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Kira Mohn

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Beschreibung

Tausend Splitter anstelle eines Herzens … Rae wirkt nach außen wie jede andere 20-Jährige, innerlich jedoch ist sie zerbrochen. An einem schrecklichen Tag vor drei Jahren hörte ihre Welt auf, sich zu drehen – und sie steht auch heute noch still. Rae ist erstarrt, gefangen in den Scherben ihres Lebens. Bis die Idee einer Freundin sich in ihr festsetzt: wandern gehen in einem von Kanadas Nationalparks. Weite Landschaften. Nur sie und die Natur. Genauer gesagt: nur sie, die Natur und Cayden. Ausgerechnet Cayden. Er ist ein Aufreißer, nimmt nichts ernst. Doch in seinen Augen liest Rae etwas, das sie schmerzhaft gut kennt … Herzzerreißend und gefühlvoll – das Finale der zweibändigen Kanada-Reihe von Kira Mohn

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Seitenzahl: 438

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Kira Mohn

Free like the Wind

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Tausend Splitter anstelle eines Herzens …

 

Rae wirkt nach außen wie jede andere 20-Jährige, innerlich jedoch ist sie zerbrochen. An einem schrecklichen Tag vor vier Jahren hörte ihre Welt auf, sich zu drehen – und sie steht auch heute noch still. Rae ist erstarrt, gefangen in den Scherben ihres Lebens. Bis die Idee einer Freundin sich in ihr festsetzt: wandern gehen in einem von Kanadas Nationalparks. Weite Landschaften. Nur sie und die Natur. Genauer gesagt: nur sie, die Natur und Cayden. Ausgerechnet Cayden. Er ist ein Aufreißer, nimmt nichts ernst. Doch in seinen Augen liest Rae etwas, das sie schmerzhaft gut kennt …

 

Herzzerreißend und gefühlvoll – das Finale der zweibändigen Kanada-Reihe von Kira Mohn

Vita

Kira Mohn hat schon die unterschiedlichsten Dinge in ihrem Leben getan. Sie gründete eine Musikfachzeitschrift, studierte Pädagogik, lebte eine Zeitlang in New York, veröffentlichte Bücher in Eigenregie unter dem Namen Kira Minttu und hob zusammen mit vier Freundinnen das Autoren-Label Ink Rebels aus der Taufe. Heute wohnt sie mit ihrer Familie in München. Die Romantik darf in ihren Geschichten nicht zu kurz kommen, aber vor allem ist es ihr wichtig, Figuren zu erschaffen, die sich echt anfühlen. Nach der Leuchtturm-Trilogie veröffentlicht sie nun mit «Wild like a River» und «Free like the Wind» ihre zweite Serie bei KYSS. Kira ist auf Facebook und Instagram aktiv und tauscht sich dort gern mit Lesern aus.

 

facebook.com/MinttuMohn

 

 

instagram.com/kira.mohn

• Für Kathrin •

Das ist das Mindeste

1.

Rae

«Rae? Ist alles in Ordnung?»

Mum steht in meiner Zimmertür, und wie so oft hat sie zwar angeklopft, ist dann aber direkt hereingeplatzt, ohne auf eine Antwort zu warten. Diesmal hat sie dafür zugegebenermaßen einen Grund. Ich habe mich gerade erst wieder aufgesetzt, nachdem ich bei meinem Versuch, einen Kopfstand hinzubekommen, einfach zur Seite gekippt bin.

«Alles okay.» Mein Nacken fühlt sich ein wenig verrenkt an, aber das behalte ich besser für mich. Sonst googelt sie Symptome bei Nervenschädigungen im Halsbereich.

«Ich habe ein Poltern gehört und dachte …»

«Mir sind nur ein paar Bücher aus der Hand gefallen.»

Meine Ausrede wird unterstützt durch einen umgekippten Stapel Bücher neben dem Bett, neben dem ich gerade hocke, als habe ich sie aufsammeln wollen. Dass die dort bereits seit gestern Abend liegen, weiß meine Mutter ja nicht.

«Okay, wenn es dir wirklich gutgeht …» Sie lächelt ihr kleines Mum-Lächeln, ein bisschen entschuldigend und sehr traurig, und mein Herz zieht sich zusammen.

«Es ist alles okay, wirklich», erwidere ich und lächle zurück.

«Gut, dann … Es gibt gleich Abendessen.»

«Alles klar, ich komm runter.»

Sobald die Tür sich hinter ihr geschlossen hat, taste ich nach meinem schmerzenden Nacken und drehe den Kopf vorsichtig erst nach rechts, dann nach links. Autsch.

Von wegen Kopfstand für Anfänger. Dieses blöde YouTube-Video. Ich hätte bei meinen Yogaübungen einfach beim Sonnengruß bleiben sollen.

Meine Freundin Haven beherrscht die Kopfstandübung perfekt, und hätte sie mir vorhin am Telefon nicht davon vorgeschwärmt, müsste ich jetzt nicht meine Knochen sortieren. Ich sollte endlich einsehen, dass Haven mir in Sachen Körperbeherrschung weit überlegen ist. Dabei hat sie mit Yoga erst vor ein paar Wochen angefangen. Ächzend erhebe ich mich, um ins Badezimmer zu gehen. Vielleicht lasse ich den Kopfstand fürs Erste lieber sein und wage mich nur an neue Übungen, für die ich ohnehin auf dem Boden liegen muss. Haven wird dazu garantiert eine ganze Reihe an Vorschlägen haben.

Vor dem Spiegel wickele ich mir die langen Haare zu einem Knoten zusammen, den ich mit geradezu absurd vielen Spangen feststecke. Meine vietnamesische Urgroßmutter hat mir das glatte, schwere Haar vererbt, allerdings ist es seit einiger Zeit nicht mehr schwarz, sondern blau. Damit habe ich Philippe, meinen Chef im Phoenix, an seine Grenzen gebracht und kann wohl von Glück sagen, dass er mich nicht gefeuert hat. «Blau!», hat er gerufen und mich entgeistert angestarrt. «Warum färbst du deine Haare blau?»

Warum nicht? Es ist ein wunderschönes, tiefes Nachtblau, und es hat mir einfach gefallen.

Philippe steht auch nicht auf offene Haare bei der Arbeit. Er findet das unhygienisch, als würde ich nicht in einem Kino an der Kasse sitzen, sondern am offenen Herzen operieren. Ich befestige eine letzte Spange, klemme mir die vorderen, nur kinnlangen Strähnen hinters Ohr und schüttele versuchsweise den Kopf. Das sollte halten.

Meine Mutter wuselt in der Küche herum, als ich die Treppe hinunterkomme. Dad ist wie so oft nicht da, aktuell gibt’s in Vancouver Dinge für die Firma zu regeln, bei der er arbeitet. Die Energie, die meine Mutter in erster Linie in mich steckt, investiert Dad in seinen Job, und dafür bin ich ganz dankbar. Ich liebe meine Eltern und verstehe sie vollkommen, trotzdem sind sie gemeinsam mitunter schwer zu ertragen. Die beiden ständig im Doppelpack – ich würde irre werden.

«Rae? Kannst du das Gemüse mitnehmen?»

Kaum habe ich ihr die Schüssel abgenommen, greift sie sich ein Handtuch, um einen Teller Crêpes aus dem Ofen zu holen, wo sie sie warm gehalten hat.

Im Esszimmer schiebe ich die große Vase beiseite, in der gelbe Tulpen bereits die Köpfe etwas hängen lassen.

Mum stellt die Crêpes zwischen die anderen Schalen. «Nimm dir Bambussprossen», weist sie mich an, während sie sich auf ihrem Stuhl niederlässt. «Und trink bitte dein Wasser, ja? Du trinkst zu wenig. Das ist nicht gut.»

Diesen Hinweis höre ich seit Wochen Tag für Tag. Mit ziemlicher Sicherheit hat Mum irgendwo gelesen, dass man täglich mindestens drei bis vier Liter Wasser trinken sollte, oder eine ihrer Freundinnen hat ihr das erzählt. Seitdem rennt sie mir mit Wasserflaschen hinterher. Und das wird sie tun, bis etwas anderes in ihren Fokus rückt – wenn ich Glück habe, bevor ich eine Allergie gegen Wasser entwickelt habe. So viel trinkt einfach kein normaler Mensch.

«Wann bist du heute Nacht wieder da?», will sie jetzt wissen.

«Gegen zwei.»

Wie an jedem Donnerstag. Die Spätvorstellung beginnt erst um Viertel nach elf, und bis dann alle Leute draußen sind und ich den Saal aufgeräumt habe, dauert es eine Weile. An den anderen Tagen, an denen ich im Kino arbeite, läuft die letzte Vorführung spätestens um halb neun, doch eigentlich sollte Mum sich mehr Sorgen machen, wenn ich vor Mitternacht nach Hause gehe. Um diese Uhrzeit sind meiner Erfahrung nach mehr Idioten unterwegs.

«Rufst du mich an, sobald du losgehst?»

«Mach ich.»

«Pfefferspray hast du?»

«Klar.»

Mum hat es extra in einem Outdoorladen für mich gekauft. Offiziell ist es ein Bärenspray, aber ihrer Meinung nach treiben sich nachts in Edmontons Straßen Leute herum, die mindestens genauso gefährlich sind wie Bären. Sie führt die Gabel zum Mund und hält inne. Ich weiß genau, dass sie in diesem Moment mit sich ringt, weil sie mich zum tausendsten Mal bitten möchte, mir ein Taxi zu nehmen. Für meinen Wagen gibt es dort im weiten Umkreis einfach keinen Parkplatz. Aber mit einem Taxi wäre ich erstens ohnehin beinahe länger unterwegs als zu Fuß, und zweitens ginge ein Viertel meines Verdienstes für die Fahrtkosten drauf. Und ich will auch nicht, dass Mum das Taxi jeden Abend bezahlt. Oder mich abholt. Es ist schwer genug, sich in diesem Haus halbwegs selbständig zu fühlen, genau genommen ist es beinahe unmöglich. Und um die wenigen Freiheiten, die ich habe, kann ich sehr hartnäckig kämpfen.

Zu diesem Ergebnis scheint auch Mum zu kommen, die sich gerade die Gabel in den Mund schiebt. Jetzt darf ich sie nur nicht zu lange ansehen, sonst bekomme ich wie so oft ein schlechtes Gewissen.

«Dein Wasser», erinnert sie mich, als ich nach dem Essen aufstehen will, um noch einmal nach oben zu gehen, bevor ich losmuss. Ich stürze die kalte Flüssigkeit hinunter und bringe das Glas mitsamt Teller in die Küche, bevor sie mir nachschenken kann.

In meinem Zimmer streife ich die dünne Lederjacke über, schnappe mir meine Umhängetasche und eile dann auf Socken wieder hinunter, um mir halbhohe Schnürboots anzuziehen.

Kurz darauf steht Mum vor der Haustür, um sich von mir zu verabschieden, und ich wette, ich bin die einzige Zwanzigjährige in ganz Edmonton, die sich an der Straßenecke noch einmal zu ihrer Mutter umdreht. Sie ist einige Schritte auf die Veranda hinausgetreten, um mir hinterherzuschauen. Allein diesen Blickkontakt zu unterbrechen, ist jedes Mal ein psychologischer Kraftakt. Ich weiß ja, woran sie in diesem Augenblick denkt. An dasselbe wie ich. Tag für Tag.

Ist vermutlich kein Wunder, dass unsere Familie mittlerweile ein wenig verrückt geworden ist.

Für den Weg zum Kino benötige ich nur knapp zwanzig Minuten, wenn ich durch den Park gehe, in dem die Bäume seit einer Weile endlich wieder grüne Blätter tragen. Dass ich diese Abkürzung nehme, ist auch etwas, das Mum nicht gutheißt. Mir ist bewusst, dass all diese kleinen Dinge dazu beitragen, mich meiner Mutter gegenüber ewig wie siebzehn zu fühlen, aber ich komme nicht dagegen an. Weder gelingt es mir, meine kleinen Trotzhandlungen zu unterlassen, noch scheint es einen Weg zu geben, meine Mutter davon abzubringen, mich am liebsten den ganzen Tag in meinem Zimmer einsperren zu wollen. Und wenn schon nicht das, dann wäre es ihr lieber, ich würde studieren, so wie Haven, statt nur in einem Kino zu arbeiten.

Es tut mir leid, ihr diesen Wunsch nicht erfüllen zu können. Meine Eltern hatten extra gewartet, bis ich mit der Highschool fertig war, bevor Dad sich versetzen ließ und wir Winnipeg den Rücken kehrten, um nach Edmonton zu ziehen. Vor allem Mum war wegen meines Abschlusses so erleichtert. Was für eine unglaubliche Leistung das sei, nach allem, was geschehen war, hat sie mir ungefähr tausendmal versichert. Nur bin ich in ihren Augen leider direkt danach zum Stillstand gekommen, und obwohl sie versucht, Verständnis dafür aufzubringen, verstärkt jeder Monat, der vergeht, ihre Sorge, ich könne den Anschluss verlieren. Dabei ist das längst geschehen.

«Aber irgendetwas musst du doch machen», sagt sie immer, und mit Sicherheit wünscht sie mir nicht, dass ich mal Geschäftsführerin des Phoenix werde. Dazu müsste ich allerdings erst einmal herausbekommen, was ich eigentlich will.

Aktuell jedenfalls will ich einfach nur raus. Ich will auf die Straße, ich will in den Park, und es macht mir keine Angst, allein unterwegs zu sein. Vor ziemlich genau zwei Jahren habe ich mit Krav Maga angefangen, und ich bin gut. Diese Kampfsportart beherrsche ich weit besser als Yoga, und jeder, der mir zu nahe käme, würde das unmittelbar feststellen. Das Bärenspray in meiner Tasche könnte sich auf mich verlassen, nicht umgekehrt.

Wenn der Park hinter mir liegt, dauert es keine fünf Minuten, bis ich beim Kino angekommen bin. Das Phoenix ist das älteste Kino in Edmonton, vielleicht sogar in ganz Alberta. Früher gab es sogar noch ein separates Kassenhäuschen vor dem Eingang, doch das war vor meiner und sogar noch vor Philippes Zeit. Es hat nur einen einzigen Filmsaal, aber wegen seines Retro-Charmes kann es sich auf eine loyale Anhängerschaft verlassen. Viele Besucher sind treue Phoenix-Gänger und würden selbst die Blockbuster, die gelegentlich bei uns laufen, nie in einem der modernen Multiplex-Cinemas anschauen.

«Rae, hi. Wie geht’s dir? Du kannst gleich Popcorn machen.»

Ich habe die Schwingtür in meinem Rücken noch nicht wieder abgeschlossen, als Philippe mich mit diesen Worten begrüßt. Philippe hat vor wenigen Jahren noch in Frankreich gelebt und ist nicht unbedingt der «Wie war dein Tag? Danke, prima, und selbst?»-Typ. Mittlerweile hab ich mich daran gewöhnt und mag es sogar irgendwie.

«Und füll die Süßigkeiten auf!», ruft er noch, während er die Treppe neben dem Eingang zum Saal hinauf verschwindet. Vermutlich überprüft er oben noch einmal, ob Maverick nach der Mittagsvorstellung die Filmrolle wieder auf den Anfang gesetzt hat.

Philippe hat die Popcornmaschine schon angeheizt, und ich fülle Maiskörner und Salz ein, nachdem ich den Zettel überprüft habe, auf dem die heute Nachmittag verkauften Süßwaren stehen. Scheint, wir haben noch von allem genug.

Als Philippe wieder herunterkommt, poppen in der Maschine gerade die letzten Körner auf. «Ich gehe heute nach der ersten Vorstellung», sagt er. «Aber Maverick kommt später noch mal.»

«Alles klar.» Mit dem gemütlichen Maverick arbeitet es sich ohnehin angenehmer als mit meinem hektischen Chef. Philippe ist irgendwas um die fünfzig, ein kleiner Mann mit Nickelbrille und weichen Gesichtszügen, der mindestens zweimal in der Woche verkündet, dass ein Herzinfarkt ihn demnächst dahinraffen wird. Meistens dann, wenn Maverick mal wieder keine Lust hatte, den Saal nach der Mittagsvorstellung sauber zu machen, oder ich vergesse, irgendetwas nachzubestellen. Als vor einiger Zeit eine Besucherin mitten in der Vorstellung zu hyperventilieren begann, musste ich mich erst um sie und dann um Philippe kümmern, der sich solidarisch um ein Haar gleich danebengelegt hätte.

Pünktlich zum Einlass stehen bereits die ersten Leute vor der Tür, und ich verkaufe Tickets, Popcorn und Süßigkeiten und versuche nebenbei vorherzusagen, wer von den Leuten, die jetzt noch lächeln, nachher wohl weinend den Saal verlassen wird. Heute läuft zum dritten und letzten Mal Sommersby, ein uralter Film mit Jodie Foster, und vorgestern war ich völlig schockiert, als nach der Vorstellung laut schluchzende Besucher aus dem Saal strömten. Ich habe mir den Film gleich in der nächsten Mittagsvorstellung angesehen und konnte danach verstehen, warum alle heulen.

«Das macht dreiunddreißig Dollar», teile ich dem Typen vor mir mit und händige ihm dabei eine Popcorntüte aus. Statt zu bezahlen, lässt er seinen Blick noch mal über die Auslage streifen und mustert mich anschließend ein paar Sekunden zu lang. Er ist einer von diesen glatten, von sich selbst überzeugten Schönlingen in dunkelhaariger Ausführung, und wenn ich den resignierten Ausdruck in den Augen der jungen Frau neben ihm richtig einschätze, kommt jetzt gleich noch irgendein blöder Spruch.

«Vielleicht nehme ich noch …»

Ungeduldig warte ich darauf, dass er endlich zur Sache kommt. Hinter ihm zieht sich die Schlange bis zur Tür, und ich hätte gern jeden drin, bevor es im Saal dunkel wird.

«… ein Mr. Big.» Er grinst auf eine Art, bei der ich innerlich mit den Augen rolle. Erstens muss ich mir Mr.-Big-Sprüche ständig von irgendeinem Idioten anhören, und zweitens nerven mich Typen, die vielsagend einen Mr.-Big-Schokoriegel verlangen, noch um einiges mehr, wenn daneben die Freundin auf ihr Smartphone starrt und so tut, als bekomme sie die blöde Anmache ihres Freundes nicht mit.

«Fünfunddreißig Dollar dann.»

Er hält mir ein paar Scheine entgegen und lässt einige Sekunden lang nicht los. Dieser Typ heult nachher garantiert nicht. Ich bezweifle, dass ihn der Film überhaupt interessiert.

Meine Vermutung bestätigt sich eine knappe Stunde später, als sich die Tür zum Saal öffnet und der Kerl erneut auftaucht. Natürlich will er nicht zu den Toiletten. Stattdessen tut er erst so, als überlege er ein weiteres Mal vor den Schokoriegeln, bevor er mit zwei Schritten zu mir an die Kasse kommt.

«Der Film ist Schrott», teilt er mir mit.

«Das tut mir leid», sage ich höflich. Lieber würde ich mit Du hast doch keine Ahnung antworten, aber das würde Philippe seinen hundertsten Herzinfarkt bescheren. In diesem Monat. Immer freundlich mit den Kunden.

«Was läuft morgen?»

«Pulp Fiction. Tarantino-Woche.»

«Klingt besser. Guckst du dir die Filme auch selbst an?»

«Das ist schwierig, wenn man gleichzeitig arbeiten muss.» Schwachkopf. Letzteres denke ich nur sehr laut.

Er lacht und lehnt sich mit der Hüfte gegen die Theke. Oh nein, er macht es sich bequem.

«Wann hast du denn Schluss? Ich bin übrigens Zane.»

Er hält mir seine Hand hin, die ich nur kurz ergreife. «Wenn nach der Vorführung die letzte Popcorntüte aufgesammelt ist.»

«Schon mal dabei Leute erwischt, die es miteinander getrieben haben?»

«Nein.» Aber ich finde nach Vorführungen mitunter gebrauchte Kondome in der hintersten Reihe. Das muss der Typ allerdings nicht wissen. Dessen Phantasie ist ohnehin schon im FSK-18-Bereich, und sein Grinsen macht deutlich, dass er überhaupt nicht kapiert, wie widerlich ich ihn finde. Entweder das, oder es geht ihm genau darum.

«Vielleicht ändert sich das ja heute.» Er stößt sich von der Theke ab und geht zurück zur Tür, die in den Saal hineinführt. «Durch irgendetwas muss man sich den langweiligen Film ja erträglich machen.»

Bah, was für ein grauenhafter Kerl. Trotzdem hat er es tatsächlich geschafft, mich zu beunruhigen. Nachdem der Film zu Ende ist und ein völlig in Tränen aufgelöster Strom an Menschen dem Ausgang entgegenstrebt, versuche ich, ihn in der Menge ausfindig zu machen – ohne Erfolg. Hoffentlich habe ich ihn nur übersehen. Sollten er und seine Freundin dadrin wie angekündigt noch beschäftigt sein, krieg ich die Krise.

Als endlich die letzten Nachzügler die Treppe von den Toiletten hinaufkommen, warte ich noch zusätzliche fünf Minuten, nachdem die Schwingtüren sich hinter zwei Freundinnen geschlossen haben, von denen eine sich noch ausgiebig die Nase putzt, dann stehe ich auf, und weil Maverick noch nicht da ist, schließe ich ab. Eine halbe Stunde, so viel Zeit habe ich, bis ich wieder aufschließen muss, und dann sollte alles sauber sein, also los jetzt.

Vorsichtig öffne ich die schwere Tür zum Kinosaal. Die Lichter an den Wänden leuchten, doch sie reichen nicht aus, um den Raum bis in die letzten Winkel hinein zu erhellen. Auf den ersten Blick scheint alles okay, Geräusche sind jedenfalls keine zu hören. Ich lasse den Blick über sämtliche Sitzreihen gleiten, die steil genug angeordnet sind, um hohe, bequeme Lehnen zu erlauben. Zu hoch, um von meiner Position aus sehen zu können, ob irgendwo vielleicht noch jemand auf einem der Plätze kauert. Oder auch gleich zwei Leute. Aber dann würde ich zumindest irgendwas hören, schätze ich.

Erst als ich einigermaßen sicher bin, wirklich allein zu sein, schüttele ich den Müllbeutel auf, den ich mit reingenommen habe, und streife mir die Einweghandschuhe über. Leere und noch halbgefüllte Popcorntüten, Eisschachteln, Plastikfolien, Pappbecher und Strohhalme – eine durchschnittliche Vorstellung füllt locker einen Fünfzigliterbeutel. Nach Sommersby liegen überdies noch jede Menge benutzter Taschentücher herum, und deshalb denke ich mir zunächst nichts dabei, als ich in der letzten Bankreihe etwas Weißes sehe. Tatsächlich klemmen in der Sesselspalte gleich mehrere Taschentücher, davor jedoch liegt ein aus einem Kalender herausgerissener Zettel.

Viele Grüße, Zane, steht quer über dem heutigen Wochentag. In der unteren Ecke sind Blümchen abgedruckt. Garantiert der Kalender seiner Freundin.

Ich starre einige Sekunden lang auf die zusammengeknüllten Taschentücher. Und auf den feuchten Fleck unter dem Blatt Papier. Dann befördere ich alles in den Müllbeutel und mache mich auf den Weg zurück zum Lagerraum, um einen nassen Lappen und eine Küchenrolle zu holen.

Hoffentlich taucht dieser grässliche Psychopath nie wieder auf.

Cayden

Mitternacht ist gerade vorüber, und eben noch schien völlig klar zu sein, wie die Stunden mit Victoria bis zum Morgengrauen ablaufen würden. Das hier ist nicht unser erstes Date und auch nicht unsere erste gemeinsame Nacht. Bis vor wenigen Augenblicken dachte ich, zwischen uns werde alles wie immer seinen Gang gehen. Ein Besuch in einer Bar. Sex. Eventuell ein gemeinsames Frühstück. Und danach – bis irgendwann mal wieder.

Den Barbesuch haben wir abgehakt, jetzt sind wir in Vics Schlafzimmer. Doch nach dem, was sie mir gerade bei ihrem spontanen Striptease ins Ohr geflüstert hat, kämpft der Teil in mir, der streng darauf achtet, nie falsche Hoffnungen aufkommen zu lassen, mit dem Teil, der versichert, man könne auch noch später darüber reden.

Der erste Teil gewinnt.

«Weißt du was – ich verzieh mich.»

«Was? Jetzt?» Victoria starrt mich entgeistert an, tastet dann nach der Bettdecke und zieht sie über ihre nackten Brüste. «Wieso das denn?»

Ohne zu antworten, angele ich nach meinem Shirt, das ich mir vor wenigen Minuten habe über den Kopf streifen lassen. So genau bin ich mir darüber selbst nicht im Klaren. Ich könnte es einfach auf das schieben, was Vic gesagt hat, doch es ist nicht nur das, es ist … keine Ahnung. Im Moment weiß ich nur, dass mir plötzlich nicht mehr nach Sex ist.

«Cay! Du kannst doch nicht … aber wieso?»

Ich schwinge die Beine über die Matratze. «Ich hab einfach doch keine Lust heute.»

«Was? Sag mal, spinnst du?»

In Victorias bestürzte Verwirrung mischt sich ein scharfer Unterton, und das ist mir ganz recht. Besser, sie ist wütend als verzweifelt – mit Wut kann ich umgehen. Sie an mir abprallen lassen.

«Sorry, Vic.»

«Deine Entschuldigung kannst du dir sonst wohin stecken! Du bist so ein … so ein … Cayden! Wenn du jetzt echt einfach abhaust, dann … was stimmt denn nicht?»

«Gar nichts. Es hat keinen besonderen Grund, ich hab’s mir einfach anders überlegt.»

«Du hast es dir einfach anders überlegt? Du hast es dir anders überlegt, nachdem du zugesehen hast, wie ich für dich strippe?»

«Ich hab ein bisschen zu viel getrunken, okay? Mach jetzt keinen Stress.»

Dass Victoria daraufhin ausflippt, ist beabsichtigt – es macht alles sehr viel einfacher.

«Du bist so ein verfluchter Arsch! Für wen hältst du dich eigentlich? Denkst du, du kannst bei mir anrufen, wann auch immer du gerade Bock hast, und wenn dir mittendrin einfällt, dass es dir leider doch nicht passt, verschwindest du wieder?»

Zumindest was das Anrufen betrifft, lief es bisher zwischen uns genau so ab, und das war für beide Seiten auch völlig in Ordnung.

«Du rufst doch auch nur an, wenn du gerade mal Lust hast», erinnere ich sie.

«Aber du kannst nicht immer!»

Auf diesen Vorwurf hin zucke ich nur mit den Schultern. Dass Victoria immer Zeit hat und ich nicht, ist jetzt wirklich nicht mein Problem.

«Du brauchst dich echt nicht mehr blickenzulassen, wenn du jetzt gehst, hörst du?»

Gerade bin ich damit fertig geworden, mir Hosen, Socken und Schuhe wieder anzuziehen, und greife nach meiner Jacke, die über dem Schreibtischstuhl hängt. Ziemlich chaotischer Schreibtisch. Das krasse Gegenteil von meinem.

«Cay, bitte!»

Victorias plötzlich wieder flehentlicher Ton führt dazu, dass ich umso entschlossener die Türklinke umfasse.

«Wir … wir müssen ja nicht zusammen … wir können auch reden.»

Scheiße, nein. «Vic, ich melde mich einfach, okay?»

Diese Antwort lässt glücklicherweise die Schärfe in ihre Stimme zurückkehren. «Du kannst mich mal. Vergiss es.»

Die Tür zu Vics Zimmer fällt hinter mir ins Schloss, und Sekunden später höre ich etwas dagegenkrachen.

Was für ein Auftritt.

Ich ignoriere den Aufzug und nehme die Treppen. Grünliches Licht erhellt notdürftig die glatten, hellen Steinstufen, der Empfangstresen im Eingangsbereich ist unbesetzt. Ein einsamer Getränkeautomat leuchtet neben dem Ausgang, die elektronischen Schiebetüren des Wohnheims sind bereits deaktiviert. Von außen benötigt man jetzt einen Schlüssel, von innen jedoch öffnen sie sich nach dem Betätigen eines Schalters, und Sekunden später laufe ich im Licht der Straßenlaternen zu meinem Wagen.

Nur kurz noch schweifen meine Gedanken dabei zu Victoria zurück, in erster Linie deshalb, weil sie gerade unbekleidet war. Doch das Bild ist nicht stark genug, um mich länger zu beschäftigen, und als ich den Motor anlasse, konzentriere ich mich endgültig auf den Weg nach Hause. Ich fühle mich seltsam leer.

Es ist kurz vor eins, bis ich den Wagen in der Garage geparkt habe und die breiten Stufen von der Einfahrt zur Haustür hinaufsteige. Das Haus, in dem ich mit Jackson zusammenwohne, gehört meinem Vater. Er kauft gern Immobilien wie diese, weil sich das erstens steuerlich günstig auswirkt und zweitens zuverlässig im Wert steigt, selbst wenn es vom abgefuckten Sohn bewohnt wird.

Habe ich gerade im Zusammenhang mit mir selbst das Wort abgefuckt verwendet? Nicht gut. Du bist, was du denkst.

Die Villa hat zwei Stockwerke und ist zur Straße hin im oberen Bereich vollverglast. Der untere Teil, in dem sich nur die Gästetoilette, der Trainingsraum und eine Art Abstellzimmer befinden, in das Jackson und ich alles reinwerfen, wofür wir gerade keine Verwendung haben, ist bis auf die vordere Wand in einen Hügel eingegraben. Wie eine verdammte Hobbithöhle. Aber dafür ist der eigentliche Wohnbereich umso heller und weitläufiger.

Ich streife die Schuhe ab und steige die Wendeltreppe am Ende des langen Flurs hinauf. Alles ist still. Nicht ganz selbstverständlich, wenn man bedenkt, dass Jackson heute Vormittag angekündigt hat, Haven, seine Freundin, übernachte bei ihm. In der riesigen Küche mache ich mir einen Wodka Lemon und lasse mich damit im Wohnzimmer aufs Sofa fallen. Bei Victoria habe ich mich noch müde gefühlt, jetzt allerdings bin ich wieder hellwach. Ich schalte den Fernseher ein und zappe mich durch die Streamingkanäle.

«Hey, schon wieder hier? Ich dachte, du bist heute bei Vic?» Jackson tritt aus dem Flur, von dem aus sein und auch mein Zimmer abgehen.

«Und ich dachte, du schläfst gerade mit Haven. Schon fertig?»

Er schüttelt nur den Kopf und geht in Richtung Küche. Als er wiederkommt, hat er sich eine Flasche Wasser unter den Arm geklemmt und trägt zwei Gläser in der Hand. «Ist alles in Ordnung?»

Überrascht blicke ich auf. Auf dem Bildschirm werden einem Typen gerade die Eingeweide von einem Zombie herausgefressen. «Klar. Und bei dir?»

«Hast du Vic abserviert?»

«Wie kommst du jetzt darauf?»

«Dass du mitten in der Nacht vor dem Fernseher klebst, obwohl du mit einer Frau verabredet warst, ist ein recht zuverlässiger Hinweis.»

«Es ist halb zwei.»

«Du magst Morgen-Quickies.»

«Ist es dir nicht peinlich, so etwas zu wissen? Wie gut kennen wir uns eigentlich?»

«Ach, egal. Viel Spaß noch.»

«Danke.»

Jackson hat bereits den Flur erreicht, da dreht er sich noch einmal um. «Untersteh dich, mich morgen früh zu wecken. Ich lasse das Training mal ausfallen.»

«Als ob du jeden Tag mitmachen würdest.»

«Das nicht, aber du nervst mich oft genug damit.»

«Weil mir deine Gesundheit am Herzen liegt.»

«Hämmer morgen früh einfach nicht an meine Zimmertür.»

«Botschaft verstanden. Dein Morgen-Quickie liegt mir natürlich auch am Herzen.»

Jackson murmelt noch irgendetwas, dann verschwindet er endgültig, und ich stelle fest, dass ich nicht mitbekommen habe, wen die Zombies jetzt zerfleischen. Gelangweilt zappe ich weiter.

Das Licht des Morgengrauens kriecht bereits durch die Fenster, als ich den Fernseher ausschalte, mir das Shirt über den Kopf zerre und gerade dabei bin, mich meiner Hosen zu entledigen, um noch eine Runde auf dem Sofa zu pennen, als mir einfällt, dass Haven später hier rumlaufen wird. Wegen mir kann mich halbnackt sehen, wer will, aber ich schätze, anschließend müsste ich mit Jackson darüber diskutieren.

Der Umzug in mein Bett vertreibt allerdings leider die wattige Schläfrigkeit, die sich endlich in mir auszubreiten begonnen hatte. Die Vorhänge sind zu dünn, um den Raum zu verdunkeln, und es dauert nicht lang, da tanzen Sonnenflecken darauf. Meine erste Vorlesung findet erst um Viertel nach zwölf statt, doch bis dahin wollte ich wenigstens noch drei, vier Stunden Schlaf abgekriegt haben. Stattdessen liege ich jetzt da und starre an die Decke.

Jackson findet mein Zimmer spartanisch, ich nenne es minimalistisch. Bilder, Kissen, Grünzeug – brauche ich alles nicht. Mir ist es lieber, die Welt um mich herum ist möglichst … leer. Aufgeräumt. Macht es auch der Haushälterin leichter, zweimal in der Woche hier durchzuputzen, während Jackson darauf besteht, sein Zimmer vorher aufzuräumen. Soll er. Mir wäre das zu langweilig. Nicht dass es vieles geben würde, was ich stattdessen interessant fände. Sex gehört normalerweise dazu – besser kann man sich kaum ablenken. Nur wird Sex mit ständig derselben Frau auch irgendwann langweilig. Gibt leider nicht viele Frauen, die das verstehen.

«Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der sich sogar durch reine Bettbeziehungen eingeengt fühlt», hat Jackson mal gesagt. «Nimm’s mir nicht übel, aber ich wünsche dir wirklich, du würdest mal auf der anderen Seite stehen.»

Das war, nachdem sich Allison, eine Freundin von Haven, bei Haven ausgeheult und Haven mich daraufhin zur Rede gestellt hat. Hätte ich gewusst, dass Ally mit ihr befreundet ist, hätte ich die Finger von ihr gelassen, so viel ist sicher. Nicht weil ich Havens Vorwürfe nicht ertragen könnte, sondern einfach weil es vermeidbarer Stress ist. Es gibt andere Frauen, und ich bin froh um jede, die an die ganze Sache herangeht wie ich: Man hat Spaß, solange es eben andauert, und wenn einer keine Lust mehr hat, ist es auch okay. Ich würde nie auf die Idee kommen, mich an eine Frau zu klammern, sobald sie mit der Geschichte durch ist. Im Gegenteil – es wäre mal ganz angenehm, ausnahmsweise mal nicht derjenige zu sein, der sich alles Mögliche anhören muss, nur weil man die Reißleine zieht. Weil man zum Beispiel bemerkt hat, dass es für den anderen ernster wird als für einen selbst.

So wie vorhin bei Victoria. «Das gehört alles dir», hat sie gesagt, während sie lasziv ihre Hüften vor mir kreisen ließ und nach meinen Händen griff, um sie auf ihre Brüste zu legen. «Und nur dir.»

Es sollte wohl locker klingen, aber ich hab’s in ihren Augen gesehen. Besser jetzt und so als in einigen Wochen unter Tränen.

Ich wünschte, ich könnte schlafen. Es ist so mühsam, nicht schlafen zu können und es trotzdem ständig zu versuchen. Wie lange kann man eigentlich ohne Schlaf auskommen?

Vielleicht bin ich ja selbst schon seit Ewigkeiten ein gottverdammter Zombie und weiß es nur nicht?

2.

Rae

Ich habe mit Haven verabredet, sie bei Jackson abzuholen. Das Haus, in dem er zusammen mit einem Typen namens Cayden wohnt, hat mich bei meinem ersten Besuch vor einigen Monaten ziemlich umgehauen. Es ist eine elitäre, moderne Luxusvilla, und ich konnte schier nicht fassen, dass dort allen Ernstes nur zwei Studenten wohnen. Ich mag Jackson, aber Cayden Terrell ist ein arroganter Arsch, der das Glück hat, so beeindruckend gut auszusehen, dass die meisten Menschen ihm trotzdem hinterherrennen. Und das sage ich, obwohl ich eher auf dunkelhaarige Typen stehe und Cayden mit seinem silberblonden Haar nicht mal in mein Beuteschema passt. Trotzdem hat er eine faszinierende Perfektion an sich, die ich gleichermaßen anziehend wie unangenehm finde. Ich mag es nicht, wenn alles nur unnahbare Fassade ist. Einer der vielen Gründe, aus denen ich Haven liebe: Sie verstellt sich nicht. Haven ist vermutlich der ehrlichste Mensch, den ich kenne.

Auf einer Party hat Cayden mal einen blöden Spruch über das Sexleben von Haven und Jackson gemacht, und während alle lachten und Jackson genervt die Augen verdrehte, hat Haven gefragt, warum dieses Thema für Cayden so wichtig sei. Ganz ernsthaft, wie es eben ihre Art ist – sie möchte die Dinge immer verstehen.

Cayden hat sie daraufhin angegrinst und gemeint, er betreibe gelegentlich Feldforschung in dieser Hinsicht, als Ausgleich für sein anspruchsvolles Jurastudium.

Haven schien sich nicht sicher zu sein, wie ernst sie Caydens Antwort nehmen sollte, weshalb ich mich eingemischt habe, um ihr beizustehen. «Dann erzähl uns doch ein bisschen was über deine persönlichen Erfahrungen – oder hast du nicht so viele und musst deshalb über andere reden?»

Cayden hat mich gemustert, fast so, als würde er mich erstmalig überhaupt wahrnehmen, und dann hat er sich ein Stück weit vorgebeugt. Noch immer sehe ich sein scharfgeschnittenes Gesicht vor mir, die glatte Haut und das helle Haar, das ihm dabei bis fast in die Augen fiel, bevor er es mit einer Hand nachlässig zurückstrich. «Möchtest du gern Teil meiner Feldforschung werden?»

Es passiert mir nicht oft, aber in diesem Fall sorgte die Kombination aus dem Gelächter der anderen und Caydens unverwandtem Blick dafür, dass meine Antwort zwei Sekunden zu lang auf sich warten ließ. «Danke, aber da bleibe ich doch lieber bei der Theorie.»

Er lächelte spöttisch. «Ja, ist auch sicherer.»

Seitdem weiß ich nicht nur, dass man sich bei Gesprächen mit Cayden Terrell in Acht nehmen muss, sondern obendrein, dass er ein Idiot ist.

Entsprechend knapp fällt meine Begrüßung aus, als er mir auf mein Klingeln hin die Tür öffnet.

«Hi», sagt er und tritt zur Seite, um mich hereinzulassen, wartet jedoch nicht, bis ich die Tür wieder geschlossen habe. Vor mir her geht er durch die Diele, sein graues Shirt hat entlang seiner Wirbelsäule verschwitzte, dunkle Flecken. «Haven ist oben.»

Es gelingt mir nicht, meine Neugier so weit zu zügeln, dass ich nicht kurz in den Raum sehen würde, in dem er verschwindet.

Ein eigenes Fitnessstudio. Wahnsinn.

Cayden hängt sich an eine Klimmstange und zieht sich langsam hoch. Ich kann die Muskeln seiner Oberarme erkennen. So genau habe ich mir Caydens Arme noch nie angesehen, aber ganz eindeutig ist das nicht der erste Klimmzug seines Lebens.

«Was ist?» Auf halber Höhe hält er inne und wirkt dadurch seltsam schwerelos. «Willst du mitmachen?»

Vielleicht wäre er überrascht, wüsste er, dass ich bei seinen Klimmzügen problemlos mithalten könnte. Allerdings sehe ich keinen Grund, ihm das auf die Nase zu binden.

«Danke, nein, ich will dich nicht frustrieren», erwidere ich und steuere endlich die Wendeltreppe an. Hinter mir kann ich Cayden doch tatsächlich lachen hören, aber davon werde ich mich jetzt nicht provozieren lassen.

Haven und ich wollen gleich zu einer Probeyogastunde. Unsere Lehrerin soll nicht nur zertifizierte Asana-Flow-Trainerin sein, sondern auch noch spirituelle Lebensberaterin, Atemtherapeutin und obendrein ausgebildet in intuitiver Massage. Ich bin ziemlich gespannt und nur ein kleines bisschen skeptisch. Bisher haben mir meine Yoga-YouTube-Videos völlig ausgereicht, aber warum nicht mal etwas Neues ausprobieren?

«Hi, ich hab die Klingel gehört.» Meine Freundin kommt mir durch das geräumige Wohnzimmer hindurch bereits entgegen und schlüpft dabei in ihren zweiten Jackenärmel. «Wir können direkt los.»

Jackson ist ihr ein paar Schritte hinterhergegangen. Seine dunklen Haare stehen nach allen Seiten ab, und er trägt nur ein graues Shirt über einer schwarzen Jogginghose. Grüßend hebt er die Hand. «Viel Spaß. Habt ihr danach noch was vor?»

«Keine Ahnung. Hast du später überhaupt noch Zeit, Rae?», will Haven wissen.

«Klar. Wir könnten ins Strawberry Kiss gehen.» Ich kenne dieses Café durch Haven, jetzt im Mai ist endlich die Eissaison wieder eröffnet, und außerdem gibt es da den besten Zimt-Caramel-Macchiato, den ich je getrunken habe.

«Gute Idee!» Sie wirft Jackson eine Kusshand zu, bevor sie nach dem Geländer der Wendeltreppe greift. «Wir sehen uns morgen.»

Diesmal achte ich darauf, nicht in den Trainingsraum hineinzublicken, und nur Haven steckt den Kopf durch die noch immer geöffnete Tür. «Bis dann, Cayden!»

Warum sie gleichbleibend freundlich zu ihm ist, kann ich nicht nachvollziehen. Ich meine – dieser Typ kann wirklich nur zynisch, spöttisch oder gleichgültig.

Von hier aus sind es keine zwanzig Minuten zu Fuß bis zum Yogastudio, und Haven nutzt die Gelegenheit, mir zu erzählen, wie froh sie darüber ist, die meisten Semesterarbeiten hinter sich zu haben, und dass sie sich wie verrückt auf den USA-Trip freut, den sie seit Wochen mit Jackson plant. Den ganzen April – und schon Wochen vorher – hat sie sich Sorgen gemacht, sie könne irgendwo durchfallen, dabei müsste sie mittlerweile wissen, dass ihre Erwartungen an sich selbst weit höher sind als das, was in ihrem Studium von ihr verlangt wird. Sämtliche Prüfungen und Hausarbeiten im vorhergehenden Semester hat sie mit super Bewertungen bestanden, und das wird diesmal bestimmt nicht anders sein.

«Wie geht’s Jackson?», will ich wissen. «Ist er auch so erleichtert wie du?»

«Total. Aber vor allem ist er noch immer glücklich darüber, dass er das Studienfach gewechselt hat.»

«Hat er zwischenzeitlich mal was von seinen Eltern gehört?»

«Nein.» Havens Stimmung dämpft sich schlagartig. «Ich verstehe das nicht – es sollte ihnen doch wichtig sein, wie es ihm geht, oder? Und nicht nur, was er studiert.»

«Was sagt Jackson denn dazu?»

«Er meint, sie würden sich schon irgendwann wieder einkriegen. Ich glaube allerdings nicht, dass es ihm völlig egal ist.»

«Es ist gut, dass Jackson das trotzdem durchzieht.»

«Ja, ist es. Aber es ist auch hart.»

Havens Beziehung zu ihrem Vater ist sehr eng, und ich kann mich daran erinnern, wie groß ihre Angst war, er könne verletzt sein, als sie ihm sagte, dass sie ihr Studium der Umweltwissenschaften in Edmonton beenden werde, statt wie geplant nach einem Gastsemester zurück nach Jasper zu gehen. Zum Glück ist Havens Dad ganz anders als die Eltern ihres Freundes.

«Da vorn ist es.» Haven weist schräg über die Straße auf ein orangefarbenes Gebäude mit riesigen Fenstern. Hoffentlich sitzen wir da nicht ausgestellt wie in einem Zoo.

Doch zu meiner Erleichterung ist von außen durch die Scheiben nichts zu erkennen, sie spiegeln lediglich mein Gesicht wider.

Der Eingangsbereich ist klar und hell. Hinter einem geschwungenen Tresen bietet eine riesige Schautafel einen Überblick zu den Kursen – es gibt unglaublich viele, und nur wenige haben Namen, die mir etwas sagen. Acro Yoga. Mental Yin Yoga. Die acht Stufen des spirituellen Raja Yoga. Was soll das bitte sein?

Haven marschiert zum Empfangstresen. Die Frau, die dort sitzt, blickt ihr mit einem wohlwollenden Lächeln entgegen. «Hi, kann ich euch helfen?»

«Hallo. Wir haben uns für eine Probestunde bei dem Anfängerkurs von Amjana Lobanov angemeldet», sagt Haven. «Wo müssen wir denn da hin?»

«Einfach durch die Glastür links, dann noch mal links und bis zur Treppe. Der Kurs findet im Obergeschoss statt, es ist gleich der erste Raum auf der rechten Seite, die Umkleidekabine befindet sich direkt daneben.»

«Vielen Dank.»

Ein leichtes Nicken ist die Antwort, und unwillkürlich senken auch Haven und ich kurz den Kopf.

Die Kursleiterin Amjana Lobanov ist eine kleine, irgendwie zäh aussehende Frau mit einem im Nacken streng zurückgebundenen Zopf, wodurch der dunkle Ansatz ihres blondierten Haars hervorgehoben wird. Im ersten Moment erinnert sie mich an eine alternde Ballettlehrerin, wie sie so aufrecht und mit durchgestrecktem Rücken vor den wenigen Frauen steht, die bereits ihre Yogamatten in dem hohen, hellen Raum auf dem Parkett ausgerollt haben.

«Hallo.» Mit ausgestrecktem Arm tritt Haven auf die Yogalehrerin zu. «Ich bin Haven. Ich hatte angerufen.»

«Ah, ihr seid heute für eine Probestunde hier.» Mrs. Lobanov umschließt Havens Finger mit beiden Händen. «Hallo. Ihr habt schon Vorerfahrungen, hast du gesagt, oder?»

Bei dieser Frage blickt sie zu mir, und automatisch erwidere ich: «Na ja, also, wir haben uns bisher einiges auf YouTube angesehen.»

Mrs. Lobanov nickt, und obwohl sich an ihrem Lächeln nichts verändert, scheint sie mir doch ein wenig amüsiert. «Das schadet vermutlich nicht», sagt sie. «Es gibt sehr gute Anleitungen im Internet. Aber es schadet auch nicht, in der Praxis zu überprüfen, ob sich Haltungsfehler eingeschlichen haben. Sucht euch einfach einen Platz, von dem aus ihr mich gut sehen könnt – ich komme zu euch, wenn ich euch helfen kann.»

Sie wendet sich einer Frau zu, die strahlend auf sie zueilt, und während die beiden sich umarmen, rollen Haven und ich unsere Matten nebeneinander in der Nähe der bodentiefen Fenster aus. Irgendwie glaube ich nicht, dass das hier das Richtige für mich ist. Eine leise Sehnsucht nach meinen YouTube-Videos steigt in mir auf, zu Hause, wo ich ungestört bin und um mich herum keine Menschen leise miteinander reden oder seltsame Dehnübungen machen.

«Ich bin wirklich gespannt, du auch?» Haven hat sich im Schneidersitz neben mir zurechtgesetzt und lächelt mir zu.

Ich nicke nur. Haven ist wirklich der einzige Mensch auf der Welt, der mich immer wieder dazu bringt, meine üblichen Routinen zu verlassen, und das war von Anfang an so. Nach dem Umzug nach Edmonton habe ich den Kontakt zu all meinen bisherigen Freunden abbrechen lassen, und die Einsamkeit, die sich daraus ergab, hat sich nicht einmal verkehrt angefühlt. Doch ein Blick in ihr offenes Gesicht und den – bei unserer ersten Begegnung – sehr verletzten Ausdruck darin hat mich tatsächlich dazu gebracht, sie anzusprechen. Ich glaube, einfach so eine andere Frau angesprochen habe ich noch nie. Jedenfalls nicht mehr, seit ich ein kleines Mädchen war, und auch damals nur sehr selten. Ich hatte ja immer eine beste Freundin, und wir waren uns meistens genug.

«Ihr Lieben.» Die Tür ist mittlerweile geschlossen, und Mrs. Lobanov hat sich der Gruppe zugewandt. Ihre Tonlage hat sich verändert – bei unserem Gespräch vor wenigen Minuten war ihre Stimmfarbe wesentlich höher. Jetzt ist sie tiefer, und sie spricht auch langsamer. «Ich freue mich sehr, euch alle heute hier zu sehen. Lasst uns beginnen.» Sie schüttelt kurz Arme und Beine aus und schließt die Augen. «Erde deine Füße.»

Jede der Frauen, die bisher auf ihren Matten saßen, erhebt sich, und wir alle kopieren Mrs. Lobanovs Haltung. Barfuß, die Füße ein Stück weit voneinander entfernt, stehe ich da, atme tief durch und schließe die Augen.

«Atme ein … heb deine Hände über den Kopf, die Handinnenflächen berühren sich …»

Je länger ich mich von ihrer Stimme durch die Stunde führen lasse, desto leichter gelingt es mir, mich darauf einzulassen. Schon nach kurzer Zeit vergesse ich beinahe, dass ich nicht alleine bin, und ich bemühe mich sehr, ihren Anweisungen zu folgen, in der Hoffnung, mich dadurch vielleicht noch ein wenig gelöster als in der vorhergehenden Minute zu fühlen.

«Setz dich aufrecht hin, beug dein linkes Knie …»

Zweimal war Mrs. Lobanov bereits bei mir und hat meine Haltung korrigiert, doch im Moment fühlt sich alles, was ich tue, absolut richtig an.

«Atme in deine Dehnung hinein. Als würdest du die Stellen, die sich vielleicht eng anfühlen, wie einen Ballon aufblasen und mit der Ausatmung übermäßige Spannung daraus befreien. Atme. Atme weiter. Atme tief in den Bauch.»

Leah würde das hier gefallen.

Dieser Gedanke trifft mich mit einer solch entsetzlichen Wucht, dass ich unwillkürlich die Luft anhalte. Eben noch fühlte sich die Körperhaltung, in der ich mich gerade befinde, sicher und stabil an, doch jetzt drohe ich die Balance zu verlieren.

Normalerweise überkommen mich die Erinnerungen nicht so überraschend. Meistens sind sie immerwährend da, wie ein Ton, an den man sich gewöhnt hat, das Rauschen des Windes, fließendes Wasser. Jetzt allerdings ist es mir wirklich und wahrhaftig gelungen, mich eine kurze Weile nur auf mich und meinen Körper zu konzentrieren – umso heftiger wirft mich Leahs Auftauchen wieder zurück in meine ganz persönliche Hölle.

Ich senke die Stirn, bis ich den Mattenboden berühre, presse beide Handflächen gegen den Widerstand des Bodens.

Leah hätte es hier gefallen.

Abrupt richte ich mich auf, rolle hektisch meine Matte zusammen und bin schon auf dem Weg zur Tür, bevor ich Havens überraschten Ausruf höre. «Rae! Was … wo gehst du denn hin?»

Ich kann ihr nicht antworten, nicht in diesem Moment.

In der Umkleidekabine sitze ich auf der Holzbank, damit beschäftigt, mir die Socken wieder anzuziehen, als Haven im Türrahmen erscheint.

«Rae? Was ist denn los?»

Eigentlich will ich nur abweisend den Kopf schütteln, so wie ich es in den letzten Jahren immer getan habe, wenn ich versehentlich jemanden zu tief in mein Innerstes habe blicken lassen, doch das hier ist Haven, und bei Haven funktioniert es nicht.

«Rae …» Sie durchquert den kleinen Raum und setzt sich neben mich. Ich bin dankbar dafür, dass sie keinen Versuch unternimmt, mich zu umarmen. In solchen Momenten haben mich immer alle umarmt, und keiner kam auf die Idee, dass ich das nie wollte, weil der einzige Mensch, dessen Umarmung ich so dringend gebraucht hätte, nicht mehr da war.

Ich schlüpfe in meine Stiefel. «Ich musste gerade an jemanden denken.»

«Es scheint keine sehr schöne Erinnerung gewesen zu sein.»

«Nein», erwidere ich, und es hört sich an wie ein Seufzen. «Nein, war es nicht.»

Leahs blutleeres Gesicht. Ihre geschlossenen Augen. Die furchtbare, furchtbare Wunde an ihrem Hals.

«Ist es okay für dich, wenn ich mit dir komme?»

Ich blicke auf. Haven hat sich ebenfalls ihre Sachen wieder angezogen. Mehrere Minuten scheinen vergangen zu sein – das passiert mir oft, wenn ich an Leah denke.

Mit ihrer zusammengerollten Matte auf den Knien sitzt Haven neben mir und sieht mich prüfend an.

«Kann ich mich einfach nachher bei dir melden?», frage ich. Es geht nicht, ich will nicht darüber reden, nie wieder. Nicht einmal mit Haven. «Mir ist heute doch nicht mehr nach einem Eis.»

«Natürlich.» Mit den Fingerspitzen streicht sie sacht über mein Knie, nur ganz kurz, kaum spürbar. «Wann immer du dich danach fühlst. Ich bin da.»

Cayden

«Was meinst du damit, du hast nicht vor, heute in die Kanzlei zu gehen?»

Jackson steht im Eingang zur Küche, und genau dort steht er mir im Weg, weil er keine Anstalten macht, ein Stück zur Seite zu treten.

«Was genau ist daran denn nicht zu verstehen?», erwidere ich.

«Es ist Montag. Du musst da nur für einen einzigen Nachmittag in der Woche hin. Findest du nicht, dass du es langsam übertreibst?»

Ich dränge ihn mit der Schulter zur Seite und steuere mit meinem Drink in der Hand das Sofa an. «Wieso fühle ich mich auf einmal, als würde ich mit meiner Mutter zusammenwohnen?»

«Cayden. Das ist doch nicht dein Ernst. Es ist nicht einmal Mittag. Soll ich dich gleich bei den anonymen Alkoholikern anmelden, oder warten wir damit, bis ich dich in deiner eigenen Kotze liegend finde?»

«Tu, was auch immer du nicht lassen kannst, Mum.» Ich stelle den Wodka Lemon auf dem Tisch ab und lasse mich auf die Polster fallen. Einen Arm in den Nacken gelegt, greife ich mit der freien Hand nach der Fernbedienung.

«Sieh dich doch mal an. Du driftest, Cay. Du besuchst vielleicht gerade mal die Hälfte deiner Vorlesungen, du datest immer mehr Frauen in immer kürzeren Abständen, du hast dir am frühen Vormittag einen Scheißdrink gemacht, und jetzt hast du nicht mal vor, heute zu Thompson & White zu gehen – das Einzige, was dir wirklich noch etwas zu bedeuten scheint, ist dein Training.»

«Ich achte eben auf meine Gesundheit.» Bei irgendetwas, das nach einer Verfolgungsjagd aussieht, unterbreche ich meine Zapperei und taste nach dem Glas. «Musst du nicht zur Uni?»

«Thompson & White kicken dich einfach wieder.»

«Na und?»

«Wie kann man nur so egoistisch sein?»

Überrascht sehe ich Jackson an.

«Du hast die Möglichkeit, bei einer so renommierten Kanzlei wie T & W Erfahrungen zu sammeln, obwohl du gerade mal so die Mindestvoraussetzungen dafür erfüllst – was denkst du wohl, wie viele gern an deiner Stelle wären? Deinetwegen bekommt jetzt niemand anderes die Gelegenheit.»

«Du meinst, es würde weltweit für Entsetzen sorgen, wenn bekannt werden würde, dass ich den Tag heute lieber hier vor dem Fernseher verbringe, statt für drei Stunden in die Kanzlei zu gehen?»

«Ich meine, dass du mal klarkriegen solltest, ob dieses Studium überhaupt dein Ding ist.»

«Okay, ich denke darüber nach.»

«Cayden.»

«Was denn noch? Geh mir nicht auf die Nerven, Jax.»

Jackson verdreht die Augen. «Ach verdammt … mach doch, was du willst.»

«Kein Problem.»

Während Jackson über die Wendeltreppe nach unten verschwindet, setze ich mich bequemer zurecht. Ob dieses Studium überhaupt mein Ding ist – eins ist so gut wie das andere, wieso also nicht Anwalt werden? Seit Jackson Jura aufgegeben hat, um sich stattdessen auf seine zukünftige Laufbahn als Lehrer vorzubereiten, ist er auf einem Weltverbesserungstrip und versucht ständig herauszufinden, was ich eigentlich will. Mittlerweile tut es mir beinahe leid, dass es da bei mir nicht viel zu entdecken gibt. Ich träume nicht heimlich davon, Astronaut zu werden oder Tierarzt oder Feuerwehrmann. Anwalt ist okay. Die Bezahlung ist in Ordnung, soweit das überhaupt eine Rolle spielt, und es ist ein Job, in den ich ganz gut reinpasse, denke ich. Besser jedenfalls als vieles anderes, das Jackson bisher so vorgeschlagen hat. Das nächste Mal werde ich ihm sagen, ich gedenke, Glückskeksautor zu werden. Vielleicht gibt er dann eine Weile Ruhe.

Was die Drinks betrifft – ich stelle das Glas auf den Tisch zurück –, solange meine Hände nicht zittern, während ich mir den nächsten mixe, sehe ich kein Problem darin.

Eine halbe Stunde später stehe ich in der Küche und versuche, mich zwischen Schokolade und Chips zu entscheiden, als es an der Haustür klingelt. Das Gerät für die Funkvideo-Sprechanlage liegt auf der Fensterbank, und einen Klick später weiß ich, dass draußen Havens Freundin steht, wie auch immer sie noch hieß. Es ist die, die mich nicht mag. Könnte amüsant werden.

Statt sie über die Sprechanlage zu fragen, was sie will, gehe ich zur Treppe, und Sekunden später öffne ich schwungvoll die Haustür. Im selben Moment, in dem sie mich erkennt, verschränkt sie ablehnend die Arme vor der Brust.

«Hi. Ich will nur Haven abholen.»

Zuvorkommend trete ich zur Seite, und ohne mich auch nur noch ein einziges Mal anzusehen, geht sie an mir vorbei zur Wendeltreppe. Statt ihr zu folgen, steuere ich das Trainingszimmer an. Sie wird ohnehin gleich wieder hier unten auftauchen.

«Haven?», höre ich ihre gedämpfte Stimme. «Hallo?»

Ich setze mich ans Ende der Hantelbank und klemme die Füße hinter die gepolsterten Beinhalterungen. Nach dem Duschen heute Morgen habe ich mir ein T-Shirt und eine Sporthose angezogen, optimale Klamotten für eine kleine Runde Bauchmuskeltraining.

«Haven?»

Die Stimme klingt jetzt leiser, vermutlich hat Havens Freundin sich gerade in Jacksons leeres Zimmer gewagt. Kurz darauf höre ich ihre Schritte wieder die Stufen hinuntereilen, und im nächsten Moment erscheint sie im Türrahmen.

«Wo ist sie denn?»

«Keine Ahnung.» Ich spanne die Muskeln an und lehne mich auf der Bank zurück, ohne den Blickkontakt abreißen zu lassen.

«Aber wieso …» Sie hält inne. «Hat Haven letzte Nacht nicht bei Jackson übernachtet?»

«Nicht dass ich wüsste.»

«Das ist …» Ihr scheint etwas einzufallen, und sie verstummt. «Wieso lässt du mich dann nach ihr suchen?»

Ein weiteres Mal lehne ich mich zurück, halte die Spannung, dann richte ich mich auf. «Ich hätte es dir ja gesagt, aber du bist einfach zu schnell an mir vorbeigerannt.»

Sie scheint zu überlegen, wie ernst sie diese Antwort nehmen sollte, und ich achte sorgfältig darauf, meinen neutralen Gesichtsausdruck beizubehalten.

«Okay», sagt sie schließlich, «ich wollte dich nicht stören, sorry.»

«Hast du nicht.» Versuchsweise teste ich ein Lächeln, das unerwidert bleibt. Die Frau ist ein Eisklotz. «Soll ich Haven was ausrichten, falls sie später zusammen mit Jax hierherkommt?»

«Nein, musst du nicht, ich schreibe ihr eine Nachricht. Ich habe da etwas vergessen, fürchte ich.»

«In Ordnung.» Ich stehe auf und gehe ein paar Schritte in ihre Richtung, bis ich so nahe vor ihr stehe, dass ich ihre Augenfarbe erkennen kann. Ein helles Grüngrau. Sie ist alles in allem ziemlich durchschnittlich, abgesehen von ihrem seit einigen Wochen dunkelblauen Haar. Billige Klamotten, aber darin unterscheidet sie sich nicht von den meisten Menschen, die ich kenne. Einzig ihre Augen … wenn sie mich ansieht, meine ich etwas darin zu erkennen, das mir bekannt vorkommt. Was ist es? Langeweile? Wut?

«Also, ich geh dann mal wieder.»

«Klar.» Jede Mühe wäre hier verschenkt, es ist nicht zu übersehen, dass sie nur darauf wartet, zu irgendeinem Vorschlag, der von mir kommt, nein sagen zu können. Das ist überhaupt der einzige Grund, aus dem sie noch immer im Türrahmen steht. Ich grinse sie an, und sie wappnet sich.

«Links von dir», sage ich.

«Was?» Verwirrt sieht sie zu mir auf.

«Die Haustür. Sie befindet sich links von dir.»

Auf ihren Wangen erscheint ein Anflug von Rosa. Ohne noch etwas zu erwidern, dreht sie sich um. Sekunden später wird die Tür nachdrücklich ins Schloss geworfen.

Rae. Sie heißt Rae.

Von oben ist das Summen meines Telefons zu hören. Wenn das mal nicht Thompson & White sind.

Im Trainingsraum schalte ich die Anlage ein, und in der nächsten Sekunde dröhnen Rage Against The Machine durch den Raum, so laut, als stünde Zack de la Rocha direkt neben mir.

Ich gehe zurück zu meiner Bank und klemme wieder die Füße hinter die Halterungen. Noch ein bisschen Training. Vielleicht auch ein bisschen mehr. Eben genug, um danach ein paar Stunden schlafen zu können.

3.

Rae

Verflixter Cayden.

Links von dir.

Er hat mich angegrinst, und ich war mir vollkommen sicher, dass gleich irgendetwas in Richtung Hast du Lust auf einen Kaffee? kommen würde. In Caydens Fall vermutlich eher: Wollen wir zusammen duschen? Und ich hätte sehr höflich nein gesagt.

Und dann – links von dir.

Als würde es nicht schon reichen, völlig vergessen zu haben, dass Haven gestern nicht bei Jackson übernachtet hat, weil sie mit ihrer Cousine Lucy für eine Chemieprüfung lernen wollte.

Immer noch genervt – mittlerweile allerdings mehr von mir selbst – steuere ich meinen Wagen durch Edmontons Univiertel. Haven und ich frühstücken montags meistens gemeinsam. Danach hat sie ihren ersten Kurs, und ich erledige den Wocheneinkauf für meine Mutter. Wenn ich mich beeile, schaffen wir es heute trotz meiner Vergesslichkeit noch.

Cayden stand gerade so dicht vor mir, dass ich Spuren des Duschgels an ihm riechen konnte, das er heute Morgen verwendet hat. Das und noch etwas anderes, Ungewöhnlicheres. Eine Weile grübele ich darüber nach. Irgendetwas, das er zum Frühstück gegessen oder getrunken hat? Pfefferminztee? Irgendwas mit Limone? Nein, das war es nicht, aber ich komm nicht drauf. Vermutlich war es irgendein schweineteures, exklusives Männerparfum.

Er hat sehr dunkle Augen und – noch erstaunlicher, wenn man seine Haarfarbe bedenkt – auch eher dunkle Augenbrauen. Ein seltsamer Gegensatz. Rein optisch ist er das komplette Gegenteil von mir: blondes Haar, schwarzes Haar, dunkle Augen, helle Augen, er eher groß, ich eher klein.

Und vermutlich ähneln wir uns auch darüber hinaus nicht allzu sehr. Ich würde jetzt zwar nicht von mir behaupten, die Herzlichkeit in Person zu sein, aber im Gegensatz zu ihm nehme ich Dinge ernst – und jetzt habe ich endgültig genug über einen Typen wie Cayden nachgedacht.

Ich biege in die Straße ein, in der Haven zusammen mit ihrer Tante – sie heißt Caroline – und deren Kindern Lucy und Sam lebt, und parke den Wagen direkt vor dem Haus. Es ist ein freundliches Anwesen, dunkelrot, mit weißen Fensterrahmen und zwei spitzen Giebeldächern. Ein riesiger Ahorn streckt seine Zweige bis fast über das Dach, zwischen den leuchtend hellgrünen Blättern blühen noch immer gelbgrüne Blütentrauben.

Caroline öffnet mir die Tür. Sie ist nicht viel größer als ich, ihr kastanienbraunes Haar fällt ihr bis knapp über die Schultern. Bei einem meiner letzten Besuche hat sie erzählt, dass sie es wachsen lassen will, doch die aktuelle Länge mache sie wahnsinnig.