die Mutter reichte Tee, Kakao und Gebäck. »Ich habe einen Entschluss gefasst, Kinder. Wir ziehen fort von Hamburg.«

Adele erschrak. »Aber hier ist unser Zuhause.«

»Wir suchen uns ein neues.«

Adele stellte den Kakao weg. »Ich will aber kein neues.«

»Wir brauchen einen Neuanfang.«

»Nein! Ich will das nicht!«

Die Mutter seufzte hörbar.

»Was gedenkst du mit dem Geschäft zu tun?«, fragte Arthur, der bisher geschwiegen hatte.

»Ich bitte Herrn Jansen um ein Angebot. Wir werden uns sicherlich einig.«

»Und das Haus?«

»Verkaufen. Interessenten gibt es genug.«

Arthur blickte die Mutter kühl an. »Ich sehe, du hast schon alles geplant.«

»Hamburg war nie meine Heimat«, gab die Mutter zu. »All diese Händlernaturen. Ihr werdet sehen, wir ziehen an einen sehr viel schöneren Ort.«

»Der wäre?«, fragte Arthur.

»Ich denke an Weimar. Der Herzog gilt als fortschrittlich. Er schart Dichter um sich. Goethe lebt in der Stadt, und Wieland. Dort gibt es Geist, Bildung, Kultur.«

»Aber wir haben da kein Haus. Und keine Freunde«, versuchte Adele, sie von der Idee abzubringen.

»Wir finden neue Freunde«, entgegnete die Mutter. »Die Stadt ist recht klein, man kennt die Gleichgesinnten schnell. Jeder malt, schreibt oder musiziert. Es gibt ein wunderbares Theater und großartige Konzerte.«

Adele konnte sich wenig darunter vorstellen. »Und wenn es mir trotzdem nicht gefällt?«

»Ich bin fest davon überzeugt, dass du dich dort bald schon pudelwohl fühlen wirst«, sagte die Mutter. »Die Natur soll auch sehr schön sein. Du wirst sehen, es ist ein Paradies.«

Adele sagte nichts mehr. Die Mutter würde nicht auf sie hören.

»Damit eins klar ist«, meldete sich Arthur wieder zu Wort. »Ich gehe nicht mit!«

Adele schöpfte leise Hoffnung. Vielleicht schaffte der Bruder, was ihr nicht gelungen war.

Die Mutter blickte Arthur freundlich an. »Auch dir wird es dort gefallen. Du könntest studieren. Ganz in der Nähe gibt es eine gute Universität.«

»Ich mache bereits eine Ausbildung. Als Kaufmann. Wie der Vater es gewünscht hat.«

»Du bist nicht daran gebunden. Wir wissen beide, im Grunde liegt es dir nicht.«

»Was ich als halbes Kind einmal gesagt habe, gilt heute nicht mehr. Ich ehre Vaters Andenken, also bleibe ich.«

Die Mutter sah schweigend aus dem Fenster.

»Bleiben wir dann alle hier?«, fragte Adele hoffnungsvoll.

Die Mutter beachtete sie nicht, sondern wandte sich Arthur zu. »Gut, ich bin einverstanden. Du bist alt genug. Du wohnst weiter in Hamburg. Ich gehe mit deiner Schwester nach Weimar.«

»Aber dann sehen wir uns ja gar nicht mehr!«, schrie Adele.

»Die Familie ist ohnehin schon zerbrochen, wegen ihr.« Arthur deutete auf die Mutter, die nur den Kopf schüttelte und eine wegwerfende Handbewegung machte.