Die Eigensinnige - Lucca Müller - E-Book

Die Eigensinnige E-Book

Lucca Müller

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Beschreibung

1847. Die Komtesse Marie Dubsky soll in enggeschnürten Kleidern Tänze für ihr Debut in der Wiener Gesellschaft einüben, doch sie galoppiert lieber mit ihrem Schimmel über die Ländereien der Familie. In einer Waldhütte hat sie Bücher und Schreibutensilien versteckt. Seit sie denken kann, will Marie Schriftstellerin werden. Ihre Schreibversuche stoßen in der Familie auf Ablehnung, aber auch auf Sorge. Denn Marie hat eine spitze Feder und beunruhigend fortschrittliche Gedanken. Einzig Cousin Moriz, den sie sich selbst zu ihrem zukünftigen Ehemann auserkoren hat, unterstützt sie zunächst. Doch dann bedroht ihr mutiger Drang, sich öffentlich zu Wort zu melden, auch ihr Liebesglück ...

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Seitenzahl: 561

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt
CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumHinweisPrologTeil 1Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Teil 2Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Teil 3Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Nachwort

Über dieses Buch

1847. Die Komtesse Marie Dubsky soll in enggeschnürten Kleidern Tänze für ihr Debut in der Wiener Gesellschaft einüben, doch sie galoppiert lieber mit ihrem Schimmel über die Ländereien der Familie. In einer Waldhütte hat sie Bücher und Schreibutensilien versteckt. Seit sie denken kann, will Marie Schriftstellerin werden. Ihre Schreibversuche stoßen in der Familie auf Ablehnung, aber auch auf Sorge. Denn Marie hat eine spitze Feder und beunruhigend fortschrittliche Gedanken. Einzig Cousin Moriz, den sie sich selbst zu ihrem zukünftigen Ehemann auserkoren hat, unterstützt sie zunächst. Doch dann bedroht ihr mutiger Drang, sich öffentlich zu Wort zu melden, auch ihr Liebesglück …

Über die Autorin

Lucca Müller, geboren 1968 in Köln, hat Germanistik, Philosophie, Italienisch und Theaterwissenschaft studiert. Sie arbeitet seit über zwanzig Jahren als Drehbuchautorin für verschiedene Fernsehserien.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de)

Copyright © 2025 byBastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Claudia Schlottmann, Berlin

Umschlaggestaltung: © SO YEAH DESIGN, Gabi Braun

Umschlagmotiv: © Richard Jenkins Photography

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-6094-2

luebbe.de

lesejury.de

Der vorliegende Roman basiert auf dem Leben der österreichischen Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach, erhebt jedoch keinen Anspruch auf historische Wahrheit.Vieles ist frei erfunden.

Prolog

Vorhang auf!

Wien, 1872

Wie berauscht sprang sie von ihrem Sitz auf. Weit über die Logenbrüstung gebeugt, genoss sie jedes Wort, jede Bewegung dort unten auf der hell erleuchteten Bühne. Was die Schauspieler sagten, hatte sie ihnen in den Mund gelegt. Wenn die Heldin ihren Verfolger nun in die Schranken wies, dann tat sie dies, weil Marie es so beschlossen hatte.

Endlich, nach all den Mühen, all den Widrigkeiten, gab es eine wirkliche, wahrhaftige Aufführung! Bis auf den letzten Platz war das Parkett ausverkauft, und in den rotsamtenen Logen ringsum an den Seitenwänden drängte sich die adelige Crème der Wiener Gesellschaft. Alle wollten sie ihr Stück sehen. Wo gab es das schon? Eine Frau, eine Baronin gar, die über das Leben der oberen Zehntausend schrieb! Marie nickte einer entfernten Bekannten zu, die sie von der Nachbarloge aus musterte wie ein seltenes Tier. Mochte man sie ruhig bestaunen. Sie fühlte sich, als wären ihr Flügel gewachsen.

Die Mimen machten ihre Sache gut, mit schwereloser Gewandtheit warfen sie sich die Pointen zu. Um der Zensur vorzubeugen, hatte Marie dem Lustspiel diesmal enge Schranken gesetzt. Doch der Esprit und Witz, den es unbestreitbar besaß, kam voll zur Geltung.

Ein Wirbel von Glücksgefühlen trug sie höher und höher. Am Theaterhimmel schwebend, sah sie dem Publikum dabei zu, wie es gebannt in die Welt eintauchte, die sie geschaffen hatte. Selbst ihre Eltern, die sie zum Besuch der Premiere hatte überreden müssen, reckten nun die Hälse, um sich nichts entgehen zu lassen.

Mit feinem Spott nahm die Heldin unten einige Schwächen der besten Kreise aufs Korn. Marie sprach die Worte unhörbar mit. Im Parkett wurde gelacht – genau an den richtigen Stellen. Sie lächelte still in sich hinein.

Plötzlich entstand ein Ton in ihrem Ohr, es sirrte und schwirrte, als flöge eine Stechmücke in ihrem Schädel umher. Die Aufregung, dachte sie. Ihr war auch viel zu heiß in dem eng geschnittenen Kleid aus blauem Seidentaft, das sie sich eigens für den Anlass hatte anfertigen lassen. Sie ließ sich wieder in ihren Sessel sinken und presste die Finger auf die Ohren, um das unangenehme Geräusch zu vertreiben. Doch es wurde lauter, wuchs zu einem hohen Zischen an, übertönte die Stimmen auf der Bühne, bis sie nichts mehr verstand.

Die Schauspieler gerieten aus dem Takt. Die Heldin stockte, und ihr verwirrter Gegenpart wiederholte mehrfach ein und dieselbe Geste. Anscheinend hörten auch sie das Geräusch, es existierte nicht nur in Maries Kopf.

Sie blickte sich im Publikum um. Aus dem Parkett wandten sich ihr Gesichter zu, einige grinsten, andere musterten sie neugierig. Das Zischen, so erkannte sie nun, kam jedoch von weiter oben, aus den Logen. Unverhohlen tuschelten dort die hochgeborenen Zuschauer mit ihren Sitznachbarn und starrten Marie durch ihre Operngläser an. Es war nicht mehr nur mildes Befremden, die Miene der Fürstin in der Ehrenloge verriet schiere Fassungslosigkeit. Irgendwo wurde nun auch gepfiffen, zunächst vereinzelt, doch bald in allen Tonhöhen. Buhrufe erklangen, und niemand machte sich mehr die Mühe zu flüstern. »Dass man sich solche Frechheiten bieten lassen muss«, vernahm sie und: »Nestbeschmutzerin! Wofür hält die sich?«

In der Nachbarloge erhoben sich die Leute. Die Gräfin, die dort gesessen hatte, scheuchte ihre beiden Töchter vor sich her und verließ mit einem entrüsteten Kopfschütteln den Saal. Marie sah zu ihrem Ehemann hinüber, der neben ihr saß. Wie versteinert starrte er auf die Bühne. Ihre Eltern auf den angrenzenden Plätzen hingegen schleuderten ihr ungläubige, vorwurfsvolle Blicke zu.

Ihr wurde übel. Die Flügel, mit denen sie sich eben noch emporgeschwungen hatte, zerfielen zu Asche. Wie ein Stein stürzte sie in die Tiefe, raste schnell und immer schneller dem Aufprall entgegen, vor dem es kein Entrinnen gab.

Teil 1

Komtess Marie

Kapitel 1

Zurück im Herrensitz

1847 – fünfundzwanzig Jahre zuvor

Wohltuend blies ihr der frische Aprilwind die feinen Härchen aus dem Gesicht, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatten. Wie zum Sprung geduckt, schwebte sie über dem Pferderücken. Ihre angewinkelten Knie federten das Hufgetrappel ab, ihr Kinn streifte die Mähne. Über den vorgereckten Pferdekopf hinweg sah sie das Hügelland auf sich zurasen. Jetzt ließ sie die Zügel vollends schießen und flog in gestrecktem Galopp über die saftigen Wiesen, die an die schlosseigenen Felder grenzten. Blätter und Zweige peitschten ihren Körper, als sie durch eine Lücke in der Holunderhecke setzte. Der ergrünende Wald kam schnell näher. Auf ihrer Stirn bildeten sich wenig damenhafte Schweißperlen. Sie wischte sie mit dem Unterarm ab, ohne die Geschwindigkeit zu drosseln.

Wochenlang hatte sie der Rückkehr aufs heimatliche Gut entgegengefiebert. Hier auf dem mährischen Land galten die starren Regeln nicht, die in den Wiener Wintermonaten die Tage vom ersten Wecken bis zum Zubettgehen einem unerbittlichen Takt unterwarfen. Nun, da ihr Debüt bei Hofe bevorstand, beherrschten die Zwänge ihr Leben noch mehr als zuvor. »Wir sind uns doch sicherlich einig darin, dass es Zeit wird, gewisse kindliche Marotten abzulegen«, wiederholte Maman mindestens dreimal täglich. Selbst hier in Zdislawitz ließ die Gräfin nicht locker, obwohl Wien zwei Tagesreisen entfernt war.

Maman war eigentlich ihre Stiefmutter. Ihre richtige Mutter war tot, zwei Wochen nach ihrer Geburt war sie dem Kindbettfieber erlegen. Auch ihre erste Stiefmutter lebte nicht mehr, sie war gestorben, als Marie acht war. Freundlich und liebevoll war Maman Eugenie gewesen, der bestmögliche Ersatz für eine echte Mutter. Zwei jüngere Brüder hatte sie ihr geschenkt, doch beim dritten Kind hatte auch sie das Wochenbett nicht überlebt. Maries kleiner Halbschwester Sophie war es ergangen wie ihr selbst. Sie beide kannten ihre Mütter nur aus Erzählungen.

Maman Xaverine, die der Vater zwei Jahre darauf heimgeführt hatte, war von anderer Wesensart als ihre Vorgängerin, sie brachte Eleganz in die Familie, aber wenig Wärme. Nie erhob sie die Stimme, nie zeigte sie Ärger oder auch nur Ungeduld. Doch ebenso wenig äußerte sie je echte Freude, Zuneigung oder Begeisterung. Die gute Meinung der Gesellschaft ging ihr über alles. Vermutlich benahm sie sich sogar alleine in ihrem Zimmer so makellos und unangreifbar, als wären die Blicke der gesamten Crème auf sie gerichtet. Es war unvorstellbar, dass sie jemals morgens zerzaust dem Bett entstieg. Von ihren Schützlingen erwartete die Stiefmutter ein ähnlich tadelloses Benehmen, weshalb Maries Verhältnis zu ihr nicht das allerbeste war.

Hier auf dem Land fiel es Marie jedoch leichter, die eigenen Wünsche durchzusetzen. Die Rituale, mit denen sie Frühjahr für Frühjahr ihre Ankunft zelebrierte, ließ sie sich nicht nehmen, wenn es auch Kämpfe kostete.

Wie meistens waren sie am Vorabend erst kurz vor Mitternacht eingetroffen. Das Schloss schlief bereits. Lediglich Zuzana, die Köchin, und Tomas, der Majordomus, waren noch wach, um sie zu empfangen. Seit Marie denken konnte, drückte Zuzana sie und ihre Geschwister jedes Jahr mit der gleichen Herzlichkeit an die Brust, in der man versank und die auf vertraute Weise ein wenig nach Schweiß roch. Bei ihrer älteren Schwester Fritzi getraute sich die Köchin das neuerdings nicht mehr, und gestern Abend hatte sie auch bei ihr gezögert. Doch Marie hatte sich ihr so stürmisch entgegengeworfen, dass der Köchin trotz der indignierten Blicke von Maman keine Wahl geblieben war.

Nach einem nächtlichen Kakao war Marie sofort ins Bett gefallen. Hier auf dem Land schlief sie immer wie ein Stein. Kaum hatte der vertraute Hahnenschrei sie am Morgen geweckt, war sie in ihr Reitkleid geschlüpft und in die Küche geeilt, wo sie die zum Frühstück versammelten Bediensteten begrüßte. Mit einer kleinen Wegzehrung machte sie sich anschließend auf den Weg zu den Stallungen.

Als sie unter den Säulen des Portals hervor auf die Auffahrt trat, lief sie Maman Xaverine in die Arme, die gemeinsam mit Tante Helene das Entladen der beiden Gepäckkutschen überwachte.

»Ein Ausritt? Um diese Zeit? Gewiss ist dir entfallen, dass wir vormittags empfangen«, ermahnte Maman sie.

»Wer soll uns denn besuchen? Wir sind doch gerade erst angekommen.«

»Vergangenes Jahr hat Gräfin Kinsky uns gleich am ersten Tag die Ehre erwiesen.«

»Dann richte ihr meine Hochachtung aus.«

Marie wollte sich abwenden, doch Maman blieb beharrlich. »Das lassen wir gar nicht erst einreißen. Als junge Dame, die du nun bist, solltest du dir ein entsprechendes Benehmen angewöhnen.«

Zaghaft, wie es ihre Art war, mischte Tante Helene sich ein. »Heute könnte man sie doch vielleicht entschuldigen, meinst du nicht?«

Tante Helene war die verwitwete und verarmte Schwester des Vaters, die bei der Familie lebte. Marie mochte sie gern, sie war stets freundlich und zugewandt. Leider hatte sie wenig zu sagen, wie Maman umgehend deutlich machte.

»Es wäre hilfreich, wenn du mich unterstützen würdest. Nur weil wir hier sind, sollten wir uns nicht gehen lassen.«

»Natürlich nicht. Aber …«, versuchte es Tante Helene erneut.

»Die Mädchen müssen lernen, sich comme il faut zu verhalten«, unterbrach Maman sie. »Wie du weißt, neige auch ich zur Nachsicht. Aber wir dürfen sie nicht verziehen.«

Die Gräfin hielt sich fälschlicherweise für zu milde, und um diesen vorgeblichen Fehler auszugleichen, ›zwang‹ sie sich stets zur Strenge.

»Sie sind ja alle wohlgeraten. Und es ist so ein schöner Frühlingstag«, gab Tante Helene zu bedenken. »Gönn ihr doch den Ausritt.«

»Dann will ich auch nicht zur Besuchsstunde. Die ist immer so langweilig«, quengelte die fünfjährige Julie, die einzige leibliche Tochter der Gräfin. Sie war mit Fritzi und der neunjährigen Sophie während der Auseinandersetzung hinzugekommen.

»Na, wunderbar.« Maman warf Marie einen tadelnden Blick zu. »Du schämst dich hoffentlich für deinen schlechten Einfluss.«

Während Marie sich eine freche Antwort verkniff, ging Fritzi, die ein Jahr älter war als sie, vor Julie in die Hocke. »Die Köchin hat frische Rahmzipferln gebacken, für den Fall, dass Besucher kommen«, versuchte sie, das Kind umzustimmen. »Und solange wir unter uns sind, spiele ich mit dir, was du möchtest.«

Fritzi war immer um Ausgleich bemüht. Sie war die einzige Schwester, mit der Marie auch die Mutter gemeinsam hatte, dennoch unterschieden sie sich in ihrem Wesen sehr. Fritzi war fügsam und sanft und stets bemüht, allen alles recht zu machen. Nie war sie vorlaut, nie war sie eigenwillig, und schon gar nicht sorgte sie jemals für Unfrieden. Doch obwohl sie ihr ständig als Vorbild vorgehalten wurde, liebte Marie ihre ältere Schwester sehr. Fritzi war liebevoll und klug und teilte unzählige Erinnerungen mit ihr.

»Na gut«, lenkte Julie ein und schmiegte sich an Fritzis Rock.

»Doch nicht alle verzogen«, bemerkte Marie.

»Eine junge Dame sollte vor allem lernen zu schweigen«, sagte die Gräfin. »Bis auf Weiteres möchte ich von dir kein Wort mehr hören.«

»Also bist du froh, wenn ich verschwinde? Ich weiß es zu schätzen. Danke, Maman!« Bevor die Gräfin ihre Sprache wiedergefunden hatte, eilte Marie schon auf die Pferdeställe zu, die hinter dem lang gezogenen Schlossgebäude in einem frei stehenden Schuppen untergebracht waren. Noch ehe sie die quietschende Stalltür aufgezogen hatte, begrüßte Nepomuk sie wiehernd. Sie hatte den Apfelschimmel als Fohlen zu ihrem sechsten Geburtstag geschenkt bekommen. Zehn Jahre war das nun her. Sie umarmte ihn wie einen alten Freund und genoss das feine Kitzeln seines samtigen Mauls auf ihrer Handfläche, als sie ihm zur Feier des Wiedersehens einige Möhrenstücke verfütterte.

Inzwischen hatten sie den Waldrand beinahe erreicht. Unbekümmert flogen sie im Sonnenlicht dahin, und mit gleicher Geschwindigkeit kamen und gingen Maries Gedanken. Lautes Hundegebell ließ sie plötzlich aufmerken. Zwei Jagdhunde stürmten aus dem Unterholz auf sie zu und sprangen wild kläffend an ihrem Pferd hoch. Erschrocken bäumte es sich auf. Instinktiv krallte Marie sich an der Mähne fest. Die Beine um Nepomuks Bauch geklammert, gelang es ihr, sich im Sattel zu halten. Beschwichtigend flüsterte sie auf den scheuenden Schimmel ein. Er setzte die Vorderhufe wieder auf den Boden, wich aber nervös tänzelnd weiter zurück, sichtlich verängstigt von dem unerwarteten Angriff.

Ein scharfer Pfiff brachte die Hunde dazu, von ihnen abzulassen. Marie umschlang den zitternden Pferdehals und tätschelte ihn lobend, bis das Tier sich wieder beruhigt hatte.

Zwischen den Bäumen war mittlerweile der Besitzer der Hunde aufgetaucht, Marie kannte ihn. Er beaufsichtigte im Dienste ihres Vaters die Fronarbeit der erbuntertänigen Bauern, die im Dorf jenseits des Laubwaldes wohnten. Tatsächlich erschienen hinter ihm nun einige ärmliche Gestalten, das Ackerwerkzeug geschultert. Sie zogen vor Marie die Mützen und grüßten respektvoll.

Auch Stepan, der Aufseher oder Fronvogt, wie man ihn hier nannte, nickte ihr zu, nachdem er seinen Hunden einen Tritt verpasst hatte. Sparsam neigte sie den Kopf. Sie konnte den Mann nicht ausstehen, auch wenn ihr Vater große Stücke auf ihn hielt. Dieser Stepan war brutal und genoss seine Macht. Während Marie die verrutschten Satteltaschen richtete, drehte er sich zu den Feldarbeitern um und brüllte: »Was steht ihr noch da rum? Vorwärts, ihr Drückeberger! Marsch, sonst mache ich euch Beine!«

Die zerlumpten Männer schlurften mit gesenkten Köpfen an Marie vorbei. Unnötigerweise ließ der Fronvogt dennoch die Peitsche durch die Luft sausen, um seinem Befehl Nachdruck zu verleihen. Marie vermutete, dass er es ihretwegen tat. Er wollte sich vor der Tochter des Grafen aufspielen, und die Bauern hatten darunter zu leiden. Plötzlich fühlte sie sich schmutzig, als wäre sie seine Komplizin.

Sie nahm die Zügel wieder auf und ritt im Bogen um die Gruppe herum. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie scheel der Vogt auf ihren Herrensattel glotzte. Sie trabte an, die Meinung des Mannes interessierte sie nicht. Hier auf dem heimatlichen Grund erlaubte sie sich diesen Komfort, wo sie in Wien schon im wackeligen Damensitz reiten musste.

Wie jede Abweichung von der Etikette führte auch die Sattelfrage zu Beanstandungen in der Familie. So wie vorhin: Der Gräfin war Marie zwar entronnen, weil die vor lauter Misstrauen gegenüber den Bediensteten ihr Hab und Gut nicht unbeaufsichtigt auspacken ließ. Aber während sie noch ihre Satteltaschen mit Geschenken für die Dörfler gefüllt hatte, war Sophie hinter ihr in den Stall geschlüpft, um ihr geflecktes Pony zu füttern. Sobald das Kind im Halbdunkel den verbotenen Sattel erblickte, verzog sich das Engelsgesicht zu einer bekümmerten Grimasse. »Mach doch Maman nicht wieder Ärger!«

»Sie muss ja nicht darauf reiten.« Marie zog den Sattelgurt fest.

»Aber sie sagt, es bringt dich ins Gerede. Außerdem ist es ungesund.«

»Es ist viel sicherer. Alle Männer reiten so.«

»Man kann Männer doch nicht mit Frauen vergleichen.«

»Kann man nicht?«

»Natürlich nicht. Warum hätte man sonst unterschiedliche Sättel erfunden?«

Marie musste über die Logik der Neunjährigen grinsen. »Möglicherweise ist es umgekehrt«, widersprach sie. »Meiner Ansicht nach gibt es die beiden Sättel nur, um den angeblichen Unterschied zu beweisen.«

»Das ergibt keinen Sinn«, befand das Kind.

Marie gab nach. »Du hast völlig recht, Prinzessin. Musst du nicht langsam zur Besuchsstunde?«

Sophie nickte angespannt. »Etwas Zeit habe ich noch. Maman lässt eben noch die Kisten mit dem Gebäck aus Wien auspacken.«

Marie nahm ihr Pferd beim Halfter und führte es zum Ausgang.

»Die arme Zuzana, Maman traut ihr einfach nichts zu, nur weil sie von hier ist. Dabei ist sie die beste Köchin der Welt«, sagte sie und lugte auf den Hof hinaus. Nur der Pferdeknecht war zu sehen. Sie nutzte die Gelegenheit und dankte ihm freundlich für die gute Pflege. Der kleinen Schwester warf sie einen Handkuss zu. »Also, bis später. Iss ein Rahmzipferl für mich mit.«

Und schon schwang sie sich in den Sattel, indem sie das Mäuerchen neben den Ställen als Steigbügelhilfe nutzte. Um die Auffahrt zu vermeiden, trabte sie in einem weiten Bogen durch den Schlosspark und schwenkte erst kurz vor der Begrenzungsmauer auf die knospende Lindenallee ein. Am großen Tor, das offen stand, hielt sie an. Jenseits davon erstreckten sich die Wiesen und Felder in sanften Wellen bis zu den Bergen am Horizont. Sie hätte jeden Hügel, jede Baumreihe, jeden Strauch mit geschlossenen Augen malen können. Jedes Jahr aufs Neue packte sie ein Gefühl grenzenloser Freiheit, wenn die vertraute Landschaft ihrer Kindersommer vor ihr lag wie das Leben selbst. Alle Zwänge, alle Regeln blieben hinter diesem Tor zurück. Sie drückte dem Schimmel die Hacken in die Seiten und galoppierte los.

Kapitel 2

Schloss und Dorf

Im Schritt trottete sie an den ersten Häusern des Dorfes vorbei, die noch im Schatten des Waldes lagen. Es musste kürzlich geregnet haben, die schlecht befestigte Dorfstraße war aufgeweicht und schlammig, in den Fahrspuren standen tiefe Pfützen. Eine alte Frau in Holzschuhen schleppte mit gekrümmtem Rücken ein Bündel Brennholz durch den Matsch. Marie schloss zu ihr auf und sprang vom Pferd.

»Grüß Gott, Tereza«, sagte sie auf Mährisch.

Die alte Frau hob den Kopf. »Komtess!« Ihr Gesicht leuchtete auf. »Dann ist der Frühling wirklich da.«

»Warte, ich nehme dir das ab.« Marie packte die zusammengebundenen Äste und hievte sie auf den Pferderücken. »Besser so?«

»Danke, Kindchen, ich meine, Komtess.« Die alte Frau stemmte ächzend eine Hand in ihr Kreuz und versuchte vergeblich, sich aufzurichten. Ein langes, hartes Leben als Dörflerwitwe, die von dem wenigen lebte, das ihr kleiner Acker hergab, hatte ihr einen Buckel beschert. »Der Rücken bringt mich noch um.«

»Ich habe dir eine Salbe mitgebracht«, sagte Marie. »Sie soll gut sein gegen Gliederschmerzen.«

»Lieb von dir, Kindchen, ich meine, Komtess«, erwiderte Tereza. »Aber da hilft keine Salbe mehr.«

»Wer weiß?« Vor Terezas Kate angelangt, zog Marie den Tiegel aus der Satteltasche. »Versprich mir, dass du sie ausprobierst.«

Die alte Frau schenkte ihr ein warmes Lächeln. »Du, also Sie, verzeihen, Komtess, ich sehe Sie immer noch als Kind vor mir wie heute …«

»Du darfst mich gerne weiter duzen. Es würde mich sogar freuen.«

»Das wäre nicht richtig, Sie sind ja nun eine Dame. Und Ihrer Frau Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.«

Das Porträt, das in der Halle des Schlosses hing, sprach eine andere Sprache. Ihre Mutter hatte dunkle Haare und Augen gehabt, sie selbst hingegen war blauäugig und mehr oder weniger blond. Aber sie wusste, dass es freundlich gemeint war. Die Mutter hatte sich bei den Dörflern großer Beliebtheit erfreut.

»Ja, das war eine Frau«, schwärmte die Greisin auch prompt, während Marie das Brennholzbündel vom Sattel hob. »So gütig. Solche nimmt der Herrgott immer zu früh.«

Da sie keine Brüder gehabt hatte, war ihre Mutter die Alleinerbin von Schloss Zdislawitz, des dazugehörigen Dorfes und der umgebenden Ländereien gewesen, Besitztümer, die sich seit Jahrhunderten in Familienhand befanden. Sie hatte sich bemüht, den Dörflern das harte Leben so angenehm wie möglich zu machen, immerhin war sie Nutznießerin ihrer schweißtreibenden Arbeit. Damit niemand Hunger leiden musste, hatte sie ihnen Ackerland zur eigenen Verwendung überlassen und den Kranken, Alten und Bedürftigen geholfen, über die Runden zu kommen. Jeder im Dorf hatte sie verehrt, niemand die grundsätzliche Ungerechtigkeit der hergebrachten Ordnung hinterfragt.

Marie konnte nicht genug bekommen von den Geschichten über die gute, schöne, wohltätige Gräfin, die sich nicht zu schade gewesen war, fiebrigen Bauersfrauen kalte Umschläge zu machen oder den eigenen Wollüberwurf herzugeben, damit niemand frieren musste. So wurde ihre Mutter, die sie nie gekannt hatte, wenigstens in ihrer Fantasie lebendig. Vielleicht besuchte sie das Dorf deshalb so gerne. Vielleicht auch, so musste sie zugeben, weil der Glanz der Mutter auf sie abfärbte und sie die Hochachtung genoss.

Von ihrem Vater, der durch seine Heirat in den Besitz von Dorf und Schloss gekommen war, sprach leider niemand in solchen Tönen. In Gegenwart von Marie wurde überhaupt nicht über ihn geredet, wahrscheinlich, weil man wenig Gutes zu sagen wusste. Zähneknirschend gehorchten die Dörfler dem Fronvogt, seinem Stellvertreter, da Auflehnung hart geahndet wurde. Aber jede wehmütige Erwähnung der Mutter enthielt auch einen Tadel an ihren Vater, dem das Schicksal seiner Untertanen mehr als gleichgültig war.

Marie legte die Äste auf den überdachten Holzstapel hinter der Kate. Zum Abschied gab sie der alten Frau einen Silbertaler von ihrem Nadelgeld, den sie zu diesem Zweck eingesteckt hatte. Die Dörflerin humpelte in ihre Hütte und kehrte mit einem Töpfchen eingelegter Gurken zurück. Unter dem Verschluss aus Wachstuch kroch flaumiggrüner Schimmel hervor. »Die magst du doch so gerne«, krächzte sie. »Gott segne dich, ich meine, Sie!«

Nach links und rechts grüßend, ging Marie mit dem Pferd am Zügel die Dorfstraße entlang und steuerte auf eine besonders schäbige Hütte am Dorfrand zu. Türen und Fenster waren geschlossen, außer einigen scharrenden Hühnern war niemand zu sehen.

»Warte hier auf mich, Nepomuk.« Sie band den Schimmel fest, nahm ein Paket aus der Satteltasche und klopfte an.

Ein etwa zehnjähriger, dürrer Junge mit struppigen Haaren öffnete und sah sie mürrisch an. »Es ist nicht der Pfarrer«, rief er in den Raum, der so dunkel war, dass Marie nichts erkennen konnte.

»Darf ich reinkommen?«, fragte sie.

Der Junge schwieg. Auch von drinnen kam keine Antwort, nur das Hochziehen einer Nase war zu hören.

»Ich bringe den versprochenen Wollstoff.« Ohne hereingebeten worden zu sein, schob sie sich an dem Jungen vorbei durch die Tür und wäre um ein Haar über einen Hund gestolpert, der dort am Boden döste. Verbrauchte Luft, die nach ungewaschener Wäsche roch, schlug ihr entgegen. Als ihre Augen sich an das spärliche Licht gewöhnt hatten, erkannte sie in dem engen Raum, der zugleich Wohnstube, Küche und Schlafzimmer war, vier weitere Personen. Ein von Mühsal gezeichneter Mann saß mit leeren Augen an einem rohgezimmerten Tisch und sah nicht einmal auf, als sie ihn begrüßte. Ein Mädchen in Maries Alter, das auffallend hübsch gewesen wäre, wenn es nicht so düster dreingeschaut hätte, stand mit einem Lumpen in der Hand am erloschenen Herd. Zwei jüngere Kinder hockten auf ihren schmutzigen Strohsäcken und blickten scheu zu einer weiteren Bettstatt hinüber. Dort lag ein größeres Bündel, aus dem eine Hand ragte.

»Sie sollten gehen«, sagte der Mann dumpf. »Wir haben das Fleckfieber im Haus.«

Bestürzt schaute sie auf das Bündel. »Ist das …?«

»Kolja«, bestätigte der Zehnjährige, der geöffnet hatte, tonlos.

»Soll ich einen Arzt rufen?«, stieß sie betroffen hervor.

»Dem hilft niemand mehr«, brummte der Vater.

Marie wünschte sich weit fort, so hilflos fühlte sie sich. »Es tut mir so leid!«

»Kriege ich jetzt seine Schuhe?«, fragte eins der jüngeren Geschwister.

»Die sind für mich! Ich bin älter als du«, rief das andere, ein kleines Mädchen.

»Halt’s Maul und du auch! Er ist noch nicht mal kalt!«, schrie der Zehnjährige, der, wie Marie wusste, Pavel hieß, mit Tränen in den Augen.

»Ist doch besser so. Für ihn und für uns«, murmelte das hübsche ältere Mädchen.

Mit geballten Fäusten stürzte ihr Bruder sich auf sie, sodass sie gegen den Herd taumelte.

»Aufhören! Alle beide!« Miklos, der Vater der Kinder, sprang auf, durchquerte den Raum mit zwei Schritten und gab beiden eine Ohrfeige.

Nur mühsam löste Marie sich aus der Erstarrung, in die sie verfallen war. Unbehaglich legte sie ihre restlichen Münzen zu dem Wollballen auf den Tisch. »Wenn ich geahnt hätte … Verzeihen Sie mein unangemeldetes Eindringen … Kann ich irgendetwas tun?«

»Uns in Ruhe lassen können Sie.« Die sechzehnjährige Annuschka starrte sie voller Abneigung an.

Marie nickte und wandte sich, um passende Abschiedsworte verlegen, zur Tür. In dem Moment erwachte der große Hund, der auf der Schwelle lag. Er sprang auf und nahm sie ins Visier.

»Hierher, Wolfi!«, rief das schöne Mädchen scharf.

Doch der Hund lief schwanzwedelnd auf Marie zu und rieb seine Schnauze an ihr.

Mit Annuschka verband Marie eine Vorgeschichte, an die sie sich ungern erinnerte. Vor Jahren, als Maman, die Gräfin, noch um die Gunst ihrer neuen Stiefkinder gebuhlt hatte, waren sie auf dem Rückweg von einem Ausflug einmal mit der Kutsche hier vorbeigefahren, während Annuschka vor der Hütte mit einem süßen Hundewelpen spielte.

»Ist der niedlich!«, hatte Marie ausgerufen. »Darf ich den streicheln?«

Großzügig hatte die Gräfin anhalten lassen. Annuschka hatte ihr mit freundlichem Besitzerstolz gezeigt, wo das flauschige Fellbündel gerne gekrault wurde und wie man es dazu brachte, nach einem Stöckchen zu springen. Während die Gräfin immer ungeduldiger wurde, wollte Marie sich gar nicht mehr von dem Hündchen und der neuen Spielgefährtin trennen. Schließlich zerrte die Gouvernante sie auf Anweisung der Gräfin zurück in die wartende Kutsche. »Ich will auch so einen«, rief Marie, während Annuschka dem Gefährt mit dem Hündchen auf dem Arm nachwinkte.

Und siehe da, am nächsten Tag rief Maman sie zu sich und überreichte ihr mit geheimnisvoller Miene einen zugedeckten Weidenkorb. Marie lüftete das Tuch, und zu ihrer großen Überraschung sprang ebendieser Welpe heraus.

»Die Leute da – wie hießen sie gleich? Jedenfalls ist es ihnen eine Ehre, dir das Hunderl zu überlassen«, erklärte Maman lächelnd, während Marie überglücklich ihre Hand küsste.

Einige Tage darauf traf sie Annuschka im Dorf und wollte sich bei ihr bedanken. Doch das Mädchen rannte wortlos davon. Am darauffolgenden Sonntag nach dem Gottesdienst stolperte sie im Gedränge vor der Kirche über ein ausgestrecktes Bein. Während sie sich an Fritzi festhielt, um nicht zu stürzen, bemerkte sie Annuschka, die sich schadenfroh abwandte. Sie lief ihr nach und hielt sie auf. »Warum hast du das gemacht?«

Die andere sah sie an, als wäre sie nicht ganz bei Trost. »Das geschieht dir recht, wegen Wolfi.«

Marie verstand nicht, was sie meinte. »Ich behandele ihn gut, ich schwöre es. Ich habe ihn ja so gern! Und ich wollte mich wirklich längst bedanken. Kann ich dir etwas zurückschenken?«

»Glaubst du etwa, ich habe ihn freiwillig weggegeben?«, stieß Annuschka verächtlich hervor. »Alles hast du, und ich hab nichts. Und jetzt nimmst du mir auch noch mein Hunderl weg!«

Todunglücklich herzte Marie den Welpen zu Hause ein letztes Mal, bevor sie sich auf den Weg machte, um ihn dem Mädchen zurückzubringen. Leider stieß sie in der Eingangshalle auf Maman, die ihr Vorhaben als Kränkung empfand. »Wenn du wüsstest, wie ich auf die Leute eingeredet habe. Himmel und Hölle habe ich in Bewegung gesetzt, um dir eine Freude zu bereiten. Es war entwürdigend. Verdiene ich wirklich diesen Undank?«

»Aber es macht mir keine Freude, wenn andere traurig sind. Das Mädchen hängt an seinem Hunderl.«

»Diese Leute empfinden nicht so wie wir. In ein paar Tagen hat sie das Tier vergessen. Im Dorf wirft ständig irgendein Köter Junge. Sie ertränken sie, weil sie nicht weiterwissen. Das Mädchen kann fünf Hunde haben, wenn es mag«, erwiderte die Gräfin.

Entsetzt stellte Marie sich vor, wie die kleinen Welpen getötet wurden. »Dann nehme ich mir einen, der sonst sterben müsste«, beschloss sie.

»Warum höre ich bloß immer auf mein weiches Herz«, seufzte Maman. »An dich ist jede Gefälligkeit verschwendet.«

Das Dörflermädchen hatte Wolfi damals ohne jede Gemütsregung zurückgenommen, doch damit war die Sache nicht ausgestanden gewesen. Als Marie sich verabschieden wollte, lief ihr das Hündchen nach. Sie scheuchte es zurück, vergebens. Am Ende musste die alte und neue Besitzerin das kläffende Fellknäuel festhalten, damit es Marie nicht nachrannte. Seitdem sprang der Hund, der längst kein Welpe mehr war, bei jeder Begegnung freudig an ihr hoch. Wie auch jetzt. Er führte einen Tanz auf und warf sich vor ihr auf den Rücken. Annuschka hasste sie dafür, sie sah es an ihrem Blick. Ohne den Hund weiter zu beachten, stieg sie über ihn hinweg.

»Wir kommen für die Beerdigung auf«, sagte sie an der Tür zu dem Vater. »Wenigstens soll er einen anständigen Sarg haben und ein schönes Kreuz.«

»Zu gnädig«, stieß Annuschka abfällig hervor.

»Du schweigst endlich!«, herrschte ihr Vater sie an.

Das Mädchen presste die Lippen zusammen, während der Vater sich eifrig verbeugte und bedankte. Seine Unterwürfigkeit setzte Marie noch mehr zu als die Feindseligkeit der Tochter. Sie riss die Tür auf und flüchtete ins Freie.

Erleichtert und zugleich beschämt ließ sie die dunkle Hütte hinter sich und ritt um das Dorf herum über Kuhweiden zurück in den Wald. Die frühlingsgrünen Bäume umfingen sie und rückten das trübe Leben der trauernden Familie wieder in erträgliche Ferne.

Sie zog ihre zierliche goldene Taschenuhr hervor, eines der wenigen Erbstücke, die sie mit ihrer Mutter verbanden. Es war noch früh am Tag, genügend Zeit für den Umweg, der zu ihrem alljährlichen Ankunftsritual gehörte. Anstatt den Laubwald auf dem kürzesten Weg zu durchqueren, bog sie also hinter einem verwachsenen Zwillingsbaum vom ausgetretenen Pfad ab. Das Unterholz wurde zunächst dichter und öffnete sich dann unvermittelt zu einer Lichtung. Ein weicher Teppich aus Moos und Scharbockskraut lud dazu ein, sich niederzulassen und zwischen den umstehenden Buchen und Eichen zum Himmel zu blicken. In der Mitte der freien Fläche stand eine ausgebrannte Kastanie, die vermutlich vom Blitz getroffen worden war. Ihr Stamm war hohl, doch die Seitenäste grünten wieder, und auf wundersame Weise hatte sich ein kleiner Kirschbaum in ihrem Wurzelwerk angesiedelt. Seine Blüten blitzten fröhlich zwischen den Kastanienzweigen hervor.

Marie ließ Nepomuk grasen und griff in den ausgebrannten Baum. Auf Kopfhöhe ertastete sie glattes Holz und scharfkantige Eisenbeschläge. Ihre Kiste war noch da.

Sie hob sie vorsichtig aus dem regengeschützten Hohlraum und stellte sie im Moos ab. Sie schien unversehrt zu sein. Andächtig klappte sie den Deckel auf und nahm ihre verbotenen Schätze heraus: eine Sammlung französischer Revolutionsdramen, die anstößigen Gedichte von Lord Byron, die boshaften Stücke des Selbstmörders Heinrich von Kleist und weitere Werke, die jungen Mädchen vorenthalten wurden, weil sie deren Gemüter angeblich zu stark erschüttern würden.

Sie las hier und da einige Seiten, die sie großenteils auswendig kannte. Den Byron konnte sie blind aufsagen, er roch etwas modrig. Sie legte den Band zum Trocknen in die Sonne und zog aus der Satteltasche ihr neuestes Kleinod hervor: ein Leitfaden der Astronomie, den Cousin Moritz ihrem jüngeren Bruder Dodo zu Weihnachten auf den Gabentisch gelegt hatte. Moritz hatte die Interessen des knapp Vierzehnjährigen falsch eingeschätzt: Nach dem ersten Durchblättern hatte Dodo das Geschenk beiseitegelegt. Als die Brüder nach den Festtagen ins Internat zurückkehren mussten, hatte Marie wenig Mühe gehabt, ihm das Büchlein abzuschwatzen. Der Inhalt war etwas kompliziert, ihr Cousin mochte wissenschaftliche Schriften. Wenn man jedoch in die Gedankengänge hineingefunden hatte, enthüllte dieses schmale Bändchen Unglaubliches. Auch jetzt, wo sie sich gegen ihre Absicht sofort wieder festlas, packte sie ein furchtsames Staunen: Die Bibel log! Glasklar wurde es hier bewiesen. Gott hatte die Erde nicht in sieben Tagen erschaffen und auch nicht Sonne, Mond und Sterne für uns an den Himmel gehängt. Vielmehr hatte die Erde einen unermesslich langen Zeitraum benötigt, um sich von einem Feuerball in unseren schönen, bewohnbaren Planeten zu verwandeln. Sonne und Sterne waren schon vorher da gewesen, sie leuchteten nicht für uns, sondern für sich selbst.

Seit sie das erfahren hatte, wurde Marie den furchterregenden Gedanken nicht los, dass es vielleicht gar keinen gütigen Vater im Himmel gab, der ihre Gebete erhörte. Dass sie wie alle anderen Menschen ein Nichts war, ein bedeutungsloses Wesen, das zu Staub zerfallen und in Vergessenheit geraten würde.

Mit ihrer Familie konnte sie über solche Ängste nicht sprechen. Maman würde sie freundlich darauf hinweisen, wie unpassend solche Überlegungen seien, Tante Helene würde sie erschrocken bitten, ihre gotteslästerlichen Zweifel zu begraben, und Fritzi würde sie anflehen, es sich und anderen nicht immer so schwer zu machen. Den Vater zu fragen verbot sich von selbst, und der Pfarrer hatte ihr auch nicht weitergeholfen. Gott erschließe sich nur dem Herzen, hatte er gemeint, nicht dem Verstand. Man müsse glauben und nicht grübeln. Amen.

Einige Kirschblütenblätter rieselten herab. Marie blickte nach oben und bemerkte einen kleinen Buchfinken, der sich auf einem Zweig niedergelassen hatte. Er schaute sie unverwandt an, dann kam er hüpfend ein Stückchen näher. Einer seiner Flügel stand leicht ab. Sachte legte sie das Buch weg und streckte die Hand nach ihm aus. Sie erkannte ihn wieder. Voriges Jahr hatte sie ihn neben der hohlen Kastanie auf dem Boden liegend gefunden, er musste aus dem Nest gefallen sein, bevor er flügge war. Sie hatte ihn mit ins Schloss genommen und den Sommer über aufgepäppelt. Offenbar hatte er den Winter überlebt. Mit einem Satz sprang er auf ihre Handfläche und blinzelte sie vertrauensselig an. Ein Fächer aus Sonnenstrahlen beschien genau die Stelle, auf der sie beide saßen. Glitzernder Staub tanzte darin. Es war, als wollte die Natur ihr sagen, dass es doch eine schützende Hand gab, die jedes Leid von ihr fernhielt. Beglückt strich sie dem Finken über das Federkleid und schickte ihn wieder in die Luft empor.

Sie sah dem Vogel zu, wie er von Ast zu Ast hüpfte. Von unten betrachtet, konnte man meinen, er schwämme in einem Kirschblütenboot auf einem von grünen Blättern umrahmten Himmelssee. Wie von ferne schlug ihre Taschenuhr leise an. Sie zählte bis fünf und fragte sich, ob sie sich vertan hatte, doch es war wirklich schon später Nachmittag. Hier im Wald verging die Zeit schneller als zum Beispiel im Visitenzimmer, wo sie lahmte wie ein alter Gaul. Die Sonne, die eben noch von oben durch die Blätter gefallen war, fand kaum mehr den Weg auf die Lichtung, die nun fast gänzlich im Schatten lag. Marie setzte sich auf. Die Gräfin legte Wert auf Pünktlichkeit beim Souper, und sie musste noch Nepomuk versorgen und sich selbst in einen präsentablen Zustand bringen. Sorgfältig verstaute sie die Bücher in der Kiste und verbarg diese anschließend in ihrem Versteck. Dann bauschte sie mit den Fingern das platt gedrückte Moos etwas auf und verstreute Laub, um ihre Spuren zu verwischen. Als sie mit dem Ergebnis zufrieden war, führte sie ihren Apfelschimmel durch das Dickicht zurück auf den Weg und schwang sich auf seinen Rücken.

Die Feldarbeiter schufteten noch auf den Äckern. Stoisch gruben sie Furchen in den regenweichen Boden, um Saatkartoffeln auszubringen. Nur auf einem der Felder arbeitete niemand. Die Bauern standen dort dicht gedrängt beisammen, und es war Schimpfen und Geschrei zu hören.

Marie erkannte die harte Stimme des Fronvogtes und machte ihn im Näherkommen in der Mitte der Menschentraube aus. Er zog einen wimmernden Mann am Ohr hoch, bis der auf den Zehenspitzen stand, dann schlug er ihn urplötzlich mit der Faust nieder, sodass er zu Boden ging. Für einen Moment glaubte Marie, es handele sich um Miklos, den Vater des toten Kindes, aber der wäre doch sicher an einem Tag wie diesem nicht noch einmal zur Arbeit ausgerückt. Die Peitsche des Fronvogtes zischte durch die Luft und traf den Mann am Boden. Marie hörte einen Schmerzensschrei. Eilig trieb sie ihr Pferd an und ritt näher. »Aufhören!«

Zwei der Umstehenden hoben kurz den Kopf, doch die meisten nahmen ebenso wenig Notiz von ihr wie der Fronvogt, der nun mit der Peitsche einen der Bauern heranwinkte und ihm befahl, dem Mann am Boden das Hemd auszuziehen. Den anderen brüllte er zu, sie sollten sich wieder an die Arbeit machen, wenn sie nicht auch noch drankommen wollten. Marie sprang vom Pferd und drängte sich zwischen den Fronbauern hindurch, die gehorsam zu ihren Furchen zurücktrotteten.

Der Mann, der gekrümmt am Boden lag, war tatsächlich Miklos. Blut lief aus seinem Ohr. Der Vogt trat ihm in die Seite, damit er sich auf den Bauch drehte.

»Das reicht! Stopp! Lassen Sie den Mann in Ruhe!«, schrie Marie und versuchte, dem Fronvogt die Peitsche zu entreißen.

»Was zum Teufel …?« Ihr Gegner stieß sie weg. Erst als sie rückwärts taumelte, erkannte er sie. »Sie haben hier nichts zu suchen.«

So hochmütig, wie sie konnte, pflanzte sie sich vor dem Aufseher auf. »Sie stecken jetzt die Peitsche weg. Der Mann darf gehen. Sofort!«

»Der Nichtsnutz hat die Arbeit geschwänzt. Mehr als den halben Tag und nicht zum ersten Mal.«

»Sein Kind ist gestorben. Heute früh.«

»Ausreden haben die Kerle immer.«

»Es ist aber wahr. Ich weiß es.«

»Er hat gestern schon geschlampt und heuer wieder. Regeln sind Regeln. Und nun gehen Sie besser. Ich habe zu tun.« Mit einer Kopfbewegung bedeutete er dem Bauern, der Miklos das Hemd ausziehen sollte, ihn festzuhalten.

Marie beschloss, sich nicht vertreiben zu lassen. »Ich werde mich bei meinem Vater über Sie beschweren.«

Der Fronarbeiter, der Miklos zu Boden drückte, stieß ein freudloses Lachen aus. Der Vogt grinste. Selbst Miklos, der den Kopf kaum heben konnte, blickte drein, als wäre sie nicht ganz richtig im Kopf.

»Ihr Vater, ja? Vergessen Sie nicht, ich bin seine rechte Hand«, sagte der Fronvogt abfällig.

»Die längste Zeit gewesen – wenn er erfährt, wie Sie sich aufführen«, gab sie zurück.

»Es tut mir leid, Sie zu enttäuschen, aber alles, was ich tue, geschieht auf seinen Befehl.«

»Lügner!«, empörte sich Marie. »Solche Grausamkeiten heißt mein Vater nicht gut.«

»Fragen Sie ihn doch.« Der Fronvogt deutete hinter sie.

Sie drehte sich um. Tatsächlich, trotz der fortgeschrittenen Stunde kam ihr Vater auf seinem Vollblüter auf sie zugeritten. Der Vogt nahm Haltung an.

»Die Felder hinter dem Schlossteich sind noch nicht bestellt. Wie kommt das?«, erkundigte sich ihr Vater forsch.

»Ich mach den Leuten Beine, wo ich kann.«

Ihr Vater nickte und nahm sie ins Visier. »Warum bist du nicht im Haus? Die anderen ziehen sich schon um. Ihr Weibsbilder braucht doch immer so lange, weiß der Teufel, wofür.«

»Ich schaffe es schon noch pünktlich, Vater. Aber vorher habe ich eine Bitte …«

»Nicht jetzt«, unterbrach er. »Husch, husch. Du kennst deine Mutter.«

»Es hat aber keine Zeit«, drängte sie. »Bitte sag deinem Aufseher, er soll den Mann da verschonen. Er wird ungerecht bestraft, und er macht ohnehin schon viel durch.«

Stirnrunzelnd blickte der Vater zwischen Miklos, ihr und dem Fronvogt hin und her.

»Bei allem Respekt, Ihre Tochter überblickt die Lage nicht«, wehrte sich der Vogt. »Der Mann wird für seine Faulheit bestraft. Er hat es sich selbst zuzuschreiben.«

Marie merkte, dass ihr Vater zauderte. »Bitte, Papa!«

»Nun …« Er wandte sich an den Aufseher. »Sie hören meine Tochter. Lassen Sie den Mann gehen.«

»Danke!«, stieß Marie hervor.

»Und du: hopp, hopp!«, befahl ihr Vater. »Ich komme gleich nach.«

Marie ließ es sich nicht nehmen, erst noch Miklos auf die Beine zu helfen. »Ich bringe morgen Rinderbrühe«, sagte sie mitfühlend. »Das stärkt.«

»Sie sollten sich nicht so viel einmischen.« Er blickte verdrießlich zu seinem Peiniger hinüber. »Am Ende bezahlen die Rechnung immer wir.«

Hastig in Schale geworfen, erschien sie pünktlich zum zweiten Gong im Speisesaal. Die Schleife ihres Seidenkleides war etwas nachlässig gebunden, aber ansonsten bestand sie die Prüfung durch die kritischen Blicke Mamans. Überraschenderweise nahm auch ihr Vater bereits seinen Platz am Kopfende der langen Tafel ein. Während er seine Frackschöße richtete, musterte er mit sichtlichem Appetit den Rostbraten, der auf Silberplatten hereingetragen wurde. Marie ließ sich neben Fritzi am unteren Tischende nieder, wo auch Sophie und Julie saßen. Vergeblich suchte sie Blickkontakt mit dem Vater, um ihm noch einmal ausdrücklich zu danken, doch er war viel zu sehr damit beschäftigt, sich reichlich Braten auftun zu lassen.

»Die Kruste erscheint mir recht dunkel.« Maman, die in vollendeter Eleganz rechts vom Vater saß, bemängelte wieder einmal Zuzanas Kochkünste. »Nächstes Jahr bringen wir unsere Köchin aus Wien mit, wenn ich bitten darf.«

»Wie du wünschst, meine Teure«, murmelte der Vater zwischen zwei Bissen.

Marie hatte den Eindruck, dass Maman noch schmallippiger war als gewöhnlich. Auch Tante Helene, die zur Linken des Vaters saß, trug nichts zur Unterhaltung bei.

»Wie war die Besuchsstunde?«, erkundigte Marie sich leise bei ihren Schwestern.

»Laaangweilig«, stöhnte Julie.

»Das sagt man nicht, Kind«, ermahnte Maman sie.

»Es war niemand da«, bestätigte Fritzi Maries Vermutung.

»Auch nicht Gräfin Kinsky?«, fragte sie etwas spöttisch in Mamans Richtung. Die Gräfin tat, als hätte sie es nicht gehört.

»Sie scheint unpässlich gewesen zu sein«, erklärte Fritzi vermittelnd.

»Und draußen war so schönes Wetter«, seufzte Sophie leise.

»Immerhin hat sie ein Billett geschickt«, fügte Fritzi hinzu. »Sie kommt wohl morgen.«

»Morgen Vormittag möchte ich also keine Ausflüchte hören«, ließ sich Maman vernehmen, die natürlich jedes Wort mitbekommen hatte. »Wir erwarten dich im Visitenzimmer. Da sind wir uns hoffentlich einig.«

»Selbstverständlich, Maman.« Sie wusste, wann Widerrede zwecklos war.

»Backt Zuzana wieder Rahmzipferln?«, fragte Julie. »Die sind so köstlich.«

»Ein ganzes Heft mit Rezepten aus Wien habe ich ihr gegeben. Aber sie backt immer das Gleiche«, murrte Maman. »Stur wie ein Maulesel, die Frau.«

»Ich finde, sie ist eine sehr gute Köchin«, meldete sich Tante Helene tapfer zu Wort.

»Wenn man es schlicht mag«, gab Maman zurück.

»Frag mal die Leute im Dorf, was die für einen einfachen Rahmzipferl geben würden«, mischte sich Marie ein.

»Nun schlägt es aber dreizehn.« Unvermittelt hieb der Vater mit der Faust auf den Tisch. Die Gläser klirrten. »Muss ich mir von dir auch noch das Essen verderben lassen?«

»Ich habe nur gesagt …«, begann Marie erschrocken.

»Deine vorlaute Art steht mir bis hier!« Mit zornrotem Gesicht beugte er sich vor. »Wie konntest du mich vor dem Vogt so bloßstellen?«

»Aber wieso? Ich fand es großartig, wie du …«, stammelte sie verwirrt.

»Meine Autorität hast du untergraben! Und die vom Vogt gleich mit. Meinst du, da arbeitet noch einer, wenn keiner muss?«

»Darf man wissen, was vorgefallen ist?«, fragte Maman, die Streit bei Tisch ganz und gar nicht schätzte.

Tante Helene und Maries Schwestern blickten stumm auf ihre Teller, wie immer, wenn der Vater laut wurde.

»Papa hat für Gerechtigkeit gesorgt«, erklärte Marie, auch wenn das nicht ganz den Tatsachen entsprach. »Die Leute werden dich umso mehr dafür achten, Papa. Genau so hätte Mutter es gewollt.«

Er wurde noch röter im Gesicht. »Schweig still von deiner Mutter! Du hast sie nicht einmal gekannt!«

»Danke für die Erinnerung«, murmelte sie.

Ihr Vater, bekannt für seine Stimmungsumschwünge, verlor das Interesse am Streiten. »Ich werfe dir ihren Tod nicht vor«, brummte er und griff nach seinem Weinglas. »Nur etwas Demut, die stünde dir gut an.«

Nicht zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass der Vater ihr trotz gegenteiliger Behauptung die Schuld am Tod ihrer Mutter gab. Mit seinen Zornesausbrüchen hatte sie zu leben gelernt, doch nun brachte sie plötzlich kein weiteres Wort mehr heraus.

Kapitel 3

Mütter und Töchter

Mit einer Handvoll Glockenblumen, die sie auf der Wiese hinter den Stallungen gepflückt hatte, trat sie aus dem Morgenlicht ins Dunkle. Ihre Füße kannten den Weg blind. Sechs kurze Schritte, und die vorgestreckte Hand stieß gegen eine Wand. Der Stein, aus dem sie gemauert war, fühlte sich spröde und kühl an. Marie tastete seitwärts bis zu der Kante, an der die Mauer zurücksprang. Nun hatten sich ihre Augen an das schwache Licht gewöhnt, und die Umrisse eines steinernen Sarges zeichneten sich in der Nische ab. Darauf war ihr Name eingraviert: Marie Gräfin Dubsky von Trebomyslic. Allerdings stimmten die Daten nicht, das Todesjahr war das ihrer Geburt.

Sie legte die Blumen auf den Sarg. »Es gibt noch keine Lilien, Mama.« Aus Erzählungen wusste sie, dass ihre Mutter die edlen Blumen geliebt hatte.

In der Gruft war es vollkommen still, die dicken Mauern hielten jedes Geräusch fern, nicht einmal Vogelzwitschern drang aus dem Schlosspark herein. Plötzlich fühlte Marie sich eingesperrt in ewiger Nacht. Furcht überkam sie vor den toten Knochen in der Steinkiste, doch sofort verscheuchte das Bild ihrer für alle Zeiten jungen und schönen Mutter den verstörenden Gedanken. Ihre Mutter lag friedlich in ihrem mit Samt ausgeschlagenen Ruhebett, ein leises Lächeln im Gesicht wie von einem glücklichen Traum. Es konnte nicht anders sein.

Ihre Seele jedoch schwebte unsichtbar umher. Nur ganz früh am Morgen, wenn die allerersten Sonnenstrahlen fast waagerecht durch den Eingang hereinfielen, konnte Marie sie manchmal sehen. Aus den tanzenden Nebeltröpfchen, die die Gruft erfüllten, erstand dann eine schlanke Frauengestalt im fließenden Kleid, die liebevoll auf sie herabblickte.

Niemandem sonst war ihre Mutter je erschienen. Wenn Marie versuchte, sie ihrer Schwester Fritzi zu zeigen, sagte die nur: »Da ist nichts. Du hast zu viel Fantasie.«

Aber sie wusste, was sie sah, und ließ es sich nicht ausreden. Darum kam sie stets bei Sonnenaufgang hierher. Wenn die Mutter ihr ein Lebenszeichen gab, fühlte sie sich für den Rest des Tages geborgen.

Heute jedoch war der Himmel bedeckt, und die Dunkelheit in der Gruft hielt sich bleiern, kein Sonnenstrahl fand seinen Weg hierher.

»Bist du da?«, fragte sie bange. Ein leiser Luftzug bewegte die Blütenblätter der Glockenblumen und auch die Härchen auf ihren Unterarmen. Es fühlte sich an, als ob sie gestreichelt würde. »Ich hab dich vermisst«, flüsterte sie beglückt.

In den Wintermonaten konnte sie die Mutter nicht spüren, die beiden Tagesreisen bis nach Wien waren zu weit. Hier aber, in ihrer Heimat, dem mährischen Zdislawitz, fühlte sie sich umfangen und beschützt. Hier war sie niemals allein.

Ein leises Geräusch ließ sie zusammenzucken. Mit angehaltenem Atem fuhr sie herum. Eine feenhafte Silhouette schwebte auf sie zu, im Gegenlicht nur schattenhaft erkennbar. Sie griff danach, wollte die Mutter berühren. Doch die Gestalt sprach sie mit Fritzis Stimme an. »Zwei Dumme, ein Gedanke – so sagt man doch, nicht wahr?«

Marie sammelte sich mühsam. »Um die Zeit ist es hier immer am schönsten«, bestätigte sie.

Fritzi hatte rote Tulpen mitgebracht und, vorausschauend, wie sie war, eine mit Wasser gefüllte Vase. Sie stellte Maries Hasenglöckchen mit hinein. Ein Gartenkünstler hätte keinen lebendigeren Strauß zaubern können.

»Hoffentlich hat Karel dich nicht gesehen«, flüsterte Marie, während ihre Schwester die Blumen noch etwas auseinanderzupfte. Die Tulpen auf den Beeten im Innenhof des Schlosses waren um diese Jahreszeit der ganze Stolz des Gärtners. Zwar war er den Geschwistern zugetan, aber seine Gutmütigkeit endete, wenn es um seine Pflanzen ging.

»Er hat es mir erlaubt«, erwiderte Fritzi.

Natürlich. Sie tat ja nie etwas Verbotenes. Marie hätte es wissen müssen.

Fritzi zog ein hölzernes Bänkchen heran, das vor einer der anderen Grabstätten in der Familiengruft gestanden hatte. Sie setzte sich an den Rand, damit Platz für Marie blieb. Schulter an Schulter blickten sie auf das in Stein gemeißelte Pflanzenrelief, das den Namen der Mutter umrahmte.

»Ich wünschte, ich könnte mich an sie erinnern«, murmelte Fritzi, die auch erst ein Jahr alt gewesen war, als die Mutter starb.

Der Eingang verdunkelte sich. Marie sah sich um und bemerkte Sophie, die mit einem Strauß Veilchen blinzelnd auf der Schwelle stand. »Nicht erschrecken«, sagte Marie. »Wir sind auch hier.«

»Ich hab’s mir schon gedacht«, erwiderte die jüngere Schwester. Ein Besuch in der Gruft gehörte zu ihrer aller Ankunftsritual. Sophie ging zu einer anderen der sechs Nischen und legte ihre Veilchen auf einem etwas neueren Steinsarg ab. Hier ruhte ihre Mutter, Maries und Fritzis erste Stiefmutter, an der sie so gehangen hatten. Marie bückte sich nach einigen Hasenglöckchen, die sie extra aufbewahrt hatte, und trat zu Sophie. Auch Fritzi hatte noch drei Tulpen übrig und legte sie auf das Grab von Maman Eugenie.

Sie schoben das Holzbänkchen zum Grab der Stiefmutter. Marie nahm Sophie auf den Schoß, damit sie zu dritt sitzen konnten. Sie legte die Arme um die kleine Schwester und sog den warmen Duft ein, der ihren Locken entströmte.

»Erzählt ihr mir von ihr?«, bat das Kind, das seine Mutter ja ebenfalls nicht gekannt hatte. Aber immerhin hatte sie ältere Schwestern, die sich an sie erinnerten.

»Sie hat uns behandelt wie eigene Kinder«, begann Fritzi. »Obwohl wir sie oft geärgert haben.«

»Du nicht«, warf Marie ein.

»Doch bestimmt.«

»Dann lass ein Beispiel hören.«

Fritzi überlegte. »Mir fällt gerade keins ein.«

Marie grinste. »Mit Fritzi hatte deine Mama es immer leicht. Mit mir hingegen …« Sie musste es nicht eigens aussprechen. »Trotzdem hat sie fast nie geschimpft. Bei ihr hatte ich nie Angst, etwas falsch zu machen.«

»Wie war das noch mal mit den Strumpfbändern?«, fragte Sophie.

Marie hatte die Geschichte schon mehrmals erzählt, aber die Schwester wollte sie immer wieder hören. Also tat sie ihr den Gefallen.

»Ich war ungefähr sechs und sollte stricken lernen«, hob sie an. »Es war mir zuwider, ich weiß nicht, warum. Jedenfalls war die Gouvernante äußerst unzufrieden mit mir. Die Strumpfbänder, die ich deiner Mutter zu Weihnachten gestrickt habe, waren auch so ziemlich das Scheußlichste, was je auf diesem Gebiet zustande gebracht wurde. Aber sie hat mich freudig an ihr Herz gedrückt: ›So ein schöner Hutschmuck, wie lieb von dir!‹ Sie hat sich das missratene Wollknäuel tatsächlich an die Haube gesteckt. Mademoiselle Henriette konnte nichts mehr einwenden.«

Sophie lachte. »Und jetzt, als sie dir das Lesen beigebracht hat.«

»Oha, erinnere mich nicht daran.« Marie grinste. »Ich war nun wirklich kein Naturtalent.«

In dem Moment erklang von draußen eine energische Kinderstimme. »Sophie? Marie? Fritzi? Wo seid ihr?«

»Hier drinnen«, rief Sophie.

»Wo denn?«

Marie ging zum Eingang, vor dem die jüngste Schwester suchend umherlief, als gäbe es noch andere Versteckmöglichkeiten. Sie winkte. »Hier, Julie.«

Julie blickte furchtsam in die düstere Gruft. »Aber da ist es gruselig.«

Sie war die Einzige von ihnen, deren Mutter noch lebte.

»Es ist auch Frühstückszeit.« Marie nahm die Fünfjährige an die Hand.

Erschöpft und belebt zugleich, wie stets nach diesen Besuchen, kehrte sie mit ihren Schwestern durch den Schlosspark zum Haus zurück.

Kapitel 4

Gegen die Natur

Die Erwachsenen erschienen kurz nach ihnen im Frühstückszimmer. Leutselig begrüßte der Graf seine Töchter: »Schon auf den Beinen? Brav!«

Er war heute gut aufgelegt, die Verstimmung vom Vortag wurde mit keinem Wort erwähnt. Angeregt plauderte er mit der Gräfin über die Verbesserungen, die sie im westlichen Salon vornehmen lassen wollte. Tante Helene schlug einen schlichten Anstrich vor, konnte sich aber nicht durchsetzen.

»Man hat jetzt vertäfelte Wände, dazu Damast in Bordeaux«, meinte Maman. »Außerdem müsste die Stuckatur an den Decken erneuert werden.«

Ohne sich über die Aussicht auf wochenlange Umbauten zu beklagen, beförderte der Vater zwei weitere Semmeln auf seinen Teller. »Gut möglich übrigens, dass ich zu Mittag nicht da bin. Die Moschkops veranstalten eine Treibjagd. Wartet also nicht auf mich.«

Daher die gute Stimmung. Der Vater liebte es zu jagen. Kaum hatte er sein Frühstück beendet, stemmte er sich federnd aus seinem Stuhl. »Tanzt ja nicht auf dem Tisch, während die Katze aus dem Haus ist.«

»Verlass dich ganz auf mich.« Die Gräfin bot ihrem Ehemann die Wange zum Kuss dar.

Während sie den Vater durchs Fenster davonreiten sahen, erschien Madame Jacqueline, die derzeitige Gouvernante der jüngeren Schwestern. Sie war eine ältere Witwe, deren Familie durch die Restauration zwar den Adelstitel, nicht aber das dazugehörige Vermögen wiedererlangt hatte. Im Grunde freundlich, war sie leider streng religiös. Gewissenhaft hielt sie ihre Schützlinge von jeglichem Wissen fern, das die Einbildungskraft eines jungen Mädchens auch nur minimal hätte anregen können. Selbst in Erbauungstraktaten schwärzte sie manche Stellen. Alles in allem war Marie nicht unglücklich darüber, dass sie dem Unterricht seit letztem Jahr entwachsen war.

»Holt eure Sachen.« Madame klatschte in die Hände, nachdem sie eine Tasse Kaffee getrunken hatte. Brav folgten Sophie und Julie ihr aus dem Raum.

Maman warf einen Blick auf die Uhr. »Noch zwanzig Minuten, um uns frisch zu machen.«

Richtig, die Besuchsstunde. Marie seufzte.

»Und lass dir von einem Mädchen mit dem Mieder helfen«, ermahnte Maman sie. »Es sitzt sehr lose, scheint mir. Wir wollen vor Gräfin Kinsky doch keine schlechte Figur abgeben, nicht wahr?«

Das Mieder war ein häufiger Streitpunkt zwischen ihnen. Da sie nicht darauf verzichten durfte, trug Marie es so locker wie möglich. Zum Glück hatte sie eine schmale Taille, sodass man es kaum bemerkte.

Auf ihrem Zimmer spritzte sie sich daher nur etwas Wasser ins Gesicht und richtete vor dem ovalen Spiegel, der zu dem altmodischen Waschtisch gehörte, ihre Frisur. Auch dieser zugegebenermaßen etwas schadhafte Waschtisch war ein Streitpunkt, genau wie das barocke Himmelbett, Mutters Empirekommode und der Schreibtisch, der schon der Urgroßmutter gehört hatte. In den Augen der Gräfin waren die alten Möbel primitiv und rustikal, Marie hingegen liebte sie. Standhaft hatte sie sich dagegen gewehrt, sie wegzugeben oder den taubenblauen Anstrich der Wände durch eine Seidentapete in modischem Tannengrün zu ersetzen. Mochte die Gräfin das ganze Haus verschönern, ihr Zimmer blieb, wie es war.

Ihre widerspenstigen Haare ließen sich nicht wieder feststecken, also öffnete sie die Frisur ganz und schüttelte ihre Locken aus. Leider wurden sie mit jedem Jahr etwas dunkler, nur ganz vorne an der Stirn hatte sie noch eine hellblonde Strähne. Auch sonst fand sie sich nicht übermäßig hübsch. Sie sah zu gesund aus mit den runden blauen Augen und den roten Wangen. Zu freundlich und zu kindlich, so gar nicht wie die edle, aber mysteriöse Heldin, die sie gerne gewesen wäre.

Frisch frisiert saß sie kurz darauf mit Maman, Tante Helene und Fritzi im Empfangssalon. Die Miederschnüre hatte sie zu einer hübschen Schleife gebunden, um davon abzulenken, wie locker sie saßen. Sie hatte sich noch nicht zwischen den ausliegenden Erbauungsschriften entschieden, als ein Diener den erwarteten Besuch ankündigte. Für den Anlass hatte Maman ihn eigens in eine Livree gezwängt.

Formvollendet begrüßte Maman eine aufgeputzte Dame, die mit rauschender Krinoline am Diener vorbei den Raum betrat. Auch Maman trug heute Reifrock, die beiden Gräfinnen mussten sich also ganz schön strecken, um einander die Hand reichen zu können.

Während sie sich mit Komplimenten überhäuften, erschien eine zweite, sehr viel jüngere Dame, die ebenfalls mächtig aufgeputzt war. Unter ihrem üppigen Blumenhut schaute ein fröhliches Mondgesicht hervor.

»Servus, Fanny.« Marie und Fritzi sprangen auf und begrüßten sie. Seit Kindertagen spielten sie mit dem gleichaltrigen Mädchen, der ältesten Tochter der Kinskys. Da sie sich im Winter kaum sahen, lernten sie sich im Sommer immer wieder neu kennen. Diesmal war die Veränderung besonders groß. Vergangenes Jahr war Fanny noch ein halbes Kind gewesen, doch nun stand ihnen eine lebhafte junge Dame gegenüber.

Während die ältere Generation am Kaffeetisch über das Wetter und die Dienstboten klagte, schwärmte die Freundin Fritzi und ihr von ihrer neuen Leidenschaft vor: dem Tennisspiel. Marie hatte es selbst einmal versucht, konnte dem neumodischen Sport aber wenig abgewinnen. Anders als Fanny, die ihr letztes Tennismatch in aller Ausführlichkeit mit sämtlichen Ballwechseln schilderte. »Und ich täusche einen weiten Schlag an bis zur Grundlinie, aber im letzten Moment gebe ich dem Ball noch einen Dreh, und plumps! – geht er hinterm Netz steil zu Boden …«

Maries Gedanken schweiften ab. Ihr fielen die Blätter oben in ihrer Schreibtischschublade ein, an denen sie den ganzen Winter über geschrieben hatte. Inzwischen war sie mit dem Theaterstück über Maria Stuart und Heinrich VIII. beinahe zufrieden. Sie fand es heroisch, nur die Schlussszene gefiel ihr noch nicht ganz. Doch nun hatte sie eine Idee, ihre Auseinandersetzung mit dem Vater hatte sie darauf gebracht.

»… stellt euch vor, die war so wütend, ihren Schläger hat sie hingeworfen«, endete Fanny grinsend. Marie lachte höflich mit. Fritzi erkundigte sich, ob das Spiel nicht sehr anstrengend sei. Der eifrige Wortschwall, den sie erntete, schickte Marie wieder in ihre Tagträume zurück.

Es war schon ihr drittes Theaterstück. Die beiden anderen hatte sie verbrannt, sie waren zu schlecht gewesen. Sie hatte eine klare Vorstellung davon, wie ein gutes Stück aussehen musste, nur wollten die Worte nicht so wie sie. Während sie schrieb, war sie stets voller Zuversicht, doch wenn sie die Blätter später durchlas, sah sie nur noch die Mängel.

Durch Misserfolge ließ sie sich jedoch nicht entmutigen. Wollte sie einmal alles hinwerfen, genügte ein Blick auf das schon etwas abgegriffene Kissen, das auf ihrem Bett lag. Die Mutter hatte es bestickt, als sie selbst noch ein Kind gewesen war. ›Was lange währt, wird‹ stand dort. Wenn man es umdrehte, kam noch ›endlich gut‹ hinzu. Die beiden Wörter hatten nicht mehr auf die Vorderseite gepasst.

Eigentlich war die Stickerei eine Strafarbeit gewesen, weil ihre Mutter so ungerne still saß – so hatte Marie es von Tante Helene gehört. Es waren die einzigen Worte, die sie von ihrer Mutter kannte, also beherzigte Marie sie unverdrossen. An fehlender Ausdauer sollte es nicht scheitern. Eines Tages würde sie der Welt ein Drama schenken, das alle in Staunen versetzen würde.

Sie träumte diesen Traum, seit sie als Zehnjährige erstmals im Burgtheater gewesen war. Maman Xaverine hatte eine Loge angemietet, mehr um gesehen zu werden, als um selbst zu sehen, und als die Saison sich dem Ende zuneigte, eröffnete sie Fritzi und ihr eines Tages, dass sie die Eltern heute begleiten dürften.

Die besten Kleider wurden geplättet, Gesichter geschrubbt und Haare gestriegelt. »Man redet wohl herum, dass Gnädigste nicht die beste Mutter ist«, flüsterte die Zofe dem Zimmermädchen zu, während sie sich an Maries Zöpfen zu schaffen machte. Die andere warf ihr einen warnenden Blick zu und legte schnell den Finger an den Mund.

Wie eine Sahnetorte aufgeputzt, trippelte Marie im weißen Spitzenkleidchen zum Entrée, wo die Erwachsenen schon warteten. Sie tat ihr Möglichstes, um nur ja nirgendwo hängen zu bleiben oder den Saum zu beschmutzen. Auf der Treppe, die zur Eingangshalle hinunterführte, kniff ihr jüngster Bruder Victor sie in den Arm. Er war grün vor Neid, weil er nicht mitdurfte. Sofort fing er sich einen Puff von ihrem anderen kleinen Bruder Dodo ein. Sie warf Dodo einen dankbaren Blick zu, doch der streckte ihr die Zunge raus. Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

»Wenn du dich nicht benehmen kannst, Marie, dann bleibst du hier«, drohte die Gräfin.

»Ich bin brav, ich versprech’s!«, rief sie.

Und so hob ihr Vater sie wenig später vor dem imposanten Prunkbau aus der Kutsche. Hand in Hand mit Fritzi betrat sie die riesige, mit Stuckaturen und Deckengemälden verzierte Vorhalle. Von da an kam sie aus dem Staunen nicht mehr heraus.

In einem Strom federgeschmückter, seidenglänzender, brillantblitzender Damen und befrackter Herren stiegen sie die majestätischen Stufen zu den Logen hinauf. Maman grüßte bald hierhin, bald dorthin und stellte ihre beiden entzückenden Töchter vor, die aufs Stichwort höflich knicksten. In ihrer Loge nahmen sie auf rotsamtenen Sesseln Platz und musterten die Leute in den anderen Logen. Ihnen gegenüber saß eine Matrone mit Federputz, die den faltigen Hals ruckartig bewegte. Sie sah aus wie ein Huhn. Kichernd flüsterte Marie der Schwester ihre Beobachtung ins Ohr, doch Fritzi verkniff sich ein Grinsen. Marie fing sich einen tadelnden Blick von Maman ein.

Plötzlich wurde es still im Saal. Die Lichter verloschen. Alle blickten auf den Samtvorhang, der die Bühne verdeckte. Marie bemerkte, dass sie vorher zur Toilette hätte gehen sollen, und rutschte unruhig hin und her. Doch als der Vorhang sich hob, war dies und alles andere vergessen.

Sie betrat eine neue Welt, oder vielmehr wurde sie in sie hineingesogen. Ein unbekanntes Fieber packte sie, trug sie mit sich fort, schleuderte sie hin und her. Sie zitterte, wenn der mutige Koch Leon in Gefahr geriet, sie bangte mit Edrita, der listigen Grafentochter. Ihr Kopf brannte, ihre Wangen glühten, ein Schauer nach dem anderen lief ihr über den Rücken. Es war, als hätte man einen Fisch endlich ins Wasser gesetzt. Wie festgenagelt saß sie auf ihrem Platz und schaute mit offenem Mund selbst dann noch zur Bühne, als der Vorhang längst gefallen und der Applaus verebbt war.

Von diesem Tag an war es um sie geschehen gewesen. Abend für Abend warf sie sich ihrer Maman zu Füßen, um wieder mitkommen zu dürfen. Kaum hatte sich der Vorhang gehoben, zerfloss das fade Einerlei ihrer von Gouvernanten beaufsichtigten Tage, und sie tauchte in ihr eigentliches Leben ein. Lachte und weinte mit den Heldinnen, durchlitt Höhen und Tiefen, fühlte sich nach jeder Vorstellung um Jahre gealtert und doch neu geboren.