Freak - Rodman Philbrick - E-Book

Freak E-Book

Rodman Philbrick

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Beschreibung

Auf den ersten Blick scheinen sie ein merkwürdiges Gespann zu sein: Der große und schwerfällige Max und der fantasievolle, kluge Kevin, dessen gebrechlicher Körper nicht mehr wächst. Doch zusammen sind sie ein unschlagbares Team … "Freak" erzählt die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft zwischen dem riesigen Förderschüler Maxwell und dem kleinwüchsigen, hochbegabten Kevin. Als Kevin ins Nachbarhaus einzieht und den Kontakt zum geistig zurückgebliebenen Max sucht, ist dieser zunächst vorsichtig. Doch die anfängliche Skepsis weicht schnell, und zwischen den beiden Jungen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, entwickelt sich eine tiefe Freundschaft. Kevin und Max werden zu einem starken Team, das sich gegen Jugendgangs zur Wehr setzen kann und zusammen durch dick und dünn geht. Während Max Kevin auf seinen Schultern trägt und ihm so seine Beine leiht, bringt Kevin Max das Lesen bei und unterstützt ihn in der Schule. Aber dann wird Max entführt und Kevin muss alles daransetzen, seinen besten Freund zu befreien.

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2015Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbHDie deutsche Erstausgabe erschien 1998 in der Ravensburger Jungen Reihe in der Ravensburger Verlag GmbHDie Originalausgabe erschien 1993 unter dem Titel »Freak the Mighty«© 1993 by Rodman Philbrick. All rigths reserved.Published by arrangement with Scholastic Inc., 555 Broadway, New York, NY 10012 USAÜbersetzung aus dem Amerikanischen: Werner SchmitzIllustrationen: L. GhepettoUmschlaggestaltung: Init, Büro für Gestaltung, Bad Oeynhausen unter Verwendung eines Fotos von © getty images/Cindy PrinsAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-47720-3www.ravensburger.de

KAPITEL 1

Ich hatte nie ein Gehirn, bis Freak auftauchte und mir seins für eine Weile überließ, und das ist die Wahrheit, die volle Wahrheit. Die unbezwungene Wahrheit, wie Freak das genannt hätte, und eine Zeit lang hat er das Reden für mich übernommen. Ich selbst hatte bis dahin eigentlich nur mit Fäusten und Füßen geredet, bevor wir dann Freak der Starke wurden, Drachen und Narren töteten und hoch zu Ross ritten.

Früher – im Kindergarten, es war das Jahr, in dem Gram und Grim mich übernahmen – nannten sie mich Kicker, weil ich nach jedem trat, der es wagte mich anzurühren. Und die Leute versuchten damals dauernd, mich zu umarmen, als ob das eine Medizin wäre, die ich nötig gehabt hätte.

Gram und Grim, die guten Leutchen, waren die Eltern meiner Mutter, und sie dachten sich: Hey! Am besten stecken wir den Rotzlöffel mit anderen Rotzlöffeln in seinem Alter zusammen, vielleicht ist das richtig gut für seinen Charakter.

Ja, von wegen! Stattdessen erfand ich Spiele wie Kickboxen und Knietreten und Fressetreten und Lehrertreten und Alle-anderen-Kinder-Treten, denn ich wusste nur zu gut, was für eine faule Lüge diese ganze Umarmerei war. Und wie genau ich das wusste!

In diesem Jahr der verlogenen Umarmungen bekam ich Freak zum ersten Mal zu sehen. Er hat damals nicht viel anders ausgesehen als später, schließlich waren wir ja alle noch ziemlich klein. Aber er war nicht jeden Tag bei uns im Spielzimmer, nur ab und zu ist er da aufgetaucht. In meiner Erinnerung sah er irgendwie fies aus. Später hat Freak selbst mir dann erklärt, dass Erinnerungen nur Bilder im Kopf sind, und dass man sich mit etwas Mühe an alles Mögliche erinnern kann, egal, ob es wirklich passiert ist oder nicht.

Vielleicht war er also im Kindergarten gar nicht so fies, obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass er einmal mit seiner Krücke auf ein Kind losgegangen ist und es ordentlich durchgeprügelt hat. Aber aus irgendeinem Grund hat der kleine Kicker niemals den kleinen Freak getreten.

Vielleicht haben mich seine Krücken davon abgehalten, ihn zu schlagen. Mann, diese Krücken waren cool. Ich wollte selbst welche haben. Und eines Tages tauchte der kleine Freak mit diesen glänzenden Stützschienen auf, Metallröhren, die ihm an die krummen Beinchen geschnallt waren und bis zu den Hüften reichten. Hey, die fand ich sogar noch cooler als die Krücken.

»Ich bin Robot-Man«, sagte der kleine Freak und machte komische Robotergeräusche, als er auf dem Spielplatz herumhumpelte. Rrrr … rrrr … rrrr … als ob er Motoren in den Beinen hätte, rrrrr … rrrr … rrrr, und wie er einen dabei ansah, komm mir bloß nicht zu nahe, Mann, vielleicht habe ich ja eine Laserkanone in diesen Beinschienen versteckt, mit der ich dich durchlöchern kann. Keine Frage, Freak, kaum einen halben Meter groß, hatte es schon damals mit Robotern und wusste genau, was er wollte.

Dann habe ich Freak lange Zeit nicht mehr gesehen, eines Tages ist er einfach nicht mehr ins Heim gekommen, und dann, da muss ich in der dritten Klasse oder so gewesen sein, erinnere ich mich an so ein dunkelblondes Kerlchen, das auf so einem Krüppelwagen hockt und mich finster von unten anstarrt. Mann, dem kamen richtige Todesstrahlen aus den Augen, und ich denke, hey, das ist er, der Robot-Junge, und das war schon irre, weil ich ihn völlig vergessen hatte, der Kindergarten war bei mir längst abgehakt, und seit Ewigkeiten hatte mich keiner mehr Kicker genannt.

Mad Max nannte man mich jetzt, oder Max Factor, und dieser eine Blödmann in der Förderklasse nannte mich Maxi Pad, bis ich es ihm dann ausgeredet habe. Gram und Grim nannten mich aber immer Maxwell, das soll angeblich mein richtiger Name sein, und den habe ich manchmal am meisten gehasst. Maxwell, würg.

Eines Abends nach dem Essen flüstern Grim und Gram in der Küche miteinander; er fragt sie, ob sie schon gemerkt habe, wie sehr Maxwell ihm jetzt schon ähnlich sei? So hat er immer von meinem Vater geredet, der seine liebe verstorbene Tochter geheiratet und mit ihr, pfui Spinne, diesen Maxwell gezeugt hatte. Grim nennt meinen Vater niemals beim Namen, er sagt immer nur er, als ob ihm der Name irgendwie unheimlich ist.

Und Maxwell ist ihm nicht nur äußerlich ähnlich, sagt Grim an diesem Abend in der Küche, der Junge ist auch sonst wie er, wir sollten uns vorsehen, man kann nie wissen, was er anstellt, während wir schlafen. Wie damals sein Vater. Und Gram macht gleich Pst!, und sagt, so was darfst du niemals aussprechen, denn kleine Söhne haben große Ohren, und da laufe ich gleich zum Spiegel und sehe nach, ob es meine großen Ohren sind, die mich ihm so ähnlich machen.

Ganz schön blöd, wie?

Na ja, ich war tatsächlich blöd, denn wie gesagt, ich hatte nie ein Gehirn, bis Freak bei uns in der Straße einzog. Das war im Sommer vor der achten Klasse. In diesem Sommer bin ich so schnell gewachsen, dass Grim einmal sagte, am besten lassen wir den Jungen barfuß gehen, der sprengt uns ja alle Schuhe. In diesem Barfußsommer bin ich oft hingefallen, und vor allem ist der verrückte Robot-Junge mit dem irren bösen Blick in ein Doppelhaus bei uns in der Straße gezogen, zusammen mit seiner Mutter, der schönen Gwen.

Nur ein Idiot, der dauernd hinfällt, kann auf die Idee kommen, dass das ihr richtiger Name ist, stimmt’s?

Wie gesagt.

Passt ihr auch gut auf? Denn bis jetzt wisst ihr ja noch gar nicht, wie wir Freak der Starke geworden sind. Und das war ganz schön cool, auch wenn ich das selbst sage.

KAPITEL 2

In dem Sommer, wartet mal, wohne ich immer noch im Keller, in meiner privaten Unterwelt, in dem kleinen Zimmer, das Grim mir dort eingerichtet hat. So billiges Zeug an die Kellerwände geklebt, das auf dem Beton nicht richtig haftet und Wellen schlägt; aber meckere ich über diese schäbige Wandverkleidung oder über den Teppich, der mieft wie Ebbe? Nein, tu ich nicht. Weil es mir in der Unterwelt gefällt, weil ich das Ganze für mich allein habe und nicht befürchten muss, dass Gram irgendwann ihren Kopf durch die Tür steckt und mich fragt: Maxwell, Junge, geht’s dir auch guhut?

Nicht dass ich irgendwelche dummen Sachen anstelle. Grim hat es sich in den Kopf gesetzt, dass ich in einem gefährlichen Alter bin und sie mich dauernd im Auge behalten müssten. Als ob ich Bomben basteln oder Feuer legen könnte. Oder mit meiner bewährten Schleuder die Haustiere der Nachbarn abschießen oder so was – dabei hatte ich nie eine Schleuder, Grim war’s, der in meinem Alter eine hatte. Der Beweis findet sich im Fotoalbum der Familie. Da gibt’s ein unscharfes Bild von Grim, noch winzig klein und ohne Vorderzähne, wie er in die Kamera grinst und grade so eine prähistorische Schleuder spannt. Kann man vielleicht brauchen, wenn man Mastodons abschießen will. »Nur anständige Ziele«, sagt Grim und klappt das Fotoalbum zu. Ende der Diskussion. Als ob er denkt, huch, Beweismaterial, lieber verstecken. Will den gefährlichen Jungen gar nicht erst auf irgendwelche Ideen bringen.

Nicht dass ich irgendwelche Ideen habe. Mein Gehirn ist leer, okay? Ich bin bloß ein Rotzlöffel, der sich im Keller verkriecht und über seinen Comics sabbert. Na schön, ich sabbere nicht direkt, aber ihr versteht schon.

Jedenfalls haben wir den ersten Tag im Juli, der Countdown zum vierten läuft schon, und ich frage mich, wo ich eine M80 herkriegen kann, die angeblich ungefähr so viel Sprengkraft hat wie eine Viertelstange Dynamit, und wenn sie losgeht, bleibt einem für eine Mikrosekunde das Herz stehen, wamm. Und davor hat Grim wahrscheinlich eine Heidenangst. Hilfe, Hilfe, Maxwell ist mit Dynamit bewaffnet.

Irgendwann wird’s mir dann in der Unterwelt zu langweilig und ich bin im so genannten Garten, was man so das Paradies der kleinen Leute nennt, mit Maschendrahtzaun. Grim hat so einen blöden kleinen Rasenmäher im Schuppen, aber was will er damit auf dem nackten Erdboden? Jedenfalls hänge ich da so rum und plötzlich seh ich den Umzugswagen. Nicht von einer dieser üblichen bekannten Firmen, sondern bloß so eine billige Klitsche hier aus der Gegend. Bärtige Fettsäcke in verschwitzten Unterhemden schleppen Möbel in die Doppelhaushälfte, die schon leer steht, seit der Fixer, der dort gewohnt hat, letzte Weihnachten eingebuchtet worden ist.

Als Erstes denke ich, der Fixer ist zurück, aus dem Knast entlassen oder was weiß ich, und jetzt bringt er seine Sachen wieder rein. Und dann sehe ich die schöne Gwen. Nicht, dass ich da schon ihren Namen wusste, das kam erst ein Weilchen später. Zuerst sehe ich sie nur ganz kurz, wie sie vom Wagen zur Haustür geht und mit den Bärten redet. Ich denke, hey, die kenn ich doch, und dann denke ich, unmöglich, Blödmann, so eine schöne Frau kannst du unmöglich kennen.

Irgendwie sieht sie aus wie ein Filmstar. Trägt alte Jeans und ein weites T-Shirt, die langen Haare hat sie nach hinten gebunden und wahrscheinlich schwitzt sie, aber trotzdem sieht sie aus wie ein Filmstar. Als ob ihr dauernd ein Scheinwerfer folgen und ihre Augen zum Leuchten bringen würde.

Und ich denke, na, das ist aber mal eine Verschönerung bei uns in der Straße. Und ihr denkt jetzt, also echt, der Idiot ist kaum aus der siebten Klasse raus, wofür hält der sich? Dazu sage ich nur, die schöne Gwen hatte wirklich Starformat, das kann sogar ein Schwachsinniger erkennen. Und dass sie mir bekannt vorkommt, nun, ich muss sie damals gesehen haben, im finsteren Mittelalter, als sie Freak in den Kindergarten gebracht hat, denn als Nächstes sehe ich diesen verkrüppelten Zwerg auf dem Bürgersteig rummachen und den Bärten Befehle geben.

Etwa so: »Hey, du Depp! Ja, du da mit den Haaren im Gesicht, pass bloß mit dieser Kiste auf. Da ist ein Computer drin, falls du überhaupt weißt, was ein Computer ist.«

Ich kann’s nicht glauben. Inzwischen bin ich auf der Straße und schleiche mich näher ran, und dann sehe ich diesen unheimlich aussehenden kleinen Kerl genauer: Sein Kopf ist von normaler Größe, aber der Rest ist kürzer als ein Meter und irgendwie so verdreht, dass er nicht aufrecht stehen kann und die Brust weit nach vorne gewölbt ist. Und da fuchtelt er also mit seinen Krücken herum und schnauzt die Möbelpacker an.

»Hey, Gwen«, sagt einer von den Bärten, »können Sie dem Kind nicht mal ’ne Pille geben oder so was? Der macht uns noch wahnsinnig.«

Also kommt Gwen aus dem Haus, streicht sich die Haare aus den großen braunen Augen und sagt: »Kevin, geh im Garten spielen, okay?«

»Aber mein Computer.«

»Deinem Computer passiert schon nichts. Lass die Männer in Ruhe! Bald sind sie fertig, und dann können wir zu Mittag essen.«

Inzwischen schlendere ich vor dem Haus herum, und zwar so lässig wie möglich, nur dass, wie gesagt, meine Füße in diesem Jahr verrückt spielen und ich dauernd über irgendwelche Sachen stolpere. Risse im Bürgersteig, Ameisen auf dem Bürgersteig, Schatten, alles.

Plötzlich dreht sich der komische Zwerg um, sieht mich, hebt eine Krücke, zielt damit auf mein Herz und sagt: »Identifiziere dich, Erdling!«

Ich habe die ganze Zeit nur meine Füße im Kopf, damit ich nicht stolpere, und kriege gar nicht mit, dass er mich meint.

»Ich habe gesagt, identifiziere dich, Erdling, oder du musst die Folgen tragen!«

Ich denke bloß, hä? Und bevor ich entscheiden kann, ob ich ihm meinen Namen sage oder nicht, oder welchen Namen, denn inzwischen weiß ich, das ist der komische kleine Robot-Man aus dem Kindergarten, und vielleicht erinnert er sich, dass ich damals Kicker hieß, jedenfalls bevor ich ein Wort sagen kann, drückt er auf den Abzug an seiner Krücke, macht so ein Schussgeräusch und sagt: »Dann stirb, Erdling, stirb!«

Ich sage gar nichts, sondern verziehe mich bloß. Weil ich mir ziemlich sicher bin, der meint das ernst. Und das liegt nicht nur daran, wie er mit der Krücke auf mich zielt. Ihr solltet mal seine Augen sehen. Mann, der Zwerg hasst mich, und wie.

Er will wirklich meinen Tod.

KAPITEL 3

Okay, also zurück in die Unterwelt. Mein Zimmer im Keller. Zisch ab in deinen dunklen Bau, Maxwell, Junge. So ein Riesenross wie du, wächst täglich zwei Finger breit, und lässt dir von diesem Zwerg, von diesem krüppligen Humanoiden doch tatsächlich Angst machen. Aber nicht die Angst, wo man weiche Knie kriegt, sondern eher die Angst, wo man sagt, he, versteh ich nicht, kapier ich nicht, was war das denn?

Zum Beispiel, dass er mich »Erdling« genannt hat. Das ist doch wohl ziemlich schräg, oder? Ich habe ja schon ein paar meiner früheren Namen erwähnt, aber der Robot-Junge war der Erste, der mich Erdling genannt hat, und jetzt liege ich auf der Matratze in meiner tollen Unterwelt und denke plötzlich, ja, er hat Recht, ich bin ein Erdling, wir alle sind Erdlinge, nur dass wir uns nicht gegenseitig so anreden. Wäre ja auch überflüssig. Schließlich sind wir in diesem Land ja auch alle Amerikaner, aber trotzdem sprechen wir uns nicht so an: »Entschuldigen Sie, Amerikaner, wissen Sie, wo die nächste Frittenbude ist?«

Als ich so im Dunkeln liege und darüber nachdenke, wird die Unterwelt irgendwie immer kleiner, als ob die Wände zusammenschrumpfen, also steige ich über die Kellertreppe in den Garten und suche mir ein Plätzchen, wo ich die Sache abchecken kann.

Hinter dem Haus, in dem Freak jetzt wohnt, ist so ein kleiner dürrer Baum. Praktisch bloß ein Stock im Boden, nur hier und da ein paar schlappe Zweige dran. Und da steht er, kaum größer als damals im Kindergarten, und fuchtelt immer wieder mit seiner Krücke zu dem Bäumchen rauf.

Um einen besseren Überblick zu kriegen, schiebe ich mich an den Maschendrahtzaun ran. Was macht er da, wieso haut er auf das dünne Stämmchen ein? Versucht hochzuspringen und mit der kleinen Krücke an diesen Zweig zu schlagen, hoppelt da rum wie ein Verrückter. Dabei kann er gar nicht springen, macht bloß so eine Bewegung, als ob er springen würde, aber seine Füße kommen nicht vom Boden hoch.

Und dann schmeißt er die Krücke hin und krabbelt auf Händen und Knien zu seinem Haus zurück. Wenn man’s nicht besser wüsste, könnte man meinen, er wäre noch im Kindergarten und hätte vergessen, wie man geht, so klein ist er. Und er krabbelt richtig gut, besser als er geht. Und gleich darauf zieht er so einen Waggon unter der Treppe vor.

Ein rostiges rotes Ding, eins von diesen großen alten Eisenbahnmodellen. Jedenfalls zieht der kleine Freak es hinter sich her, immer nur zentimeterweise, aber immerhin, und schließlich hat er es unter den Baum bugsiert. Dann nimmt er seine Krücke, klettert auf den Wagen, richtet sich auf und fängt wieder an auf den Baum einzuschlagen.

Inzwischen ist mir klar, dass da was in den Zweigen steckt und er es runterholen will. So ein kleines buntes Ding, sieht aus wie ein Stück zusammengefaltetes Papier. Was auch immer das sein mag, er will dieses Papierding unbedingt haben, aber auch mit dem Waggon kann er da unmöglich rankommen. Unmöglich.

Also gehe ich rüber zu ihm in den Garten, versuche ganz leise zu sein, aber ich bin nicht gut im Anschleichen, nicht mit diesen Quadratlatschen, und er dreht sich um und hebt die Krücke nach mir, als ob er mir voll eins über den Schädel ziehen will.

Er will etwas sagen, das kann man ihm ansehen, aber er ist so wütend, dass er jeden Augenblick platzen muss, und er gibt Geräusche von sich wie ein Hund oder so was, oder als ob er keine Luft mehr kriegt.

Ich halte mich außer Reichweite seiner Krücke, greife einfach nach oben und pflücke dieses bunte Papierding aus dem Baum. Nur dass es nicht aus Papier ist. Es ist ein Plastikvogel, federleicht und so zerbrechlich, dass ich ihn ganz vorsichtig anfassen muss, damit er auch ja nicht kaputtgeht.

Ich sage: »Willst du das zurück oder was?«

Der kleine Freak glotzt mich mit großen Augen an und sagt: »Oh, es spricht.«

Ich gebe ihm den Vogel. »Ist das so ’ne Art Modellflugzeug oder was?«

Man kann sehen, er freut sich wirklich, dass er den Vogel zurückhat, sein Gesicht ist nicht mehr ganz so böse. Er setzt sich in dem Wagen hin und sagt: »Das ist ein Ornithopter. Ein Ornithopter wird definiert als experimentelles Gerät, das durch Flügelschlag angetrieben wird. Man könnte auch sagen, Ornithopter ist ein starkes Wort für mechanischer Vogel.«

Genauso hat er geredet, wie ein Wörterbuch. So was von schlau, es war kaum zu glauben. Und beim Reden zieht er den Vogel auf, da ist nämlich ein Gummi drin, und dann sagt er: »Sieh hin und staune, Erdling«, und dann lässt er das Ding los, und wisst ihr was? Ich staune tatsächlich, denn es fliegt wirklich wie ein Vogel, flattert rauf und runter und im Kreis herum, und so hoch, dass ich nicht rankomme.

Ich renne hinter dem Ding her, bis es an den dürren Baumstamm knallt, und bringe es ihm zurück; er zieht es wieder auf und lässt es fliegen. Das machen wir ziemlich lange, so ungefähr eine Stunde lang, bis schließlich der Gummi reißt. Ich denke, das war’s, Schluss mit Ornithopter, aber er sagt bloß: »Alle mechanischen Gegenstände müssen regelmäßig gewartet werden. Wir installieren ein neues Triebwerk, sobald die schöne Gwen für Ersatz gesorgt hat.«

Ich weiß zwar nicht genau, was er damit meint, sage aber: »Echt cool.«

»Du wohnst hier in der Gegend, Erdling?«

»Da drüben.« Ich zeige zum Haus. »In der Unterwelt.«

Er sagt: »Was?«, und weil ich es einfacher finde, es ihm vorzuführen, als die ganze Sache mit Gram und Grim und dem Kellerzimmer zu erklären, nehme ich den Griff des Eisenbahnwaggons und ziehe ihn rüber.

Das geht ganz leicht, er wiegt ja nicht viel, und ich meine mich zu erinnern, dass ich mich nach ihm umdrehe und ihn aufrecht und so richtig glücklich dasitzen sehe, als ob ihm die Fahrt großen Spaß macht und es ihm kein bisschen peinlich ist, von mir gezogen zu werden.

Aber wie Freak später in diesem Buch noch sagen wird, man kann sich an alles Mögliche erinnern, egal, ob es passiert ist oder nicht. Ganz sicher bin ich mir jedenfalls, dass er mich nicht mit der Krücke geschlagen hat.

KAPITEL 4

Freak ist noch keine zehn Minuten in meinem Zimmer, da hat er mich schon über die schöne Gwen aufgeklärt. Er schafft es, die Treppe allein runterzuhumpeln, kommt aber dabei ziemlich aus der Puste, man hört ihn schnaufen, oder nennt man das hecheln? Hört sich jedenfalls an wie ein Hund an einem heißen Tag.

Er kommt langsam in mein Zimmer, ich klappe die Falltür zu, und er sagt: »Cool. Wohnst du echt ganz allein hier unten?«

»Ich esse oben bei Grim und Gram.«

Freak stemmt sich aufs Fußende meines Betts und nimmt ein Kissen, um es sich bequem zu machen. Es ist ganz schön düster hier unten, nur durch ein Kellerfenster kommt Licht herein, aber das fällt genau auf ihn und lässt seine Augen leuchten. »Gram ist bestimmt deine Großmutter«, sagt er. »Grim dürfte ein Epitheton deines Großvaters sein, wahrscheinlich wegen seines verhaltenen Verhaltens.«

Ich sage: »Hä?«

Freak grinst und schiebt sich die blonden Haare aus dem Gesicht. »Entschuldige mein Vokabular. Epitheton bedeutet ›Spitzname‹, und verhaltenes Verhalten bedeutet ›finsteres Gesicht‹. Ich habe lediglich postuliert, dass du deinen Großvater ›Grim‹ nennst, weil er immer grimmig dreinschaut. Postulieren bedeutet …«

»Weiß ich doch«, sage ich. Das ist zwar gelogen, aber ich kann mir denken, was es bedeutet, nämlich vermuten oder so was. »Und warum nennst du deine Mutter ›die schöne Gwen‹? Ist das auch ein Spitzname?«

Freak schüttelt den Kopf. Ich kann sehen, er versucht sich nicht anmerken zu lassen, dass er in sich reinlacht. »Guinevere«, sagt er schließlich und holt erst mal Luft. »Die schöne Fee Guinevere aus der Artussage. Du kennst doch wohl König Artus?«

Ich zucke die Schultern. Der einzige König Artus, den ich kenne, ist die Mehlsorte, die Gram zum Backen nimmt, aber wenn ich das sage, höre ich mich wirklich wie ein Blödmann an.

Er sagt: »Meine Mutter heißt Gwen, also nenne ich sie manchmal die schöne Fee Guinevere oder die schöne Gwen. König Artus war der erste König von England, damals, als es noch Drachen und Ungeheuer auf der Welt gab. Artus war ein Waisenkind, klein und schwächlich, und dann gab es da so ein Zauberschwert, das hat in einem großen Stein gesteckt, okay? Der alte König war gestorben, und wer das Schwert aus dem Stein ziehen konnte, bewies damit, dass er der nächste König war. Und dann kamen von überall her große, starke Kerle an und rissen an dem Schwert herum, aber keiner kriegte es raus. Eines Tages, als mal keiner hinsah, versuchte es dieser kleine Schwächling auch, und siehe da, es ging wie geschmiert.«

»Also ist der Kleine König geworden?«

Freak nickt, er ist richtig in der Geschichte drin und formt mit den Händen irgendwelche Sachen in der Luft. Es ist das erste Mal für mich, dass ich Freak richtig reden höre, und eins weiß ich sofort: Wenn er redet, kann man die Augen nicht von ihm abwenden. Und wie er die Hände bewegt, könnte man meinen, er sieht die Geschichte von dem alten König richtig vor sich.