Frei erziehen - Halt geben -  - E-Book

Frei erziehen - Halt geben E-Book

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Beschreibung

Christlich erziehen - aber wie? Die christliche Familie lebt und es geht ihr ziemlich gut. Aber gleichzeitig stehen Eltern auch vielen Fragen und einigen Unsicherheiten gegenüber. Was sind angemessene Ziele christlicher Erziehung? Welche Rituale sind sinnvoll? Wie werbe ich für meinen Glauben? Wie gehe ich mit dem Thema Sexualität um und welche Rolle spielt die Gemeinde? Praktisch, alltagsnah und fundiert gehen Expertinnen und Experten wie Katharina Brudereck, Sonja Brocksieper oder Thorsten Dietz auf Dauerbrenner im Erziehungsalltag christlicher Familien ein. Entstanden ist ein unverzichtbarer Begleiter für alle Eltern, die ihre Kinder liebevoll zum Glauben einladen wollen.

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TOBIAS KÜNKLER / TOBIAS FAIX / DAMARIS MÜLLER(HRSG.)

FREI ERZIEHEN –HALT GEBEN

CHRISTLICHE ERZIEHUNG FÜR UNPERFEKTE ELTERN

SCM R.Brockhaus ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-417-22892-2 (E-Book)

ISBN 978-3-417-26828-7 (lieferbare Buchausgabe)

© 2017 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten

Internet: www.scm-brockhaus.de; E-Mail: [email protected]

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:

Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

Gesamtgestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch

Titelbild: shutterstock.com

INHALT

Über die Autoren

Einleitung

Kapitel 1Warum wir Familie feiern und wieso sie es verdient hat!

Düstere oder rosige Aussichten?

Entwicklungslinien in Gesellschaft und Familie

Familie 4.0 – warum wir heute Grund zur Dankbarkeit haben

Familie kann Veränderungen in der Gesellschaft ausgleichen

Lob der Familie konkret: 6 Familieninterviews

Kapitel 2Grundlagen der christlichen Erziehung

Christliche Erziehung und ihre Ziele

Altersgemäß erziehen

Menschenbild und Gottesbild

Erziehung als Beziehung – zu sich und zum Kind

Chancen und Herausforderungen durch unterschiedliche Persönlichkeitstypen im Erziehungsalltag

Kapitel 3Von Freiheit und Halt(ung)

»Böse von Jugend auf?« – Die Bedeutung des biblischen Menschenbildes im Blick auf Kinder | Thorsten Dietz

Grenzen der Glaubenserziehung – Warum Eltern ihre Kinder nicht erlösen können | Alexander Kupsch

Und die anderen Religionen? Bei der Glaubenserziehung den Blick über den eigenen Tellerrand wagen | Matti Schindehütte

Kapitel 4Konkrete Gestaltung der Glaubenserziehung

Rituale und Gebet | Christiane Schurian-Bremecker

Keine vorschnellen Antworten – Wenn Kinder Fragen über Gott und den Glauben stellen | Bettina Wendland

Bibellesen mit Kindern in der Familie | Detlef Kühlein

Kapitel 5Konstruktiver Umgang mit Spannungsfeldern

Sichere Kinder durch verlässliche Grenzen | Sonja Brocksieper

Lob und Strafe – sinnvolle Erziehungsmittel? | Rachel Suhre

»Wer seine Rute schont, hasst seinen Sohn«? – Warum christliche Eltern heute mit gutem Gewissen auf Gewalt in der Erziehung verzichten | Thorsten Dietz

Mitspracherecht in der Familie | Sonja Brocksieper

Kapitel 6Erziehungsthemen, die alle Eltern betreffen

Die politische Dimension des Glaubens in der Erziehung | Lilija und Gerhard Wiebe

»Mutter, halte dich da raus!« – Konflikte zu Erziehungsfragen zwischen Eltern- und Großelterngeneration verstehen | Damaris Müller

Die christliche Erziehung und der Umgang mit digitalen Medien | Jan-Martin Klinge

Mehr als »Bienchen und Blumen« – Von der Verantwortung sexualpädagogischer Erziehung in der Gemeinde | Damaris Müller/Tobias Künkler

Kapitel 7Die Rolle von Gemeinde und Gemeinschaft in der Glaubenserziehung

Stress am Sonntag! Wie »kompatibel« sind Familie und Gemeinde? | Florian Karcher

Wie sich die Glaubenserziehung in der Familie und in der Gemeinde ergänzen können | Tobias Faix

Gemeinde, Erziehung und die »Schwierigen« | Gottfried »Gofi« Müller

Glauben leben als Familie – Glauben leben als Eltern | Juliane und Pascal Leuschner

Die Vielfalt der anderen – Christliche Erziehung im bereichernden Netzwerk | Tabea Bosch

Über die Herausgebenden, die Autorinnen und Autoren

Die Herausgebenden

Die Autorinnen und Autoren

Anmerkungen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über die Autoren

Dr. Tobias Künkler lebt mit seiner Frau Mareike in Kassel und arbeitet an der CVJMHochschule als Professor für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit. Gemeinsam mit Tobias Faix leitet er das Forschungsinstitut empirica.

Dr. Tobias Faix ist Professor für Praktische Theologie an der CVJM-Hochschule in Kassel, ist mit Christine verheiratet und hat zwei Töchter. Er ist Autor mehrerer Bücher und Studien.

Damaris Müller arbeitet an der CVJM-Hochschule im International Office und engagiert sich als Gleichstellungsbeauftragte. Vorher studierte sie Soziologie und Organisationspädagogik. Sie ist mit Johannes verheiratet und hat eine Tochter.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Einleitung - Tobias Künkler / Tobias Faix / Damaris Müller

Einleitung

Auf allen gesellschaftlichen Ebenen, in allen Kontexten wird über sie diskutiert: Familie. Als Elternteil ist man von ihr direkt betroffen und nimmt das Thema wahrscheinlich besonders stark wahr. Es existieren unzählige Ratgeber, mit deren Hilfe Eltern spezifische Probleme bearbeiten oder Entwicklungsschritte verstehen lernen sollen. Elternzeitschriften und -Blogs greifen aktuelle Beobachtungen und Lifestyle-Themen auf. Mit jedem Regierungswechsel verändert sich die Familienpolitik, wodurch sich unterschiedliche Gruppen wahlweise übergangen oder endlich gehört fühlen. In Einrichtungen der Tagespflege treffen Kinder aus unterschiedlichsten Kontexten aufeinander, Erzieherinnen und Erzieher oder auch das Jugendamt begegnen Familien mit einem professionellen Blick. In Kirchen und Gemeinden werden Familien und ihre Kinder ganz praktisch in spezifische Programme eingebunden, familiale Werte werden gepredigt. Nicht zuletzt bringt jede Person ihre und seine individuellen biografischen Erfahrungen zum Thema Familie mit, empfindet Freude oder Enttäuschung, Überforderung oder Lust. Als Eltern oder (ehrenamtlich) Mitarbeitende in Kirchen und Gemeinden können wir nur einen kleinen Ausschnitt überblicken, wie die Situation christlicher Familien aussieht und wie sie diese erleben: den unserer eigenen Familie, unserer Freunde, Gemeinde, vielleicht unserer Stadt.

Aber wie geht es Familien eigentlich im Alltag? Wie wird das Leben in christlichen Familien gestaltet und wie sieht Erziehung und Glaubenserziehung im Alltag aus? Diesen interessanten Fragen haben wir uns gestellt. Anfang 2017 wurden die Ergebnisse im Rahmen einer Familienstudie neben einem wissenschaftlichen Forschungsbericht auch im Buch Zwischen Furcht und Freiheit. Das Dilemma christlicher Erziehung veröffentlicht, das sich an alle interessierten Eltern richtet. Durchgeführt wurde diese Studie von 2014 bis 2016 vom Forschungsinstitut empirica für Jugendkultur & Religion, das an der CVJM-Hochschule beheimatet ist. Befragt wurden 1752 christliche Eltern mit dem Ziel, ein realistisches Bild dafür zu bekommen, wie in christlichen Familien Eltern ihre Kinder heute erziehen, wie sie dabei den Glauben vermitteln wollen und wie sich der allgemeine gesellschaftliche Erziehungsstilwandel in der christlichen Erziehung niedergeschlagen hat.

In dem Buch werden viele spannende Einzelergebnisse präsentiert. Diese werden in einen Kontext mit anderen Forschungsergebnissen und weiteren pädagogischen Fragen gestellt, und natürlich wurden erste Schlüsse gezogen und viele Ergebnisse für den Erziehungsalltag gedeutet und erklärt. Das Thema christliche Erziehung wird zwar in christlichen Kreisen immer wieder thematisiert, doch aus unserer Sicht noch zu wenig diskutiert. Dies gilt vor allem für die inhaltlichen Fragen der Glaubenserziehung. Wie sieht diese in christlichen Familien heute eigentlich aus bzw. wie sollte sie aussehen? Welche Ideale sind nicht mehr zeitgemäß? Was läuft gut? Wo wünschen sich christliche Familien Hilfe? Zumindest angesichts der Tatsache, wie eminent wichtig das Thema der christlichen Erziehung ist, hören wir hier erstaunlich wenig bzw. mit einem stark dogmatischen Duktus, der sich zu wenig an den individuellen Voraussetzungen der einzelnen Familienmitglieder orientiert. Zudem gibt es manche Themen, die eher ausgespart bleiben, wie der Umgang mit dem Dilemma, dass christliche Eltern heute oft die Autonomie ihres Kindes wahren und fördern wollen, der christliche Glaube den Kindern aber oft als eine Art alternativlose Entscheidung präsentiert wird. Mit diesem Buch wollen wir Themen und Fragen aufgreifen, die sich aus unserer Sicht aus den Ergebnissen ergeben haben und die noch zu wenig oder noch kaum diskutiert werden.

Wir richten uns mit dem Buch, wie der Untertitel schon sagt, an unperfekte Eltern. Wir meinen damit Eltern und andere erziehende Personen1, die das Gefühl haben, dass ihr Familienalltag nicht der Hochglanzästhetik entspricht, mit der Artikel oder Bücher über christliche Familie und christliche Erziehung oft garniert werden. Erziehende Personen, die wissen, dass ihre Erziehung nicht perfekt ist (wer dieses Gefühl hat, braucht ja kein Buch darüber zu lesen) und wohl auch niemals perfekt werden wird (so wie anderes in unserem Leben auch). Erziehende Personen, die angesichts dieser Tatsache aber nicht resignieren, sondern neugierig sind, die das Leben mit ihren Kindern als ein Abenteuer erleben, bei dem sie stets Neues über sich, ihre Kinder und das Leben lernen. Eltern, die daher vielleicht auch nicht zufrieden sind mit dem neuesten Erziehungsratgeber, der die perfekte Erziehung in nur sieben Schritten und 7 x 7 Tipps und Tricks präsentiert oder ganz einfach nicht der eigenen pädagogischen Grundhaltung entspricht. Die Autorinnen und Autoren sowie wir als Herausgebende stecken oftmals selbst mitten im Erziehungsalltag und wissen um diese Unperfektheit, deshalb ist uns dieser Ansatz so wichtig. Es gibt nicht immer den goldenen und schon gar nicht den einfachen Weg in der Erziehung. Wir stecken selbst oft im Dilemma der Glaubenserziehung und haben gemerkt, wie gut es tut, sich über dieses Thema mit anderen auszutauschen, zu reflektieren und sich gegenseitig zu unterstützen. Auch diese Erfahrungen sind in dieses Buch eingeflossen und wir hoffen sehr, dass es anderen Erziehenden ganz praktisch weiterhilft.

Ein Ergebnis der Familienstudie war, dass sich der allgemeine Erziehungsstilwandel relativ stark auf die christliche Erziehung niedergeschlagen hat. Stärker, als vielen wohl bewusst ist, und stärker, als sich bisher in vielen Erziehungsratgebern und in der Gemeindepraxis (zum Beispiel im Material für Kindergottesdienste) niederschlägt, die sich oft eher an recht traditionellen Erziehungsvorstellungen abarbeitet, die viele christliche Eltern aber gar nicht mehr haben.

Ein großes Geschenk

Aus unserer Sicht ist die christliche Familie zunächst ein großes Geschenk. Nichts prägt einen Menschen so sehr wie die Herkunftsfamilie. Und wenn diese geprägt ist von befreiendem Glaube, von Liebe und Hoffnung, wie sie uns in Jesus Christus gezeigt wurden: Was kann es Besseres geben?

Immer wieder finden Menschen, die nicht gläubig erzogen wurden, im weiteren Verlauf ihres Lebens einen Weg zum Glauben. Weltweit kann man aber beobachten, dass die Familie der Ort Nummer eins ist, an dem Kinder das Geschenk des Glaubens empfangen. Christliche Familie ist nicht nur deswegen wertvoll, weil über sie Menschen den Glauben kennenlernen können. Sie ist vor allem auch deshalb so wertvoll, weil die christlichen Werte, die Jesus uns gezeigt hat und die wir auch sonst in der Bibel lesen können und die von Kirchen und Gemeinden seit Jahrtausenden transportiert werden, das beste Beet, die beste Erde sind, in der sich ein gesundes, fröhliches, mutiges Kind entwickeln kann, weil es geliebt, wertgeschätzt, gewollt ist. Und genau dies bewirkt einen Unterschied gegenüber dem, wie Kinder jahrhundertelang erzogen wurden: erst als Besitz und Arbeitskraft, dann geliebt für ihr gutes Benehmen. Kinder sind wertvoll, weil sie uns Erwachsenen ebenbürtige Geschöpfe vor Gottes Augen sind. Wer diese Haltung hat und lebt, der bewirkt einen Unterschied.

Nicht zuletzt ist die christliche Familie vor allem für Eltern ein Geschenk. Leider wird diese Tatsache heute manchmal verdreht. Natürlich ist es ein großartiges Geschenk, dass christliche Familien im Vergleich zur Gesamtgesellschaft stabiler sind und die Ehen seltener geschieden werden. Genauso, dass christliche Familien kinderreicher sind als die deutsche Durchschnittsfamilie. All dies ist ein Grund zur Dankbarkeit. Jedoch gibt es manchmal in christlichen Kreisen die Tendenz, die perfekte Kleinfamilie – Vater, Mutter und mindestens zwei Kinder – zur Norm zu erheben. Alle Christinnen und Christen, die nicht in einer solchen Familie leben, weil sie es nicht können oder nicht möchten, fühlen sich dann schnell etwas defizitär. Ein Beispiel dafür ist das neulich von uns beobachtete Erlebnis in einer Gemeinde. Dort wurde in der Fürbitte gebetet: »Herr, sei du bei unseren Familien und Ehepaaren und bei denen, die krank sind und denen es nicht gut geht.« Unverheiratete und Menschen ohne Familie fühlen sich in so einem Gebet leicht den Kranken und Miserablen zugeordnet.

Eine Familie haben zu können, ist keine Selbstverständlichkeit. Auch nicht für Christinnen und Christen. Menschen, die sich als Partner gefunden haben (vielen Christinnen und Christen geht das nicht so), können dankbar dafür sein. Auch dafür, wenn ihnen Kinder geschenkt wurden, denn das ist bei vielen Paaren kein Automatismus, obwohl manchmal so getan wird, als ob das einzige Hindernis zum natürlichen Kinderreichtum die Karriere der Frau ist. Nicht zuletzt können sie vor allem dankbar dafür sein, dass sie mit dem Glauben beschenkt sind.

Frei erziehen – Halt geben

Wie kann also eine christliche Erziehung aussehen, die zeitgemäß ist, die sich an den Werten Jesu und der Bibel orientiert und die auf dem Umstand basiert, dass Eltern sich leidenschaftlich der christlichen Glaubensgemeinschaft zugehörig fühlen, leidenschaftlich ihre Kinder lieben und sich sehnlichst wünschen, dass ihre Kinder zu dem Glauben finden, der ihnen so wichtig ist? Nun, wenn es hier eine Antwort gibt, dann kann man sie wohl kaum in wenige Worte zusammenfassen.

Im Titel dieses Praxisbuches steht trotzdem ein Slogan: Frei erziehen – Halt geben. Ist das nicht ein Widerspruch in sich? Wir denken nein. So wie erst eine sichere Bindung zwischen Eltern und Kind die Basis dafür gibt, dass das Kind eigenständig die Welt erkunden kann, so kann gerade eine freiheitliche Haltung gegenüber sich selbst, gegenüber dem Leben und gegenüber dem Kind einem Kind einen unglaublich sicheren Halt geben. Wir sind der Überzeugung, dass es nicht der beliebige und schwache, sondern der entschiedene und starke Glaube ist, der in die Freiheit führt. Leider meinen auch heute noch viele Christinnen und Christen, die Enge ihres Glaubens sei ein Ausdruck ihrer Rechtgläubigkeit. Wir meinen aber, dass Jesus Christus uns in die Freiheit und Weite führt, wenn wir ihn nur lassen. Und wir sind der Überzeugung, dass nichts so ansteckend wirkt wie ein Glaube, der von dieser befreienden und Wachstum bewirkenden Kraft zeugt. Daher will dieses Buch Eltern als mündige Eltern ansprechen, die dazu in der Lage sind, selbstständig weiterzudenken und sich in Auseinandersetzung mit den hier vertretenen Positionen eine eigene Meinung zu bilden, und die schlussendlich den Weg ihrer eigenen Familie gehen – nicht nur in Glaubens-, sondern auch in Erziehungsfragen, für die der gleiche Gedanke gilt.

Zum Aufbau

Das Buch ist in sieben Kapitel unterteilt. Im ersten Kapitel stellen wir dar, warum wir Familie feiern und wieso sie es verdient hat. Bei allen gesellschaftlichen Veränderungen und Herausforderungen glauben wir, dass es sich lohnt, mehr Zeit für die Feier der Familie aufzubringen, ihre großartige Entwicklung und ihre individuellen Ressourcen zu loben. Dabei lassen wir sechs ganz unterschiedliche Familien zu Wort kommen, die uns mit hineinnehmen, was sie an ihren Familien lieben und wie sie das »Christliche« in ihren Familien leben.

Die Grundlagen einer christlichen Erziehung stehen im Fokus des zweiten Kapitels, angefangen mit der Frage, was angemessene Ziele einer christlichen Erziehung sind. Anschließend beschäftigen wir uns mit der Herausforderung des altersgemäßen Erziehens und inwiefern Anerkennung und Bindung die Grundlage der Glaubenserziehung sind. Darauf aufbauend kommen wir zu einem Kernthema der Glaubenserziehung, nämlich der Erziehung als Beziehung: Wie können wir versöhnt mit uns selbst und mit dem Kind leben? Zum Abschluss des Kapitels betrachten wir die unterschiedlichen Persönlichkeitstypen in der Erziehung und überlegen, was dies für den Alltag bedeutet, bevor wir darüber reflektieren, wie wir mit unseren eigenen Erziehungserfahrungen umgehen.

Die Grundlage jeglicher Erziehungspraxis stellt unsere Haltung dar. Wie sich diese in Fragen zu Glaube, Religion oder Menschenbild widerspiegelt, erarbeitet das dritte Kapitel. Darin stellt sich Rachel Suhre der Frage nach den Grenzen der Übertragbarkeit des Glaubens an die folgende Generation. Thorsten Dietz widmet sich unserem Menschenbild mit Blick auf unsere Kinder, bevor Alexander Kupsch die Grenzen der Glaubenserziehung beschreibt und erklärt, warum Eltern ihre Kinder nicht erlösen können. In einen größeren Zusammenhang stellt Matti Schindehütte christliche Glaubenserziehung, indem er zeigt, wie Glaubenserziehung über den eigenen Tellerrand hinaus gelingen kann.

Die konkrete Gestaltung der Glaubenserziehung wird im vierten Kapitel an exemplarischen Themen erarbeitet. Christiane Schurian-Bremecker beleuchtet die Rolle von Ritualen und Gebet im Erziehungsalltag, indem auch Kinderfragen zum Glauben immer wieder beantwortet werden wollen. Bettina Wendland stellt vor, wie dies gelingen kann. Mit dem Bibellesen in der Familie hat sich Detlef Kühlein auseinandergesetzt.

Das fünfte Kapitel lenkt den Blick auf einen konstruktiven Umgang mit Spannungsfeldern. Sonja Brocksieper diskutiert den Sinn und Unsinn von Grenzen sowie das Mitspracherecht von Kindern in der Familie; das Thema Gewalt hat bei Erziehungsthemen an unterschiedlichen Stellen Relevanz. Rachel Suhre setzt sich in diesem Zusammenhang mit Lob und Strafe auseinander und Thorsten Dietz erarbeitet ein Plädoyer für gewaltlose Erziehung, die er am biblischen Bild reflektiert.

Weiteren besonderen Erziehungsthemen widmet sich das sechste Kapitel. Lilija und Gerhard Wiebe ermutigen Familien, sich der politischen Dimension des Glaubens stärker zuzuwenden. Anregungen zum Umgang mit Konflikten zwischen Eltern- und Großelterngeneration zu Erziehungsfragen gibt Damaris Müller. Martin Klinge nimmt uns hinein in die Relevanz von Medienerziehung. Tobias Künkler und Damaris Müller zeigen, dass Sexualpädagogik mehr ist als ein »Aufklärungsgespräch« und die »richtige« Moral, und erklären, wie Eltern mit Kindern über Sexualität sprechen können und was dabei wichtig ist.

Das siebte Kapitel beschäftigt sich mit der Rolle der Gemeinde in der Glaubenserziehung. Zunächst wird das grundsätzliche Verhältnis zwischen Gemeinde und Familie von Florian Karcher hinterfragt und anschließend überlegt Tobias Faix, wie sich die Glaubenserziehung in der Familie und in der Gemeinde ergänzen können. Nicht alle Familien können sich mühelos in ein Gemeindesystem einfügen. Wie es Familien mit „schwierigen“ Mitgliedern geht, führt uns Gofi Müller vor Augen. Einblicke in die persönliche Gestaltung des Glaubenslebens gewähren uns Pascal und Juliane Leuschner, die uns in ihren Glaubensalltag als Eltern mit hineinnehmen. Tabea Bosch berichtet von ihren Erfahrungen mit dem Leben als Familie in einer Lebensgemeinschaft, die klassische Gemeindestrukturen parziell ersetzen kann.

Unser Wunsch

Warum noch ein Erziehungsratgeber, noch ein Buch für christliche Familien? Das mag sich der eine oder die andere vor dem Lesen dieses Buches denken. Das haben wir uns auch gefragt.

Bei der Betrachtung und Interpretation der Ergebnisse der Familienstudie haben wir Folgendes festgestellt: Das vorgefundene Dilemma kann nicht mit einem weiteren Ratgeber gelöst werden, der Symptome beheben und ausschließlich Praxistipps geben will. Wir haben gespürt, dass wir zur zukunftsweisenden, tief greifenden Lösung viel weiter unten, nämlich an den Wurzeln des Dilemmas, angreifen müssen. Deshalb haben wir uns im Rahmen dieses Praxisbuchs die Aufgabe gestellt, zunächst unsere grundlegende Haltung der Erziehung sowie grundlegende Vorbedingungen der christlichen Erziehung zu klären und in den folgenden Kapiteln vermeintlich feststehende, klare Überzeugungen zur Disposition zu stellen, zum Beispiel wie groß der Anteil der Eltern am »ewigen Heil« des Kindes ist oder ob es schlimm ist, wenn Kinder nicht zum Kindergottesdienst oder Teenkreis gehen wollen.

Wir wünschen uns, dass Sie als Lesende über einzelne Themen ins Gespräch kommen, sie diskutieren, widersprechen und sie so in den Erziehungsalltag einfließen lassen, wie es Ihrer individuellen Familie entspricht. Wir wünschen uns auch, dass einige unserer Ausführungen tatsächlich hilfreich sind für den Alltag der Glaubenserziehung in Ihren Familien oder anderer Kinder in Ihrer Umgebung.

Darüber hinaus wünschen wir uns eine Debatte über die christliche Erziehung, denn wir haben bei der Studie bemerkt, wie gerne Eltern ihre Rolle haben, aber wie unsicher sie in vielen Fragen der Glaubenserziehung sind, nicht zuletzt weil Familien mittendrin in den veränderten Bedingungen unserer Gesellschaft stecken. Die christliche Familie ist es wert, dass sie unterstützt wird, gerade auch von Kirchen und Gemeinden, denn sie trägt das Erbe des christlichen Glaubens in unserer Zeit weiter wie keine andere Institution. Deshalb wünschen wir uns mehr Mut und Freude, darüber zu reden, zu predigen und zu diskutieren. Mit diesem Buch machen wir einen Aufschlag zum Gespräch.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Kapitel 1 - Warum wir Familie feiern und wieso sie es verdient hat!

Warum wir Familie feiern und wieso sie es verdient hat!

»Ich mag meine Familie« – die meisten Eltern werden dieser Aussage wohl zustimmen können. Aber warum eigentlich?

»Weil meine Familie aus liebenswürdigen Verrückten besteht und alle Spaß an neuen Projekten haben«, lautet die Antwort einer Mutter. Doch sicherlich gibt es auch andere Gründe. »Ungefiltert echt sein dürfen«, kommt einer anderen Mutter in den Sinn. Als Institution übernimmt Familie eine ganze Reihe strukturierender Aufgaben, etwa die Organisation des Alltags durch einen Haushalt oder die wirtschaftliche Absicherung mehrerer Menschen. Auch als Beziehungsgefüge hat eine Familie viele Funktionen: Kinder und Jugendliche erfahren einen Ort mit verlässlichen Beziehungen und erleben Erwachsene, an deren Beispiel sie lernen können und die ihnen in Liebe begegnen. Diese Aufgaben der Familie geben uns (Handlungs-)Sicherheit.

Warum mögen Sie Ihre Familie?

Bei allen Problemfeldern, Einschränkungen oder gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die nicht vergessen werden dürfen, wirkt Familie immer noch als Prägekraft Nummer eins, wie Studien und Selbstaussagen von Familienmitgliedern (auch rückwirkend) bestätigen.

Düstere oder rosige Aussichten?

Von Zeit zu Zeit bekommt man in den Nachrichtenmedien des Internets (Facebook, Onlinezeitungen, Blogs und Co.) Schlagzeilen entgegengeschleudert, die die desolate Situation von Familien und den Untergang traditioneller vermeintlich christlicher Werte von Ehe und Familie ausrufen. »Die gegenwärtige Moralrevolution zerstört die Familie«2, »Biblische Werte statt Befindlichkeitsduselei«3, »AfD wettert gegen Gleichstellung«4 ist da zu lesen. Meistens sind diese Verkündungen darauf zurückzuführen, dass konservative Akteure Familienthemen instrumentalisieren, um vor dem Verfall der »Werte unseres christlichen Abendlandes« zu warnen.

Auf dieser Welle wollen wir nicht mitschwimmen. Wir beobachten, dass Familie einerseits wie keine andere gesellschaftliche Institution den Wandel der vergangenen Jahrhunderte und Jahrzehnte nicht nur »überlebt«, sondern sich in vielem positiv weiterentwickelt hat. Die Stärken, die Schönheit und die Ressourcen von Familien in ihrer heutigen Vielfalt verdienen Beachtung und Lob.

Aussagen wie »Familien sind die Grundsteine unserer Gesellschaft« bringen die Rolle und Leistungsübernahme von Familien zum Ausdruck. Diese Leistung kommt in vielen unsichtbaren und unentgeltlichen Tätigkeiten zum Ausdruck, die die Pflege, Förderung und Bildung von Menschen zum Inhalt haben. Diese große Leistungskraft soll und muss gewürdigt werden.

Entwicklungslinien in Gesellschaft und Familie

Wären Sie vor ca. 100 Jahren geboren worden, sähe Ihre Familiensituation deutlich anders aus als heute. Vielleicht wären Sie als Landwirt Vorstand einer Haus- und Hofgemeinschaft mit unterschiedlichsten Familienmitgliedern, Mägden und Knechten. Oder Sie wären eine Dienstbotin in betuchtem Hause, die aufgrund der Lebens- und Arbeitssituation leider nicht die Chance hat, eine eigene Familie zu gründen, genauso wie die vielen Fabrikarbeiterinnen und Fabrikarbeiter ohne eigene Wohnung.

Wir sehen: Die heute verbreiteten Formen von Familie blicken auf eine recht junge Geschichte zurück. Auch wenn wir uns kaum an eine andere Familienform erinnern können – auch nicht bei unseren Großeltern und Urgroßeltern –, besteht die Kleinfamilie mit ihren Variationen erst eine kurze Zeit lang, verglichen mit der Menschheitsgeschichte.

Nach Jahrhunderten und Jahrtausenden mit langsamen Veränderungen, die über die Lebensspanne von Menschen teilweise weit hinausgingen, leben wir heute in einer sich schnell verändernden Zeit. Die Dichte und Tiefe von Veränderungen ist nicht mehr nur eine beschreibende Größe, sondern wird als das Charakteristikum unserer Zeit angesehen. Vermutlich jeder Mensch hat an der einen oder anderen Stelle die großen Schlagworte gelesen, die beschreiben, was wir an Wandel jeden Tag im Alltag erleben: Globalisierung, Digitalisierung, Individualisierung, Traditionsabbruch oder Multioptionalisierung, um nur einige zu nennen.

Doch nicht nur Produkte, Produktionsbedingungen oder die Arbeitsplatzgestaltungen haben sich verändert, auch die Formen des menschlichen Zusammenlebens wurden von der Veränderungswelle ergriffen. Familien, auch christliche, als elementarer Bestandteil von Gesellschaften haben sich den Trends nicht entzogen, sondern sich mit ihren Mitgliedern verändert. Schon während der biblischen Zeiten veränderte sich das Familienverständnis von der »Sippe« hin zum »ganzen Haus«5, eine fortwährende Veränderung christlicher Familien hat sich entsprechend bis heute durchgezogen.

Veränderung – das ist so eine Sache. Forschungen haben ergeben, dass nur eine kleine Anzahl an Menschen Spaß an Veränderungen oder an Neuem hat und diese aktiv sucht. Der größte Anteil steht Veränderungen neutral gegenüber und verfolgt einen pragmatischen Ansatz. Manche brauchen sehr lange, bis sie sich an eine neue Situation gewöhnt haben, andere bilden eine betriebsame Opposition. Grundsätzlich zu bemerken ist auch, dass Veränderungen nicht als Statuswechsel von einem auf den anderen Moment anzusehen sind, so wie man auf einen Computer die neue Version des Betriebssystems aufspielt. Vielmehr ist es ein kontinuierlicher, aber nicht unbedingt linearer Entwicklungsprozess, in dem unterschiedliche Entwicklungsstufen nebeneinander und im Austausch miteinander bestehen können. Dabei ist nicht auszumachen, welcher Grad der Anpassung an eine Veränderung bzw. Neuheit als gut bzw. schlecht einzustufen ist. So verhält es sich auch bei der Veränderung der Familienformen: Unterschiedliche Versionen existieren gleichwertig nebeneinander.

Familie 4.0 – warum wir heute Grund zur Dankbarkeit haben

Wie oben bereits angedeutet wurde, hat die Familie schon einen langen Weg hinter sich, ehe sie das geworden ist, was sie heute ist. Diesen Weg wollen wir hier einmal im Zeitraffer nachvollziehen:

In der Antike herrschte das patriarchalisch geführte »Haus« als erweiterte Familie vor. Ihm gehörten unterschiedlichste Familienmitglieder, Mitarbeitende und gegebenenfalls Sklavinnen und Sklaven an.6 Auch in der vorindustriellen Zeit überschnitten sich die Familien- und Organisationsstruktur des Arbeitsbereichs der Familie bzw. des Hauses. Wohnraum und Arbeitsraum waren vereint. Die Beziehungen untereinander waren relativ gefühlsarm, Kinder wurden vorwiegend als zukünftige Arbeitskräfte des elterlichen Betriebs angesehen.7

Diese Organisation als große Hausgemeinschaft mit Verwandten und Mitarbeitenden mit einer starken Konzentration auf eine wirtschaftliche Tätigkeit (Landwirtschaft oder Produktion) war notwendig, um das reine Überleben der Familie zu sichern. Jede Arbeitskraft wurde gebraucht, alleinstehende Verwandte konnten integriert werden, auch die Älteren und die Kleinsten der Hausgemeinschaft, die allein ihre Lebensgrundlage nicht erwirtschaften konnten. Die politische und religiöse Organisation der Gesellschaft lehnte sich an diese Haushaltsform an.

Während der Industrialisierung vollzog sich eine Trennung von Wohn- und Arbeitsstätte. Die Kleinfamilie lebte unter sich. Es kam das Ideal auf, mit einem Einkommen (des Mannes) eine Familie versorgen zu können. Dabei entstand die typische Geschlechtsrolleneinteilung, der aber nur kleine Teile der Bevölkerung aufgrund wirtschaftlicher Voraussetzungen entsprechen konnten. Die meisten Menschen lebten eher unter widrigen Lebensumständen und brauchten jede Arbeitskraft, um den Lebensunterhalt zu sichern. Zu Beginn dieser Zeit war deshalb Kinderarbeit noch recht stark verbreitet. Mit der Entstehung der Kleinfamilie fanden Werte Einzug, die wir auch heute noch kennen und verfolgen: exklusive Partnerschaft, Liebe und die Wahrnehmung der Kindheit als eigene Lebensphase.8

Die moderne Kleinfamilie mit arbeitendem Vater und der Frau in der Rolle als Hausfrau und Mutter als gesellschaftlich verbreitetes Modell existierte in dieser Form nur in den 1950er- und 60er-Jahren. Dieses Modell erlaubte damals erstmals, die Individualität des Kindes in den Mittelpunkt der Erziehungsaktivitäten zu stellen. Es folgten Jahrzehnte des Geburtenrückgangs und der steigenden Scheidungszahlen.9

Die verbesserten Einkommensverhältnisse und die Absicherung durch den Sozialstaat machten es möglich, dass in immer größeren Teilen der Gesellschaft Familien sich nicht mehr mit allen Mitgliedern der Lebenssicherung widmen mussten. Dadurch verbesserte sich besonders die Situation der Kinder, denn sie konnten sich während der Kindheits- und Jugendphase immer stärker an ihren eigenen entwicklungstypischen Bedürfnissen orientieren. Auch die Beteiligung an (höheren) Bildungsprogrammen wurde immer mehr Kindern ermöglicht. Eine sich empathisch zugewandte Familie mit einer exklusiven und von Liebe geprägten Partnerschaft als Grundlage wurde zum Ideal, das wir auch heute noch so wiederfinden.

Heute dominiert gesamtgesellschaftlich eine Vielfalt an »neuen Lebensformen«: verheiratet und unverheiratet, mit und ohne Kind(er), mit und ohne Job, mit und ohne Partner und alle Kombinationen davon.10 Familie als zukünftige Lebensform steht bei Jugendlichen immer noch hoch im Kurs, allerdings möchten sie zuerst die aus ihrer Sicht notwendigen Voraussetzungen gesichert haben. Jugendliche schätzen heute, dass sie diese Situation erst mit etwa Mitte 30 erreicht haben werden.11 Damit hängt zusammen, dass sich stärker als die Familienformen die üblichen Haushaltsformen verändert haben. So ist es verbreitet, im Laufe des Lebens zwischen verschiedenen Haushaltsformen zu wechseln:12 zum Beispiel von der Herkunftsfamilie in eine WG, danach in einen Single-Haushalt, dann folgt eine Partnerschafts- und Familienphase, danach gibt es wieder den Wechsel in einen Single-Haushalt durch Trennung oder den Tod des Partners.

Die Orientierung an den Entwicklungsbedürfnissen des Kindes steht nach wie vor im Mittelpunkt der Familienaktivitäten. In manchen Kreisen ist der Grad der (Früh-)Förderung gar zur »Messlatte« des Erziehungserfolgs geworden (egal in welchem Bereich: musisch-künstlerisch, sportlich, intellektuell, auch religiös). Die Bedeutung der Beziehungsqualität in der Paarbeziehung ist für Eltern extrem hoch. Eine schlechte Paarbeziehung nicht fortführen zu wollen, ist ein Grund für die seit einigen Jahrzehnten bestehende Scheidungsquote.13 Martin Dornes fügt weitere Gründe hinzu:

Erstens: Beziehungen sind heute schwieriger geworden, weil die Interessen der Frauen und Kinder stärker berücksichtigt werden müssen und dadurch der Aushandlungs- und Koordinierungsbedarf für alle gestiegen ist. Mit der Vollzeitberufstätigkeit der Frau steigt auch das Scheidungsrisiko. Zweitens: Scheidungen sind juristisch weniger kompliziert geworden. Drittens: Frauen stehen heute ökonomisch häufiger auf eigenen Füßen. Viertens: Der Status des Geschiedenseins ist weniger anstößig als früher. All dies erhöht die Zahl der Scheidungen, ohne dass man deswegen auf abnehmende Beziehungsfähigkeit schließen müsste.14

Besonders deutlich hat sich die Rolle der Mütter verändert. Während sie jahrhundertelang (gezwungenermaßen) in die wirtschaftliche Tätigkeit der Hausgemeinschaft in verantwortlicher Position eingebunden war, wurde ihr Einflussbereich mit der Entstehung der Kleinfamilie auf den Haushalt beschränkt. Die Entstehung der typischen Geschlechtsrollen und die entsprechende Gesetzeslage machten es Frauen nur entgegen sozialem Druck möglich, sich außerhalb der Rolle als Mutter und Hausfrau zu verwirklichen. Heute stehen jungen Frauen, in unserem Fall Müttern, wieder verstärkt unterschiedliche Lebensmodelle zur Auswahl, die ein Ausleben ihrer individuellen Begabungen und Neigungen zulassen. Auch in Bezug auf politische Maßnahmen lässt sich beobachten, dass die vielfältigen Programme, die klassische Zwei-Eltern-Familien betreffen, erweitert wurden, damit davon abweichende Familien berücksichtigt werden können (zum Beispiel die Zugangsmöglichkeit zur Elternzeit). Dies geschieht zugunsten der Kinder, die in diesen Familien leben. Außerdem gibt es die Entwicklungstendenz, dass zunehmend weibliche Familienvorstände existieren, vor allem durch Alleinerziehende, die zuallermeist Mütter sind, und alleinlebende Rentnerinnen.15 Gleichzeitig entwerfen immer mehr Männer und Väter alternative Lebensmodelle, die sich an den individuellen und situativen Voraussetzungen und Bedürfnissen ihrer Familie orientieren.

Wenn wir auf diese kurze Zeitreise zurückblicken, können wir erkennen, dass Familien heute wirtschaftlich so gut abgesichert sind wie nie zuvor. Die dadurch freiwerdenden Kapazitäten an Zeit und Kraft können eingesetzt werden, um verstärkt in der Erziehung tätig zu sein und gemeinsam Zeit zu verbringen. Für die Entwicklung von Kindern spielen Bindung, Annahme und Wertschätzung eine wichtige Rolle. Auch legen sie eine wichtige Grundlage dafür, dass Kinder sich gut entwickeln, zu stabilen Persönlichkeiten werden und (christliche) Werte für sich entdecken und reflektieren können – wir werden im Verlauf des Buches noch einmal vertieft darauf zurückkommen. Die Voraussetzungen für diese Entfaltung sind in unserer heutigen Gesellschaft sehr gut gegeben: Eltern haben viel Zeit für ihre Familie, Mütter und Väter können ihre Rollen individuell entsprechend ihrer aktuellen Familiensituation gestalten, da sie festgelegten Leitbildern, auch mit Blick auf die Glaubenserziehung, nicht mehr so stark unterworfen sind wie früher. Familien werden durch staatliche Leistungen oder inhaltliche Programme von Kirchen/Gemeinden oder auch Wohlfahrtsverbänden sehr gut unterstützt. Ein Grund zum Jubeln!

Familie kann Veränderungen in der Gesellschaft ausgleichen

Wie bereits im Buch zur Familienstudie dargestellt, bringt der aktuelle rasante Wandel in so vielen Lebensbereichen im Vergleich zu den vergangenen Jahrhunderten aber auch Verunsicherungen mit sich. Es scheint, als könnten sich junge Familien an nichts orientieren, denn die »alten« Orientierungsgrößen und Werte gelten heute nicht mehr. Gleichzeitig fallen uns allen sicherlich aktuelle Trends ein, die für uns einen negativen Beigeschmack haben: zum Beispiel ununterbrochene Erreichbarkeit, Schönheits- und Jugendwahn oder Selbstdarstellungstendenzen und verrohte Kommunikationsformen in Zeiten von Social Media und Hasskommentaren. Diese Phänomene sind »Auswüchse« ansonsten positiver Entwicklungen. Um ein Beispiel aufzugreifen: Social Media hat ja auch viele gute Seiten, zum Beispiel können wir den Kontakt zu Freunden auf der ganzen Welt halten, Nachrichten verbreiten sich schneller, nicht mehr nur große Medienanstalten, sondern theoretisch alle können Fakten und Meinungen gegenüber einer Öffentlichkeit verbreiten.

Aus unserer Sicht brauchen diese Begleiterscheinungen eine ausgleichende Institution, die negative Entwicklungen auffängt, korrigiert und die Mitglieder einer Gesellschaft fit macht, Lebensbedingungen aktiv und verantwortungsvoll zu gestalten. Unserer Meinung nach übernehmen Familien diese Rolle bereits sehr gut – ohne aufgezwungene Programmatik, ohne großartige Bildungsprogramme. Familien können die Lebenswirklichkeit, also positive und negative Erfahrungen ihrer Mitglieder, auffangen und in einem geschützten Rahmen bearbeiten.

Um die Großartigkeit und die Chancen von Familie zu verdeutlichen, greifen wir im Folgenden einige Beispiele heraus:

Empathie: Der Soziologe und Ökonom Jeremy Rifkin ist überzeugt, dass eine »empathische Zivilisation« den Gegenpol zu eigennützigen und narzisstischen Tendenzen unserer Gesellschaft setzen kann.16 Empathie bezeichnet die Eigenschaft, sich in andere Menschen hineinversetzen zu können, und ist die Grundlage für »soziales Handeln«. Sie wirkt in Richtung anderer Menschen und macht Beziehungen möglich, die christliche Nächstenliebe bringt Empathie auf eine besondere Art zum Ausdruck. Empathie ist wohl eine der grundlegenden Eigenschaften, die eine Familie zum Leben braucht. Die Fähigkeit für Empathie bringen Menschen von Geburt an mit. Eine gute Ausbildung dieser Fähigkeit wird bei jungen Menschen gefördert, wenn Erwachsene sie begleiten. Auch Jugendliche und Erwachsene können ihre Empathiefähigkeit verbessern, denn man kann diese Eigenschaft ein Leben lang trainieren.17 Von Beginn an ist Familie wahrscheinlich der Ort, an dem wir Empathie gemeinsam einüben und ausleben können: Verstehen statt Unterstellen, Gönnen statt Neiden oder Versöhnen statt Spalten.

Resilienz: Dieses Wort bezeichnet die Fähigkeit, die Menschen hilft, Traumata und alltägliche belastende Situationen zu bewältigen. Resiliente Menschen sind seelisch starke Menschen, die gesunde Beziehungen führen und selbstsicher durchs Leben gehen können. Der Kinder- und Jugendpsychologe Klaus Fröhlich-Gildhoff betont, wie wichtig es ist, dass wenigstens eine Person in der Kindheit existiert, besonders in den ersten sechs Lebensjahren, die »ein bisschen verrückt« nach dem Kind ist.18 Daneben sind regelmäßiger Kontakt, Zuverlässigkeit, bedingungslose Wertschätzung und Annahme, Feinfühligkeit und Förderung wichtig.19 Diese Voraussetzungen können in Familien sehr gut erfüllt werden. Christinnen und Christen erfahren diese unbeschränkte Liebe und dieses Interesse in ihrer Gottesbeziehung. Dies stärkt zusätzlich und hilft uns, selbst »Fan« von anderen zu sein und neben allen organisatorischen Bedingungen und zeitweisem Zwist sich das Gefühl zu geben: Ich bin gerne mit dir zusammen.

Körperbilder und Selbstdarstellung: Es ist durchaus nicht mehr so, dass sich nur die Teenagertochter Gedanken macht, welcher Winkel der Handykamera die Wangenknochen besonders gut zur Geltung bringt. Auch Papa überlegt sich, wie er gegen das Foto seines Arbeitskollegen, muskelbepackt beim Downhill-Fahrradfahren, auftrumpfen kann. Wir alle haben den Wunsch, uns möglichst fotogen oder zumindest klug und witzig in den unterschiedlichen sozialen Medien zu präsentieren. Dabei ertappen wir uns regelmäßig, dass wir uns stärker um Schein als Sein kümmern und unrealistischen Körperbildern nacheifern. In einer Familie kann sich niemand was vormachen: Pickel, Hängebauch und Dehnungsstreifen haben hier ihre Berechtigung und werden nicht verurteilt. Selbstwert, der eigene Stil, die eigene Sportlichkeit und die eigene Gesundheit können behutsam von Anfang an entdeckt werden. Wir können uns Komplimente machen, unsere Beobachtungen gemeinsam auswerten oder einen guten Gag auf Kosten eines Familienmitglieds lieber stecken lassen.

Konsummentalität: Fast Fashion, immer schnellere Modellwechsel bei quasi aller Technikausstattung, unendliche Sorten an Käse, Joghurt, Fußbodenbelägen, Fliesen etc. lassen uns Träume verwirklichen. (Es gibt rosa Glitzer-Fugenmörtel!) Gleichzeitig beschleicht uns das Gefühl, unsere Wahlfreiheit auf Kosten weniger privilegierter Menschen zu verwirklichen und ein System zu befriedigen, das einen unstillbaren Hunger nach Wachstum hat. Auch in Bezug auf unser Engagement beobachten wir immer wieder eine Konsummentalität: In der Gemeinde wird der Kindergottesdienst seit Jahren von den vier gleichen Personen gestemmt, oder im Nachbardorf brennt eine Scheune ab, weil die freiwillige Feuerwehr zu wenig Mitglieder hat, um zwei Brände gleichzeitig zu löschen. In unseren Familien können wir gemeinsam einüben: Alle packen an, wir engagieren uns gemeinsam für unsere Nachbarschaft oder woanders im Reich Gottes, wir üben Verantwortungsbewusstsein gegenüber der Schöpfung und unseren unbekannten Nächsten in Entwicklungs- und Schwellenländern.

Selbstoptimierung: Sleep-Tracker, Paleo-Diät, Präsentations-Coaching, Buggy-Fit-Kurse, die ambitionierten Quartalsziele in der Firma, der »In 120 Tagen durch die Bibel«-Leseplan – an unterschiedlichen Stellen werden wir herausgefordert, uns zu verbessern. An vielen Stellen macht es uns auch Spaß. An anderen Stellen fühlen wir uns eher wie im Hamsterrad der Selbstoptimierung. Als Christinnen und Christen wissen wir, dass wir von Gott ohne Vorleistung geliebt sind. Auch unsere Kinder sollen dies erfahren. Ganz alltagspraktisch heißt das: Wir wünschen uns einen Ort, an dem wir mal bis 12 Uhr im Schlafanzug rumlaufen oder gemeinsam ein, zwei, drei Tafeln Schokolade essen oder eine wichtige Aufgabe zugunsten eines 1000-Teile-Puzzels auf übermorgen verschieben dürfen, ohne mit Konsequenzen rechnen oder uns schlecht fühlen zu müssen.

Wellnessorientierung: Wellness und Beauty für das Äußere durch Cremes und Behandlungen, Wellness für das Innere durch Musik, Entspannung, gute Gespräche und auch Wellness für das Geistliche? Beobachten wir uns einmal selbst: Wie oft nutzen wir Worship, eine Konferenzteilnahme oder eine Kleingruppe, um uns ein gutes Gefühl zu verschaffen und uns zu vergewissern, dass geistlich alles super läuft? So wichtig wie Ruhezeiten und Beschäftigung mit sich selbst auch sind: Finden wir als christliche Familie das richtige Maß zwischen Entspannung und Anspannung, zwischen Innerweltlichkeit und Sendung, zwischen Rückzug und Revolution?

Diese Aufzählung ist unendlich erweiterbar. Wie sieht es bei Ihnen aus? Welcher Trend, welche Entwicklung bereitet Ihnen oder Ihren Kindern Bauchschmerzen? Wie können Sie in Ihrer Familie echte Werte gemeinsam einüben, ohne zu moralisieren oder zu verbieten?

Es wäre spannend zu erfahren, was Sie zu diesen Fragen denken. So unterschiedlich, wie Ihre Familien sind, wären bestimmt auch die Antworten. Wir wollen stellvertretend einzelne Familien zu Wort kommen lassen und haben verschiedene Familien um ein Miniinterview gebeten.20 Jede einzelne Familie hat Ressourcen und unterschiedliche Dinge, aus denen sie Kraft schöpft. Keine Familie ist perfekt, aber alle sind einzigartig.

Lob der Familie konkret: 6 Familieninterviews

Eine Familie aus Brandenburg

Zu unserer Familie gehören:Papa (38 Jahre), Mama (34 Jahre), Tochter (6 Jahre), Sohn (3 Jahre)

Unsere (gemeinsame) Lieblingsbeschäftigung:Vorlesen, Eis essen und mit Freunden (Groß und Klein) zusammen sein

Meine Familie gibt mir besonderen Halt in folgender Situation:Zu wissen, dass wir uns lieben und vermissen, erfüllt uns sehr und gibt uns Halt. Besonders nach schönen entspannten Tagen zusammen zehren wir davon, wenn der Alltag uns wieder hat! Die Familie spielt die Hauptrolle, auch wenn das im Alltag nicht immer so aussieht (vergleicht man die Zeit auf der Arbeit mit der Zeit in der Familie …). Aber im Zweifelsfall würden wir der Familie alles unterordnen.